Die Gartenlaube (1859)/Heft 23
[321]
No. 23. | 1859. |
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Der Lieutenant von dem Busch ging höchst mißmuthig in seinem Zimmer auf und ab. Mit dem frohesten Gesichte von der Welt trat dagegen sein Freund und Camerad, der Lieutenant Schellenberg, ein und begann sogleich mit munterem Geplauder:
„Du kannst mir nun Glück auf den Weg wünschen, denn morgen oder übermorgen tret’ ich spätestens meine Rheinreise an; meine Ersparnisse vom Honorar für die Beiträge zum militärischen Journal reichen, denk’ ich, für einen Monat aus, und den Urlaub hab’ ich schon seit vorgestern in der Tasche.“
„Du bist ein Glückskind!“ sagte Busch mürrisch.
Mit fröhlichem Lachen rief Schellenberg: „Das hat mir, so viel ich weiß, noch Niemand gesagt, und am wenigsten erwartete ich es vom reichen Freiherrn Busch zu hören. Hab’ ich doch gar nichts auf der weiten Welt, als mein Patent und meine bescheidene Gage, nicht einmal Eltern und Geschwister! Aber Dir muß etwas Unangenehmes begegnet sein, Du siehst ja ganz griesgrämlich aus!“
„Ich habe wohl Ursache, denn das Glück hält mich geradezu zum Narren. Es ist Dir hinlänglich bekannt, daß ich zu den zahlreichen Verehrern der Tochter des Präsidenten von Bevernförde gehöre, und ich kann wohl sagen, daß mein ganzes Lebensglück vom günstigen Erfolge meiner Bewerbung abhängt. Ohne alle Koketterie, nur aus der Unsicherheit eines noch unentschlossenen Herzens, hat Bertha keinem ihrer Anbeter bisher auch nur den geringsten Vorzug gewährt; in den letzten Tagen sprachen jedoch manche günstige Anzeichen für mich, ja, der Vater hat mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß er mich für den nächsten Monat in Wiesbaden zu treffen wünsche, wohin er sich in Begleitung seiner Tochter begibt. Er will offenbar die Gelegenheit herbeiführen, daß wir uns gegenseitig näher kennen lernen; dies ist also der rechte Augenblick – jetzt oder nie! Denn von Wiesbaden aus werden sie eine große Reise antreten, darauf einige Monate in der Residenz zubringen; dem reizenden, geistvollen, mit Glücksgütern jeder Art reich bedachten Mädchen werden die ausgezeichnetsten Freier nicht fehlen, es wird seine Wahl getroffen haben, bevor uns das Geschick wieder zusammenführt, und so stirbt, wenn ich diese Gelegenheit unbenutzt vorübergehen lasse, die zarte Pflanze meiner Hoffnung für immer dahin.“
„Aber das ist ja ganz einfach: Du nimmst Urlaub, reisest nach Wiesbaden und streckst Deine Hand nach dem winkenden Ziele aus.“
Traurig erwiderte Busch: „Meine Hoffnungen sind schon gescheitert. Ich ging heute Morgen zu dem Obristen, um den Urlaub zu erbitten, erhielt aber einen abschlägigen Bescheid. Der Obrist sagte, daß fast schon mehr Officiere beurlaubt seien, als der Dienst verstatte; so eben wäre der Befehl gekommen, daß das Corps ein starkes Commando nach Eversburg im Gebirge zu senden habe, um dem höchst frechen und gewaltthätigen Treiben der dortigen Schmuggler zu steuern, und ich sei zur Führung dieses Commando’s bestimmt. Denke Dir nur: statt den glücklichsten und hoffnungsreichsten Stunden meines Lebens entgegenzugehen, soll ich mich im Gebirge mit armseligen Schmugglern herumschlagen! Ich käme augenblicklich um meinen Abschied ein, wenn ich dies ohne Einwilligung meiner Familie konnte und dürfte; auch würde über dem weitläufigen Geschäftsgänge doch die rechte Zeit versäumt werden.“
Nach kurzem innerem Kampfe sagte Schellenberg: „Ich gehe sogleich zum Obristen, verzichte auf meinen Urlaub und übernehme statt Deiner das Commando.“
Fast erschrocken vor Ueberraschung rief Busch: „Du wolltest die Reise aufgeben, auf welche Du Dich so lange gefreut hast?“
„Ich mache sie im nächsten Jahre.“
„Bedenke nur: statt der herrlichen Rheinufer das wilde einsame Gebirge – –“
„Das hat auch seinen Reiz.“
„Und der widerwärtige Auftrag – –“
„Man muß allerlei Lagen und Verhältnisse kennen lernen. Die Sache ist abgemacht, ich gehe zum Obristen.“
Schon nach Verlauf von einer Stunde kehrte Schellenberg zurück und rief gleich beim Eintreten: „Stelle heute noch Deinen schriftlichen Antrag, der Obrist ist mit dem Arrangement vollkommen einverstanden.“
Busch umarmte gerührt den hülfreichen Cameraden. „Du bist der edelmüthigste der Freunde, wie soll ich Dir diesen Dienst vergelten?“
„Indem Du als glücklicher Bräutigam zurückkehrst. Mir selbst ist eine ähnliche Hoffnung versagt, es ist also die höchste Genugthuung für mich, wenn ich einmal lieben Freunden zu solchem Glücke verhelfen kann.“
„Aber warum sollte Dir bei Deinen Eigenschaften die Hoffnung versagt sein, ein Mädchen zu treffen, welches gegen Deine Vorzüge hinlängliches Vermögen zur Gründung eines häuslichen Heerdes einsetzt?“
Mit traurigem Kopfschütteln erwiderte Schellenberg: „Der Mann ohne Heimath und Eltern, ohne Familie und Verwandte [322] wird keine Gattin finden, er müßte denn seine Ansprüche tiefer stellen, als ich zu thun gesonnen bin.“
„Wenn Du auch nur der Adoptivsohn des verstorbenen Majors Schellenberg gewesen bist, so gehörst Du doch ohne Zweifel zu seiner Familie, die ja sehr achtungswerth ist.“
„Nein, lieber Freund, ich gehörte nie zu seiner Familie. Er traf mich als kleinen Knaben bei einer ärmlichen Kunstreitertruppe, nahm aus irgend einem Grunde Antheil an mir, kaufte mich den Leuten förmlich ab, ließ mich erziehen und nahm mich später an Kindesstatt an.“
Busch zeigte bei dieser Eröffnung ein so eigenthümlich verblüfftes Gesicht, daß Schellenberg wohl begriff, er sei in seiner Offenherzigkeit zu weit gegangen. „Du machst an Dir selbst die Erfahrung,“ sagte er, „wie der Heimathlose, von der Straße aufgelesene Findling bei der Welt kein Zuvorkommen, sondern nur Abstoßung oder höchstens Duldung zu erwarten hat. Du hast mich seit Jahren als Deinen Freund betrachtet, Du glaubst in diesem Augenblicke mir Dank für einen Dienst schuldig zu sein, und doch stutzest Du und schämst Dich gewissermaßen meiner, sobald Du hörst, daß ich aus einer Vagabundengesellschaft hervorgegangen bin, ohne einmal unter dieser meine Eltern zu kennen.“
Erröthend und verwirrt sagte Busch: „Du bist im Irrthum, lieber Schellenberg - -“
„Ich bin gewiß nicht im Irrthum, mache auch dem Freiherrn, der seinen Stammbaum Jahrhunderte hinauf verfolgen kann, keinen Vorwurf daraus, wenn er die Niedrigkeit und Unsicherheit meiner Herkunft für ein unersetzliches Unglück ansieht.“
Mit Beschämung und Rührung des Freundes Hand ergreifend, sagte Busch: „Du ersetzest durch Kopf und Herz zehnfach Alles, was Dir sonst abgeht; Du überragst uns Alle weit an tiefer Bildung und hochherzigem Edelmuth. Aber, nicht wahr, Du wirst vor der Welt über diese Verhältnisse schweigen?“
„Ich werde sie eben nicht an die große Glocke hängen, aber unter Umständen auch kein Geheimniß daraus machen.“
Sinnend sprach Busch: „Ich kann mir nicht denken, daß Du wirklich der Sohn solcher Leute gewesen sein solltest, die ja öfter schon Kinder guter Eltern geraubt haben. Hast Du nie an diesen Fall und an die Möglichkeit der Auffindung Deiner wahren Eltern gedacht?“
„So wenig mir, wie meinem Pflegevater, lag der Gedanke an diese Möglichkeit fern. Die Kunstreiter hatten auf das Heiligste betheuert, daß sie selbst von meiner Herkunft nicht das Geringste wüßten, sondern mich von andern Herumstreichern erhalten hätten. Sie händigten meinem Wohlthäter einen Ring ein, den sie zugleich mit mir bekommen, als das Einzige, was möglicher Weise auf die Entdeckung meiner wahren Eltern führen könne.“
„Und besitzest Du diesen Ring noch?“ fragte Busch gespannt. Schellenberg knöpfte seine Weste auf und zog einen unscheinbaren goldenen Ring hervor, den er an einem Bande um den Hals trug; in der Mitte war ein geschliffener Stein eingesetzt. Busch gab nach genauer Betrachtung den Ring zurück, indem er enttäuscht sagte: „Es ist kein Familienwappen, sondern dem Anscheine nach eine antike Kamee. Dennoch läßt sich immerhin annehmen, daß nur Leute aus den besseren Ständen im Besitze dieses Stückes gewesen sind. An geeigneten Versuchen zur Auffindung einer Spur werdet Ihr es nicht haben fehlen lassen?“
„Mein Pflegevater hat zahlreiche Ankündigungen erlassen, hat alle möglichen alten Zeitungen durchstöbert, doch umsonst. Aber lassen wir nun diesen Gegenstand fallen. Vom Obristen erfuhr ich, daß ich mein Hauptquartier nicht in Eversburg selbst, sondern eine Stunde davon hart an der Grenze bei einem wohlhabenden Landwirthe aufschlagen soll, welcher die Absendung des Detachements am eifrigsten betrieben hat.“
„So hast Du wenigstens auf guten Willen Deines Quartiergebers zu rechnen.“
Nachdem die Freunde noch dies und jenes besprochen, nahmen sie Abschied voneinander. Am nächsten Tage erhielt Schellenberg seine Instruction und am folgenden Morgen trat er mit fünfzig Mann des Schützencorps den Marsch nach Eversburg an. Am dritten Tage erreichte er das Städtchen, ließ darin den größeren Theil der Mannschaft unter dem ältesten Unterofficier zurück und folgte mit dem Rest einem Führer nach dem Vorwerk „Wolfsgrund“.
Nach einem Marsche durch dichte Wälder sah man den Wolfsgrund vor sich. Ein neuerbautes Wohnhaus mit ausgedehnten Nebengebäuden lag in einem kesselförmigen Thal, das hier am Hauptgebirgsstocke begann. Die tiefsten Stellen am kleinen Bergwasser bildeten Wiesen, zunächst um das Haus dehnten sich Gärten aus, die Berghalden hinauf zogen sich wohlgepflegte Aecker. Mit diesem freundlichen Anblicke stand die weitere Umgebung in scharfem Gegensatze: Berge von wechselnden Formen stiegen ringsum zu bedeutender Höhe empor, tiefe Schluchten zwischen sich mehr errathen, als erblicken lassend, ein gleichförmiger Wald bedeckte das Ganze, nur unterbrochen durch einige senkrechte Felsen. Tiefe Stille herrschte überall?
„Dies ist wundervoll!“ rief Schellenberg dem jungen Unterofficier Winrich zu, der neben ihm herging.
Trocken entgegnete Winrich: „Das werden die Schmuggler auch meinen. Mir kommt es aber etwas unheimlich vor, besonders da es hier ganz an lebenden Wesen zu fehlen scheint.“
Darin irrte sich indessen Winrich, denn die nahende Einquartierung wurde allerdings bemerkt und beobachtet. In dem Garten neben dem Hause standen zwei Männer so, daß sie den Weg übersehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Der ältere Mann in halbländlichem Anzug war von großem und starkem Körperbau, sein braunrothes Gesicht stach gegen das weiße Haupthaar seltsam ab, unter den ergrauten buschigen Brauen leuchteten sonderbare wasserhelle Augen hervor, die zuweilen Gemüthsbewegungen oder Leidenschaften wie in raschen Blitzen zeigten. Der Andere in städtischem Anzug, welcher freilich sehr vernachlässigt und in keinem seiner Theile zusammenpassend war, konnte die jüdische Abkunft nicht verleugnen; in seinem wechselvollen Gesicht sprachen sich unmittelbar hintereinander und oft fast gleichzeitig die verschiedenartigsten und sogar widersprechendsten Eigenschaften oder Stimmungen aus.
Der Jude sagte: „Mit dem Officier hab’ ich gezählt zwölf Mann; ’s ist ein schöner Haufen und wird Euch kosten manchen schönen Thaler Geld für die Beköstigung.“
Ausweichend erwiderte der Andere: „Du solltest machen, daß Du fortkommst, Feibes, denn die Soldaten brauchen Dich hier nicht zu sehen.“
Mit verzogenem Grinsen seines häßlichen Gesichtes sagte Feibes: „Bin nicht neugierig auf die Herren Soldaten, werde später schon machen die nähere Bekanntschaft. Auf Wiedersehen, Marx!“
Als Schellenberg mit seinen Leuten auf dem Hofraume des Gutes Wolfsgrund anlangte, erhoben einige Kettenhunde ein furchtbares Gebell, worauf hier und da ein aus seiner Mittagsruhe gescheuchter Knecht aus dem Nebengebäude trat oder eine Magd mit stumpfer Neugierde hervorglotzte, aber Niemand schien Miene zu machen, sich der Fremden anzunehmen. Doch jetzt kam Marx in seiner stattlichen Erscheinung aus der Hofthüre. Der Officier näherte sich ihm und sagte: „Ich bin der Lieutenant Schellenberg vom Schützencorps und mit dieser Mannschaft nach dem Wolfsgrunde detachirt; sehe ich den Besitzer des Gutes in Ihnen vor mir?“
Marx war bei dem Anblicke und den Worten des Officiers ein wenig zusammengefahren und hielt die breite Hand über die Augen, als wolle er den Sprecher möglichst genau betrachten. Dann sagte er rauh: „Ich bin der Besitzer vom Wolfsgrund, aber als ich mich zur Aufnahme des Officiers und einiger Mannschaft erbot, rechnete ich nicht auf eine so starke Anzahl. Ich kann nur etwa sechs oder sieben Mann unterbringen.“
Verstimmt entgegnete Schellenberg: „Meine Instruction schreibt mir freilich nicht vor, wie viele Schützen ich mit hierher nehmen solle, aber es ist jedenfalls von großem Vortheil, wenn sich hier so unmittelbar an der Grenze ein möglichst starker Posten befindet, und der Obercontroleur in Eversburg meinte, es ließen sich im Wolfsgrunde recht gut so viele Leute unterbringen.“
„Das mag der Herr Obercontroleur immerhin meinen, aber ich nehme außer Ihnen höchstens sechs bis sieben Mann auf.“
„Und wo sollen die Uebrigen bleiben?“
Nach kurzem Besinnen sagte Marx: „Die können auf den Waldhof gelegt werden, ein altes adliges Haus, eine gute Viertelstunde von hier; es ist zwar etwas verfallen, aber es fehlt nicht an bewohnbaren Räumen. Auch liegt eine Mühle dabei, und der [323] Müller wird wohl die Beköstigung übernehmen; ich will an Stroh, Kartoffeln und dergleichen hinschaffen lassen, was ihm fehlt.“
„Ist denn das Herrenhaus nicht bewohnt?“
„O ja, aber nur von einer Dame, die sich nicht sehen läßt, und ihrem Dienstmädchen.“
„So will ich denn gleich selbst dorthin gehen und mir den Ort ansehen. Finde ich aber keine genügende Räumlichkeit für meine Leute, so müssen sie einstweilen hier bleiben.“
Ohne auf das undeutliche Murmeln seines unfreundlichen Wirthes zu achten, traf Schellenberg die vorerst nöthigen Anstalten zur Verpflegung seiner Mannschaft und fragte dann Marx nach dem Wege zum Waldhofe. Nach erhaltenem Bescheid ließ er seine Leute unter Winrich’s Aufsicht zurück und trat seinen Weg an, wenig erbaut von der mürrischen und zurückstoßenden Weise seines Wirthes. Aber die Schönheit der Natur nahm ihn bald in Anspruch. Die Thalweitung des Wolfsgrundes verengerte sich, der Bach rauschte über verworrenes Gestein, rechts eine steile Felswand bespülend, links kaum dem Pfade zwischen sich und dem jähen Bergabhange Raum lassend. Plötzlich verbreiterte sich das Thal wieder und eine Landschaft von hohem Reiz lag vor dem einsamen Wanderer. Aus einem Seitenthälchen kam ein zweiter Bach hervor, auf der Landzunge vor der Vereinigung beider Gewässer lagen die Gebäude des Waldhofes, theils in Ruinen gesunken, theils noch erhalten; dahinter füllten saftige Wiesen die Thalsohle aus, indem eine Kette von Erlen und Weiden den gewundenen Lauf des nun verstärkten Baches bezeichnete; prachtvolle Laubwälder, von einzelnen Nadelgehölzen unterbrochen, bedeckten die Berge, bis diese, sich voreinander schiebend, die Aussicht schlossen. Das trümmerhafte Aussehen des Waldhofes stimmte vortrefflich zum großartigen Charakter der Gegend und vermehrte den Eindruck sanfter Schwermuth, der über dem Ganzen ausgebreitet war und der jetzt Schellenberg’s Gemüth wie mit schmerzlich-süßen Schauern überfiel. „So mag das Heimweh sein,“ flüsterte er, „wie mir jetzt zu Muthe ist, oder die Sehnsucht nach Liebe.“
Ganz in der Nähe betrachtet, verlor freilich die elegische Romantik des Waldhofs manches von ihrem Reiz, indem die mit gänzlichem Verfall kämpfenden Reste der Gebäude doch einen niederschlagenden Eindruck machten. Das Ganze mochte ehemals stattlich genug gewesen sein, aber die Ringmauer war jetzt fast überall umgestürzt, der Graben hatte sich mit Trümmern gefüllt, das Eingangsthor war zusammengesunken. Vom Schloßgebäude stand nur noch ein Seitenflügel unversehrt; die verschlossene Eingangsthüre und die mit Gardinen sowie mit blühenden Gewächsen versehenen Fenster des Erdgeschosses deuteten Bewohntsein an. Der übrige Theil des Schosses war einer Feuersbrunst erlegen, wie sich an dem geschwärzten Gemäuer und den halbverkohlten Balken erkennen ließ, doch fanden sich im entgegengesetzten Flügel einige ziemlich erhaltene Räume, die im Nothfall bewohnbar sein oder gemacht werden konnten. Die ehemaligen Nebengebäude waren völlig verödet, nur eine Mühle, ganz seitwärts am Bach gelegen, ließ sich als den Menschen zur Wohnstätte und zu industrieller Benutzung dienend erkennen. Einige Reihen hochstämmiger Linden und Ulmen beschatteten den Hofraum, und das flüsternde Gesäusel ihrer Zweige unterbrach allein die tiefe Stille.
Schellenberg betrat diese Stätte der Verödung und des Schweigens mit ernsten Gefühlen. Also in diesen verfallenen Resten eines ehemals prunkenden Schlosses hausete eine menschenscheue alte Dame, wahrscheinlich der letzte Zweig eines absterbenden Geschlechtes, keine Blüthen und Früchte mehr treibend, von Schutt und Moder umgeben, von den Menschen vergessen! Es war Schellenberg zu Muthe, als müßte er sich der Einsamen und Verlassenen nähern, ihr irgend einen Dienst leisten, auf ihren freudelosen Pfad eine Blume menschlicher Theilnahme werfen. Wer weiß, wie lange kein wohlwollendes Wort in dieses der Außenwelt verschlossene Ohr erklungen, kein gefühlvoller Blick auf dieses sorgendurchfurchte Gesicht gefallen war!
Es trieben sich einige Kinder mit einem Hündchen bei der Mühle umher, aber Kinder und Hund flüchteten beim Anblick des Fremden. Schellenberg folgte den einmal in ihm angeregten Empfindungen, als er nicht auf die Mühle, sondern auf den bewohnten Theil des Herrenhauses zuschritt und an die verschlossene Thüre pochte. Es wurde von einer jungen weiblichen Person geöffnet, muthmaßlich der Dienerin, von der Marx gesprochen hatte, denn die Kleidung war für eine Bäuerin zu fein, für eine Vornehme zu einfach. Sie fragte schon während des Oeffnens: „Seid Ihr schon wieder aus der Stadt zurück, Niklas?“ Aber sie trat nicht wenig erschrocken zurück, als sie den jungen Officier vor sich sah. Schellenberg’s Auge ruhte mit Wohlgefallen auf der tiefen Purpurröthe, die sich über Gesicht und Nacken des allerliebsten Mädchens ergoß; er trat rasch ein, denn es schwebte ihm lebhaft die Ahnung vor, daß ihm sonst die Thüre vor der Nase zugeschlagen würde.
„Nein, schönes Kind,“ begann er, „kann ich die Herrin sprechen?“
„Zu wem wollen Sie?“ fragte sie verwundert.
„Zu der Dame, welcher diese Besitzung gehört. Können Sie mich nicht bei ihr melden?“
Nach einigem Besinnen und Zögern antwortete sie: „Die Dame ist nicht zu sprechen.“
„Das thut mir leid, denn ich habe etwas Nothwendiges mit ihr zu verhandeln, und ich wünsche um Alles nicht, ihr lästig zu fallen, möchte daher gern vorher die Sache mit ihr besprechen.“
„Kann ich es nicht bestellen?“
„Warum nicht? Die Sache ist in Kürze folgende. Ich bin mit einem starken Commando von Soldaten hierher geschickt, um den Steuerbeamten Beistand gegen die Schmuggelei zu leisten, und glaubte mit zwölf meiner Leute Unterkommen im Wolfsgrund zu finden, der Besitzer aber weigert sich, uns Alle aufzunehmen, und es fragt sich nun, ob etwa fünf Soldaten hier auf dem Waldhof bleiben können. Der Müller übernimmt vielleicht gegen entsprechende Vergütung die Verpflegung, und im Wolfsgrund ist man bereit, das etwa Fehlende hierher zu schaffen.“
Das Mädchen versank in überlegendes Nachdenken und beachtete dabei nicht, mit welcher Theilnahme die Blicke des Officiers auf ihm ruhten. Aber es war auch eine Lust, die holde Erscheinung zu betrachten; die zarte Gestalt entwickelte alle Formen in vollendetem Ebenmaße; um die hohe Stirn legten sich reiche Flechten eines glänzend braunen Haares; die langen Wimpern beschatteten tiefblaue Augen; der volle Mund besaß jenes wunderbare Schwellen, welches der jugendlichen Heiterkeit eben so verwandt scheint, als dem Gewohntsein an Schmerz, welches ungewiß läßt, ob zunächst ein fröhliches oder trauriges Wort über seine Lippen gehen wird; die Hände, obwohl sie mit der Arbeit vertraut genug schienen, zeigten sich dennoch fein und weiß. Um der Schwankenden mehr Zuversicht zu geben, fuhr der junge Mann fort:
„Ich würde die Leute unter den Befehl eines bewährten Unterofficiers stellen und für ihr tadelfreies Betragen einstehen. Ich bin so weit davon entfernt, der alten Dame auch nur die allergeringste Unannehmlichkeit zu bereiten, daß ich vielmehr jede Gelegenheit benutzen werde, mich ihr gefällig zu bezeigen, ja daß es mir eine recht innige Freude machen würde, wenn ich ihr einen Dienst erzeigen könnte.“
Ein eigenthümlicher Ausdruck überflog die Züge des Mädchens, die Lippen schlossen sich fester, um ein leichtes Lächeln nicht herauszulassen, die Wimpern senkten sich rasch, um den kleinen Muthwillen zu verdecken, der aus den Augen hervorleuchten wollte. Dann sagte sie, ohne aufzublicken:
„Woher rührt denn die Theilnahme, die Sie für die Dame gefaßt zu haben scheinen?“
Mit treuherziger Offenheit erwiderte er: „Man braucht nur die tiefe Abgeschiedenheit dieses Aufenthaltes, den verfallenen Zustand dieser Wohnung zu beachten, um vollständig zu begreifen, daß allein die härtesten Schläge des Lebens, die schmerzvollsten Empfindungen des Gemüths ein weibliches Wesen dazu bestimmen konnten, hier eine Zuflucht zu suchen.“
Mit einiger Verwirrung fragte sie: „Finden Sie denn wirklich diesen Aufenthalt so entsetzlich?“
Der Officier rief lebhaft: „Die Gegend ist voll von romantischer Schönheit, man möchte sich nie einen reizenderen Aufenthalt wünschen, aber – man müßte ihn theilen mit einem geliebten Wesen! Wird sonst nicht das Herz in dieser schwermüthigen Einsamkeit sich verzehren an ungestillter Sehnsucht?“
Unter andern Umständen hätte sich Schellenberg wohl mit einiger Beschämung bei solchen Ergüssen gegen ein Mädchen dieser Art ertappt, aber in der gehobenen Stimmung des Augenblicks halte er das überzeugende Gefühl, verstanden zu werden, und er wurde wirklich verstanden. Das Mädchen erhob seine sinnigen Augen voll zu dem belebten Gesicht des Jünglings, dann senkte es rasch seinen Blick und sagte weich:
[324] „Sie mögen in gewisser Beziehung Recht haben.“
Eifrig fuhr Schellenberg fort: „Und in welcher traurigen Menschenumgebung befindet sich hier ein vereinsamtes weibliches Wesen! Der nächste Nachbar scheint ein harter, unzugänglicher Mann, die übrigen Nachbarn mögen wohl nur aus Schmugglern und Wilddieben bestehen, das Städtchen Eversburg ist für den Verkehr zu entfernt – – an wen soll sich da ein alleinstehendes Weib anlehnen? Welcher Sonnenstrahl kann in die Verdüsterung seines Gemüthes fallen? Zwar erkenne ich darin einen großen Trost für die Einsame, daß ihr in Ihnen ein jugendliches Wesen von großer Aufopferungsfähigkeit zur Seite steht, aber woher gewinnt Ihre junge Seele auf die Dauer den nöthigen Lebensmuth, um eine so trostreiche Gefährtin zu bleiben?“
Er hatte in seinem Eifer die Hand des Mädchens ergriffen, es entzog ihm dieselbe erröthend und sagte leise: „Es ist meine Bestimmung, hier mein Leben zu verbringen.“
Angelegentlich rief Schellenberg: „Sie verdienen aber die schönste, die lieblichste Lebensbestimmung!“
Sie schüttelte mit dem Kopfe. „Die Vorsehung leitet Jeden auf den ihm geeigneten Pfad,“ sagte sie. „Was übrigens die Absicht betrifft, die Sie hierher führte, so glaube ich, daß mit Hülfe des Müllers und mit Beistand aus dem Wolfsgrund einige Ihrer Leute hier ein Unterkommen finden werden. Senden Sie dieselben nur her. Der Müller ist augenblicklich nicht da, aber ich werde mit ihm reden.“ – Eine leichte Verneigung verabschiedete den Officier, aber plötzlich drehte sie sich wieder um und sagte: „Hüten Sie sich übrigens vor Marx im Wolfsgrund!“ Dann war sie verschwunden.
In eigenthümlicher Aufregung trat Schellenberg seinen Rückweg an. Die Warnung, die ihm noch zuletzt zugerufen worden war, beschäftigte ihn weniger, als die Warnerin, welche einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Wo man vor der Biegung des Pfades den Waldhof’ zum letzten Male übersehen konnte, da blieb der junge Mann stehen und sagte zu sich selbst: „Doch – doch, es ließe sich hier wohnen und glücklich sein, wenn man ein geliebtes Wesen zur Seite hätte, an dem das Herz mit voller Liebe hinge. Aber allein – ganz allein – das ist hart.“
Gedankenvoll und bewegt setzte er langsam seinen Weg fort.
Nach einem Aufenthalte von ungefähr zehn Tagen eröffnete sich uns endlich die Aussicht auf eine etwas erfolgreichere Jagd. Unser Freund, der Engländer, beantragte, wir sollten einen Versuch in der Richtung nach seinem Wohnbezirke hin machen; mittlerweile nahmen wir jedoch noch die Einladung des Residenten an, welcher den Tag vor unserem Aufbruche eine Hirschjagd in den umliegenden Ebenen veranstaltete. Wie in England, so ist auch hier und in einem Theile von Borneo die Hirschjagd so zu sagen eine National-Passion, welche von den Eingeborenen mit einer gewissen Feierlichkeit und stets im großartigen Maßstabe betrieben wird. Um fünf Uhr früh saßen wir bereits im Wagen und eilten dem Sammelplatze zu. Auch die Gattin des Residenten begab sich in Begleitung mehrerer Damen dahin. Von allen Seiten strömten die eingeborenen Honoratioren herbei, einer komischer gekleidet, als der andere, Alle aber mit ausgezeichnetem Jagdzeuge versehen; so trabten sie auf ihren kleinen Pferden dem Sammelplatze zu, um an der National-Unterhaltung Theil zu nehmen. Am Sammelorte waren bereits bei zweihundert Reiter eingetroffen und die herrlichen Pferde des die Jagd arrangirenden Directors, meist persischer, mitunter aber auch inländischer Abkunft, zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich; besonders war es ein Hengst, dessen wunderbare Schönheit Jedermann entzückte.
Das bei solchen Jagden übliche Costum ist: ein aus Ruthen geflochtener vergoldeter runder Hut zum Schutze gegen die sengenden Strahlen der Sonne; ein eng anliegender, ganz zugeknöpfter, bei den Beamten überdies mit Gold gestickter Dolman; um die Hüfte ein den unserigen ähnlicher goldener Gürtel, darin ein „Golog“ genanntes, zwei Schuh langes Messer, welches den zu Pferde verfolgten Hirschen in das Rückgrat gestoßen wird; die Beinkleider sind mitten aufgeschlitzt, so daß der Reiter mit dem nackten Leibe auf den bloßen Rücken des Pferdes zu sitzen kommt und, durch den Schweiß gleichsam daran festgeklebt, um so sicherer reiten kann; endlich Stiefel gleich denen der alten Ritter mit Leder umwunden und mit gekrümmtem Schnabel.
Unter den vornehmeren Eingeborenen war der Vater des Residenten, ein ehrwürdiger Greis, der trotz seines vorgerückten Alters noch viel auf sich zu halten schien, die auffallendste Figur; es that dem Auge völlig wohl, ihn auf seinem grauen Hengste sitzen zu sehen.
Der Zaum an den Pferden ist von ganz eigenthümlicher Art; die Halfter wird nämlich gerade so gedreht, wie bei uns, wenn die Thiere zur Tränke gehen. Der Unterschied ist blos der, daß die Zügel als Zaum in zwei Streifen gegen den Hals des Pferdes hingehen, wo sie in einen Knoten gebunden werden und von da nur in einem einzigen Streifen weiterlaufen, welcher seiner Länge halber, wie dies an Schiffen üblich ist, in einem Knäuel zusammengedrückt in der Hand des Reiters ruht. Diese Halfterleine ist deshalb so lang, damit der Jäger, wenn er in schnellem Laufe den Hirsch verwundet und dann herabspringt, um dem Thiere den Todesstoß zu versetzen, sein Pferd, welches nicht augenblicklich stehen bleibt, an dem sich von selbst abwickelnden Leitseil noch einige Schritte vorwärts laufen lassen und dann an dem in seiner Hand zurückgebliebenen Ende der Halfter zurückhalten kann.
Die Ebene, in welcher die Jagd abgehalten werden sollte, war von der Natur mit verschwenderischer Schönheit ausgestattet und wie zur Jagd geschaffen. In der Mitte erhob sich ein zuckerhutartiger Hügel; er diente den Damen als natürliche Tribüne, von welcher aus sie unter Musikklängen der Jagd zusehen konnten, wir Männer aber sahen zunächst auf den emporwirbelnden Rauch und den gedeckten Tisch und schlossen aus diesen Vorkehrungen mit aller Zuversicht, daß wir diesmal wenigstens nicht leer nach Hause zurückkehren würden.
Man fragte uns, ob wir reiten könnten, und als wir dies bejahten, führte man uns zwei gesattelte Schindmähren vor. Wir bedankten uns natürlich für diese Auszeichnung und erklärten, wir seien keineswegs als bloße Zuschauer gekommen und würden, wenn es gerade so Sitte und unumgänglich nothwendig sei, gleichfalls ohne Sattel reiten können. Der Franzose betheuerte uns wiederholt, er habe schon zu Hause derlei Jagden mitgemacht. Zu dieser Aeußerung bestimmte ihn wahrscheinlich die Bemerkung des Residenten, daß solch’ eine Hirschjagd nur den Eingeborenen zusage, da die Herren Europäer nicht im Stande seien, ohne Sattel zu reiten; wir wollten diesen seinen stolzen Glauben durch unser Beispiel wankend machen.
Der Herr Resident ließ uns sofort die drei schönsten Pferde seines Stalles vorführen, unter denen er uns frei zu wählen gestattete. Ich griff sogleich nach einer 16 Faust hohen prächtigen Isabelle, was dem Herrn Residenten, wie ich aus seiner sauern Miene schloß, eben nicht sehr angenehm sein mochte. Wahrscheinlich war dies sein Lieblingspferd, wie sich auch schon aus der Farbe vermuthen läßt, da die Isabellen hier, wie in China, ungemein gut bezahlt werden. Damit wir aber doch nicht so ganz auf dem bloßen Pferde zu sitzen kämen, legte man Jedem von uns ein Haarkissenunter, welches wir als Sattel benutzen sollten. So viel ist gewiß, daß es hier in diesen Ebenen platterdings unmöglich wäre, mit einem gewöhnlichen Sattel zu jagen, denn das Gras, welches sich während des Laufes in die Steigriemen verwickeln würde, dürfte
[325][326] endlich das Pferd so sehr hemmen, daß es gar nicht mehr von der Stelle könnte.
Als ich aufsaß und die Halfterleine in die Hand bekam, fühlte ich sogleich, daß der Entschluß jedenfalls leichter sei, als die Ausführung, und daß ich mich darauf gefaßt machen müsse, beim ersten Sprunge von meinem hohen Sitze herabzupurzeln. Mein Franzose, der mit mir einen bedeutungsvollen Blick wechselte, mochte sich ungefähr dasselbe denken, aber wir konnten nun einmal mit Ehren nicht mehr zurücktreten, denn Aller Augen waren auf uns gerichtet, wahrscheinlich um zu sehen, was da herauskommen werde. Die Eingeborenen sind dadurch bedeutend im Vortheile, daß sie, wie gesagt, mit ihrem nackten Körper den Leib des Rosses berühren und also gleichsam daran festkleben, während wir mit unsern Beinkleidern auf dem schlüpfrigen Haarkissen ziemlich unsicher saßen. Beim Aufbruche dürfte sich unter der Gesellschaft kaum Einer so unbehaglich gefühlt haben, wie wir zwei, und damit das Malheur vollständig werde, erwies man uns die verdammte Höflichkeit, uns voranreiten zu lassen. Kaum waren wir einige hundert Schritte geritten, als plötzlich, wo ich nicht einmal einen elenden Hasen vermuthet hätte, dicht vor unserer Nase ein schöner junger Hirsch aufsprang, dem unsere beiden Pferde, wahrhaftig ohne unser Zuthun, sogleich im Galopp nachsetzten. Das war übrigens noch ein Glück, denn hätte das Pferd im Trabe zu laufen angefangen, so hätte ich sicher auch in der ersten Minute schon unten gelegen.
Wie ich mich während dieser Galoppade ausgenommen haben mag, weiß ich wirklich selber nicht; plötzlich bemerkte ich, daß ein Eingeborener mir voraneilte, den Hirsch einholte und durch einen Hieb, den er ihm mit einem Messer in das Rückgrat versetzte, auch sofort erlegte; mir war es gar nicht eingefallen, daß ich auch ein Messer an der Seite hatte und das Wild verfolgen solle. Indessen hätte ich mir die Beute gern angesehen, aber mein Pferd lief wie besessen fort und nur dem Umstande, daß ich mich fest an seine Mähne klammerte, hatte ich es zu verdanken, daß ich oben blieb. Glücklicher Weise machte das Roß etwa fünfzig Schritte weiter von selber Halt, so daß kaum einer der Eingeborenen meine schmachvolle Attitüde bemerkt haben mochte.
Da kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke, welcher mich vor der Schmach des Herabfallens bewahrte. Ich ließ meine Jagdgefährten voraus, tauchte mein Taschentuch schnell in das Wasser des Baches, befeuchtete damit meinen Quasisattel, so wie die Beinkleider, und der Franzose folgte sogleich meinem Beispiele, um doch wenigstens etwas sicherer sitzen zu können. Welch’ ein Unterschied zwischen dem früheren und dem jetzigen Sitze! – ich ward plötzlich ein ganz ausgezeichneter Reiter, das nasse Tuch und das Kissen hafteten fest aneinander und ich konnte den Hirschen gerade so flink nachsetzen, wie die Eingeborenen. Einen, den die Anderen bereits abgehetzt hatten, trieb ich auch wirklich in die Enge. Aber so oft ich ihn bereits eingeholt zu haben glaubte, duckte er sich schnell nach der Seite hin, und ehe ich mein Pferd umwandte, war er auch schon wieder aufgestanden und in einer anderen Richtung davongerannt. So ging diese Hetze eine Weile fort und ich war nicht im Stande, das Thier auf die rechte Seite hinüberzubringen, um es mit meinem Messer erreichen zu können; durch das schnelle Niederducken wußte es sich dem Stoße jedesmal zu entziehen. Endlich wurde ich über dieses erfolglose Herumjagen ärgerlich und da die Hartmäuligkeit des Pferdes die Hauptursache war, daß ich das Wild nicht auf die rechte Seite hinüberbekommen konnte, so beschloß ich vor Allem, das Roß zu Paaren zu treiben. Ich machte eine rasche Wendung gerade gegen den Hirsch zu, das Pferd stolperte über ihn und im nächsten Augenblicke lagen wir alle drei übereinander im Grase. Der arme Hirsch raffte sich am schnellsten wieder auf; ehe ich aufstand, war er schon wieder ziemlich weit weg, mein Pferd aber stand mit einem unterschlagenen Beine neben mir.
Nun ging der Tanz erst recht los; das Pferd wollte durchaus nicht mehr auf allen Vieren stehen, ja, es ließ mich kaum in seine Nähe. Dar arme Thier hatte sich nämlich durch den Fall in der Nähe des Knöchelgelenkes eine kleine Verletzung zugezogen. Da ich nicht mehr aufsitzen konnte, wand ich ihm die Halfter um das Maul und führte es am Zaume, tief betrübt, daß ich es so unabsichtlich beschädigt hatte. Während dieses traurigen Marsches dachte ich auch an die Möglichkeit, im hohen Grase einem Tiger zu begegnen, welche sich hier sehr häufig finden und meistens vom Gebirge herabkommen, um den Hirschen nachzuspähen. Während ich solche Gedanken brütete, wurde es unter meinen Füßen plötzlich lebendig und erst im letzten Augenblicke gewahrte ich, daß ich ein Wildschwein, und noch dazu ein sehr kleines, aufgescheucht hatte, welches nun grunzend im Grase verschwand. Die kleine Bestie hatte mich so erschreckt, daß ich alle Lust verlor, noch weiter zu Fuße zu gehen; ob mein Pferd nur auf drei oder gar nur auf zwei Füßen gehe, war mir ganz gleichgültig, ich beschloß, um jeden Preis wieder aufzusitzen. Später begegnete[WS 1] ich einem Eingeborenen und zeigte ihm, welch’ ein Malheur meinem Pferde widerfahren sei; während er abstieg, um den Fuß meines Rosses zu untersuchen, setzte ich mich, ohne auch nur um Erlaubniß gefragt zu haben, auf das seine und ließ ihm als Entschädigung den lahmen Gaul zurück.
Aber das Jagen freute mich nicht mehr; ganz schwermüthig sah ich den Eingeborenen zu, wie rasch und geschickt sie nacheinander ihre Beute erlegten, besonders an einer Stelle, wo sich die gegen den Berg hinauf flüchtenden Hirsche zusammendrängten; hier richteten etwa zehn Reiter ein wahres Blutbad unter den armen Thieren an.
Die Jagd geht in folgender Weise vor sich. Die Ebene von Bandung wird von einer Reihe kahler ausgebrannter Vulcane umgeben. Auf diesen Bergen halten sich auch die Hirsche auf, so lange sie dort noch Gras finden; wenn ihnen aber das Gras ausgeht und die Quellen versiechen, ziehen sie sich gegen die Ebene hinunter, wo sie eine reiche Weide und Wasser im Ueberflusse finden. Um solche Zeiten werden die Jagden veranstaltet. Etwa vierhundert nackte, blos mit einem Hute bekleidete Eingeborene – jeder auf einem Büffel sitzend – umringen, wie dies auch bei den Hasenjagden in Oesterreich zu geschehen pflegt, im weiten Kreise die Ebene. Die Jäger schreiten vom Centrum aus gegen die Treiber vor, welche, gleichfalls allmählich vordringend, auch die Hirsche immer weiter gegen die Jäger hintreiben. Ist das Wild dem Einen entronnen, so kommt es den Anderen in den Wurf; will es den Kreis durchbrechen, so wird es von den auf Büffeln reitenden Eingeborenen zurückgetrieben und muß also über kurz oder lang jedenfalls erliegen. Sobald der Kreis enger wird, wimmelt das Gras so zu sagen von Hirschen, die dann, wie ich bereits oben erwähnte, von den Jägern massenhaft erlegt werden. Das Aufheben der Beute ist das Geschäft der Büffelreiter, welche ihrem Thiere oft ein bis zwei Hirsche aufladen und dann wieder weiter vordringen, bis endlich im Centrum Alle zusammentreffen. Hier bilden die unzähligen Büffel und Pferde mit ihren Reitern eine kleine Armee, welche sich rings um den Hügel aufstellt, den ich bereits früher erstiegen hatte. Am Fuße dieses Hügels wird dann die gesammte Beute für die herabkommenden Damen zur Schau gestellt. Diesmal waren 162 erlegte und 18 lebendig gefangene junge Hirsche beisammen, welche letztere fortwährend nach ihrer Freiheit und ihrer Mutter brüllten. Ich muß gestehen, daß der Anblick eben nicht zu den allerschönsten gehörte.
Das wäre aber Alles noch gut gewesen, wenn nur das Roß wieder auf vier Füßen gegangen wäre, aber es hinkte nun noch mehr, als früher. Der mittlerweile herbeigekommene Besitzer des Thieres vermochte bei dessen Anblick seinen Unmuth nicht zu verbergen und ließ mich denselben in seiner sauern Miene ziemlich deutlich lesen; ich ließ ihn daher durch den Engländer ersuchen, mir das Pferd um denselben Preis zu überlassen, um welchen er es in gesundem Zustande gekauft hatte, aber das ließ wieder der Stolz dieses Mannes, der über Hunderttausende zu verfügen hatte, nicht zu. Dennoch hielt ich es für meine Pflicht, dem freundlichen Herrn Residenten durch Uebersendung eines von mir in Batavia zufällig erkauften silbernen Bechers meine Erkenntlichkeit an den Tag zu legen.
Nach der Jagd ward auf dem Hügel ein förmliches Gelage gefeiert. Das in europäischer Weise zubereitete und aufgetragene Diner ging mit vielem Ceremoniell vor sich, und es nahmen auch einige vornehmere Eingeborene daran Theil.
Nachdem dasselbe vorüber war, wurde die Beute unter den eingeborenen Jägern vertheilt. Die lebendig gefangenen Hirsche aber wurden in improvisirten Körben fortgetragen. Der Herr Resident beschenkte auch uns mit einem solchen Thiere, da es sich aber an die Gefangenschaft durchaus nicht gewöhnen konnte, ließen wir es am dritten Tage wieder laufen. An diesem kleinen Thiere bemerkte ich, daß die Natur am Gehirne derselben zwei kleine Oeffnungen gleichsam als Luftlöcher angebracht hat; dessen ungeachtet [327] können sie die ungeheuere Hitze nicht ertragen und werden, wenn man sie zu Pferde verfolgt, sehr leicht eingeholt, da sie nach einem Laufe von etwa dreihundert Schritten vor Hitze beinahe ersticken. Der Größe nach kommen diese Thiere unsern Damhirschen ziemlich gleich; ihr Geweihe treibt nie mehr, als sechs Aeste, der Schweif ist länger und haariger, als bei unsern Hirschen.
Ich hätte nie geglaubt, daß man durch Reiten so arg mitgenommen werden könne; am anderen Tage vermochte ich kein Bein zu rühren und all’ meine Glieder waren der Art zerschlagen, daß ich den ganzen Tag über zu Hause sitzen blieb und zeichnete, während unterdessen der Engländer alle Vorkehrungen zur Weiterreise traf.
Lunge und Magen scheinen vom Menschen auserkoren zu sein, um fortwährend recht raffinirt maltraitirt zu werden, obschon gerade diese beiden Organe es sind, welche das Meiste zum Bestehen unseres Körpers beitragen. Es ist wahr, beide können schon einen recht tüchtigen Puff aushalten, wie man z. B. bei Gastmählern an den Gut- und Vielessern, auf Bällen an den wespentailligen Damen, in Damenkaffee’s, Bierstuben u. s. f. wahrzunehmen Gelegenheit hat. Allein was zu viel ist, ist zu viel; sie unterliegen endlich doch; lächerlicher oder vielmehr bejammernswerther Weise wundert oder beklagt sich dann der Besitzer des muthwillig ruinirten Organs auch noch darüber, ja hält seine Lungenschwindsucht oder seinen Magenkrebs wohl gar für ein unverdientes Unglück, für eine ungerechte Fügung des Schicksals oder für ein unvermeidliches Verhängniß.
Es ist wahrlich ein sündhafter und nur aus der Dummheit und Geistesträgheit der Menschen hervorgegangener Aberglaube, der noch hinter dem heidnischen Fatalismus zurück steht, wenn man, wie dies sogar unter sogen. Gebildeten geschieht, das Krankwerden und frühzeitige Sterben für eine unabänderliche Vorausbestimmung, für Zufall oder Unglück, Gesundbleiben dagegen und langes Leben für ein ganz besonderes Geschenk des Schöpfers ansieht. Dieser sorgte allerdings für unser Wohl, allein nur insofern, als er uns die Fähigkeit gab, durch richtige Erziehung so vernünftig zu werden, um die von ihm gegebenen, ganz bestimmten Naturgesetze erkennen und durch Befolgung derselben unsern Körper vor Nachtheil schützen zu können. Alles in der Natur geht nach diesen Gesetzen vor sich und folgt also einer strengen Nothwendigkeit, auch das Krankwerden und Sterben. Eine unglaubliche Masse von Menschen fallen nachtheiligen Umständen und schädlichen Einflüssen zum Opfer, welche sich recht wohl hätten vermeiden und beseitigen lassen, wenn man sich mit den göttlichen Naturgesetzen vertraut gemacht und nach ihnen gerichtet hätte.
Unter den Leiden der Lunge gibt es auch ein sehr beschwerliches und quälendes, dessen Grund schon in den meisten Fällen in der Jugend durch Hustekrankheiten gelegt wird, und das sehr oft recht wohl verhütet werden könnte, wenn die Mütter bei ihren Kindern nicht so oft und leicht den Husten aufkommen ließen (s. Gartenlaube 1859. Nr. 8). Sehr quälend ist dieses Lungenleiden deshalb, weil es mit enormer Kurz- und Schwerathmigkeit, ja sogar mit erstickender Athemnoth (Asthma), wenn auch nicht fortwährend, doch in öfteren Anfällen, verbunden ist. Seinen Grund hat es in einer widernatürlichen Vergrößerung der Lunge in Folge krankhafter Erweiterung der Luftbläschen. Die Wissenschaft nennt diese Lungenerweiterung „Lungen-Emphysem“, wohl auch „Lungendampf“; der Laie taufte dieselbe schlechthin „Asthma“ und schreibt sie der Brustwassersucht zu (die aber als besondere Krankheit gar nicht existirt, obschon die Homöopathen eine Menge fürtrefflicher Mittel dagegen besitzen). Bisweilen tragen auch heftige Lungenanstrengungen, wie: vieles Singen und Instrumenteblasen, häufiges und lautes Sprechen und Schreien, anhaltendes und schnelles Laufen u. dgl. die Schuld an diesem Leiden, was gar nicht selten, des begleitenden Hustens und Auswurfs wegen, für Lungenschwindsucht gehalten wird, aber gerade der entgegengesetzte Zustand von dieser ist, und sogar vor dieser schützt.
Die auffälligsten Erscheinungen bei der Lungenbläschen-Erweiterung sind die, häufig oder seltener, meist plötzlich auftretenden, längere und kürzere Zeit andauernden „asthmatischen Anfälle“, bei welchen der Kranke von einer solchen enormen, mit heftigen krampfhaften Athembewegungen verbundenen Athemnoth heimgesucht wird, daß er zu ersticken meint. Aber er erstickt nicht! Das Erstickungsgefühl aus Lufthunger macht, daß der Kranke mit ängstlichem, verfallenem oder verzerrtem, bleichem oder bläulichem Gesichte, mit vorgebeugtem Körper und zurückgebeugtem Kopfe, mit den Händen sich anklammernd nach Luft hascht. Das Athmen ist keuchend, mit zischendem, pfeifendem oder rasselndem Geräusche; die Haut kühl; der Husten fördert nur wenig zähen, dicklichen Auswurf heraus.
Eine Folge dieser Luftbläschen-Erweiterung ist zunächst eine nicht unbedeutende Vergrößerung der Lungen, durch welche der ganze Brustkorb faßartig ausgedehnt wird, nicht gehörig herabsinken kann, und den Hals verkürzter erscheinen läßt. Die den Lungen benachbarten Organe werden aus ihrer Lage verdrängt. So Wird das Herz nach rechts geschoben, und deshalb ist sein Klopfen nicht mehr in der linken Brusthälfte, sondern in der Magengrube wahrnehmbar. Mit dem Zwerchfelle werden sodann auch noch Leber, Magen und Milz im Bauche heruntergedrückt, und es entsteht dadurch ein unbehagliches Gefühl von Völle in der Oberbauchgegend.
Der hauptsächlichste Nachtheil aus der Luftbläschen-Erweiterung geht nun aber daraus hervor, daß, wegen des Verlustes an Elasticität und Zusammenziehungskraft, die Luftwege die eingeathmete Luft nicht kräftig und reichlich genug wieder austreiben (ausathmen) können. Deshalb sind die Lungen mit einer widernatürlichen Menge von Luft erfüllt und zwar von solcher alten Luft, die eigentlich schon längst wieder ausgeathmet sein sollte; beim Einathmen kann nun, dieser Luftstagnation in der Lunge wegen, natürlich weit weniger neue Luft eingezogen werden, als sonst, und so geht der Wechsel der Luft in den Lungen nicht mehr gehörig flott vor sich. Daher kommt es denn, daß die zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit ganz unentbehrliche Einfuhr von Sauerstoff in das Blut und die Ausfuhr von Kohlensäure aus demselben in geringerem Grade vor sich geht, und dadurch das Blut in seiner Beschaffenheit nach und nach immer mehr verschlechtert wird.
Auch der Blutlauf, welcher sich vom rechten Herzen durch die Lungen zum linken Herzen erstreckt (d. i. der kleine Kreislauf), ist, in Folge der starken Spannung der Luftbläschenwände und des Druckes auf die diese Wände umspinnenden Haarröhrchen, erschwert. Es ist deshalb auch das eigentliche Lungengewebe bei dieser Krankheit blutärmer, und es häuft sich das Blut vor den Lungen in der Lungenpulsader und im rechten Herzen mehr, als es sollte, an. Auf diese Weise bildet sich nach und nach eine krankhafte Erweiterung der rechten Herzhälfte, und das ganze Herz erscheint größer und klopft stärker. Wegen der Blutstauung im rechten Herzen kann nun das aus allen Theilen des Körpers zum Herzen zurückfließende (dunkle) Blut nicht gehörig in das Herz einströmen, es häuft sich deshalb in den verschiedenen Organen, ganz besonders aber in denen des Unterleibes (in der Leber und Milz, im Magen und Darmcanale), an und stört die Function dieser Theile. Daher rührt es denn, daß Emphysematiker oft weit mehr über Unterleibsbeschwerden, über Störungen in der Verdauung und Hämorrhoidalleiden klagen, als über ihre Lungenaffection, und daß sie den damit einhergehenden Husten einen „Magen- oder Unterleibshusten“ taufen.
So beschwerlich dieses Lungenleiden ist, so hat es doch auch seine guten Seiten. Weil nämlich dabei die Lunge um ihre Bläschen herum weniger Blut enthält, auch in dem die Bläschen umspinnenden Haarröhrchennetze nicht leicht eine krankhafte Blutüberfüllung zu Stande kommen kann, so können auch nicht gut derartige Krankheitszustände vorkommen, die ihre Entstehung einer Blutüberfüllung verdanken. Hierhin gehört aber die Lungenschwindsucht, die Lungenentzündung und Lungenblutung. – Heilbar ist die Lungenerweiterung nun zwar nicht, am allerwenigsten durch Arzneimittel, doch läßt sie sich bei richtigem Verhalten oft lange und ziemlich gut ertragen.
[328] Die Behandlung zerfällt in die des asthmatischen Anfalles und in die des Grundleidens. – Um den asthmatischen Anfall abzukürzen, versuche man, nach dem Lösen aller beengenden Kleider, folgende Hülfsmittel: Einathmen frischer kalter Luft, Anspritzen mit kaltem Wasser gegen Brust und Rücken, kalte Waschungen und Frictionen dieser Theile neben warmen Hand- und Fußbädern, Kitzeln des Rachens (um Brechreiz oder Brechen zu erregen), Einathmen von Aether, Chloroform oder Salpeterdünsten. Die letzteren entwickelt man durch Verglimmen von getrocknetem Salpeterpapier, welches durch Eintauchen weißen Druckpapiers in concentrirte Salpeterlösung bereitet wird.
Außer den asthmatischen Anfällen strebe der Kranke, einen Theil der stagnirenden Luft von Zeit zu Zeit aus seinen erweiterten und weniger zusammenziehbaren Lungen herauszubefördern, denn die natürliche Weite der Luftbläschen bleibend wieder herzustellen, ist zur Zeit noch nicht gelungen. Deshalb gewöhne sich Patient, öfters des Tags recht kräftig auszuathmen, ja drücke sich selbst dabei den Brustkasten mit den Händen tüchtig zusammen oder lasse dies von einem Andern thun.
Er versuche ferner eine vorübergehende Zusammenziehung der Luftwege durch mäßige Armbewegungen, kalte Waschungen des Rückens und der Brust, Einathmungen frischer Luft zu erzielen. – Eine Hauptregel für den Emphysematiker ist sodann: Alles zu vermeiden, was Lungenkatarrh (der das Uebel verschlimmert und asthmatische Anfälle hervorruft) zu erzeugen im Stande ist. Er meide also: eine rauhe oder verdorbene Luft, Wind, Staub, Rauch, Erkältungen. Er unterlasse Alles, was stärkeres Herzklopfen hervorruft, wie geistige, gemüthliche und Körperanstrengungen, Klettern, Berg- und Treppensteigen. Gegen die Unterleibsbeschwerden dient der reichliche Genuß warmen Wassers, Regelung des Stuhlganges, Vermeiden vielen Sitzens, leicht verdauliche, nicht blähende Diät.
Daß die homöopathische Heilkünstler-Gesellschaft, wie gegen jede andere Krankheit, so auch gegen die Lungenerweiterung mehrere ausgezeichnete Mittel vorzureiten hat, besagen die neuesten Ankündigungen. Das beste Pferd, auf welchem die Junghahnemänner gegen das organische Asthma ansprengen, ist der Arsen; doch sollen auch die Coca und die Lobelia ihrer Schule keine Schande machen.
Aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika wird gemeldet, daß allein in der Stadt Philadelphia, welche etwa eine halbe Million Einwohner zählt, nicht weniger als dreihundert Clubs bestehen, deren Mitglieder sich ausschließlich mit dem sogenannten Spiritualismus beschäftigen. Sie begnügen sich nicht mehr mit dem einfachen Tischrücken und Tischklopfen, sondern beschwören Geister herauf, die denn auch in der Regel so gefällig sind, zu erscheinen, allerlei grausigen Spuk zu treiben und eine Menge von „Offenbarungen“ zu geben. Diese werden von den Spiritualisten mit bergeversetzendem Glauben für durchaus wahr gehalten; man zuckt mitleidig die Achseln über Jeden, der an diesen Dingen zweifelt und sich nicht zu dem bekehren will, was für „harmonische Philosophie“ ausgegeben wird.
Binnen zehn Jahren hat dieser „Spiritualismus“ allein in Nordamerika weit über eine Million Bekenner gewonnen; ja es wird behauptet, daß die Zahl derselben allein in jenem Lande schon bis zu vier Millionen angewachsen sei. Gewiß bleibt, daß er überall hin verbreitet worden ist und, so toll er auch sein möge, als eine wichtige Erscheinung betrachtet werden muß. Auch hat er in Europa eine große Menge von Gläubigen und bereits eine Literatur, welche Tausende von Bänden umfaßt. Seine Anhänger sind unermüdlich in seiner Verbreitung und haben sogar an einem Hofe eine Rolle gespielt, der sich von ihnen über die Zukunft Raths erholen wollte. Napoleon der Dritte war oft in Verkehr mit einem New-Yorker Spiritualisten!
Dieser neue Geisterglaube wirkt ungemein verderblich und verrückt Vielen die Köpfe, denn es ist erwiesen, daß ein großer Theil der Insassen in den verschiedenen Irrenhäusern durch den Spiritualismus toll geworden. Während die Naturforschung eine Höhe und einen Umfang erreicht hat, wie nie zuvor, verfallen die Menschen wieder in den dicksten Aberglauben, laufen Wahngebilden nach und bringen Methode in den Unsinn. Wir haben eine geistige Seuche vor uns, deren Ansteckung über den ganzen Erdball reicht. Hoffentlich wird sie sich auswirthschaften, wie andere Epidemien, aber gegenwärtig bildet sie eine eben so betrübende als interessante Erscheinung, und es verlohnt sich wohl der Mühe, daß wir unsern Lesern einige Mittheilungen darüber geben. Wir thun es so zu sagen in bunter Reihe, denn wer könnte Ordnung in dieses phantastische Gewirr bringen, das ungemein mannichfaltig ist und sich aller eingehenden Erklärung entzieht?
Für Millionen und Abermillionen hat es etwas Lockendes, mit der sogenannten Geisterwelt in Verbindung zu treten, und ein solcher Hang ist sehr erklärlich bei Jedem, der überhaupt an „überirdische Geister“ glaubt. Zu allen Zeiten haben die Menschen sich gern mit einem Jenseits beschäftigt, das sie sich freilich in sehr verschiedener Art und Weise dachten und ausschmückten. Die Kirchenlehre über Himmel und Hölle, von Engeln und Teufeln ist dabei oft maßgebend, und die Spiritualisten berufen sich bei ihrer Hantirung auf alle Zeiten der Vergangenheit, heidnische wie christliche. Schon Odysseus sah im kimmerischen Gebiete „Luftgebilde der Todten“ und flehete deren Schaaren mit Gelübden an. Er unterhielt sich mit seinem verstorbenen Gefährten Elpenor, mit dem Wahrschauer Tiresias, und erkannte plötzlich auch den Schatten seiner eigenen Mutter:
– ich aber, durchbebt von inniger Sehnsucht,
Wollt’ umarmen die Seele der abgeschiedenen Mutter.
Aber dreimal flog sie ihm aus den Händen hinweg, wie nichtiger Schatten, wie ein Traumbild, und als er fragte, weshalb sie sich ihm entziehe, wurde ihm die Antwort:
„Unsere Seele verfliegt, wie ein luftiger Traum, und entschwebet.“
Diese Geister waren also, wie jene unserer Spiritualisten, nicht greifbar. Auch die alten Römer und die jüdischen Kabbalisten glaubten an Geister in menschlicher Gestalt, an sogenannte Bilder der Seele, und die Spuk-, Polter- und Klopfgeister, die Kobolde und Klabautermänner spielen im Mittelalter eine große Rolle. Von Manchen wurde angenommen, daß sie während ihres Lebens Verbrechen begangen hätten und verdammt seien, auf der Erde zu hausen. Ihre Gegenwart gaben sie in sehr mannichfaltiger Weise zu erkennen, und schon der alte Theophrastus Paracelsus Bombastus weiß ganz genau Folgendes: „Sie kommen nicht immer in leiblicher Gestalt, sondern unsichtbarer Weise, daß nur etwa ein Schall oder Ton, Stimm’ oder schlecht Geräusche von den Lebenden gehört wird, als da ist Klopfen oder Pochen, Zischen oder Pfeifen, Niesen, Heulen, Wehklagen, Seufzen, Trampeln mit den Füßen, welches Alles von innen geschieht, daß die Leute aufmerksam werden und sie fragen.“ Das Alles thun, wie die Spiritualisten wissen wollen, unsere neumodischen Geister auch, nur machen sie in unserer aufgeklärten und fortgeschrittenen Zeit noch eine Menge von eigenthümlichem Hokuspokus hinzu, wie wir weiter unten sehen werden.
Durch manche Stellen, welche in den alten jüdischen Büchern enthalten sind, wurde es auch bei den Christen Glaubensartikel, daß man mit den abgeschiedenen Geistern verkehren könne. In dieser Beziehung ist die bekannte Geschichte der Hexe von Endor wichtig geworden. Bei den Kirchenvätern gilt die Ansicht, die Seelen mancher Verstorbenen seien Dämonen, welche, mit Sünde erfüllt, den Körper verlassen hätten, von Haß und Begierde umhergetrieben würden, die Beschaffenheit von Dämonen annähmen, sich in verschiedene Gestalten umwandeln und sichtbar oder unsichtbar machen können. Nachdem einmal solche Ansichten feststanden, kann uns natürlich keinerlei Spuk, und sei er noch so toll und widersinnig, überraschen. Die Leute glaubten daran, und damit ist Alles gesagt. Heidnische Philosophen hatten die Unsterblichkeit in Abrede gestellt; die Kirchenväter machten dagegen geltend, sie, die Heiden, würden doch wohl ihre Behauptung nicht vor einem Magiker aufrecht erhalten, welcher durch seine Zauberkunst die Seelen aus der Unterwelt [329] herauf beschwören und bewirken könne, nicht nur daß sie sprächen, sondern auch die Zukunft weissagten und Zeichen ihrer Gegenwart gäben. So blieb durch das ganze christliche Mittelalter als unbestreitbar der Satz: der Lebende könne eine Gemeinschaft mit den Seelen der Verstorbenen unterhalten. Im alten Rom hatten die Todtenbeschwörer eine förmliche Zunft gebildet. Nahm man einmal das Vorhandensein solcher Geister an, so drängte sich die Frage auf, ob sie gut oder böse seien. Der heilige Augustin machte sich die Sache leicht, indem er sagte: was Wunderbares in der Natur geschehe, und nicht dem Dienste des wahren Gottes zugewandt sei, komme vom Teufel, vom Dämon, und darin stimmen andere Kirchenväter mit ihm überein; die gläubige Welt wußte also, woran sie mit den Geistern war. Dagegen galten die Erscheinungen der Engel etc., von welchen in der Bibel geschrieben steht, für richtig und unbestreitbar. Luther glaubte nicht an das Erscheinen Verstorbener, weil er das Fegefeuer verwarf.
Aber der Geisterspuk hat sich durch alle Jahrhunderte bis in unsere Tage fortgezogen und stille oder laute Anhänger behalten; die Teufelaustreibungen kamen nie in Abgang. Jung-Stilling hatte seine Theorie von der Geisterkunde, Swedenborg wußte ganz genau, wie es mit dem Geisterreiche beschaffen ist; in vielen Geheimbünden, welche im vorigen Jahrhundert über ganz Europa verbreitet waren, beschäftigte man sich mit dem Citiren der Geister, und Schiller hat in seinem „Geisterseher“ diesen Gegenstand vortrefflich behandelt. Wir wollen nur beiläufig an Lavater, die Gräfin Medem, Elise von der Recke, Feßler, den Minister Schrötter, den Grafen St. Germain, Cagliostro, Schröpfer, die preußischen Minister Wöllner und Bischofswerder erinnern und daran, daß die große Entdeckung Mesmer’s benutzt wurde, um einen neuen Geisterspuk heraufzubeschwören. „Eine ganze Menge Pythien und Cassandren entstanden in den Leibern ungebildeter Mädchen, und die Geister zeigten sich eben so klopfend, zischend, seufzend und werfend, wie von jeher. Justinus Kerner, Eschenmayer, Fr. von Meyer, G. von Schubert, Novalis, Jung-Stilling, Gerber und Andere wurden die Vertreter einer spiritualistischen Deutung jener Phänomene. Und kaum hat auch diese Ansicht vor dem Lichte naturwissenschaftlicher Forschung sich scheu zurückgezogen in das innere Heiligthum weniger Gläubigen, da schenken uns das Tischklopfen und der Psychograph ein neues Mittel, mit dem Geisterreiche in Verkehr zu treten, und ein so einfaches, daß der Umgang mit der Geisterwelt zum Spiele wird, und das Geistercitiren zur abgeschmackten Carricatur. Und doch lauschen die Zeitgenossen, gleich unsern Vorfahren (bei denen die Karthäusermönche in dem Rufe standen, mit den Klopfegeistern am besten umgehen zu können), auf diese unheimlich klopfenden Töne.“ Diese Worte äußert H. B. Schindler in seiner interessanten Arbeit: „Der Aberglaube des Mittelalters“ (Breslau 1858). Wir wünschen diesem Buch eine weite Verbreitung; es enthält gesunde Sachen.
Aber wie verhält es sich denn eigentlich mit diesem Geisterschwindel, mit diesem Spuk, der wieder einmal so großen Rumor in der Welt macht? Darüber sind weder Gelehrte, noch Ungelehrte einig, und Gewisses weiß Niemand. An Erklärungen und Widerlegungen hat man es nicht fehlen lassen, und diese sind eben so mannichfaltig, wie die Formen, unter welchen der Spuk sich zeigt; aber häufig widersprechen sie einander. Man hat viel offenbaren Unsinn und groben oder feinen Betrug nachweisen können, das plumpe Treiben der Geisterseher liegt in vielen Fällen offen zu Tage, aber zu vollen Enthüllungen über den Zusammenhang ist man noch nicht gekommen. Inzwischen treiben die „Spiritualisten“ ihr Wesen fort und gewinnen namentlich in den höheren Classen der Gesellschaft immer mehr Anhang. In diesen sind ihnen auch die eifrigsten Verbreiter der neuen Wunderlehre erwachsen und sie haben sich Paris zu ihrem Mittelpunkte auserwählt, so z. B. die Grafen Szapary und Ourches, die Barone Brewern und Guildenstubbe, die gleich manchem Anderen das Geisterevangelium verkünden.
Also der Spiritualismus ist nicht etwa im Absterben begriffen, er ist vorhanden als Glaube an einen unmittelbaren Verkehr des Menschen mit der „Geisterwelt“, zählt, wie schon gesagt, in Europa und Amerika seine Anhänger nach Millionen und ist insofern eine Wirklichkeit. Wir müssen dieser psychologischen oder moralischen Epidemie (denn dafür halten wir unsererseits die ganze Erscheinung) Aufmerksamkeit zuwenden, obgleich sie zum Glück bei uns in Deutschland verhältnißmäßig geringe Ausdehnung gewonnen hat. Der Geisterglaube selbst ist, wie wir schon gesagt haben, so alt, wie die Geschichte der Menschen, nur hat er neuerdings, und seitdem vor nun elf Jahren zwei amerikanische Mädchen zu Hydesville im Staate New-York mit dem Tischklopfen hervortraten, neue Gestaltungen gewonnen. Man hat die Sache in ein förmliches System gebracht und sich durch keine Anfechtungen beirren lassen. Als Hauptapostel des Spiritualismus steht in den Vereinigten Staaten ein angesehener Jurist da, Richter Edmonds in New-York, der schon 1852 seine „Erfahrungen“ veröffentlichte. Er ist neuerdings mit seinen Ansichten abermals vor das Publicum getreten (New-York Weekly Tribune vom 2. April etc. dieses Jahres) und wir wollen sehen, wie er sich die Sache denkt.
Zuvörderst bringt er eine Art von kirchlicher Statistik über Nordamerika. Ihm zufolge gibt es in den Vereinigten Staaten, welche jetzt etwa dreißig Millionen Bewohner zählen, nur etwa fünf bis sechs Millionen Christen mit ausgesprochenem Bekenntniß. Er, Edmonds, achte deren Ueberzeugung, nehme aber seinerseits das Recht in Anspruch, sich an die funfzehn bis zwanzig Millionen zu wenden, die keiner Kirche angehörig seien und kaum irgend eine Religion hätten. Diesen wolle er einen Glauben an die Hand geben, welcher alle Zweifel in Betreff eines zukünftigen Lebens aus dem Wege räume; er wolle ihnen in das Jenseits einen Blick eröffnen, der über alle Maßen für die unsterbliche Natur anziehend sei. Dann folgt der Inhalt seiner Lehre. Wer einmal auf Erden gelebt hat oder gestorben ist, kann mit denen, welche noch auf Erden weilen, in Verbindung bleiben und der Abgeschiedene vermag seinen zurückgebliebenen Lieben Offenbarungen zu ertheilen.
„Ich frage, ob man mich nicht für einen zuverlässigen Mann hält, in dessen Worte Vertrauen zu setzen ist? Ich bin sechzig Jahre alt und habe seit vierzehn Jahren als Rechtskundiger und Politiker vor meinen Mitbürgern gestanden. Diese können also ein Urtheil über meinen Charakter fällen. Auch wird mein öffentliches und Privatleben einem Jeden erlauben, zu beurtheilen, ob ich leichtgläubig bin oder mich täuschen lasse.“
Dann erzählt Richter Edmonds, daß er zwar schon im Januar 1851 seine Forschungen über die Geisterwelt anzustellen begann, aber erst seit dem April des Jahres 1853 die felsenfeste und unumstößliche Ueberzeugung von ihrer Wirklichkeit gewonnen habe. Binnen siebenundzwanzig Monaten sah er einige hundert Erscheinungen (Manifestationen) in sehr verschiedenen Gestalten, führte über die meisten Buch und Protokoll mit juridischer Genauigkeit, und seine Geisterprotokolle nehmen jetzt sechzehnhundert enggeschriebene Seiten ein. Jeder einzelne Verkehr mit den Geistern wich von den übrigen ab und bot stets eine neue Seite dar, aber immer „traf ich alle nur denkbaren Vorkehrungen, um alle Täuschungen zu beseitigen oder gar nicht aufkommen zu lassen. Ich bemerkte sehr wohl, wie viel Aufregendes darin liegt, daß ein Lebender mit den Abgeschiedenen in Verkehr tritt, und ich gewann daran erst Glauben, als die unbestreitbare Evidenz, der Augenschein ferner nicht den mindesten Zweifel aufkommen ließ.“
Dann erzählt er weiter:
„Die Klopfgeister hörte ich zum ersten Male, als ich mit drei weiblichen Personen im Zimmer war, deren Charakter dafür bürgt, daß von Betrug keine Rede sein konnte. Als ich eintrat, saßen sie an der einen Seite des Tisches; die Klopfer kamen mit einem raschen angenehmen Ton am Fußboden bis in die Nähe der Damen. Ich setzte mich auf die entgegengesetzte Seite und dachte: Eine von den Dreien macht das Geräusch wohl mit Hand oder Fuß oder Kniegelenken. Aber sogleich ging das Geräusch auf den Tisch über, der so stand, daß Niemand ihn mit der Hand erreichen konnte. Nun, es wird Bauchrednerei sein, sagte ich zu mir selbst. Ich ging also an den Tisch, hielt meine Hände gerade über die Stelle, von welcher das Geräusch kam, und fühlte deutlich Schwingungen der Art, wie sie entstehen, wenn man mit einem Hammer pocht. Aber kann das nicht durch irgend eine Maschinerie bewerkstelligt werden? Doch sogleich liefen die Töne auf verschiedenen Theilen des Tisches umher, und die Schwingungen verspürte ich an allen Stellen, auf welche ich meine Hand legte. Sehr oft habe ich Tische umgekehrt, damit ich recht genau untersuchen konnte, und allemal habe ich die Klopfer durch Fragen auf die Probe gestellt. Indem sie Antwort gaben, ertheilten sie dieselbe oft aus der Rücklehne meines Stuhles, während doch außer mir kein Mensch im Zimmer war; manchmal kamen sie auch an meine Person, sogar im Eisenbahnwagen, wenn dieser in größter Schnelligkeit dahinbrauste. [330] Nicht selten ließen sie sich hoch oben an der Wand hören, wohin kein Arm reichen konnte, oder in einer offenen Thür, oder vier bis fünf Füß von einem Menschen entfernt. Auch sind sie manchen Personen auf Schritt und Tritt gefolgt und haben sich sogar hören lassen, wenn das Medium im Wasser saß oder wenn dessen Füße zusammengebunden waren, wohl auch auf einem Federkissen ruhten oder durch eine Glasplatte vom Fußboden isolirt waren. Aber manchmal habe ich auch herausgebracht, daß das Medium die Töne fabricirte.
„Also Bauchrednerei konnte möglicherweise immer noch im Spiele sein; wir wollten dahinter kommen und stellten deshalb Gefäße mit Quecksilber hin, an welchem auch die leiseste Schwingung beobachtet werden konnte. Nachdem ich dann manche Woche lang alle möglichen Prüfungen versucht hatte, kamen die Klopfer zu mir, als ich im Bette lag und kein anderer Mensch im Zimmer sich befand. Zuerst hörte ich, wie sie am Fußboden pochten, als ich eben im Liegen ein Buch las. Das wird wohl eine Maus sein, dachte ich, aber sogleich ging das Geräusch auf eine andere Stelle über, und zwar so rasch, wie eine Maus sich nimmermehr bewegen kann. Dann kamen sie mir deutlich, gewiß und wahrhaftig an meinen Leib, namentlich auf den Schenkel. Ich dachte: das kann ein Nervenzucken sein. Ich setzte mich also im Bette aufrecht und entblößte das Bein völlig; in der einen Hand hielt ich die brennende Lampe ganz in die Nähe des Beines, paßte genau auf, stellte allerlei Versuche an, legte z. B. meine linke Hand platt auf die Stelle, wo ich den Klopfer verspürte, und dann war er auf der Hand und nicht mehr auf dem Schenkel. Als ich die Hand seitwärts auf das Bein hielt, ging die Kraft, oder wie ich sonst die Sache benennen soll, durch meine Hand wieder auf den Schenkel über und machte sich dabei in jedem Finger bemerklich. Als ich die Hand etwa drei Zoll vom Beine entfernt hielt, hörte plötzlich die Berührung auf, begann aber sogleich wieder, sobald ich die Hand ganz wegzog. Nun meinte ich, daß etwa der Magnetismus meiner Hand alle diese Erscheinungen hervorrufe. Aber als dieser Gedanke eben in mir aufstieg, begann ein arger Rumor auf allen meinen Gliedern, und das so deutlich und mit einer solchen Schnelligkeit, daß es in der That höchst wunderbar erschien; es lief mir vom Schenkel bis in die Zehenspitzen auf und ab, und einige Mal so stark, als ob ich gestoßen worden wäre.
„So ging das Ganze wohl eine halbe Stunde lang fort; ich kam aber während dieser Zeit zu der Ueberzeugung, daß die Klopfer intelligent seien und bei ihren Bewegungen die Einwürfe entkräften wollten, die ich in meinen Gedanken ihnen machte; denn ich äußerte während aller dieser Vorgänge auch nicht ein Wort. Endlich löschte ich meine Lampe aus und legte mich zum Schlafen nieder. Da verließen sie meine Beine, gingen auf andere Körpertheile über und klopften ganz zart meine linke Seite, während ich einschlummerte. Nun erhob sich aber noch die Frage, ob es sich bei alle dem nicht etwa um eine unbekannte Macht handele, die einer eigenthümlichen sterblichen Organisation angehören und deren Einwirkung unterworfen sein konnte. Aber die „Kraft“ kam oftmals, wenn sie vom Medium gar nicht verlangt wurde, und blieb aus, wenn man auch noch so dringend nach ihr verlangte. Sie erschien, wenn es ihr gefiel, und nicht, wenn Andere es wünschten. Nach etwa zwei Jahren machte ich meiner Gesundheit halber eine Reise nach Central-Amerika, wo ich drei Monate, fern von der Aufregung der Cirkel (der Kreise, in welchen man sich mit den Klopfgeistern befaßte) verweilt und in völliger Ruhe Alles noch einmal geprüft habe. Und ich fand, daß es sich um ein großes System handelte, um einen intelligenten Vorsatz, und der Glaube daran drängte sich unwiderstehlich auf, mir selbst zum Trotz. Seitdem steht unwandelbar in mir die Ueberzeugung fest, daß die Geister der Abgeschiedenen mit uns in Verbindung stehen.“
Das sind die Geständnisse des Richters Edmonds, und wir dürfen nicht den mindesten Zweifel hegen, daß dieser Mann ehrlich und fest von dem durchdrungen ist, was er sagt. Es hat etwas Rührendes, wenn er weiter äußert, daß er seiner Ueberzeugung wegen vielerlei Ungemach erfahren habe. Früher sei er in den Kreisen, in welchen er verkehrt, mit Auszeichnung behandelt worden, dann aber habe man ihn nicht nur gemieden, sondern verabscheut, und auch jene, welche ihm am liebsten gewesen, hätten sich mitleidig oder widerwillig von ihm abgewandt, so daß er höchstens noch geduldet werde. „Aber trotz alle dem bin ich auch nicht ein einziges Mal in meiner Ueberzeugung wankend geworden, und jetzt stehe ich vor meinen Nebenmenschen, um als Zeuge Kunde von Erscheinungen und Offenbarungen zu geben, die von jenseit des Grabes kommen. Darum hört! Die Stimme kommt aus dem Jenseits und bringt frohe, entzückende Kunde.“
Unsere heutigen Geisterseher haben, gleich jenen in früheren Zeiten, einen starken und sehr verzeihlichen Hang, sich mit den großen Männern der Vergangenheit in Verbindung zu setzen, und in Berlin, wo man gern fromme Seelen und biblische Charaktere heraufbeschwört, lebt ein solcher Spiritualist, der mit dem alten Moses gleichsam auf Du und Du steht, ihn häufig in Rath nimmt und sich mit ihm nicht in altegyptischer oder hebräischer Sprache, sondern im besten Müller-Schulze-Deutsch höchst gemüthlich über alle häuslichen Angelegenheiten unterhält, auch guten Rath entgegennimmt; in Nordamerika spricht dagegen Moses ein Yankee-Englisch und in Paris hat er sich völlig die Sprache der vornehmen Salons angeeignet. Wenn aber Moses drei neuere Sprachen versteht und redet, so leidet es wohl kaum einen Zweifel, daß er auch die übrigen Hunderte von Sprachen redet, welche auf Erden vorkommen; denn im Geisterreiche wird doch kaum ein Zunftprivilegium für die New-Yorker, Berliner und Pariser anzunehmen sein.
Die Amerikaner machen sich, wie begreiflich, sehr viel mit ihren hervorragenden Landsleuten zu schaffen, und Richter Edmonds erzählt uns sehr ausführliche Sachen über William Penn, der ihm einst offenbarte: „Seitdem Sie als Knabe aus Muthwillen eine junge Katze todtgeschlagen haben, bin ich Ihr Schutzgeist gewesen.“ Die Schutzgeister spielen überhaupt eine große Rolle bei den Spiritualisten. Jener berlinische Freund des alten Moses besitzt einen solchen, welcher sich ihm als Fritz zu erkennen gegeben hat und auf diesen Ruf allemal erscheint, etwa wie ein Pudel auf den Ruf Karo. Dieser Fritz führte denn oft Klage darüber, daß der Italiener Mazzini ihm überall in die Quere komme und seine besten Absichten durchkreuze. Penn scheint einen so maliciösen Gegner nicht zu haben, denn er offenbarte dem Richter in sehr sanftem Tone, daß er seit jenem Katzenmorde ihn stets umschwebt, von manchem Fehltritte abgehalten und in seinem Widerwillen gegen die Negersclaverei bestärkt habe. Es ist überhaupt merkwürdig, wie sehr die amerikanischen Geister mit den politischen Streitfragen der verschiedenen Parteien verflochten sind. Bei einem Sclavenhalter im Süden würde Penn dergleichen nicht äußern dürfen. Es scheint, als ob die Geister sich sehr hüten, es mit irgend einer Partei zu verderben. Daß sie gern Rede und Antwort stehen, wissen wir schon. Sehr häufig wird der große Naturforscher Isaak Newton vorgefordert, und dem Richter Edmonds hat er ein ganz capitales Orakel ertheilt, dessen Deutung wir freilich den Physikern überlassen müssen. Er sagte nämlich: „In der Geisterwelt bin ich davon überzeugt worden, wie sehr ich im Irrthum war, als ich die Anziehungskraft der Gravitation für ein verschiedenes und substantives Princip hielt; denn in Wahrheit ist dieselbe doch nur die Wirkung einer Bewegungscombination; die Bewegung ist ein Princip, welches alle geschaffenen Dinge durchdringt, und eine ihrer Wirkungen ist die Gravitation.“ Vortrefflich gesagt und gewiß ungemein klar – für Geister!
Nicht weniger bezeichnend ist die Erläuterung, durch welche wir erfahren, wie Edmonds dazu gelangte, mit den Geistern zwanglos umzugehen. „Mir war die Versicherung gegeben worden, daß im Verkehr mit ihnen gar nichts Uebernatürliches liege, denn es sei weiter gar nichts, als ein Ergebniß des Fortschreitens der Menschheit. Nun, ein solches müßte doch wohl einem allgemeinen Gesetz unterthan sein, und darauf wurde mir entgegnet, daß dem allerdings so sei. Nun fragte ich: Können wir denn den Verkehr mit Geistern nicht eben so leicht begreifen, wie die Elektricität oder den Magnetismus? und das wurde mir (von einem Geiste) bejaht. Ich forschte dann viel nach, weil ich die Sache erlernen wollte, kam aber bald dahinter, wie schwierig das sei, denn ich verstand nichts von den Naturgesetzen; ich fragte indessen nach, ob kein Buch vorhanden sei, durch welches ich zu einem Verständniß derselben gelangen könne.“ Und ein Geist war so gütig, den wißbegierigen Richter auf die Werke hinzuweisen, welche unser Baron von Reichenbach über Od und Magnetismus geschrieben hat.
Natürlich ließ Edmonds auch seine ihm theuren Verstorbenen heraufkommen, er sah sie, wie er sagt, mit seinem geistigen Auge so deutlich, wie mit seinem leiblichen; er ist ein „Medium“ und zwar ein hochbegabtes. Sie erschienen, inmitten anderer, ihm nicht bekannter Geister, in strahlenden Gewändern und mit heiteren Mienen; [331] Vater, Mutter und einige andere verstorbene Angehörige seiner Familie waren aber so freundlich gewesen, „irdische Kleider anzuthun, damit ich sie erkennen möge.“
Besonders viel hat Edmonds sich mit Swedenborg zu schaffen gemacht, der ihm über seine theologischen Ansichten sehr ausführliche Mittheilungen machte und unter anderem enthüllte, daß man sich auf die in seinen (Swedenborg’s) Werken geschilderten Visionen und Offenbarungen verlassen könne, nicht aber auf die Theorien, welche er denselben als Unterlage gegeben. Er habe seine Offenbarungen mit der Tagesreligion in Einklang bringen wollen, die Bibel enthalte viele Wahrheiten, sei aber in einem Zeitalter entstanden, das den Fortschritt noch nicht gekannt habe, und enthalte Irrthümer und Mängel, eben weil sie in einer noch nicht progressiven Zeit zum Vorschein gekommen sei. Benjamin Franklin gab ausführliche Erläuterungen über Herrn von Reichenbach’s Od; er hat die Werke dieses Schriftstellers im Geisterreiche studirt, doch waren die Mittheilungen lückenhaft. Dafür wurde aber Edmonds auf ungemein liebenswürdige Art von den Geistern getröstet oder entschädigt. Sie erlaubten ihm, „in die Regionen des Raumes“ hineinzublicken, und so sah er denn viele Millionen glückliche Geister, von denen viele aus anderen Planeten gekommen waren, wie wir vermuthen, um vor dem geistersehenden Yankee Parade zu machen. Alle bildeten einen Halbkreis, hielten musikalische Instrumente in den Händen und waren hocherfreut, daß endlich eine Verbindung zwischen den Bewohnern dieser Erde und dem Lande der Geister eröffnet worden sei; besonders auch deshalb freuten sie sich, weil sie nun den Menschen die Pflichten und die Bestimmung offenbaren und die Wolke hinwegrollen könnten, welche so lange verhüllend da gelegen. Und dann erschallte ein Jubelruf durch alle Welträume, und die Geister zeigten mit den Fingern auf Benjamin Franklin und erklärten, sie verdankten es der umfassenden und praktischen Philosophie des Doctors, daß die Entdeckung vervollkommnet sei. Worauf dann der Doctor diese Glückwünsche sanft und bescheiden entgegen genommen, auch nicht die Spur von Eitelkeit habe er gezeigt, wohl aber erglänzte sein Antlitz von überströmender, wiewohl demüthiger Freude deshalb, weil er so Vieles zum Glücke seiner Unsterblichkeitsgenossen auf Erden und im Jenseits beigetragen habe.
Nicht wahr, das ist Tollheit? aber es ist Methode darin. Doch die Sache kommt noch besser. Einige Geister sind so entzückt über Franklin, daß sie ihm Beifall klatschen, andere geben Herrn Edmonds Winke, die er anfangs nicht zu deuten weiß, bis man ihm zuruft: „Gehe und schaue!“ Und was sieht er nun? Zu seinem unaussprechlichen Grausen erblickt er unzählige Geister, die einander verfolgen, dunkele Geister, auf deren Angesicht die abscheulichsten Leidenschaften ausgeprägt sind. Mörder rennen mit Dolchen hinter Geistern her und stoßen diese nieder; unschuldige Mädchen werden von Wüstlingen verfolgt, die aber nur ein luftiges Nichts umarmen; ein Goldsucher kratzt gierig Gold aus dem Staube, aber das Gold verwandelt sich in schwarze Erde, die er wild heulend von sich wirft. Ein Selbstmörder, der in gottloser Verzweiflung die Erde hatte verlassen wollen, haftete vermittelst einer Geisternabelschnur an derselben fest und quälte sich ewig vergeblich ab, dieselbe zu durchschneiden. Kurz, die bösen Geister trieben ganz schauderhafte Dinge. Als dann ein guter Geist mitten unter sie trat, empfingen sie ihn zwar mit höllischem Hohngelächter, liefen aber von dannen; nur ein einziger blieb zurück und erklärte, daß er sich bessern wolle. „Darüber entstand allgemeine Freude unter den Schaaren der Geister, und mit elektrischer Schnelligkeit erfuhren alle Himmel, daß ein Mensch sich bessern wolle. Alle Geister nahmen den einen in den Arm und trugen ihn in die Region der Seligen.“
Und an so dummes, plumpes Zeug, an ein so phantastisches Gemisch aus den Gesichten Swedenborg’s und unseres alten Paters Kochem glauben nicht Tausende, sondern Hunderttausende; man stellt darüber weitläufige Betrachtungen an, und eine mit Recht sehr geachtete Zeitschrift, von welcher ein Vierteljahrheft vor uns liegt (The New Englander, New-Haven in Connecticut, August 1858) hält es im Interesse des gesunden Menschenverstandes und der Vernunft für nöthig, in eine Erörterung über nicht weniger als dreizehn neue spiritualistische Schriften einzugehen und die Hohlheit dieser ganzen Wirthschaft nachzuweisen. Der bei weitem größte Theil der Secte besteht aus Leuten, die gläubig sind und sich selbst betrügen; die Zahl der Gauner, welche den Blödsinn der Uebrigen mit Plan und Bewußtsein ausbeuten, ist verhältnißmäßig nur gering. Der „Spiritual-Telegraph, eine Wochenzeitung zur Erläuterung des Verkehrs mit den Geistern“, erscheint seit 1852 in New-York und findet ungemein zahlreiche Leser; eben so der „Christian Spiritualist“, welchen die Gesellschaft zur Verbreitung der Geisterkunde herausgibt, um diese letztere mit dem Christenthum zu vermitteln. Die Zahl der Anhänger des Spiritualismus ist auch unter der Geistlichkeit sehr beträchtlich.
Eine abgeschlossene Secte mit festen Lehrsätzen, so zu sagen mit einem dogmatischen Programm, bilden übrigens die amerikanischen Spiritualisten nicht; während Alle an den Verkehr mit Geistern glauben, haben sie doch sehr verschiedene Vorstellungen von der Geisterwelt, und Viele bekennen sich noch zum Christenthume, während Andere sich ganz ablehnend gegen dasselbe verhalten und nur glauben, was die Geister ihnen sagen. Sie verwerfen die Gottheit Christi, legen auf die Bibel geringen Werth und stellen den Propheten von Nazareth auf eine Linie mit Pythagoras. Von den Geistern sind ihnen auch fünf Artikel offenbart worden, welche den „Inbegriff der politischen Gerechtigkeit“ bilden. Diese sind: 1) Wer noch kein Grundeigenthum besitzt, muß Land erhalten; 2) Alle Beamten ohne Ausnahme müssen vom Volk erwählt werden; 3) Alle Gesetze, welche das gerichtliche Eintreiben von Schulden gestatten, müssen abgeschafft werden; 4) Todesstrafe darf nicht sein, und 5) es soll Freihandel stattfinden.
So sind die Spiritualisten!
Die italienische Halbinsel, vom Continente durch jene hohe Gebirgskette, welche wir im Allgemeinen die „Alpen“ nennen, getrennt, kann nur auf zwei Wegen von diesem aus angegriffen oder unterstützt werden, entweder zur See oder über jenes Gebirge, – letzteres muß durch die Gebirgspässe geschehen, die von allen Seiten nach den Ebenen der Lombardei und Piemonts hinabführen, und selbst die zur See nach Nizza oder Genua transportirten Truppen müssen Gebirge überschreiten, um dorthin zu gelangen. Von Hannibal bis zu den Zeiten Napoleon’s I. galt es für ein riesiges Unternehmen, die Alpen mit einem Kriegsheere zu passiren, und weil es Letzterem eine Nothwendigkeit war, eine raschere Communication zwischen den italienischen Provinzen des Kaiserreiches und diesem selbst herzustellen, that er alles Mögliche, die Straßen über die Gebirge zu verbessern, und ließ Alessandria befestigen, um für deren Debouchés einen gesicherten Stützpunkt zu erhalten, – Alessandria, das zu diesem Zwecke viel günstiger liegt, als Turin.
Napoleon III. benutzt jetzt jene Straßen, die sein Oheim einst theils neu anlegen, theils herstellen ließ, um Oesterreich anzugreifen. Die nördlichste ist die über den Mont Cenis, weil alle anderen nach jener Himmelsgegend hin gelegenen durch die Neutralität der Schweiz nicht gebraucht werden können. Der Mont Cenis bildet die Wasserscheide der Flußgebiete des Po und der Rhone, die Are und Dora Ripera entspringen in seiner Nähe, und in ihren Thälern zieht sich die Straße von Montmelian bis Susa, wo sie in Piemonts Ebenen tritt. Unweit Montmelian liegt Chambery, hier und bei Grenoble sammelten sich die französischen Truppen, welche diesen Gebirgspaß überschreiten sollten. Ein derartiger Marsch macht viele Vorbereitungen nothwendig.
Noch war man im Begriff, dieselben zu treffen, als die Nachricht einlief, die Oesterreicher hätten sich durch diplomatische Kunststückchen nicht länger täuschen lassen, sondern den Po und Ticino überschritten und wären in Piemont eingerückt. Der Befehl, welchen die französische Armee erhielt, nunmehr die Alpen zu überschreiten, rief die lebhafteste Begeisterung bei derselben hervor; abermals konnte jeder Soldat sich Lorbeeren pflücken und la gloire winkte ihm, wenn er sich aus liberté nicht eben viel macht, denn diese Pflanze läßt die Disciplin nicht recht gedeihen.
Italien hat für das französische Heer einen unendlichen Reiz:
[332][333] hier sind die Schlachtfelder von Lodi, Arcole, Caldiero und Marengo, hier erwarben sich ihre Vorgänger einst einen Ruhm, der die Welt erfüllte und in der Folge beinahe zur Weltherrschaft führte – warum sollte es gegenwärtig nicht dasselbe leisten, gegenwärtig, wo der harte Feldzug in der Krim die Führer und Soldaten geschult hat? Und wie freudlos war jene Campagne, wie freudlos jede in Afrika gegen eine solche unter Italiens ewig lächelndem Himmel!
Mit mehr Ernst und weniger chimärischen Hoffnungen blickte ein Theil der Officiere auf die bestehenden Verhältnisse; dieser wußte recht gut, daß die Armee noch nicht marschbereit sei, daß es namentlich an Last- und Zugthieren, sowie an Reiterei und Artillerie fehlte. Ein Tagesbefehl sagte den Truppen, daß ihre Vorfahren einst unter noch trüberen Verhältnissen die Alpen überschritten hätten, forderte Jeden auf, seine Schuldigkeit zu thun, und ordnete die Details des Marsches an. Wind und Wetter waren gegen das Unternehmen, noch hemmte der Schnee die Passagen auf den Höhen, und an den Hängen rieselte das Wasser herab und ließ die Lache aus ihren Ufern treten. Jeder Soldat weiß, wie schlecht es sich marschirt, wenn der Boden naß und aufgeweicht ist; kommt nun noch Wind, Regen und Schneegestöber hinzu, so muß dies mit der wechselnden Gebirgsluft nicht nur einen großen Nachtheil auf den Marsch ausüben, weil es Verzögerungen veranlaßt, sondern auch auf die Gesundheit der Leute selbst. Das Corps des General Niel war es, dem die Aufgabe ward, diesen Weg zurückzulegen; ursprünglich sollte auch das Corps des Marschalls Canrobert dieselbe Straße gehen, doch ward dies in Folge der Schwierigkeit und Langsamkeit, mit welcher sie passirt werden mußte, über den Mont Genèvre dirigirt, während fast die ganze Artillerie beider Corps nach Marseille geschickt wurde, um von dort nach Italien eingeschifft zu werden.
Die, wie wir bereits sagten, von Napoleon I. angelegte Straße steigt von Aiguebelle bis St. Jean de Maurienne in südlicher Richtung langsam aufwärts, in gleicher Weise wendet sie sich östlich bis Madone, wo sie, steiler werdend, sich erst nördlich und nordöstlich um den Mont Cenis windet, und dann noch steiler in südöstlicher Richtung nach Susa abfällt. Hieraus ergibt sich, daß es leichter ist, den Mont Cenis in der Richtung von Frankreich nach Piemont, als umgekehrt zu passiren, und daß man diesen Weg wohl zu einem Vormarsch benutzen kann, wenn der Feind das Debouché nicht in seiner Gewalt hat, kaum aber als Rückzugslinie, wenn man gedrängt wird. Auch als Etappenstraße hat diese Straße wenig Werth, da sie zu schwierig zu passiren ist, und sie wurde jetzt von den Franzosen wohl nur eingeschlagen, um gleichzeitig mit mehreren Colonnen in Piemont erscheinen und sich mit Leichtigkeit auf Turin oder die Dora-Baltea-Linie werfen zu können, je nachdem die Bewegungen des Feindes das Eine oder Andere nöthig gemacht hätten. Das ist nicht nöthig gewesen, der strömende Regen hielt auch die Oesterreicher in ihren Bewegungen auf und ließ den Franzosen Zeit, bis Alessandria und wohl selbst über dieses hinaus vorzurücken und das sardinische Heer zu unterstützen, das jetzt kaum mehr als solches existirt, sondern divisionsweise den französischen vier Armeecorps beigegeben ist.
Die Straße über den Mont Cenis liegt an ihrem höchsten Punkte 7080 Fuß über dem Meeresspiegel, geht wie andere große Gebirgsstraßen im Zickzack aufwärts und ist für Infanterie und Lastthiere überall passirbar, wenn nicht der Schnee hemmend eintritt, der nur wenige Sommermonate zu schmelzen pflegt. So auch jetzt, der Schnee lag hoch, und Tausende von Arbeitern mußten Tage lang beschäftigt werden, um ihn in so weit zu beseitigen, daß die Truppen nicht aufgehalten wurden. Hatte der sündfluthartige Regen der letzten Wochen schon die Zugänge fast unwegsam gemacht, so spottete der fast täglich sich erneuernde Schneefall aller Anstrengungen der zahllosen Arbeiter, den Paß schneefrei zu machen. Kein Wunder, daß die Militairhospitäler in Susa und Umgegend voller Kranken lagen. Viele fanden dort ihren Tod, diejenigen, welche dem peinigenden Durst bei der Erhitzung und Anstrengung durch den Marsch nicht widerstehen konnten und von dem Schnee- und Eiswasser tranken, sind in den meisten Fällen ein Opfer ihrer Unvorsichtigkeit geworben. Trotz alledem wurde der Uebergang von circa 45,000 Mann mit solcher Energie bewerkstelligt, daß die Soldaten sogar des Nachts keine Ruhe hatten, und die Regimenter von den Arbeitern der Tunnels mit Fackeln begleitet wurden, um nur rasch vorwärts zu kommen. Der große Verlust an Menschen und Vieh hat indeß den Obergeneral neuerer Zeit doch veranlaßt, Artillerie und Reiterei zur See zu befördern.
Der alte Herr Viebahn[2][WS 2] erzählt:
„Ich kann es nicht leugnen, ich war ein verzogenes Muttersöhnlein; doch war ich dabei, als es hieß: „Franzosen zum Land hinaus!“ Und ein stattlicher Jäger war ich, das läßt sich auch nicht leugnen, obwohl man es heute, beim Anblick meines wirklich commercienräthlichen Bäuchleins, auch nicht glauben sollte. Es war an einem Nachmittage nach dem Kaffee, nachdem der französische Oberst, unser Tischgenosse, hinausgegangen war, daß mein Vater zu der Mutter sagte, und zwar mit einer Stimme, die sehr resolut klingen sollte, in der That aber ein wenig zitterte:
„Nun, Alte, unser Eduard wird nun auch fort müssen!“
„Wohin denn?“ fragte meine Mutter und that, als ob sie nicht verstände, während ihr abgewandtes Gesicht verrieth, daß sie wohl verstand.
„Nun, meine Alte, Du verstehst mich wohl,“ und legte die Hand auf ihre Schulter. „Eduard weiß, was ich meine,“ fügte er hinzu.
Ich nickte mit dem Kopfe; die Mutter sah mich mit einem unaussprechlichen Blicke an, dann zog sie einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete eine Kommode, und indem sie auf eine reiche Ausstattung von Hemden, Taschentüchern, Nachtleibchen und andere Wäsche zeigte, sagte sie: „Ihr seht wohl, daß ich längst daran gedacht habe, und daß Alles vorbereitet ist!“
„Gute Mutter,“ lächelte mein Vater, „Deine Vorsorge ist zu reichlich ausgefallen; bewahre das Alles für seine Heirath; er kann nur so viel mitnehmen, als in einen Tornister geht.“
Meine gute Mutter blieb schweigend vor der geöffneten Lade stehen und sah die Wäsche an, ohne ein Wort zu sagen, ohne nur einen Seufzer auszustoßen.
Mein Vater wandte sich zu mir: „Jetzt, Eduard, sei vorsichtig – geh zum Dr. Schrader – der wird Dir sagen, was Du zu thun hast.“
Die alte Margareth, unsere Hausmagd, die mich auf den Knieen geschaukelt, ein treues Hausmöbel, das zur Familie gehörte und vor der meine Mutter kein Geheimniß hatte, trat in die Stube, und da sie die Lade offen und den ernsten Ausdruck auf unsern Gesichtern sah, lächelte sie einverständlich und murmelte ein „Endlich, endlich!“ zwischen den Zähnen.
„Hast Du denn gar kein Herz, Margareth?“ fragte meine Mutter vorwurfsvoll.
„Ob ich ein Herz hab’, Frau Viebahn, das wissen Sie wohl, und ob ich den Eduard lieb hab’, das wissen Sie auch; aber was nützt das Alles, die Franzosen müssen fort!“ rief Margareth und streckte den Arm so energisch und unabhängig in die Luft, wie sie es in Gegenwart ihrer Herrschaft vielleicht in ihrem Leben nicht gethan.
Am Abend schlich ich mich zu Dr. Schrader, einem Gelehrten, der seit einigen Wochen die Flora unseres Gebirges studirte und vor der Stadt in einem kleinen Häuschen wohnte. Aber die besten Deutschen unserer Stadt wußten, daß er ein Abgesandter des Tugendbundes, daß das kleine Häuschen ein Werbebureau sei. Wir waren westphälisch, und die größte Vorsicht that noth. Dr. Schrader, der von Allem vortrefflich unterrichtet war, sagte mir, ich müsse von allen Freiwilligen der Letzte sein, der die Stadt verlasse, damit der französische Oberst, der in unserm Hause wohnte, auf das Verschwinden der jungen Leute nicht aufmerksam werde. Das that meinem Ehrgefühl sehr wehe, daß ich von allen Patrioten, die zur Vertheidigung des Vaterlandes auszogen, der Letzte sein sollte. Die [334] wenigen Tage, die ich in meiner Vaterstadt noch verbrachte, wurden mir eine wahre Hölle. Alle meine Altersgenossen waren verschwunden; wenn man mich so allein durch die Gassen schlendern sah, zuckte man die Achseln. So oft ich ausging, um bei einem alten Soldaten einige geheime Exercirstunden zu nehmen, setzte Margareth voraus, daß ich endlich abreise und daß ich nur der vielen französischen Soldaten wegen, die sich in unserem Hause herumtrieben, nicht offen Abschied nehme, und sie lächelte mir einen liebevollen Gruß zu. Kam ich aber des Abends wieder zurück, so rief sie ganz laut: „Noch nicht fort?“ und schüttelte den Kopf über mich, wie über einen verlorenen Menschen.
Endlich, endlich kam der Tag, da ich, nach kurzem Abschied, auf preußischen Boden entweichen durfte.
Na, ich will unsern Feldzug nicht erzählen; den kennt ja Jeder, oder es sollte ihn wenigstens Jeder kennen, um was daraus zu lernen für künftige Zeiten, die vielleicht nicht zu fern sind. Auch meine Heldenthaten und Schlachten will ich nicht erwähnen, und wie ich überall mit heiler Haut davon kam. Nur ein eigenthümliches, rührendes Vorkommniß will ich erzählen.
Wir waren schon am Rhein, als meine Schwadron den Befehl bekam, schnurstracks zurückzureiten und in einer gewissen Gegend Westphalens Posto zu fassen. Ich glaube, wir sollten dort eine Kriegscasse erwarten, um sie dann weiter an die französische Grenze zu begleiten. Das verdroß uns ein wenig, weil wir uns auf Paris gefreut hatten – aber die Alliirten zogen ja in Frankreich ein, und das war die Hauptsache, und wir waren im Ganzen lustig und guter Dinge. In Westphalen, mitten in einer großen Ebene, welche die Heerstraße in gerader Linie durchschnitt, wurden wir in einzelne Höfe, die über das Land zerstreut sind, einquartirt. Mir und noch fünf meiner Cameraden wurde ein kleiner Hof angewiesen, der unmittelbar an der Landstraße lag. Als wir daselbst mit unsern Zetteln in der Hand vorritten, kam uns ein altes Mütterchen entgegen, das uns überaus freundlich anlächelte und mit Kopfnicken, ohne eigentlich ein Wort zu sprechen, willkommen hieß. Sie wollte uns jeden Einzelnen aus dem Sattel heben und hätte es gewiß gethan, wenn wir nicht rasch abgesessen wären.
„Mutter Schleinitz,“ sagte ich, „da ist unser Quartierzettel.“
„Das bin ich nicht; die Mutter Schleinitz wohnt im oberen Hofe, dort oben; ich bin die Mutter Lene,“ sagte die Alte, immer lächelnd.
Wir sahen, daß wir uns geirrt hatten, und wollten wieder aufsitzen, um weiter zu reiten. Aber Mutter Lene flehte: „Das thut ja nichts; bleibt, Kinder, bleibt hier; Ihr sollt’s gut haben, wahrlich sehr gut! Caspar,“ rief sie, und ein Knecht kam aus dem Hofe – „Caspar, führ’ die Pferde in den Stall. – Kommt, Kinder, bleibt hier!“ bat die Alte wieder, nahm Zwei von uns am Arm, und zog sie in die Stube; die Andern folgten unwillkürlich. Wir wußten gar nicht, wie uns geschehen war; die Alte bat so innig, daß wir nicht widerstehen konnten. In der Stube öffnete sie eine Kammerthür, und wir sahen Würste, Schinken, Eierkörbe und allerlei andern Mundvorrath schön geordnet aufgehängt und aufgestellt. „Mein Keller,“ jagte sie, „ist auch gut bestellt – Ihr sollt es gut bei mir haben, Kinder – Ihr müßt nicht sparen und leben, so gut Ihr wollt.“
Grass aus Hamburg machte hinter dem Rücken der Alten mit der Hand eine Bewegung vor der Stirne, als wollte er andeuten, laß es bei ihr nicht richtig sein müsse. Indessen ließen wir uns die gastliche Aufnahme gern gefallen und blieben bei der Mutter Lene. Caspar brachte unsere Pferde unter, und die Magd deckte den Tisch mit reinlichem Linnen, während die Alte sehr emsig am Heerde beschäftigt war, uns eine Mahlzeit zu bereiten. Aber diese Beschäftigung hielt sie nicht ab, uns, als wir uns an das Putzen unserer Umformen und Waffen machten, hie und da hülfreiche Hand zu leihen und Manches herbeizubringen, was unsere Arbeit erleichtern konnte. Wir waren erstaunt. Bei manchem Patrioten waren wir gastlich aufgenommen worden, aber solche Güte und Gastlichkeit, wie bei der allen Bäuerin, hatten wir noch nicht erfahren.
„Ja, das Volk, das Volk!“ rief der Eine, „ich sage es ja immer, das Volk, nur das Volk!“
Und der Andere: „Wie müssen die Unterdrücker und der Herr Hieronymus hier gehaust haben, wenn die Befreier so geliebt werden!“
Bei Tische trug sie selber auf und bediente uns wie eine Magd; dann setzte sie sich zu uns und sah lächelnd zu, wie wir mit jugendlichem Appetit, in ihre Speisen einhieben, und munterte uns auf, fortzufahren. Sie saß mir gerade gegenüber, und da bemerkte ich erst, daß ich kein gewöhnliches Gesicht vor mir hatte. Es lag etwas wie ein Schleier darüber, wie ein Schleier, der ein Geheimniß verdeckt.
Wie braun und gehärtet auch die bäuerlichen Züge erschienen, hatte doch das ganze Gesicht etwas unsäglich Mildes; nur zwei kummervolle Falten, die die Stirn von oben nach unten durchschnitten, machten den Eindruck, als wären sie nie glättbar und doch wieder, als warteten sie fortwährend einer Freude, die mit weicher Hand darüber fahre und sie verwische. Eigenthümlich war es, in wie geringer Verbindung Mund und Augen standen; denn während jener immer lächelte, blickten diese eben so unausgesetzt mit einem unsagbar sehnsüchtigen Ausdrucke und immer, als blickten sie in weite, verschwommene Ferne. Die Gestalt der alten Mutter Lene war kräftig, aber von der Last der Jahre und, wie man sich sagen mußte, von einer andern unsichtbaren Last etwas zusammengekrümmt. Je länger ich sie ansah, desto freundlicher, fast möchte ich sagen, desto zärtlicher wurde meine Stimme, wenn ich mit ihr sprach, und desto trauriger wurde ich im Innern meines Herzens, und ich konnte bemerken, daß es meinen Cameraden eben so erging. Es war unsern heitern und jugendlichen Gemüthern förmlich eine Last vom Herzen genommen, als sie, da die Schwarzwälder Uhr drei schlug, plötzlich aufstand und rasch zur Thüre hinaus schritt, um nicht wieder zurück zu kommen.
Nach Tische sahen wir nach unsern Pferden, die wir gut versorgt fanden, und gingen dann, uns im Hause einzurichten. Obwohl uns Mutter Lene die Stube ganz überlassen, wollten wir die gute Gastfreundin doch nicht aller Bequemlichkeit berauben und sahen uns im Hause um, wo wir unser Nachtlager aufschlagen könnten, ohne ihr beschwerlich zu fallen. Ich stieg zu diesem Zwecke die schmale Treppe hinauf, die vom Vorhause auf den Boden führte. Oben angekommen, hatte ich einen sonderbaren Anblicke. Vor einer Dachluke auf einem Strohsessel saß Mutter Lene, die seit mehr als einer Stunde verschwunden war, und sah unbeweglich vor sich hin. Ich hielt sie für schlafend, da ich mich aber näherte, sah ich ihre Augen weit geöffnet. Sie starrte unabwendbar der Landstraße entgegen, die wie ein gerader weißer Strich die Ebene durchschnitt und sich in weiter Ferne am östlichen Horizonte verlor. Ich stand neben ihr, ich sah in ihre weit offenen Augen, aber sie bemerkte mich nicht, obwohl ihr ganzes Leben in diesen Augen concentrirt schien. Ich hätte sie, ohne den ungewöhnlichen Glanz der Augen, für todt gehalten, so aber glaubte ich, sie befinde sich in irgend einem krankhaften Zustande, und fragte sie mit lauter Stimme: „Mutter Lene, fehlt Ihr was? Was macht Sie hier?“
Ein abwehrendes „Sch“ war die einzige Antwort; ihre Augen wandten sich dabei von der Straße nicht ab.
Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie leise. Eine ungeduldige Bewegung sagte mir, daß ich ein unberufener Störer war, brachte aber ihren Blick nicht eine halbe Secunde lang aus seiner Richtung.
Ich wußte nicht, was aus all dem zu machen, und rief die Cameraden, die auf ein gegebenes Zeichen auf den Fußspitzen herankamen. Da standen wir nun im Halbkreise um die Alte herum, sahen sie an, zuckten die Achsel, schüttelten die Köpfe und schlichen endlich fort, ohne auch nur von ihr bemerkt zu werden.
Im Hofe trafen wir Caspar, den Knecht, und fragten ihn, was das zu bedeuten habe.
„Bah,“ sagte Caspar, „so sitzt sie jeden Tag; sie erwartet ihren Sohn, ihren Wilhelm.“
„Sie hat einen Sohn?“ fragten wir.
„Ja, sie hatte einen Sohn. Die Franzosen haben ihr ihn vor drei Jahren fortgenommen, da er noch nicht siebzehn Jahre alt war, und haben ihn nach Rußland geführt. Na, man weiß, was aus den Franzosen und aus den Deutschen in Rußland geworden ist, aber die Alte läßt sich’s nicht ausreden, daß ihr Wilhelm noch einmal heim kommt. Sie erwartet ihn jeden Tag und sitzt da oben an der Dachluke, wo sie die Landstraße übersehen kann; denn von da, bildet sie sich ein, müsse er herkommen, weil er auf dem Wege fortgegangen ist. Sie besorgt ihr Hauswesen, arbeitet den ganzen übrigen Tag, damit ihr Wilhelm, wenn er heimkommt, sein väterliches Erbe in guter Ordnung finde, aber wie’s drei schlägt, läßt sie Alles stehen und liegen und steigt da hinauf und wartet.“
„Also darum liebt sie die Soldaten, weil sie selbst einen Sohn unter den Soldaten hat?“
[335] „Ja, freilich darum. Sie war mit den Franzosen, wie sie hier durchgekommen sind, gerade so gut und freigebig, wie mit Euch. Das ist ihr ganz gleichgültig, Deutsche oder Franzosen, wenn’s nur Soldaten sind.“
„Daß sie uns aber von ihrem Wilhelm noch gar nicht gesprochen hat?“
„Das kommt daher, daß sie sich schämt und fürchtet. Es haben sie schon viele Leute ausgelacht und ihr gesagt, ihr Warten sei überflüssig und ihr Wilhelm werde nie wieder nach Hause kommen, und da haben sie ihr erzählt, was Alles in Rußland vorgegangen, und haben ihr gesagt, sie sei verrückt, noch länger zu warten. Der Napoleon freilich, der ist entwischt, und unser Hieronymus, der hat sich noch früher aus dem Staube gemacht, bevor das Unglück und die große Kälte gekommen ist; aber die armen Soldaten – Nun schämt sie sich, daß man sie für verrückt hält, und fürchtet sich, daß man ihr sagen werde, daß ihr Wilhelm auch umgekommen, und da spricht sie nicht mehr darüber.“
Die ganze Geschichte machte uns sehr traurig, und als wir Abends in der Stube um den Tisch saßen und spät nach Sonnenuntergang die Alte murmelnd die Treppe herunterkommen hörten, wurden wir ganz still. So bemerkte sie uns gar nicht, als sie eintrat, und wir hörten deutlich, wie sie, die Hände ineinandergelegt, vor sich hinmurmelte: „Er ist nicht gekommen; nun, er wird wohl morgen kommen, er wird wohl morgen kommen; gewiß, er wird morgen kommen.“
„Er wird kommen!“ rief unser Camerad Helffreich, der Sohn eines Pastors und Studiosus Theologiä, „glaube, liebe und hoffe, Du gute Mutter.“
Aber die Alte hatte nur die ersten Worte gehört; mit strahlendem Gesichte wandte sie sich zu uns und rief: „Nicht wahr, er wird kommen? Gewiß, er wird kommen!“ Dann setzte sie sich zu uns, stützte beide Arme auf den Tisch, sah uns lächelnd an und sprach mit halber Stimme, vertraulich, als ob sie von Anderen nicht hätte gehört sein wollen: „Seht, Kinder, hier zu Lande glaubt Niemand mehr, daß er wiederkommen werde. Die Leute hier verstehen nichts von Kriegssachen; Ihr aber, Ihr seid Soldaten, Ihr versteht’s. Und was meint Ihr, wie geht es ihm in Rußland?“
„Nun,“ sagte Graff, „es geht ihm wohl so gut, wie es Einem in Feindes Land gehen kann.“
„Feindes Land?“ lächelte die Alte, „Du bist ein närrischer Mensch; mein Wilhelm ist keines Menschen Feind; das ist ein gutes Kind, mein Wilhelm, und das werden sie ihm überall ansehen. Er ist ja auch nur mitgegangen, weil er hat mitgehen müssen, sonst hätten sie ihn erschossen. Da habe ich selbst gesagt: Wilhelm, gehe lieber mit, Du wirst schon wieder gesund und frisch heimkommen. Gut werden sie auch überall gegen ihn sein. Warum sollten sie nicht? Ich bin ja auch gut gegen die Soldaten. Immer wenn Soldaten kommen, behandele ich sie, als wären’s meine Söhne. Ich muß ja heimzahlen, was man anderwärts für meinen Wilhelm thut, und wenn man anderwärts hört, wie hier zu Lande die Soldaten gut behandelt werden, wie Kinder im eigenen Hause, wird man sie dort zu Lande auch so behandeln. Ist das nicht richtig?“
Wir nickten mit den Köpfen, denn Keiner von uns war im Stande, ein Wort hervorzubringen. Die Alte fuhr fort: „Na, und wenn er morgen nicht kömmt, so kommt er gewiß, wenn Friede ist. Nach der Schlacht bei Leipzig sagten sie hier, daß nun gewiß Friede wird, aber das war wohl nicht der rechte Friede? Ihr müßt ja das verstehen als Soldaten.“
„Nein,“ sagte Helffreich, „das war nicht der rechte Friede!“
„Das sage ich auch. Mit dem rechten Frieden kommt mein Wilhelm gewiß. Ach Gott!“ rief sie und sah uns dabei mit glückseligem Gesichte an, „wie mir das wohl thut, einmal so recht über diese Dinge zu sprechen, so recht verständig und mit Leuten, die sich darauf verstehen.“
Sie nickte uns voll Liebe zu und sah Einen nach dem Andern schweigend an, immer lächelnd, ohne zu bemerken, daß uns die Augen voll Wasser standen und daß es uns schwer war, ihren Blick auszuhalten. Nach einer langen Pause erst legte sie das Gesicht in beide Hände und sagte: „Wenn nur erst der rechte Friede käme! – Ja, der Napoleon! Wozu macht man denn alle die Kriege? Der rechte Friede, wenn nur erst der rechte Friede käme! So immer zu warten, das könnte Einen ganz krank machen. Es ist ein rechtes Elend!“
Helffreich stand auf und holte eine kleine Bibel, die er immer mit sich führte, setzte sich der Alten gegenüber und begann mit lauter Stimme aus dem Buche Tobias zu lesen: „Und Tobias sprach zu ihr: Schweige und sei getrost! Unserem Sohne geht es, ob Gott will, wohl, er hat einen getreuen Gesellen mit sich.“
„Sie aber wollte sich nicht trösten lassen und lief alle Tage hinaus und sah auf alle Straßen, da er herkommen sollte, ob sie ihn etwa ersähe.“
Die Alte erhob ihren Kopf aus den Händen und sagte: „Das ist ein tröstliches Buch, das Buch Tobias!“ – Und ehe Helffreich weiter lesen konnte, sagte sie auswendig: „Hanna aber saß fast täglich am Wege auf einem Berge, daß sie könnte weit um sich sehen. Und als sie an dem Orte nach ihm sähe, ward sie ihres Sohnes gewahr von ferne und kannte ihn von Stund’ an –“
Darauf sagte sie mit zitternder Stimme den Lobgesang her, und wir sahen mit Staunen, das sie das ganze „tröstliche Buch“ Tobias auswendig wußte. Sie nahm Helffreich die Bibel aus der Hand, legte sie vor sich nieder, zog das Licht näher, legte die Stirn in beide Hände und begann zu lesen und vergaß uns und die ganze Umgebung. Es wurde spät; sie las noch immer. Wir schlichen uns vom Tische, legten uns, müde vom Ritte, auf unsere Lager und schliefen längst den festen Schlaf der Jugend, als sie noch da saß und im tröstlichen Buche von der Wiederkehr des geliebten Sohnes las.
Am anderen Morgen war sie wieder eine gute Bäuerin, wie viele andere. Sie wirthschaftete in Haus und Hof umher und sorgte dafür, daß uns nichts fehle. Aber Nachmittags war sie wieder verschwunden. Wir stiegen Einer nach dem Andern einen Theil der Treppe hinauf, so daß nur der Kopf über den Boden des Speichers hervorragte, und sahen uns die Mutter Lene an, wie sie ruhig, unbeweglich dasaß und der Straße, die nach Osten führte, entgegensah. Wir schlichen wieder fort, ohne sie zu stören, und unwillkürlich gingen wir während des Nachmittags in den unteren Räumen des Hauses auf den Fußspitzen umher, als wäre ein Kranker im Hause oder als würde eine heilige Handlung vorgenommen.
In später Dämmerung erschien sie wieder und murmelte: „Er ist nicht gekommen; nun, er wird wohl morgen kommen; gewiß, er wird morgen kommen.“
So verging ein Tag um den andern; jeder Tag sah sie um dieselbe Zeit auf ihrem Warteposten; jeder Tag brachte uns dieselbe mütterliche Pflege von ihr. Nach und nach bekamen wir vor ihrem heiligen Wahnsinn eine solche Scheu, daß wir die Stunden, die sie vor der Dachluke zubrachte, auf unseren Pferden im freien Felde verweilten, um während dieser Zeit dem Hause und ihr die ganze ungestörte Ruhe zu lassen. Auch ritten wir immer nach der entgegengesetzten Seite der Landstraße, gegen Westen, da es uns etwas unheimlich gewesen wäre, unter diesem starren, concentrirten Blicke der wartenden Mutter hinzureiten oder gar vor diesem Blicke wie ein Hinderniß zu erscheinen.
So vergingen nahe an zwei Wochen, bis wir Befehl erhielten, uns wieder auf den Weg zu machen, und zwar Frankreich zu. Mutter Lene füllte uns noch alle Taschen mit Lebensmitteln, und in der innersten Seele gerührt nahmen wir Abschied. – „Schade,“ sagte sie, „daß Ihr nach der Seite reitet und nicht nach der anderen; da wäret Ihr vielleicht meinem Wilhelm begegnet. Na, wenn Ihr aus Frankreich zurückkommt, haltet Euch nur hier auf, da werdet Ihr ihn schon kennen lernen und sehen, daß es ein so stattlicher Soldat ist, wie Ihr.“
Wir versprachen, auf unserem Rückwege, wenn nur irgend möglich, gewiß wieder bei ihr einzukehren, und ritten unter ihren Segenswünschen und von ihrem Lächeln begleitet davon, Frankreich und dem Feinde entgegen.
Wir hielten Wort. Die Schlachten auf französischem Boden waren geschlagen, der Friede war seit mehreren Monaten geschlossen, und wir ritten als Sieger mit glücklichem und gehobenem Gefühl der Heimath zu. Wir kamen wieder nach Westphalen; aber wir sollten diesmal eine andere Straße reiten. Doch nahm man es mit uns Freiwilligen, die wir halb und halb schon entlassen waren, nicht so genau und man erlaubte uns, einen Umweg zu machen, der uns gestattete, die alte Mutter Lene wieder zu sehen. Wir hatten uns vorgenommen, mit einem der damaligen Sieges- und Freiheitslieder in den Hof einzureiten; aber wir hatten die Zeit schlecht bemessen und es war schon ziemlich spät am Nachmittage, also um die Zeit
[336] ihres Wartens, als wir daselbst ankamen. So ließen wir das Singen sein, stiegen hundert Schritte vom Hause ab und führten die Pferde sachte und am Zügel in den Hof.
Im Stalle fanden wir den Knecht Caspar, der uns froh willkommen hieß. „Was macht die Alte?“ fragten wir beinahe einstimmig.
„Schlecht, schlecht!“ antwortete er kopfschüttelnd. „Seit man hier im Lande überall große Feuer angezündet und den Frieden verkündigt hat, geht’s schlecht. Sie lief von Hof zu Hof und fragte, ob das der rechte Frieden sei, und seitdem hat sie Alles liegen lassen und sitzt nun den ganzen Tag vor ihrem Dachfenster und wartet; denn jetzt, meint sie, müsse ihr Wilhelm kommen. Und da er nach dem rechten Frieden doch nicht kommt, scheint ihr das etwas quer, und nun, glaub’ ich, macht sie’s nicht mehr lange. So eine Hoffnung in so einem alten Haus ist wie ein Stützbalken; nimm den Balken weg, das alte Haus stürzt zusammen. Ich glaube, daß ihr Balken angefault ist.“
Wir wollten doch wenigstens die Alte sehen und stiegen, wie ehemals, die halbe Treppe hinauf. Da saß sie richtig auf ihrem Posten. Aber es fiel uns auf, daß sie nicht mehr, wie sonst, gerade vor sich hinstarrte, der Landstraße entgegen, und daß ihr Kopf auf die Brust herabgefallen war, wie bei einer Person, die sich nicht aufrecht halten kann. Besorgt schlichen wir näher. Da sahen wir, daß sie die Augen geschlossen hatte. Bei unserem Herantreten öffnete sie dieselben und da sie uns erkannte, lächelte sie freundlich, wie ehemals, aber bei weitem schmerzlicher. Es fiel uns auf, wie arg in dieser kurzen Zeit ihr Gesicht verfallen war und daß sie sich uns zuwandte, während es damals nicht möglich war, ihre Augen von der Landstraße abzulenken.
„Seid Ihr da, Kinder?“ sagte sie mit schwacher Stimme. „Ihr kommt von der anderen Seite, von dieser Seite kommt Niemand. Und ist doch der rechte Friede geschlossen? Oder ist’s noch nicht der rechte Friede? Wo ist der, der mir aus dem tröstlichen Buche Tobias vorgelesen und der mir vom rechten Frieden gesprochen?“ Sie suchte Helffreich mit den Augen – da rief sie: „Aber Einer fehlt! Wo ist denn der Lange, Schwarze?“
In der That fehlte Graff in unserer Mitte; in Lothringen hatte ihn eine Kugel aus dem Hinterhalte hingestreckt.
Wir antworteten nicht.
„Ich weiß,“ sagte die Alte, „ich weiß. Dessen Mutter wird auch lange warten.“ So sprechend, wandte sich ihr Gesicht wieder der Luke und der Landstraße zu. „Ich werde nicht länger mehr warten.“ sagte sie weiter und lächelte. „Seht Ihr dort – er kommt!“
So sprechend, stand sie auf und streckte den Arm der Straße entgegen. In demselben Augenblicke aber stürzte sie in den Stuhl zurück, und die Augen weit geöffnet, noch immer wartend und auslugend, saß sie da und – war todt.
Wir blieben einen Tag länger, als unser Urlaub gestattete, um der guten Mutter Lene die letzte Ehre zu erweisen. Hoch zu Roß folgten wir ihrem Sarge. Helffreich hatte sich vom Pastor die Erlaubniß ausgebeten, an seiner Statt ihr die Grabrede zu halten. Aber er war noch nicht genug Pastor, und brachte vor Rührung kein Wort hervor.
Talleyrand. Wir gaben neulich einige geistreiche Aperçus des berühmten französischen Staatsmannes Talleyrand und wollen dem noch einige weniger bekannte beifügen.
Es war unter der Restauration. Talleyrand hatte sein Ministerium niedergelegt und war Groß-Kammerherr geworden. Die Julirevolution grollte schon von ferne. Talleyrand befand sich im Tuilerienschloß und lehnte gedankenvoll in einer Fenstervertiefung, als sich ihm der Graf von Girardin, der sehr stark schielte, näherte.
„Nun, mein Fürst,“ frug er Talleyrand, „wie gehen die Angelegenheiten?“
„Wie Sie sehen, mein General,“ war des Diplomaten sarkastische Entgegnung.
Ludwig XVIII. war Talleyrand, trotzdem, daß die Bourbonen im Grunde diesem Staatsmanne ihre Wiedererhebung auf den Thron verdankten, nicht günstig gesinnt. Wo er ihm einen Streich spielen konnte, that er es. Talleyrand’s geistige Ueberlegenheit war dem Könige unbequem.
Nach der Restauration hatte sich Fürst Talleyrand von seiner Frau getrennt, die er nach England schickte, wo er ihr eine jährliche Pension von 60,000 Francs auszahlen ließ. Als Ludwig XVIII. davon unterrichtet war, schickte er im Geheimen an Frau von Talleyrand den Befehl, zurück nach Paris zu kommen. Nichts war der Fürstin erwünschter und sie kehrte sofort zum großen Mißvergnügen ihres Gatten zurück. Bald nach ihrer Ankunft frug nun der König ganz zufällig:
„Ah, mein lieber Fürst, ist es wahr, daß die Fürstin wieder in Paris sich befindet?“
„Sehr wahr, Sire, sehr wahr,“ antwortete Talleyrand ganz gelassen, „was wollen Sie? ich mußte wohl auch meinen zwanzigsten März haben.“
Der König schwieg und bis sich in die Lippe. Der zwanzigste März war bekanntlich der Tag, an welchem Napoleon, von Elba zurückkehrend, in Paris wieder eingezogen war.
Unter dem Ministerium Villèle sah er den Grafen Ferrand, auf zwei Bediente gestützt, in die Pairskammer treten. Talleyrand wendete sich zu seinem Nachbar:
„Sehen Sie Ferrand, mein Freund? Er ist ein leibhaftiges Bild der Regierung. Er glaubt zu gehen, während man ihn trägt.“
Von der Pikanterie Ludwig’s XVIII., der sonst ein sehr gemüthlicher Mann mit vieler Neigung zur Gourmandise und feiner Ironie war, gegen Talleyrand haben wir eben ein Beispiel erzählt. Als im Jahre 1823 der Feldzug gegen Spanien beschlossen wurde, opponirte Talleyrand in der Kammer heftig dagegen. Die Hofpartei nahm ihm dies sehr übel, und man gab dem Könige zu verstehen, er möchte Talleyrand vom Hofe verbannen und auf seine Güter verweisen, ganz wie es sonst zu den Zeiten Ludwig’s XIV. und Ludwig’s XV. Sitte, wo es hieß: car tel est mon plaisir.
Der König ergriff begierig die Gelegenheit, Talleyrand zu ärgern. Der Fürst war Groß-Kammerherr und mußte als solcher zu gewissen Tagen am Hofe erscheinen. Als er nun das erste Mal nach seiner Kammersitzuug, die ihm die königliche Ungnade zugezogen, wieder bei Hofe erschien, sagte Ludwig XVIII. zu ihm:
„A propos, Fürst, ich mache Ihnen mein Compliment. Sie gehen auf’s Land.“
„Nein, Sire, ausgenommen, wenn Eure Majestät sich nach Fontainebleau begeben, in welchen Falle ich mich um die Gunst bewerben würde, Sie dahin begleiten zu dürfen.“
„Nein, nein,“ rief der König verlegen, „das meinte ich nicht … Im Uebrigen … genug davon.“
Am nächsten Sonntag richtete der König dieselbe Frage an Talleyrand, und erhielt die nämliche Antwort. Endlich, als der Fürst durchaus nicht den Wink zu verstehen schien, frug er ihn am dritten Sonntag:
„A propos, sagen Sie mir doch, wie weit ist es von Paris bis nach Valençay (dem Landgute des Fürsten Talleyrand)?“
„Ma foi, Sire!“ rief jetzt Talleyrand ungeduldig, „ich weiß es nicht genau. Aber ich glaube, doppelt so weit, als von Paris bis Gent.“
Dieser Hieb saß, Ludwig dachte nie wieder daran, den Fürsten zu fragen, ob er auf’s Land gehe.
Aber auch Napoleon gegenüber zeigte Talleyrand dieselbe Geistesgegenwart, und der Kaiser war ein ganz anderer Mann, als die Bourbonen, der nicht mit sich spaßen ließ. Anfang 1814, als die Alliirten in Frankreich eindrangen, wurde Napoleon benachrichtigt, daß man vermuthe, Talleyrand zettle ein Complot gegen ihn an. Der Kaiser ließ den Fürst rufen, und sagte rauh und streng zu ihm:
„Ich weiß, was Sie treiben. Ich weiß, daß Sie sich einbilden, im Falle eines mich betreffenden Unglücks,“ und der Kaiser machte bei diesen Worten eine sehr bezeichnende Gebehrde, „an der Spitze eines Regentschaftsraths sich zu befinden. Nehmen Sie sich in Acht. Man gewinnt nichts, gegen meine Macht zu intriguiren. Ich erkläre Ihnen, daß, wenn ich gefährlich krank würde, Sie noch vor mir sterben müßten.“ und er begleitete diese Worte mit einem furchtbar drohenden Blick und einer Handbewegung, die Talleyrand keinen Zweifel über den Sinn dieser Worte ließ. Statt sich aber dem Kaiser zu Füßen zu werfen und entweder seine Unschuld zu versichern, oder sein Vergehen zu beichten, entgegnete er mit einem dankbaren, theilnehmenden Blick auf der Stelle:
„Sire, ich bedurfte einer solchen Andeutung nicht, um vom Himmel die Verlängerung der Tage Eurer Majestät zu erflehen.“
- ↑ Wir entnehmen Text und Abbildung dieses Artikels mit Genehmigung des Verlegers dem soeben bei Herm. Geibel in Pesth erschienenen großen Prachtwerke: „Reise des Grafen Andrasy in Ostindien“, auf das wir unsere Leser aufmerksam machen. Der bekannte ungarische Edelmann schildert darin seine Jagd- und andere Erlebnisse auf den Inseln Ceylon und Java, in Bengalen und China, und liefert zugleich 16 charakteristische Abbildungen dazu, die von dem bekannten Pferdezeichner Adam lithographirt und im berühmten Pariser Atelier von Lemercier prachtvoll in groß Folio-Quart in Farbendruck ausgeführt sind. Die beigegebenen Holzschnitte sind weniger gut. D. Red.
- ↑ Unsere Braunschweiger Leser werden in Herrn Viebahn den Erzähler wohl ohne Namensänderung erkennen.D. Redact.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: begnete
- ↑ Die Mutmassung der Autorenschaft Eduard Viewegs wurde im Heft 26 zurück gezogen.