Die Gartenlaube (1859)/Heft 21
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No. 21. | 1859. |
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„Sie haben vergessen, was ich Ihnen zuvor sagte,“ tröstete Günther. „Bedenken Sie doch: Sie bleiben ja Ihr Leben lang der Nutznießer jenes Kleinodes, und selbst nach Ihrem Tode erhebe ich nicht die geringsten Ansprüche auf den wirklichen Besitz desselben. Ich bedarf Ihrer Nase nur auf dem Papier! Ihre Unterschrift genügt zu dem Beweise, daß Ihre Nase durch Kauf die meinige geworden ist. Wir machen einen vollständigen Contract über unser Geschäft und ich gestatte Ihnen, sich so viel zu verclausuliren, als es Ihnen irgend wünschenswerth erscheint. Herr Lissauer, das ist doch ein anständiges Anerbieten!“
In die geängstigte Seele des armen Jakob Eli drängte sich ein neuer Hoffnungsstrahl. Wiederholt schnellte er von seinem Sitze auf und rief:
„Auf dem Papier? Auf dem Papier nur? Und Sie wollen ihr nichts thun, wollen sie nicht verletzen, nicht verstümmeln? Sie wollen ihr mit Ihren Händen nicht einmal ankommen und nicht dulden, daß ein Anderer es thut?“
„Davor haben Sie sich selbst zu schützen, Herr Lissauer! Aber ich verspreche Ihnen, daß ich Ihre Nase nicht berühren will, daß ich auch Niemand damit beauftragen werde. – Ist Ihnen das genug? Bedenken Sie: hundert Friedrichsd’or sind doch keine Kleinigkeit!“
„Nein, keine Kleinigkeit! Helf’ mir Gott, ein recht hübsches Capitälchen! Wissen Sie was, Herr Baron, wenn Sie mir Alles schriftlich geben … wo ist das Papier?“
„Ich will den Contract erst aufsetzen. Bis morgen früh haben Sie Zeit, sich die Sache zu überlegen. Um acht Uhr erwarte ich Sie, und dann wollen wir zum Notar gehen, um es gerichtlich zu machen.“
„Was? Zum Notar … wegen der Nase? … Aber, Herr Baron, Sie nehmen es doch auf in Ihrem Schein wegen des Anrührens und Beschädigens und daß ich sie weiter darf tragen, wie ich sie immer hab’ getragen?“
„Ei freilich, freilich! Es liegt ja in meinem Interesse, ein solches mir gehöriges Cabinetsstück nach besten Kräften zu behüten und zu beschützen. Also morgen früh acht Uhr erwarte ich Sie! Das Geld liegt bereit und wird Ihnen, nach Ihrer Unterschrift, sofort ausgezahlt.“
Damit erhob sich Günther und schickte sich zum Fortgehen an. Lissauer begleitete ihn unter vielen Verbeugungen bis unter die Ladenthüre. Hier aber kam ihm plötzlich noch ein Gedanke.
„Herr Baron,“ flüsterte er, „noch Eins! Ich vergaß, wenn Sie die Sache vor den Notar bringen, so entstehen Kosten. Wer muß die bezahlen?“
„Ich … Ich bezahle Alles. Sie haben gar keine Unkosten!“ rief Günther, halb ärgerlich, halb belustigt über die Vorsicht des Kaufmanns, und entfernte sich eilenden Schrittes.
Lissauer aber kehrte sinnend in seinen Laden zurück und blieb den ganzen Abend hindurch ein nicht zu lösendes Räthsel für seine kleinen Lehrlinge, da er, was noch nie vorgekommen, die Schürze wieder vorzubinden vergaß und – sogar zum eigenen Nachtheile! – die unerhörtesten Mißgriffe beim Abwiegen und Messen beging.
Sobald die Stunde zum Feierabend geschlagen hatte, ließ er den Laden schließen, schickte die kleinen Lehrlinge nach Hause, ehe sie noch aufgeräumt hatten, und eilte spornstreichs zum alten Meyer Liepmann. Dort blieb er mehrere Stunden und kehrte dann entschlossen und beruhigt in seine einsame Wohnung zurück.
Noch vor der festgesetzten Stunde fand er sich am nächsten Morgen bei Günther ein und erklärte, daß er bereit sei, den Willen des Herrn Barons zu erfüllen. Als er das Gemach wieder verließ, strahlte sein Gesicht vor Freude. In der Hand hielt er ein Beutelchen mit Gold.
Am Abend desselben Tages versammelte sich die uns bereits
bekannte Gesellschaft abermals im Hotel zur goldenen Gans. Auch
die drei zu Schiedsrichtern erwählten Herren stellten sich pünktlich
ein. Zur festgesetzten Stunde nahm das Souper seinen Anfang,
doch zeigte sich in dem kleinen Kreise heute eine gewisse Gezwungenheit.
Günther allein war ganz der Alte: unbefangen, ruhig und
bei jedem Worte mit einem Witze schlagbereit. Er schien es gar
nicht zu bemerken, daß die Stimmung seiner Freunde heute von der
seinigen abwich. Mit unvergleichlichem Humor erzählte er den drei
Schiedsrichtern kleine Scenen aus seinem Studentenleben in Bonn
und gedachte mit keinem Worte der Wette, deren Entscheidung heute
erfolgen sollte, während dieselbe die Gemüther der übrigen Anwesenden
fast ausschließlich beschäftigte.
„Wenn wir nur wenigstens die Geldwette rückgängig machen könnten.“ sagte Graf Mellin leise zu seinem Tischnachbar, dem Baron Leitmersdorf. „Ich habe vollständige Gewissensbisse, seit ich weiß, daß er die parirten hundert Friedrichsd’or gar nicht liegen hat, und daß er schon bei Lissauer war, um sich diese Summe zu verschaffen.“
„Wie?“ sagte Posen, ebenfalls mit halber Stimme. „Bei Lissauer ist er gewesen?“
„Ja wohl,“ nahm Graf Neurode das Wort, „gestern Abend [294] hat er eine lange Unterredung mit ihm gehabt und heute früh ist Lissauer bei ihm gewesen, wahrscheinlich um ihm das Geld zu bringen.“
„Er muß also die Wette verloren geben,“ flüsterte Posen.
„Er konnte sie überhaupt nur in der Champagnerlaune vorschlagen!“ sagte Leitmersdorf.
„Und wir sie nur in solcher Stimmung halten,“ versetzte Graf Clarenstein. „Mir fängt die Sache auch an drückend zu werden.“
„Wißt Ihr, wir wollen unsern Gewinn allmählich im Spiel wieder an ihn verlieren,“ sagte Mellin.
„Ja, das ist ein guter Gedanke, so soll es sein,“ stimmten Alle ein, und nun wieder erheitert und unbefangen, nahm die Unterhaltung einen anderen Charakter an und ward allgemein und lebhaft geführt.
Als der Nachtisch aufgetragen und die Dienerschaft entfernt worden war, nahm Neurode das Wort. Er erinnerte daran, daß nun der Zeitpunkt zur Entscheidung der Wette gekommen sei, und forderte Günther auf, den Herren Schiedsrichtern die Sachlage klar zu machen.
Günther erhob sich.
„Ich bitte, mir einen Augenblick Aufmerksamkeit zu schenken, meine Herren!“ sagte er. „Es handelt sich in der Angelegenheit, in welcher wir Sie ersuchten, das Richteramt zu übernehmen, um einen Schönheitsstreit. Verpflichten Sie sich, meine Herren, Ihr Urtheil nach bestem Wissen und Gewissen abzulegen?“
Die drei Herren, angesteckt von dem ernsten, gewichtigen Tone, den Günther bei dieser Frage annahm, machten ihre Zusage eben so laut und feierlich.
„Nun wohlan,“ fuhr Günther fort, „so komme ich zur Sache. – Meine Herren, als wir vorgestern hier versammelt waren, wurden von Seiten dieser meiner ehrenwerthen Commilitonen Zweifel an der Schönheit meiner Nase erhoben.“
Ein schallendes und anhaltendes Gelächter der drei Schiedsrichter unterbrach seinen Vortrag, doch fuhr er nach einer kleinen Pause mit unerschütterlichem Ernste fort:
„Sie werden begreifen, meine Herren, daß dieser Zweifel mich eben so sehr kränkte, als verdroß. Um ihn aber für immer zu beseitigen, erbot ich mich, den Beweis zu liefern, daß ich demungeachtet eine Nase besäße, die schöner sei, als die schönste Nase dieser meiner Gegner, ja selbst schöner, als sonst irgend eine Nase in ganz Breslau! War es so, meine Herren?“
„Ja wohl, ja wohl,“ ertönte es lachend von allen Seiten.
„Nun denn,“ nahm Günther abermals das Wort, „so werden Sie, meine Herren Schiedsrichter, die Gewogenheit haben, sich in ein Nebenzimmer zurückzuziehen und nach reiflicher Ueberlegung die Entscheidung über diese Streitsache zu fällen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen wiederhole ich noch einmal die Frage, welche Ihr Urtheil mit Ja oder Nein beantworten wird: „Ist die Nase, welche mir angehört, schöner, als die Nasen dieser Herren; ist sie schöner, als die sämmtlicher Einwohner Breslau’s?“ – Es hat Niemand gegen diese Fragestellung etwas eingewendet,“ fuhr er nach einer Pause der Erwartung fort, während welcher er sich fragend im Kreise umgeblickt hatte. „So bitte ich denn die Herren Schiedsrichter, ihre Pflicht zu thun.“
Ehe aber dieselben das Zimmer verließen, überreichte ihnen Günther mit ruhiger Würde ein zusammengefaltetes Papier, dessen Inhalt ihnen, wie er sagte, von Nutzen sein werde.
Während jetzt die ganze Gesellschaft sich von der Tafel erhob und gruppenweise zu zweien und dreien beisammen stand, ging Günther mit großen Schritten auf und ab.
Plötzlich erscholl aus dem Nebenzimmer ein wahrhaft homerisches Gelächter. Verwundert blickten die Gegner Günther’s sich an, – dieser aber schien gar nichts gehört zu haben.
Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Thür des Berathungszimmers und die drei Schiedsrichter, mit mühsam angenommenem Ernst, traten mit feierlichen Schritten herein.
„Meine Herren,“ hub der zum Sprecher ernannte Assessor Ebert an, „auf die uns von Ihnen vorgelegte Frage, ob die dem Studiosus Günther zugehörige Nase schöner sei, als die der übrigen Anwesenden und als die sämmtlicher übrigen Breslauer, haben wir nach weislicher Ueberlegung und ernster Berathung folgende Antwort zu geben:
„Nach unserem besten Wissen und Willen: Ja, sie ist schöner! – Wir erklären einstimmig: Günther hat die Wette gewonnen.“ Ein lautes Durcheinander von Stimmen unterbrach den Berichterstatter, der erst um Stille bitten mußte, um fortfahren zu können. „Die Gründe, welche dies unser Urtheil bestimmt haben,“ begann er von Neuem, „sind in diesem Documente enthalten, das in aller Form Rechtens ausgestellt ist. Ich werde mir erlauben, den Inhalt desselben hiermit zur allgemeinen Kenntniß zu bringen. Ich bitte um Aufmerksamkeit!“
Diese Bitte war unnöthig, denn außer Günther, der lächelnd die verdutzten Mienen seiner Gegner überflog, waren Alle jetzt auf das Aeußerste gespannt.
Assessor Ebert las:
„Vor dem unterzeichneten, bei dem hiesigen Stadtgerichte beglaubigten Notar, welcher die beiden Instrumental-Zeugen, und zwar den Schuhmachermeister Johann Gottfried Müller und den Schneidermeister Friedrich Christian Köhler dazugezogen hatte, erschienen heute
„1) Der stud. jur. et cam. Herr Heinrich Ernst Günther,
„2) Der Kauf- und Handelsmann Jakob Eli Lissauer.
„Letztere Beide erklärten auf Befragen, daß sie zu den genannten Instrumental-Zeugen in keinerlei verwandtschaftlichem Verhältnisse standen etc. etc.
„Die Herren p. Günther und Lissauer haben folgendes Kaufgeschäft untereinander verabredet und beschlossen.
„Der Kaufmann Lissauer hat an den Herrn p. Günther seine Nase für die Summe von 100 Friedrichsd’or – in Worten: Hundert Friedrichsd’or – erb- und eigenthümlich verkauft, und zwar unter nachstehenden Bedingungen:
„1) Herr p. Günther tritt sofort in den unbestrittenen Besitz des Kaufobjectes, dergestalt jedoch, daß dem p. Lissauer die Nutznießung der Nase für seine Lebenszeit verbleibt.
„2) Für diese Nutznießung zahlt Herr p. Lissauer dem eigentlichen, rechtmäßigen Besitzer der Nase einen jährlichen, unablösbaren Zins von 2½ Sgr., zahlbar am ersten Juni jeden Jahres praenumerando.
„3) Herr Lissauer verpflichtet sich, am ersten Tage jeden Monats dem Eigenthümer der Nase sich vorzustellen, damit dieser sich von dem guten und ordnungsmäßigen Zustande derselben überzeugen kann. Außerdem ist der Herr Käufer berechtigt, so oft er will, Special-Revisionen des Kaufgegenstandes vorzunehmen, muß sich jedoch zu diesem Behufe in die Behausung des Herrn Lissauer begeben.
„4) Der Herr Käufer verspricht dagegen ausdrücklich, stets und für alle Zeiten den Gegenstand des Kaufes weder an einen Dritten zu überlassen, noch zu verringern, noch ihm überhaupt Schaden zuzufügen, unter welchem Titel und in welcher Weise dies auch immer der Fall sein möchte. Er will sich vielmehr ernstlich bemühen, diese, nunmehr seine Nase, zu schützen, zu erhalten und zu bewahren, jeden Nachtheil aber, der ihr durch Menschen oder Dinge zugefügt werden könnte, nach besten Kräften abzuwenden.
„5) Die Nase bleibt auch bei etwaigem Ableben des Käufers Eigenthum der Erben desselben und ist an diese der jährliche Zins regelmäßig zu bezahlen.
„6) Die Erben hingegen sollen niemals die Herausgabe des bezahlten Capitals verlangen dürfen.
„7) Beim Ableben des p. Lissauer jedoch hören alle und jede Ansprüche des Käufers oder dessen Erben wegen Entschädigung vollständig auf.
„So geschehen etc. etc. etc.“
Die Vorlesung dieses sonderbaren Actenstückes war schon mehrfach durch Lachen unterbrochen worden; nach ihrer Beendigung aber erscholl ein so unaufhaltsames und kräftiges Gelächter, daß die Vorübergehenden auf der Straße stehen blieben und verwundert aufblickten. Die jungen Leute waren überzeugt, einen so ausgezeichneten Scherz nicht zu theuer bezahlt zu haben.
Nur wenige Tage vergingen und ganz Breslau kannte die lustige Geschichte von dem Nasenhandel, und wer nicht ein unverbesserlicher Hypochonder war, belachte sie aus vollem Herzen. Günther war der Held des Tages geworden. Durchreisende, denen die Gastwirthe nicht verfehlten, das neueste Ereigniß in ihrer Stadt mitzutheilen, ruhten nicht eher, bis sie den Studenten erblickt hatten, der, mit einer Monsternase versehen, doch im Besitz einer unvergleichlich schönen war. Die Scherze und Wortspiele über diese Thatsache rissen nicht ab, und wo sich Günther blicken ließ, wünschte [295] man ihm Glück zur gewonnenen Wette und zu seinem köstlichen Einfalle. Diese Art von Berühmtheit, zu der er gelangt, war nun freilich dem jungen Manne wenig angenehm; doch ertrug er ihre unvermeidlichen Folgen mit gewohntem Gleichmuth, in der Ueberzeugung, daß die durch ihn hervorgerufene Aufregung sich bald legen werde.
Allein nicht nur Günther war durch seinen Scherz eine allgemein bekannte Persönlichkeit geworden, auch Jakob Eli wurde zum Gegenstande der öffentlichen Aufmerksamkeit. Jedermann beeilte sich, seinen Laden aufzusuchen, um unter dem Vorwande eines kleinen Einkaufes den schönen Juden zu betrachten, der nur noch der Nutznießer seiner eigenen Nase war. Lissauer wußte diesen Umstand klug zu benutzen. Mit dem redlich verdienten Capital etablirte er ein elegantes Modewaaren-Geschäft in der Ohlauer Straße, und nun wurde sein Magazin nicht leer von neugierigen Käufern und besonders Käuferinnen, die zu den reichsten und vornehmsten der Stadt zählten.
So kam es, daß Lissauer’s Wohlstand von Tag zu Tag wuchs, und nun zögerte der alte Meyer Liepmann nicht länger, ihm die Hand seiner Rahel zu bewilligen.
Nach der Bestimmung des Contractes stellte sich Lissauer pünktlich an jedem Ersten eines Monates bei Günther ein, um diesem seine Nase vorzustellen. Auch heute, am ersten Januar, war Lissauer zu diesem Behufe nach der Behausung des Studenten geeilt. Er fand aber Günther in ungewöhnlich ernster, nachdenklicher Stimmung. Die Tischlerfamilie nämlich, welche durch Günther’s Hülfe und Verwendung damals aus großer Noth errettet worden und seitdem sichtlich in bessere Verhältnisse gekommen war, hatte durch den plötzlichen Tod des Vaters ein abermaliger, härterer Schlag getroffen. Die Wittwe war eben bei Günther gewesen und ihre Verzweiflung hatte sein weiches Herz ergriffen. Er sann hin und her, wie den Armen am besten und ausdauerndsten zu helfen sein mochte, als ein bescheidenes Klopfen an seiner Thür sich hören ließ und auf Günther’s zerstreutes „Herein“ Freund Lissauer eintrat. Bei seinem Anblick stutzte Günther; ein Lächeln flog über seine Züge, und indem er murmelte: „Ja, das kann helfen, das wird gehen!“ ging er auf Lissauer zu und bot ihm die Hand.
„Nun, wie gehen die Geschäfte?“ fragte er freundlich.
„Danke, danke, Herr Baron, – ich kann wirklich sagen, daß ich allen Grund habe, zufrieden zu sein. Mein Laden wird gar nicht mehr leer. Alle die vornehmen Damen kommen und kaufen von meinen Artikeln. Es ist eine wahre Freude, zu sehen alle die schönen Equipagen mit den adligen Wappen, die vor meiner Thür stehen.“
„So, so, das ist mir lieb zu hören!“
„Ja, Herr Baron, ich muß gestehen, – das Nasengeschaft war sehr gut für mich, denn es hat den Grund zu meinem immer zunehmenden Wohlstande gelegt. Ohne dasselbe hätte ich auch die Rahel nicht zur Frau bekommen. Gott, Herr Baron, wenn Sie wüßten, was für eine Ausstattung sie mitgebracht hat! Und der alte Meyer Liepmann ist alt. Wenn er stirbt – Gott erhalte ihm ’s Leben! – aber wenn er stirbt, so ist das Testament schon fertig; ich hab’s gelesen.“
„Es ist hübsch, daß Sie so dankbar anerkennen, wie viel Gutes ich Ihnen durch den Kauf Ihrer Nase mittelbar erwiesen habe. Sie werden mir deshalb auch gewiß eine kleine Bitte nicht abschlagen?“
„Herr Baron, seien Sie versichert, daß ich Alles thun werde, was in meiner Macht steht, um Ihre Bitte zu erfüllen.“
„Das ist brav gesprochen. Ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht. Sehen Sie, Lissauer, da ist in der Kreuzgasse ein armer Tischler gestorben, der hat eine Frau und sechs Kinder in der größten Noth zurückgelassen. Wenn Sie für diese Familie doch etwas thun wollten! Aber etwas Großes, Nobles, Anständiges!“
Lissauer rieb sich verlegen die Hände.
„Wissen Sie was, Herr Baron,“ sagte er endlich, „ich werde sammeln bei meinen Kunden. Es sind lauter reiche und vornehme Damen mit weichen Herzen, sie werden gewiß für die arme Familie etwas geben. Ich werde eine Büchse hinhängen mit einer schönen rührenden Umschrift und…“
„Aber Sie selbst, Herr Lissauer! Werden Sie denn aus eigenen Mitteln gar nichts zu dieser Sammlung beisteuern?“
„Ei freilich, freilich; und damit Sie sehen, daß ich mich nicht lumpen lasse … Aber sagen Sie, kommt es in die Zeitung?“
„Wozu das?“
„Also nicht in die Zeitung? … Nun, damit Sie sehen, daß ich kein Knicker, daß ich généreux bin … Gar zu viel kann ich nicht herausnehmen aus dem Geschäft! Wenn Sie wüßten, wie theuer jetzt Alles ist, was man kaufen muß!“
„Eben weil jetzt Alles so theuer ist, muß die arme Familie auch ordentlich unterstützt werden.“
„Gewiß, gewiß! O, der Herr Baron haben ein sehr mitleidiges Herz! … Nun, ich werde geben … ich will bezahlen … einen Thaler will ich geben! Aber nun sagen Sie auch nicht, daß ich ein Knauser bin!“
„Einen Thaler! Wirklich einen ganzen Thaler? – Nun, Herr Lissauer, lassen Sie nur gut sein,“ fuhr Günther schnell fort, als er sah, daß der Jude sprechen wollte; „wir werden über die Sache später noch einmal reden. Aber bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick hier. Ich habe da soeben eine Entdeckung gemacht, die mich sehr erschreckt hat. Sagen Sie einmal, Herr Lissauer …. ei, das ist ja fürchterlich! …. Herr, Sie haben ja einen Pickel auf meiner Nase!“
„Soll mir Gott!“ rief Lissauer und fuhr mit der Hand nach der Nase, „soll mir Gott, das ein Pickel? Ist es doch nur ein ganz kleines Pickelchen!“
„Aus einem Pickelchen wird aber ein Pickel, wenn man es nicht in Acht nimmt! Ich kann unmöglich dulden, daß mein theuer erkauftes Eigenthum durch Vernachlässigung leide, darum haben Sie gewiß die Gefälligkeit, ein Pflaster auf dies Pickelchen zu legen, damit jedem weiteren Unheil vorgebeugt wird.“
„Ich ein Pflaster auf meine Nase legen! – Was sollen die vornehmen Damen denken, wenn sie bei mir kaufen und ich habe ein Pflaster auf der Nase? – Sie belieben doch gewiß nur zu scherzen, Herr Baron?“
„Keineswegs!“ sagte Günther ernst. „Wie steht es doch in unserm Contracte? „„Sondern, daß er selbst nach besten Kräften dahin streben will, diese, nunmehr seine Nase, zu schützen, zu erhalten und zu bewahren; jeden Nachtheil von ihr abzuwenden““ u. s. w. u. s. w.“
„Ach ja, das steht darin; aber …“
„Kein „Aber“. Ich habe, wie Sie wissen, nicht allein das Recht, sondern sogar die Verpflichtung, für diese meine Nase zu sorgen!“
„Bedenken Sie doch, Herr Baron! Um Moses willen … Ich beschwöre Sie!“
„Entweder legen Sie sogleich gutwillig ein Pflaster auf jenes Pickelchen, oder ich verklage Sie wegen Nichterfüllung unseres Contractes. Aber ich sage Ihnen, das macht Ihnen Kosten, viele Kosten.“
„Nu, Herr Baron, wenn Sie es absolut verlangen … Aber es kann doch sein ein kleines Pflaster? Gott, das Pickelchen ist ja auch so klein.“
„Ich selbst werde Ihnen in der uneigennützigsten Weise das Nöthige in erforderlicher Größe liefern,“ erwiderte Günther, holte ein schwarzes Pflaster aus dem Schrank hervor und klebte es, trotz Lissauers wiederholten Sträubens und Bittens, ruhig auf dessen Nase.
„Nun noch Eins, Herr Lissauer,“ sagte er dabei. „Ich bemerkte neulich, daß sie baumwollene Taschentücher führen. Das muß ich mir verbitten. Sie reizen und erhitzen durch dieselben meine Nase in ungebührlicher Weise. Von heute an werden Sie sich der seidnen Taschentücher bedienen.“
Lächelnd zog Lissauer ein großes rothseidenes Tuch aus der Tasche. „Ist das Baumwolle, Herr Baron?“ fragte er mit triumphirender Miene.
„Allerdings nein!“ entgegnete Günther. „Aber Sie tragen dies eine seidene Tuch nur an Sonn- und Festtagen oder wenn Sie ausgehen. Ich aber verlange, daß Sie stets und zum wirklichen Gebrauch sich solcher Tücher bedienen.“
„Was? Im Geschäft und im Hause, wenn ich ganz allein bin mit der Rahel, da soll ich mich putzen? Soll so unerhörten Luxus treiben. O, Herr Baron, da muß ich ja ein armer Mann werden.“
„Sich sollen Sie nicht mit Seide putzen, aber meine Nase. Ich verlange es, und führen Sie trotzdem nach wie vor baumwollene Schnupftücher, so verklage ich Sie.“
„Sein Sie doch nicht immer gleich bei der Hand mit dem Verklagen! Hören Sie, Herr Baron, sein Sie barmherzig!“
„Zu schützen, zu bewahren, zu erhalten; jeden Nachtheil aber von ihr abzuwenden!“ declamirte Günther. „Ich bin es meiner theuren Nase schuldig, auf meinem Verlangen zu bestehen.“
[296] „Erbarmen Sie sich, Herr Baron! Einen Tag um den andern will ich ein seidenes Tuch nehmen.“
„Einen Tag wie den andern. Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Machen Sie’s kurz. Ja oder nein?“
„Nun denn, ja, ja!“ seufzte der geängstigte Lissauer und war froh, daß ihn Günther nicht länger festhielt, als er sich eiligst empfahl, sondern ihm nur nachrief:
„Ich werde mich so oft als möglich überzeugen, ob Sie auch alle Bedingungen unseres Contractes erfüllen.“
Seines schwarzen Pflasters wegen schlich sich Lissauer durch die abgelegensten Gassen nach seiner Wohnung. Den Verkauf im Magazin überließ er aber aus eben demselben Grunde mehrere Tage seiner Rahel und seinen Handlungslehrlingen.
Günther hielt Wort. Er kam fast täglich zu Lissauer, um seine Controle zu üben. Eines Tages, als er sich ebenfalls bei dem Juden befand, zog dieser mit dem seidenen Taschentuch zugleich einen Gegenstand heraus, der klappernd zur Erde fiel.
„Ei, was ist denn das?“ rief Günther. „Eine Tabacksdose? Ich glaube gar, Sie schnupfen, Herr Lissauer!“
„Nur sehr, sehr wenig, Herr Baron; und immer nur eine ganz billige Sorte.“
„Um so schlimmer, wenn Sie so abscheuliches Zeug in meine schöne Nase stopfen! Treiben Sie das schon lange? Wie konnten Sie es mir verheimlichen? Wollen Sie mich denn mit Gewalt dazu bringen, daß ich Sie verklage? – Aber ich will noch einmal Nachsicht haben und es bei der Beschlagnahme dieser Dose bewenden lassen, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben wollen, das häßliche und meiner theuren Nase so schädliche Laster des Schnupfens sofort und für alle Zeiten abzulegen.“
„Ja, ja, ich will nicht mehr schnupfen!“ rief Lissauer schnell. „Wenn Sie glauben, daß es könnte nachtheilig sein für meine Nase, will ich es gern lassen!“
„Für Ihre Nase nicht, Herr Lissauer; denn Sie werden sich erinnern, daß Sie ein solches Glied nur noch dem Namen nach besitzen.“
„Nun ja doch,“ sagte Lissauer, gezwungen lächelnd, „es bleibt sich im Grunde gleich! Wenn ich nicht mehr schnupfe, mache ich doch eine kleine Ersparniß und kann dafür ab und zu ein Schlückchen Bier mehr trinken.“
„Oho, Sie trinken Bier? Trinken Sie vielleicht auch Branntwein?“
„Nur ein ganz kleines Schnäpschen zum Frühstück?“
„Ist es denn möglich!“ rief Günther, die Arme gen Himmel hebend. „Er trinkt Bier, er trinkt Schnaps! – Aber denken Sie denn gar nicht an meine Nase, Sie gewissenloser Mensch? Glauben Sie, ich hätte nur darum 500 Thaler Gold für dieselbe bezahlt, damit Sie durch allerhand Laster und Untugenden sie zu Grunde richten könnten? Nein, mein Herr, diesem Treiben muß ein Ziel gesetzt werden! Bedenken Sie, daß Sie nur der Verwalter fremden Eigenthums sind, und daß ich Sie jeden Augenblick zur Rechenschaft ziehen kann.“
„Liebster, bester Herr Baron, machen Sie doch nicht so viel Aufheben wegen der Paar Tropfen Bier oder Schnaps! Sie können mir doch nicht alle kleinen, unschuldigen Genüsse verwehren!“
„Klein und unschuldig nennen Sie das? – Aber was soll ich mich mit Ihnen streiten? Wollen Sie gehorchen oder nicht?“
„Herr Baron, ich will das Schnäpschen fortlassen; aber ein Glas Bier, nur zuweilen ein Glas Bier, werden Sie mir doch erlauben.“
„„Jeden Nachtheil aber, der ihr durch andere Menschen oder Dinge – merken Sie auf, Herr Lissauer, durch Dinge – ihr zugefügt werden könnte, so gut er es vermag, abzuwenden.““ So steht es geschrieben, und ich wäre strafbar, wollte ich aus übergroßer Gutmüthigkeit auch nur einen Zoll breit nachgeben.“
„Herr Baron, ich werde mich wahrhaftigen Gott nicht beklagen, wenn Sie in diesem Punkte den Schein verletzen.“
„Wenn Sie mir erst die Erlaubniß geben, vom Contract abzuweichen, dann haben Sie das Spiel verloren, Herr Lissauer, denn dann überlasse ich Ihre Nase sofort einem guten Freunde. Ich bin ihrer, nach all den Vorgängen, recht herzlich satt geworden. Ist Ihnen das genehm, so sagen Sie es frei heraus.“
„Nein, nein, um Moses willen, verkaufen Sie die Nase nicht. Wer weiß, in welche Hände sie dann käme! Aber, Herr Baron, wenn Sie mir das Bier verbieten, was soll ich trinken, wenn ich zusammenkomme mit meinen Freunden im rothen Affen?“
„Milch oder Zuckerwasser; allenfalls etwas Limonade!“
„Nu, Herr Baron, hören Sie auf; seien Sie gut! Ich will die ganze Woche nichts trinken, aber am Schabbes Abend erlauben Sie mir wohl ein Seidelchen.“
„Auch nicht einen Schluck! Uebrigens verbiete ich Ihnen ganz und gar den Besuch des rothen Affen. Dort ist neulich erst eine Schlägerei gewesen, bei der es blaue Augen und blutige Nasen gegeben hat, Himmel, wenn ich bedenke, welcher Gefahr mein kostbares Eigenthum ausgesetzt gewesen war!“
„Soll mir Gott, sind wir doch lauter anständige Leute, ruhige, friedliche Bürger. Nur wie die Herren Studenten neulich Scandal anfingen –“
„Was? Nun sind wohl gar die Studenten Schuld, wenn meiner Nase Gefahr droht! Nun ist das Maß voll; leben Sie wohl, Herr Lissauer!“
„Warten Sie doch noch einen Augenblick. Wo wollen Sie denn hin, Herr Baron?“
„Zum Rechtsanwalt.“
„Nein, gehen Sie nicht, Herf Baron. Bleiben Sie hier, bleiben Sie hier. Ich will ja Alles versprechen, was Sie haben wollen.“
„Sie werden also von heute an weder schnupfen, noch Bier und Schnaps trinken, und niemals wieder den rothen Affen besuchen?“
„Nein, nein, nichts von alledem will ich wieder thun!“
„Gut, Herr Lissauer. Aber bedenken Sie, daß ich beim ersten Rückfall ohne Gnade die Sache bei den Gerichten anhängig machen werde. – Noch Eins – rauchen Sie?“
„Nein, ich kann’s nicht vertragen!“ antwortete der Gefragte sehr schnell und froh darüber, daß ihm das doch nicht erst verboten zu werden brauchte.
„Sie rauchen nicht? Hm, das ist schade, sehr schade! – Sie sollten es thun, Herr Lissauer. Eine kleine derartige Erwärmung würde meiner Nase sehr dienlich sein. Rauchen Sie, Herr Lissauer! Geld sollen die Cigarren Ihnen nicht kosten; ich verpflichte mich, Ihren Bedarf unentgeltlich zu liefern. Nicht wahr, Sie werden rauchen?“
„Herr Baron, ich kann nicht. Es wird mir ganz krank und übelig darnach.“
„O, das gibt sich bald. Versuchen Sie es nur. Hier sind einige Cigarren, – ganz leichte Sorte. Daran können Sie sich üben. Und wenn Sie sich übermorgen früh, am 1. Februar, zur Nasencontrole bei mir einfinden, dann gebe ich Ihnen eine etwas stärkere. Adieu, Herr Lissauer. Leben Sie recht wohl, hüten Sie meine Nase vor Erkältung, schonen Sie dieselbe so viel als möglich und rauchen Sie, rauchen Sie!“
Am Morgen des ersten Februar beschaute Lissauer seine Nase sorgsam im kleinen Rasirspiegel, athmete leicht auf, als er an ihrem Aussehen auch nicht das Geringste auszusetzen fand, und begab sich auf den Weg zu Günther. Es war starkes Frostwetter, und obgleich er sich das seidene Schnupftuch vor Mund und Nase gehalten hatte, war die Letztere doch etwas geröthet, als er bei Günther eintrat.
Entsetzt zerrte ihn dieser sogleich vor einen Spiegel.
„Mein Gott, wie sehen Sie aus!“ rief er dabei. „Unglückliches Menschenkind, was haben Sie mit meiner Nase, meiner schönen Nase gemacht!“
Lissauer starrte erschreckt seine geröthete Nasenspitze an.
„Kann ich doch nichts dafür,“ stammelte er. „Ist doch die Kälte heute so groß!“
Günther ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.
„Das muß anders werden! Das Eigenthum eines Andern darf dieser Mensch nicht mehr derartig behandeln. Aber zum Glück weiß ich Rath.“ Er ging zum Schrank, nahm ein weichgepolstertes seidenes Säckchen heraus, das mit zwei langen Bändern versehen war.
„Herr Lissauer,“ sagte er fest und bestimmt, „Sie werden so gefällig sein, fortan zum Schutze meiner Nase, sobald das Quecksilber im Thermometer unter Null-Grad gesunken ist, dies kleine Futteral zu tragen.“
„Das soll ich tragen?“ rief Lissauer, den alle Farbe, bis auf die in der Nasenspitze, verlassen hatte. „Auf der Straße soll ich das tragen?“
„Auf der Straße und im Geschäft“ entgegnete Günther ruhig. „Denn in Ihrem Laden entsteht bei jedem Oeffnen der Thür ein fataler, schädlicher Luftstrom.“
[297] „Und wenn Sie mich morden, Herr Baron, das Ding trage ich nicht.“
„Morden werde ich Sie nicht, wenn Sie es verweigern, aber verklagen und Schadenersatz fordern; noch ein ganz hübsches Sümmchen außer dem Kaufgelde sollen Sie mir zurückzahlen.“
„Herr Baron, Sie wollen mich ruiniren!“
„Nein, Sie ruiniren mich, wenn Sie meine Nase erfrieren lassen. – Leben Sie wohl; ich muß arbeiten. Sie werden bald mehr von mir hören.“
„Einziger, liebster, bester Herr Baron, ist es denn wirklich Ihr bitterer Ernst, daß ich soll die Nase stecken in solch ein grausames Futteral?“ stöhnte Lissauer und drehte den fraglichen Gegenstand in seinen Händen hin und her. „Wollen Sie denn, daß die Straßenjungen von ganz Breslau hinter mir herlaufen, daß alle Welt mit Fingern auf mich zeigt?“
„Ich will gar nichts, als daß meine Nase geschont wird. Sie wissen, es steht im Contracte: „jeden Nachtheil aber“ –“
„Ja, ja, ich kenne den Schein, den bösen! Aber es steht nichts darin von solchem schrecklichen Nasenpaletot. Herr Baron, ich kann das Ding nicht tragen am hellen lichten Tage; aber wenn Sie darauf bestehen, will ich es des Abends vorbinden, wenn ich ausgehe.“
„Ei, was denken Sie, Herr Lissauer! Abends werden Sie bei kaltem Wetter gar nicht ausgehen.“
„Gar nicht ausgehen!“ stotterte Lissauer.
„Nein, gar nicht. Ich bin mir diese Rücksicht schuldig. Danken Sie es mir, daß ich dies Verbot nicht auch auf den Tag ausdehne.“
Jetzt war Lissauer’s Pein auf den Gipfel gestiegen. „Das lasse ich mir nicht gefallen!“ schrie er. „Ich werde Sie verklagen. Wegen Störung meines Geschäftsbetriebes werde ich Sie verklagen.“
„Thun Sie das,“ sagte Günther ruhig. „Unsere beiderseitigen Klagen werden einen hübschen Proceß geben.“
Lissauer kämpfte mit einem schweren Entschluß. Plötzlich aber schien ihm ein Hoffnungsstrahl zu leuchten. Er trat an Günther heran, tippte schmeichelnd auf dessen Arm und sagte mit dem wohlgefälligsten Lächeln: „Hören Sie, Herr Baron – wissen Sie, daß ich alle die Cigarren geraucht habe, die Sie mir neulich verehrten.“
„Wie die Sachen jetzt stehen, kann das zu nichts helfen,“ rief Günther ärgerlich, aber Lissauer fuhr fort:
„Es ist mir zwar ganz übelig danach geworden; aber Sie sollten doch sehen, daß ich Alles thue, um Sie zufrieden zu stellen. – Sie sprachen neulich von einer schwereren Sorte, Herr Baron. Wollen Sie mir die Ehre anthun, mir zu erlauben, daß ich davon gleich eine darf rauchen?“
Kaum das Kopfnicken Günthers abwartend, stürzte er auf eine offenstehende Cigarrenkiste zu, nahm eine Cigarre heraus, zündete sie an und begann mit triumphirenden Blicken zu rauchen.
„Schmeckt Sie Ihnen, Herr Lissauer?“
„Ausgezeichnet, Herr Baron. Wahrhaftig ausgezeichnet.“
„Das freut mich! Sie beweisen Geschmack! Es ist eine echte Manilla von der kräftigsten Sorte. Meinen Freunden ist sie zu stark und wahrscheinlich auch meinen, Wichsier, denn von dieser Sorte fehlte niemals eine.“
Lissauer paffte fürchterlich, mit wahrer Todesverachtung.
„Sie ist mir gar nicht zu stark!“ rief er mit süßsaurer Miene. „Was meinen Sie, Herr Baron, wenn ich immer auf der Straße mit der brennenden Cigarre ginge? Es wärmt doch gar zu angenehm die Nase. Und dann lassen wir das häßliche Futteral hier fort.“
„Nichts da, Herr Lissauer. Die Nase hat schon gelitten, jetzt würde die Cigarre gar nichts mehr nützen.“
Lissauer richtete die flehendsten Blicke auf seinen Peiniger und sog und sog an seiner Manilla, daß sie dunkle Rauchwolken verbreitete. „Ich bin ja ein armer, geschlagener Mann,“ rief er dabei. „So lassen Sie sich doch erweichen, Herr Baron!“
„Entweder Futteral – oder Proceß,“ sagte Günther. „Das ist mein letztes Wort.“
Lissauer ward todtenbleich. Die Angst und das Rauchen hatten das Ihrige gethan. Die Cigarre entsank seinen Händen, und halb bewußtlos fiel er selbst auf einen Stuhl. Günther trat an ihn heran und band ihm das verhängnißvolle Futteral über die Nase; – er duldete es machtlos. Plötzlich aber sprang er auf, riß mit einem kräftigen Ruck das verhaßte Ding ab, griff nach seinem Hute und stürzte zur Thür hinaus. Nach einer halben Stunde war er wieder da, athemlos und erschöpft.
„Hier haben Sie Ihr Geld,“ rief er und hielt Günther einen gefüllten Beutel entgegen. „Es ist die ganze Kaufsumme. Zählen Sie nach, und dann geben Sie mir meinen Schein wieder, meinen Schein, damit die Sache ein Ende hat.“
„Sie möchten den Kauf rückgängig machen, Herr Lissauer?“ fragte Günther. „Wenn ich aber nun nicht wollte?“
„O, Sie werden wollen! Sie müssen wollen, Herr Baron, wenn Sie mich nicht todt wollen sehen zu Ihren Füßen.“
„Nun denn, Lissauer, wenn Sie darauf bestehen, so sei es. Hier nehmen Sie den Contract. Ich werde Ihnen sogleich eine Quittung über das zurückerstattete Geld ausstellen. Aber zuvor lassen Sie mich noch einmal meine Nase, mein schönes, theures Besitzthum betrachten. Man trennt sich nicht so leicht von kostbaren Gütern.“
Lissauer duldete schweigend, daß Günther lange seine Blicke auf die vielbesprochene Nase richtete und ihn selbst dabei hin und her drehte. Endlich wandte sich Günther von ihm ab und dem Schreibtische zu. Er schrieb:
„Ich bekenne hiermit, daß ich die Summe von hundert Friedrichsd’or von Herrn J. E. Lissauer zurückerhalen habe und daß nun weder ich, noch meine Erben Ansprüche auf die Nase des gedachten Herrn zu erheben haben.“
„Ist es so recht, Herr Lissauer?“
[298] „Ja wohl, ganz gut und recht! Gedankt sei dem Gott meiner Väter, daß der schreckliche Schein wieder in meinen Händen ist!“
„Aber, Herr Lissauer,“ rief Günther, der die Goldstücke nachzählte, „einige dieser Füchse sind gewaltig leicht!“
„Muß man sie doch nehmen, wie man sie bekommt,“ sagte Lissauer entschuldigend.
„Die ich Ihnen gab, waren alle vollwichtig!“
„Ach, so lassen Sie doch die Kleinigkeit, Herr Baron. Sind auch ein paar Goldstücke zu leicht, ist doch meine Angst zu schwer gewesen.“
Günther lachte und strich das Geld ein.
„Ihre nähere Bekanntschaft ist mir sehr schätzenswerth gewesen,“ sagte er. „Bitte, besuchen Sie mich zuweilen, Herr Lissauer, wenn wir auch in keiner geschäftlichen Verbindung mehr stehen!“
„Sie sind gar zu gütig, Herr Baron.“
„Kann ich Ihnen noch mit einer Manilla aufwarten?“
„Sprechen Sie mir nicht mehr von Manilla!“ rief Lissauer schaudernd. „Ich habe gedacht, es würde sein mein Tod, so schwirrte es mir im Kopfe und vor den Ohren. Leben Sie wohl, Herr Baron, und wenn Sie einmal etwas brauchen in Damenartikeln oder Sie sind in einer kleinen Verlegenheit – nu, so ’was kann ja vorkommen! – dann beehren Sie mich. Sie kennen ja mein Geschäft.“ Damit empfahl er sich.
Günther glaubte, seinen Gegnern bei der Nasenwette einen Schadenersatz schuldig zu sein. Er lud sie Alle, sowie auch die drei Schiedsrichter, zu einem Souper nach der goldenen Gans und schilderte ihnen bei dieser Gelegenheit die Auftritte, welche er mit dem „Nutznießer seiner eigenen Nase“ durchlebt hatte. Sein Vorschlag, die zurückgezahlte Kaufsumme zum Besten der unglücklichen Tischlerfamilie zu verwenden, fand allgemeinen Beifall und ward schon am nächsten Tage zur That.
Günther und seine Freunde sind längst würdige Hausväter und zum Theil ernste Staatsdiener, doch lachen sie noch heute gern über die lustige Geschichte mit der erkauften Nase. Lissauer’s Modewaaren-Magazin aber ist immer noch auf der Ohlauer Straße und erfreut sich des lebhaftesten Zuspruches.
Durch körperliche Leiden behindert, die Zügel der Regierung weiter zu führen, übertrug König Friedrich Wilhelm IV. seinem Bruder, dem Prinzen von Preußen, am 23. October 1857 die einstweilige Stellvertretung; und als die erwünschte Besserung nicht eintrat, als fortdauernd eine düstere Wolke seinen Geist umlagerte, übernahm kraft der Verfassung des Landes, wie in Folge eines königlichen Erlasses vom 7. October 1858 der stellvertretende Prinz als nächster Agnat die Regentschaft mit königlicher Machtvollkommenheit, mit der „alleinigen Verantwortlichkeit vor Gott“. Eine kleine, aber mächtige Partei ausgenommen, welcher der Staat ganz und gar in die Hände gefallen und deren Autorität der Oberkirchenrath Stahl war, ging eine schwere, jedem Einsichtigen, jedem wahrhaften Patrioten die höchste Besorgniß erregende Verstimmung durch die Nation, eine Verstimmung, die diesmal beim Wechsel der Regenten nicht sofort wich. Wir können es heute, wo die Dinge doch schon anders stehen, getrost sagen: Die Nation erwartete nichts sogleich zu ihrem Frommen, und einzelnen Hoffnungslustigen rief man: Abwarten! entgegen. Ebenso lautete und lautet noch jetzt die Parole derjenigen Partei, welche eher fürchten als hoffen durfte. Nur eine zweite kleine politische Genossenschaft, die sogenannten Gothaer Constitutionellen, von denen ein bekanntes Mitglied des Abgeordnetenhauses zu Berlin im Nvbr. 1848 gesagt halte: „Mit dem Ministerium Manteuffel muß man durch Dick und Dünn gehen,“ vermochte ihre Natur auch diesmal nicht zu verleugnen: freudetrunken begrüßte sie ohne factischen Anhalt den Wechsel und quittirte die alte Freundschaft völlig. Aber die erste That des Prinz-Regenten, die „glückliche Beseitigung“ des Ministeriums Manteuffel, die damit verbundene Neubildung des Cabinets erweckte im ganzen preußischen Volke ungemeines Wohlgefühl, und die nun erwachte Hoffnung, von seinen Wunden geheilt, in den Besitz der ihm verfassungsmäßig gebührenden Rechte gesetzt zu werden und zu einem gesunden, naturgemäßen Fortschritte zu gelangen, diese Hoffnung ist seitdem nicht getäuscht worden. Der Platzregen, den Herr Leo nach dem Morgenrothe als unvermeidlich prophezeihte, hat die der Kräftigung bedürftigen Glieder des Volkes noch nicht durchweicht, der Jubel der Constitutionellen ist fürder kein Verrennen in Knechtschaft, ja noch mehr, das Programm der Demokratie, wie es ein Führer der Preußischen Volkspartei, Johann Jacoby, kürzlich öffentlich darlegte, ist der Bewahrheitung wenigstens etwas näher gerückt, als es zur Zeit irgend Jemand erwartete. Trotz alledem ist noch viel, sehr viel zu thun, und in das unbedingte Jubelgeschrei, das einige preußische Blätter ausgestoßen, können wir vorläufig nicht einstimmen. Aber rühmend hervorheben müssen wir, daß alles Gute, was bis jetzt das neue Ministerium geschaffen, freiwillig von diesem gegeben wurde, nicht gedrängt oder abgenöthigt von Zeitereignissen oder Kammerdebatten.
Von den neuberufenen Mitgliedern des Ministeriums waren Alle, bis auf den Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen, ihrem politischen Charakter nach hinlänglich bekannt. Daß durch ihr bloßes Eintreten schon der Bruch mit der radikalen Reaction angekündigt wurde, wußte und fühlte Jeder. Allein wie weit sie den Sinn des großen Wortes Vorwärts, welches der Prinz-Regent in richtiger Erkenntniß seiner Zeit und seines Berufes ausgesprochen, ausdehnen, wie weit sie in das Streben der Nation eingehen würden, das unterlag anfänglich allgemeinem Zweifel. Der Cultusminister vornehmlich war es, welchem man von Seiten der Menge, in Würdigung seiner bisherigen Thätigkeit auf kirchlichem Gebiete, mit den bescheidensten Erwartungen nahte, wozu die Auslassungen über ihn in den letzten sogenannten conservativen Wahlvorversammlungen wesentlich beitrugen. Und gerade er hat seitdem eine That verrichtet, wie sich derselben kein anderer deutscher Minister rühmen darf, eine That verrichtet, die den Staatsmann zum Volksmanne – was er auch sein soll – gemacht hat; gerade er hat die Gelegenheit ergriffen, sich ein Ehrendenkmal zu setzen, das seinen Namen im Gedächtniß des Volkes verewigen wird: es ist, wie männiglich bekannt, Herr von Bethmann-Hollweg, in dessen Vergangenheit wir hier nur einen Blick thun.
Unter den glänzendsten Verhältnissen am 10. April 1795 zu Frankfurt a. M. geboren – sein Vater ist Johann Jakob Hollweg, der sich durch Verschwägerung und Associirung mit dem Banquier Bethmann dessen Namen beizulegen Veranlassung fand –, standen ihm alle Mittel zu einer vollkommenen, von jedweder subsistentiellen Rücksicht unabhängigen geistigen Ausbildung zu Gebote, welche bis zu seinem Eintritt in das Frankfurter Gymnasium der berühmte Karl Ritter leitete, der ihn auch auf Reisen begleitete und noch beim Uebergange zur Universität Göttingen, 1813, ihm zur Seite blieb. Das Studium der Jurisprudenz wählend, hat Savigny, dessen Schüler er 1815 zu Berlin ward, wohl den meisten Einfluß auf ihn ausgeübt. Von diesem dazu bestimmt ließ er sich, nachdem er im Jahre vorher in Göttingen promovirt, 1819 in Berlin als Docent nieder und rückte 1823 zum ordentlichen Professor auf. In diese Zeit seiner akademischen Wirksamkeit fällt die Veröffentlichung seiner Schrift: „Gerichtsverfassung und Proceß des sinkenden römischen Reiches“, die zu Bonn 1827, in demselben Jahre erschien, in welchem ihm die Berliner Universität das Rectorat übertrug, und seine Betheiligung (seit 1832) an der Herausgabe des Rheinischen Museums. Mehrere den Civilproceß betreffende Schriften sind nicht von der Bedeutung der eben und weiter unten erwähnten. Im Jahre 1829 vertauschte er die Berliner Professur mit einer zu Bonn, welche er bis 1842 bekleidete, worauf er, 1849 geadelt, den Rang eines geheimen Oberregierungsrathes und das Curatorium der letztgenannten Universität erhielt, das er bis 1845 verwaltete. Alsdann dem Staatsrathe beigesellt, schließt sich hiermit eine Periode seines Lebens und Wirkens ab.
In religiösen Dingen von jeher aus reiner Ueberzeugung der orthodoxen Richtung angehörig, verfolgte er jetzt mit vorwiegendem Interesse die seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s IV. besonders lebhaften Bewegungen auf kirchlichem Gebiete, und so sehen wir ihn 1846 auf der evangelischen Generalsynode zu Berlin und von da ab auf einer Reihe an verschiedenen Orten tagender Kirchenversammlungen, zum Theil als deren Vorsitzenden. Wie in einer nicht zu verkennenden Hinneigung zu mittelalterlicher Romantik [299] hatte er auch in einer gewissen Vorliebe für den sogenannten christlichen Staat nahe Berührungspunkte mit den Gedanken und Intentionen des Königs. Allein dieser seiner Vorliebe, seinem strenggläubigen Sinne hafteten niemals, wie bei den Zionswächtern der Kreuzzeitung, hyperbolische Auswüchse an, waren eine auf Geistesverfinsterung, Gewissensdruck, auf Knechtung unter den Buchstaben gerichtete Tendenz, widriger Zelotismus und egoistische Unduldsamkeit von jeher fremd. Niemals von Haß gegen die freien Bewegungen des menschlichen Geistes beseelt, hat er in Streben nach einem echt evangelischen Wesen, das Aufklärung und Bildung nicht ausschließt, besser wie die Meisten derer, welche sich rühmten, mit ihm in gleicher Phalanx zu kämpfen, die protestantischen Bewegungen, den welthistorischen Act der Bildung des Deutschkatholicismus gewürdigt, ihnen gleich damals eine gewisse Berechtigung nicht abgestritten und keinen Augenblick die kirchlichen Maßregeln des Ministeriums Eichhorn gebilligt, welche die Erstehung der freien Gemeinden zeitigten. Was der Justizminister von Mühler am 30. März 1840 bezüglich des Verfahrens gegen die Altlutheraner äußerte, daß man sich in Religionsangelegenheiten aller Gewaltthätigkeiten enthalten müsse und der Staat lediglich durch Belehrung, Bestellung würdiger Geistlicher und Förderung der Sittlichkeit auf die religiösen Ansichten des Volkes wirken dürfe, das war auch Bethmann-Hollweg’s Bekenntniß, bevor es in Preußen eine Verfassung und einen §. 12 darin gab.
Die ministerielle Auflehnung gegen Fortschritt in Glaubenssachen, gegen die Bethätigung selbstständiger Vernunft auf religiösem Gebiet hat die Ereignisse des März 1848 mit erzeugen helfen. Die innere Neugestaltung des preußischen Staats aber gab Bethmann-Hollweg Gelegenheit, sich noch von einer dritten Seite her, auf dem Felde der Politik zu zeigen, da man schwerlich schon seine Schrift über den „Ursprung der lombardischen Städtefreiheit“ (Bonn 1846) dahin mit rechnen wird. Er gelangte 1849 in die erste, 1852 in die zweite Kammer. Hier bildete er eine besondere Fraction, das rechte Centrum, und trat in Opposition zu dem Ministerium Manteuffel. Vornehmlich stritt er gegen die der Würde und Macht des preußischen Staats so ganz unangemessene auswärtige Politik, gegen das Junkerthum mit seinen autokratischen Gelüsten, den Stahl’schen Pharisäismus, gegen die schwertbewaffnete Autorität der Kirche, wie gegen das Uebermaß polizeilich-büreaukratischer Gewalt. Zum Verständniß seiner Fraction, zur Verbreitung und größeren Geltendmachung seines politischen Strebens gründete oder protegirte er ein eigenes Organ, das „Preußische Wochenblatt“, worin er Anerkennung der Verfassung, Selbstregierung der Gemeinden, Parität aller Religionsbekenntnisse, Selbstverwaltung der katholischen und protestantischen Kirche als leitender Hauptgrundsätze für die innere Politik der Monarchie verfocht, in Betreff der äußeren eine kräftige und vernünftige Machtstellung mit Beachtung der Bundesverfassung von 1815 anstrebte.
Der „glücklich beseitigte“ Minister des Innern, Herr von Westphalen, der mit der Einführung der „discretionairen Polizeigewalt“ das preußische Volk mit einem Stück französischer Präfectenwirthschaft beschenkte, erachtete jedoch selbst die so sehr gemäßigte und umschränkte Opposition des dermaligen Cultusministers mit seinem System für unverträglich, und bei den nächsten Wahlen traf er die Veranstaltung, daß Herr von Bethmann-Hollweg nicht wieder in der Kammer erscheinen konnte. Gänzlich aber vermochte man ihn nicht vom politischen Schauplatz zu verdrängen, nach wie vor gab er auf diesem, wie auf dem kirchlichen, Lebenszeichen, dabei der Pflege seiner reichen Besitzungen in der Rheinprovinz, wie seinem Hange zur antiquarischen Kunst obliegend, für deren Verständniß unter andern das ihm gehörige, durch ihn restaurirte, erweiterte und künstlerisch verschönerte Bergschloß Rheineck einen herrlichen Beweis liefert. Erst durch die höchste Berufung vom 6. November v. J. erschien er wieder im Abgeordnetenhause, diesmal aber, in seinem Werthe an maßgebender Stelle längst erkannt, am Ministertisch, im Besitz des wichtigen Portefeuilles der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten, und im Hinblick auf eine neue Schaar von Deputirten, welche allen heilsamen Bestrebungen der vom Prinz-Regenten verordneten Regierung von vornherein wirksamen Beistand verhieß.
Vorauszusehen war, daß die aus wirklichen Volkswahlen hervorgegangene Kammer mit Beschwerden und Petitionen in reichlichem Maße bedacht werden würde. Von den bisher bekannt gewordenen sind die erheblichsten die der Dissidentengemeinden, welche gesetzliche Regelung ihrer Angelegenheiten, Schutz des verfassungsmäßigen Rechts auf freie Religionsübung begehrten. Wer die Zeitungen der verwichenen zehn Jahre aufmerksam gelesen, die Geschichte dieser Zeit nur einigermaßen im Gedächtniß hat, wer Walesrode’s „Politische Todtenschau“ und Uhlich’s „Dissidentische Denkschrift“ kennt, der weiß, unter welchem Verfolgungssystem die freien Gemeinden und ihre Führer seufzten. In der achtzehnten Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 28. Februar d. J. erfolgte die Berathung über die Petitionen der Dissidenten zu Königsberg, Tilsit und Berlin, und es wurde von der betreffenden Commission beantragt, jene dem Staatsministerium zur Berücksichtigung und in der Erwartung zu überweisen, daß baldigst eine gesetzliche Regelung der Verhältnisse der Dissidentengemeinden im Geist der Artikel 12–16 der Verfassung herbeigeführt werde. Der Minister des Innern, Flottwell, nahm zunächst das Wort, um anzuzeigen, daß den Beschwerden der Petenten im Wesentlichen schon abgeholfen, daß gänzliche Beseitigung des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 nicht stattfinden könne, die Behörden aber auf’s Strengste angewiesen seien, ihre Beaufsichtigung auf das allergeringste Maß zurückzuführen, sich dabei auf die bescheidenste Weise zu betragen, um nicht religiöse Gefühle zu verletzen, daß fortan keine Gensd’armen mehr störend in die Versammlung eingreifen dürften, und ihnen jede Auflösung einer Versammlung untersagt wäre. Nachdem noch der Justizminister Simons einige Worte gesprochen, erhob sich Bethmann-Hollweg und sprach:
„Von dem Standpunkte meines Ministeriums kann ich den Wegfall aller ferneren einschränkenden polizeilichen Maßregeln gegen harmlose religiöse Versammlungen, welcher religiösen Richtung sie auch angehören mögen, nur herzlich willkommen heißen. (Bravo!)
„Denn solche Maßregeln tragen mehr oder weniger den Charakter religiöser Verfolgung an sich und sind weder der Wille des Staates, noch den preußischen Traditionen, noch unserer Verfassung gemäß (Bravo!), ja sie sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, noch viel weniger im Interesse der beiden großen religiösen Gesellschaften, in welche sich unser Volk theilt. Es wäre ein Armuthszeugniß, das diese großen kirchlichen Gemeinschaften sich selbst ausstellten (Bravo!), wenn sie durch solche Mittel sich erhalten zu können glaubten; es wäre ein Widerspruch mit dem ihnen innewohnenden Princip, mit dem Christenthum. Das Christenthum hat durch freie Ueberzeugung die Welt überwunden und wird ferner durch diese geistigen Waffen sich behaupten und sich Bahn brechen.
„Wenn auf diese Weise den dissidentischen Gemeinden die freieste Entwickelung gewährt ist, so wird es an ihnen sein, den Beweis des Geistes und der Kraft zu führen, den die Fundamentalwahrheiten des Christenthums im zweiten Jahrtausend ihres Bestehens täglich führen, sich zu consolidiren, namentlich sich mehr zu bestimmen und dadurch die Bürgschaft ihrer Dauer zu gewähren.“
Nachdem der Minister hierauf noch einige Mitteilungen über die Ertheilung von Corporationsrechten gegeben, ging er auf den „allein streitigen und sehr bedenklichen Punkt“, auf den religiösen Unterricht der Jugend über.
„Zwei Rechte,“ fuhr er fort, „nehmen in dieser Beziehung die Dissidenten-Gemeinden in Anspruch, erstens den religiösen Unterricht durch ihre Vorsteher, Redner, Geistliche oder wie man sie nennen will, ertheilen lassen zu dürfen, und zweitens ihre Kinder fern halten zu dürfen von dem religiösen Unterricht in den öffentlichen Schulen. Beides wurde ihnen früher bestritten; man glaubte, ihre Religionslehrer nach früheren gesetzlichen Bestimmungen als Privatlehrer ansehen und einer Prüfung unterwerfen zu müssen. Diese Bestimmung mußte schon in ihrer Ausführung zu Verwickelungen Veranlassung geben, da manche von diesen Religionslehrern früher bereits ein solches Examen bestanden hatten. Nach sorgfältiger Ueberzeugung habe ich, hat die Staatsregierung sich davon überzeugt, daß die Anwendung jener früheren Vorschriften auf den vorliegenden Fall nicht zulässig ist, daß vielmehr der Religionsunterricht der Jugend in den Dissidenten-Gemeinden ein wesentliches Stück der freien Religionsübung bildet, welche nach Artikel 12 der Verfassungs-Urkunde gewährleistet ist (Bravo!), so daß also fortan den Religionslehrern dieser Dissidenten-Gemeinden nichts im Wege steht, diesen Unterricht zu ertheilen. (Bravo!)
„Ebenso sind wir zu der Ueberzeugung gekommen, daß irgend welcher Zwang zur Theilnahme an dem Religionsunterrichte in der öffentlichen Schule nicht stattfinden darf. Eine bekannte Stelle unseres allgemeinen Landrechtes verordnet, daß die Kinder solcher Eltern, die einer anderen Religionspartei angehören, zur Theilnahme an dem öffentlichen Religionsunterrichte nicht genöthigt werden sollen. Man hat früher geglaubt, die Anwendung dieser gesetzlichen Bestimmung auf den vorliegenden Fall ablehnen zu können. Ich bin überzeugt, daß auch hier diese altpreußische Bestimmung Anwendung finden muß, daß man kein Recht hat, die Kinder zu nöthigen, sei es an dem Religionsunterrichte in der Schule, sei es an dem der Geistlichen der Landeskirche Theil zu nehmen. (Bravo!) Vorausgesetzt natürlich – wie es auch das Landrecht ausdrücklich sagt – daß ein anderweitiger Religionsunterricht nachgewiesen ist. Für einen solchen aber muß, wie ich schon vorher gesagt habe, der Religionsunterricht der Geistlichen der Dissidenten gelten. Dies ist nach unserer Ueberzeugung die gesetzliche Lage der Sache, und nach dem Gesetz soll und muß verfahren werden (Bravo!). Daß der Erfolg im Interesse des Staates ein bedenklicher sei, soll hier nicht verschwiegen werden. Die Frage ist von der Regierung auch bestimmt und klar in’s Auge gefaßt worden. Es ergibt sich daraus das sonderbare, fast widersprechende Resultat, daß, während der Staat darauf [300] dringt und dafür sorgt, daß die gesammte Jugend, also namentlich auch die Jugend dieser Dissidenten-Gemeinden, Lesen, Schreiben und Rechnen und was noch sonst zum Elementar-Unterrichte gehört, aus das Sorgfältigste und Beste erlernt, er den Religionsunterricht und die damit so nahe verknüpfte Sittenlehre ganz ignorirt. Welchen Unterricht die Kinder darin erhalten, darum bekümmert er sich gar nicht, so daß also der Fall eintreten kann, daß die zehn Gebote, diese Fundamentalsätze jeder sittlich-bürgerlichen Gemeinschaft: Du sollst nicht stehlen; du sollst nicht tödten; du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen etc. – bei vielen dieser Dissidenten-Gemeinden ist selbst das Bekenntniß des lebendigen persönlichen Gottes sehr in Zweifel gestellt – den Kindern vielleicht niemals vorgehalten werden. Indessen das fällt nicht auf unseren Kopf, sondern auf den Kopf derer, die von Gottes und Rechts wegen die Erziehung dieser Kinder zu leiten haben (lebhaftes Bravo) und die selbst gewissenhaft urtheilen mögen, ob sie den jedenfalls auf mehr als tausendjährigen Grundlagen beruhenden Religionsunterricht der öffentlichen Schule oder den wahrscheinlich nur sehr dürftigen ihrer Religionslehrer ihren Kindern ertheilen lassen wollen. In der That empfiehlt sich aber dieses Resultat nicht blos durch seine Gesetzlichkeit, sondern auch durch seine Zweckmäßigkeit. Ein anderes Verfahren enthält einen inneren Widerspruch. Was kann die Schule ausrichten, wenn sie sich im Kampfe mit der Familie befindet, wenn den Kindern das, was sie in der Schule hören, im Hause als unwahr, als thörichter Aberglaube etc. dargestellt wird? (Sehr wahr!)
„Es ist die große Aufgabe der beiden christlichen Kirchen, wie es ja ihr Bekenntniß sagt, das Verirrte zu suchen, nicht durch Zwangsmaßregeln, sondern auf dem Wege der suchenden Liebe, auf dem Wege der Ueberzeugung, durch Lehre und Beispiel das wieder zu gewinnen, was ihnen verloren war. (Lebhaftes Bravo rechts.)“
Dies ist die That, die wir gerühmt, die seinen Namen verewigen wird! Achtung vor der Verfassung, Gesetzmäßigkeit und wahrhaft christliche Gesinnung sind die charakteristischen Merkmale dieser denkwürdigen Rede, die als ministerielle in Deutschland einzig dasteht.
Wem es endlich beschieden gewesen, in engeren Verkehr mit Herrn von Bethmann-Hollweg zu treten, rühmt von ihm ein humanes, liebreiches Wesen. Er war allezeit bereit, das Verdienst zu ehren, das Gute anzuerkennen und aufzunehmen, von welcher Seite es sich immer darbot, ob er dabei auch auf die größte Principverschiedenheit in den wichtigsten Lebensfragen stieß, und besitzt Geist und Bildung genug, Verdienst und Gutes unter allen Formen und Verhältnissen herauszufinden. Mit vielen seiner Ansichten über Religion und Kirche sind wir nicht einer Ansicht, aber selbst seine Gegner auf diesem Gebiete achten in ihm den Ehrenmann, den Mann des Gesetzes, dessen durch und durch noble Gesinnung ihn stets auf dem geraden, offenen Wege halten wird. Nichts hat ihn im Leben so angewidert, als Doppelzüngigkeit und die Unsittlichkeit der Disharmonie zwischen Thun und Reden. Von seinem enormen Reichthum hat er, so weit es in die Oeffentlichkeit gedrungen, lobenswerthen Gebrauch gemacht. Er hat Kunst und Wissenschaft unterstützt, der Armuth nie seine Hand verschlossen, ja es könnten, wenn es nicht gerade bekannte lebende Personen beträfe, wenn es keine Verletzung des Edelmuths wäre, Beispiele angeführt werden, mit welcher hochherzigen, rührenden Zartheit namhafte Subventionen von ihm ertheilt worden sind.
Freuen wir uns denn, zumal im Rückblick auf die Vergangenheit, dieses Mannes!
Der Napoleonide, unter dessen unumschränkte Gewalt seit nun acht Jahren die Franzosen gebeugt sind, hat einen europäischen Krieg begonnen; er, der für seinen Willen keine Schranken anerkannte und einen vollendeten Despotismus eingeführt hat, gibt sich für einen „Befreier“ der Völker und für einen Beförderer der „Civilisation“ aus. Eine dreistere Behauptung hat die Weltgeschichte nicht aufzuweisen.
Jeder Mensch, der auch nur noch einen Schatten seiner fünf Sinne besitzt, wußte und konnte von Anfang an wissen, daß das Treiben der Abenteurer in Frankreich über kurz oder lang einen europäischen Krieg hervorrufen werde. Dieser Napoleonide mußte den Krieg haben, wenn er seine Herrschaft über die Franzosen befestigen wollte. Der Kundige weiß aus der Geschichte, daß Männer der Staatsstreiche, Usurpatoren, die eine neue Dynastie bilden wollen, ohne Krieg niemals diesen Zweck erreichen können, und zu Gunsten dieses Ludwig Napoleon sollte doch die Geschichte nicht etwa eine Ausnahme machen? Auch hat er ja von langer Hand auf den Krieg hingearbeitet, und sein ehemaliger Genosse bei den Attentaten gegen König Ludwig Philipp, Monsieur, jetzt Graf von Napoleons Gnaden, Fialin Persigny, hat ja offen gesagt: „Wir werden nur in einem Feuerwerk abziehen.“ (Nous ne partirons que dans un feu d’artifice.) Wie echte Seiltänzer!
Das Feuerwerk ist nun da, und vorerst hat dieser Napoleon Italien in Brand und Flammen gesteckt. Damit möchte er mancherlei erreichen. Zuerst beschäftigt er die Franzosen, die ein sehr wankelmüthiges, vorzugsweise auf das Aeußerliche gerichtetes und von einem Extrem zum andern schwankendes Volk sind. Er steckt eine Masse mißliebiger junger Leute unter die Soldaten und opfert sie als Kanonenfutter; seine Soldaten verweist er auf Beute in fremdem Lande, als dessen Befreier er auftritt, und hat er Glück, nun, so erobert er und stopft den Franzosen den Mund so voll mit „gloire“, mit Ruhm, daß sie lange daran zu kauen haben. Ein solcher Ruhm, das heißt napoleonisches Kriegsglück, würde den Despotismus in Frankreich nur noch mehr befestigen.
Seit vierzehn Monaten war es sonnenklar, daß der französische Gewalthaber seine ersten Hebel zur Eroberung, bei welchen er es in letzter Instanz auf Deutschland abgesehen hat, in Italien ansetzen werde. Dort hatte er schon in früher Jugend den Revolutionair gespielt, sich in Carbonarilogen aufnehmen lassen und zu Forli im Kirchenstaate dem Vater Orsini’s den Eid auf den Dolch geleistet. Er ist aber ein falscher Bruder gewesen, hat die Carbonari verrathen, und deshalb schworen sie ihm Rache. Orsini der Jüngere versuchte ihn am 14. Januar 1858 zu ermorden, aber das Bombenattentat mißlang.
Als der erste Schreck vorüber war, faßte der ehemalige Carbonaro in den Tuilerien den Plan, diesen Mordversuch zu seinem Vortheil auszubeuten, und man muß ihm zugestehen, daß er ein wahres Meisterwerk macchiavellistischer Politik zu Stande gebracht hat. Freilich wird dasselbe durchschaut, wenigstens in Deutschland. Von Italien gingen die Attentate gegen das Leben dieses Kaisers aus; Orsini, der Mörder, wurde von den Italienern, die sittlich sehr entartet sind, wegen seiner That gepriesen. Jetzt kam es darauf an, diese gefährliche Stimmung zu ändern und zugleich gegen Oesterreich einen Schlag zu führen, um diesem Staate in Italien Verlegenheit zu bereiten. Denn auf Oesterreich war es zunächst abgesehen. Nun läßt der Zwingherrscher der Franzosen sich von dem italienischen Mörder einen Brief schreiben, und in diesem sich als Heiland und Retter Italiens proclamiren.
Kein Mensch glaubt, daß Orsini selbst diesen Brief, so wie er vorliegt, geschrieben hat oder geschrieben haben kann, denn er trägt das Gepräge der Fälschung offen an der Stirn. Er ist in durchaus correctem Französisch abgefaßt, dessen Orsini gar nicht vollkommen mächtig war. Denn sein Testament an seine Kinder, das er auch französisch niederschrieb, wimmelt von Sprachfehlern. Weshalb soll der Mörder nun den Brief an Napoleon, in welchem dieser von demselben Mörder als Befreier Italiens bezeichnet wird, in untadelhaftem Französisch, das Testament aber in fehlerhaftem Französisch abgefaßt haben? Jedenfalls hat Napoleon den Brief, wenn ein Concept Orsini’s vorlag, so abändern lassen, wie er ihn für seine Zwecke gebrauchen wollte.
Dieser Brief des Mörders ist als Actenstück wichtig, denn er bildet den Ausgangspunkt für die gemeingefährliche Politik des Napoleonismus seit fünf Vierteljahren; der Mörder hat dem Kaiser sein Programm der Ruhestörung Europa’s vorgezeichnet. Man ließ Orsini aus dem Gefängnisse Mazas unter dem 11. Februar 1858 an Napoleon III. schreiben, daß er sich nicht vor demjenigen demüthigen wollte, welcher die Freiheit seines unglücklichen Vaterlandes im Entstehen gemordet habe, dessen ungeachtet wolle er am Ziel seiner Laufbahn den letzten Versuch wagen, um Italien zu Hülfe zu kommen. Dann gibt er dem Decemberkaiser folgende politische Anweisungen:
„Um das jetzige Gleichgewicht in Europa aufrecht zu erhalten, muß Italien unabhängig gemacht oder es müssen die Ketten, unter denen Oesterreich es in Sclaverei hält, fester geschmiedet werden. Fordere ich für Italiens Befreiung, daß das Blut der Franzosen für die Italiener vergossen werden solle? Nein, so weit gehe ich nicht. Italien verlangt blos, daß Frankreich nicht intervenire; es verlangt, daß Frankreich Deutschland nicht gestatte, daß dieses Oesterreich [301] in den Kämpfen unterstütze, welche alsbald erfolgen werden. (– Wie genau präcisirt der italienische Mörder die napoleonische Politik und das napoleonische Verlangen, die gerade jetzt so klar hervortreten! Er hat den Propheten gemacht. –) Und gerade dieses können Ew. Majestät thun, wenn Sie wollen. Von diesem Willen hängt das Wohlergehen oder das Mißgeschick meines Vaterlandes, das Leben oder der Tod einer Nation ab, welcher Europa zum großen Theile seine Civilisation verdankt.“ (– Also schon hier das Civilisationsthema, auf welchem jetzt, wie auf einem Principe, herumgeritten wird! –)
Der Mörder, welcher dem Kaiser politische Lehren ertheilt, fährt fort: „Diese Bitte richte ich aus meinem Kerker an Ew. Majestät und verzweifle nicht ganz daran, daß meine schwache Stimme Gehör finden werde. (– Sie hat Gehör gefunden! –) Ich beschwöre Ew. Majestät, dem Vaterlande die Unabhängigkeit wiederzugeben, welche dessen Söhne im Jahre 1849, durch den Fehler der Franzosen selbst, eingebüßt haben. Möge Ew. Majestät sich erinnern, daß die Italiener, unter denen auch mein Vater war (– der Carbonaro, welcher den nachherigen Kaiser auf den Dolch vereidigte –), mit Freuden ihr Blut für Napoleon den Großen (– der die Italiener unverschämt ausplünderte und ihre Länder zu willenlosen Anhängseln Frankreichs, zu Präfecturen, machte –) überall, wohin er sie auch führen mochte, vergossen haben. Mögen Sie eingedenk sein, daß sie ihn bis zu seinem Sturze nie verließen (– aber verfluchten, als sie seiner ledig waren –). Mögen Sie nicht vergessen, daß Europa’s und Ihre Ruhe nur eine Chimäre sind, so lange Italien nicht unabhängig ist. Verschließen Ew. Majestät Ihr Ohr nicht dem letzten Zuruf eines Patrioten, der auf den Stufen des Blutgerüstes steht. Befreien Sie mein Vaterland, und die Segenswünsche von fünfundzwanzig Millionen Bürgern werden Ihnen in die Nachwelt folgen.
Wenn dieser Orsini einen solchen Brief concipirt haben sollte, so ist er, wie schon gesagt, napoleonistisch überarbeitet und redigirt worden. So wie er vorliegt, paßt er vortrefflich in den kaiserlichen Befreiungs- und Civilisationskram. Die Italiener sollten sich patriotische Lehren von einem Meuchelmörder geben lassen, und, was bezeichnend für den Verfall der Nation ist, sie haben sich solche Lehren geben lassen! Die Sache wurde gut eingefädelt. Der Napoleonismus spiegelte dem Könige von Sardinien Vergrößerung an Gebiet auf Kosten Oesterreichs vor, und Victor Emanuel biß an diesen Köder, in welchem er schon jetzt einen Haken findet. Sein Minister, Graf Cavour, ist seitdem dienstwilliger Lakai des Gewaltherrschers in den Tuilerien. Jenes Orsinische Machwerk wurde ihm von Napoleon zugeschickt, und er mußte es in der amtlichen piemontesischen Zeitung veröffentlichen. Seitdem begannen von Piemont aus die unzähligen Aufreizungen gegen Oesterreich, welchen dann die Neujahrsrede an Herrn von Hübner und die über alles Maß schamlosen Lügen des Moniteur die Krone aufsetzten. Nach alle dem war es, gelind ausgedrückt, höchst komisch von der Hochwohlweisen Diplomatie, die den Wald vor Bäumen nicht sah, daß sie „vermitteln“ zu können glaubte, wo nichts zu vermitteln war. Im vorigen Herbst war zu Plombières die ganze Stänkerei mit Cavour abgekartet, und bei der Zusammenkunft mit dem Moskowiterczar in Stuttgurt die Villafrancageschichte und die „Verabredung“ erledigt. Also ein paar Jahre nach dem Krimkrieg ein russisch-französisches Bündniß, das man freilich gern ableugnen möchte. Aber wer glaubt an Moniteure und kaiserliche Ableugnungen?
Indessen sind nicht alle Italiener in die plumpe napoleonisch-russisch-sardinische Falle gegangen, nicht alle an dieser Leimruthe wie Gimpel kleben geblieben, vor Allem nicht der alte Erz- und Hauptverschwörer, Joseph Mazzini, der im Lande großen Anhang hat und von dem Treiben des französischen Gewaltherrschers nichts wissen will. Orsini gilt ihm für einen einfältigen Tropf, für einen schwachköpfigen Gesellen, der sich habe übertölpeln lassen. Die Mazzinisten, als Revolutionaire vom reinsten Wasser, wollen mit den sardinischen Vergrößerungsgelüsten und dem napoleonischen Willkürsystem nichts zu schaffen haben. Mazzini würde freilich mit seinen Theorien den Italienern eben so wenig Segen bringen, wie die Firma Cavour-Napoleon, aber er mag sich nicht zum Besten haben lassen und bleibt den Grundsätzen getreu, welche er seit dreißig Jahren bekannt hat. Als Orsini’s Brief, um napoleonischen Plänen die Brücke zu schlagen, überall veröffentlicht wurde, und die sardinisch-französischen Agenten ihn colportirten, trat auch Mazzini hervor und sprach im Namen seiner Partei. Er geht dem durch Orsini angefleheten Befreier scharf zu Leibe, und entwirft von demselben eine ganz mit Fractur geschriebene Charakteristik. Mazzini ist durchaus nicht unser Mann, aber sein Schreiben an Ludwig Napoleon ist jedenfalls ein in seiner Art wichtiges und interessantes Document für die Geschichte, schon deshalb, weil es zeigt, wie die radicale Partei über den Mann denkt, welcher sich zum Retter Italiens und Vorkämpfer der Civilisation sehr unbefugter Weise aufwerfen will. Deshalb veröffentlichen wir das Actenstück.
„Mein Herr! Die Zeiten erfüllen sich, und die kaiserliche Fluth rollt zurück. Sie fühlen es. Alle Maßregeln, welche Sie seit dem 14. Januar 1858 in Frankreich beliebt, alle diplomatischen Noten und Forderungen, welche Sie seit jenem verhängnißvollen Tage in alle vier Winde hinausgestreut haben, legen Zeugniß davon ab, daß der Schrecken Ihnen keine Ruhe läßt. Ihre Seele wird, wie jene Macbeth’s, von einem Gefühle der Angst gequält, und diese Angst verräth sich in Allem, was Sie sagen oder thun. Der Zauber ist gebrochen.
„Denn das Bewußtsein der Menschheit ist wach geworden. Es schauet auf Sie mit ernstem Blicke und bietet Ihnen die Stirne; es prüft Ihre Handlungen und zieht Sie zur Verantwortung für das, was Sie versprachen. Von nun an ist Ihr Schicksal besiegelt. Das Bewußtsein der Menschheit wird entdecken, daß Sie eine lebendige Lüge sind; eine Fehlgeburt, indem Sie eine Vergangenheit wieder hervorrufen wollen, die längst und für immer dahin ist. Sie sind ein bleicher Schatten, der aus dem Grabe von St. Helena hervorgeschlichen ist, aber ohne den Ruhm und die verhängnißvolle Sendung des Mächtigen, der einst auf St. Helena ruhete. Sie sind eine Scheinmacht der Verneinung, wohl fähig, Auflösung zu bringen und für eine kurze Zeit niederzudrücken, aber unfähig, etwas festzustellen, zu organisiren und aufzubauen, das der Zukunft irgend einen Schutz gewähren könnte.
„Die Menschheit bedarf wirklicher Gestalten, nicht der Phantome; sie bedarf Entwickelungen des Principes der Erziehung, welches Gott zu ihrem Lebensgesetze gemacht hat; vorübergehende Thatsachen, abnorme Facta einer Stunde sind ihr nichts. Auf solche blickt sie wohl einen Augenblick mit Staunen, aber bald nachher gebietet sie dem, was nur ein Phantom des Augenblickes war, wieder in’s Grab hinunterzusteigen. Und Sie, mein Herr, eilen dem Grabe zu.
„Als Sie ungesetzlicher Weise sich die Gewalt anmaßten, da versprachen Sie, um die Usurpation zu sühnen, Sie wollten dem ruhelosen, aufgeregten und aufregenden Frankreich den Frieden wiedergeben. Wohlan, heißt Einkerkern, Knebeln, Deportiren – heißt das Frieden geben? Ist der Gensd’arm ein Lehrer und Erzieher? Ist der Spion ein Apostel der Sittlichkeit und des wechselseitigen Vertrauens? Sie, mein Herr, sagten dem ungebildeten französischen Bauer, mit Ihrer Herrschaft werde für ihn ein neuer Zeitabschnitt beginnen, und alle Lasten, unter welchen er sich erdrückt fühle, würden nacheinander beseitigt werden. Nun, ist auch nur eine einzige derselben verschwunden? Können Sie nachweisen, daß Sie auch nur in einem einzigen Punkte sein Schicksal verbessert hätten, daß auch nur eine einzige Steuer aufgehoben sei? Wie erklären Sie es sich, daß jetzt auch der Bauer in den Geheimbund der Marianne tritt? Sie müssen zugestehen, daß von den durch Sie eröffneten Canälen des industriellen Schwindels das Capital verschlungen wurde, welches sich früher naturgemäß dem Ackerbau zuwandte, und daß der Bauer keine Vorschüsse erhalten kann, um Ackergeräthschaften zu kaufen und seinen Boden zu verbessern. Sie, mein Herr, köderten den mißleiteten Arbeiter, indem Sie versicherten, Sie seien ein Kaiser des Volkes, eine Art von neumodischem Heinrich dem Vierten, und würden ihm fortdauernde Beschäftigung, hohe Arbeitslöhne und ein Huhn im Topfe verschaffen. Aber ist nicht gerade jetzt das Huhn in Frankreich theurer? Sind die Hausmiethen und die nothwendigsten Lebensmittel nicht gestiegen? Sie haben neue Straßen gebaut und Verbindungslinien gezogen, weil Sie dabei strategische Zwecke zur Volksunterdrückung hatten; Sie haben zerstört und wieder umgebaut. Aber gehört die große Masse der Arbeiter zu dem von Ihnen bevorzugten Maurerhandwerke? Können Sie ohne Unterbrechung und immerfort Paris und die größeren Provinzialstädte fortwährend umkehren, um dem Proletarier eine Quelle der Arbeit und des Verdienstes zu verschaffen?
„Sie, mein Herr, raunten der eben so leicht erschreckten als [302] leicht verblendeten Bourgeoisie phantastische Träume in’s Ohr, machten die Erwartung rege, daß die gewerbliche Thätigkeit sich verdoppeln werde, und stellten neue Quellen des Gewinnes in Aussicht, Paradiese für Warenausfuhr und den Handelsverkehr zwischen den Völkern. Wo sind sie? Das productive Leben Frankreichs ist erstarrt, die Aufträge vermindern sich, und das Capital beginnt sich zurückzuziehen. Sie haben, wie jener Barbar, den Baum umgehauen, dessen Früchte Sie pflücken wollten. Sie haben in erkünstelter Weise eine wilde, durch und durch unsittliche, Alles versprechende und nichts haltende Speculationsschwindelei immerfort angestachelt. Sie haben durch marktschreierische Projecte, die Sie in’s Riesenhafte aufbauschten, die Ersparnisse des kleinen Capitalisten aus allen Theilen Frankreichs nach Paris gelockt, und haben die Capitalien den einzig wahren und dauerhaften Quellen des Nationalreichthums, nämlich dem Ackerbau, den Gewerben und dem Handel, entzogen. Diese ersparten Gelder sind in den Händen einiger Dutzend Hauptspeculanten geblieben, oder in grenzenlosem, unergibigem Luxus verschwendet worden, oder still und vorsichtig außer Landes in Sicherheit gebracht. Ich könnte in dieser Beziehung Mitglieder Ihrer Familie mit Namen anführen. Die Hälfte der Projectmacher ist schon in das Nichts der Vergessenheit hinabgesunken, und Ihre künstlichen Mittel haben sich erschöpft. Von nun an wird Alles, was Sie thun, um den finanziellen Schwierigkeiten und jenen Ihrer Lage zu begegnen, nur eine weitere Stufe zu dem verhängnißvollen Abhange bilden, welchem Sie zueilen. Bisher haben Sie auf Credit gelebt, von einer langen Reihe von Anleihen, aber wer bürgt Ihnen dafür, daß dieser Credit ewig vorhalten werde? Rom und Napoleon plünderten eine Welt aus; Sie können nur Frankreich plündern. Die Heere jener Beiden lebten von Eroberungen, aber Sie können nicht und dürfen nicht wagen, solche zu unternehmen. Die römischen Dictatoren und Ihr Oheim führten Eroberungsheere in Person an. Sie Ihrerseits lieben wohl auch goldstarrende Paradeuniformen, aber ich möchte bezweifeln, daß Sie fähig seien, auch nur einige Bataillone anzuführen.
„Zu Frankreich sagten Sie: um des Landes willen unternähmen Sie den Kampf gegen die Anarchie; die wahre, gemäßigte, ordentliche Freiheit werde die beste und sicherste Bürgschaft unter der kaiserlichen Regierung finden; der Bonapartismus sei eine Idee, und zwar die Idee des Fortschrittes unter einer starken, centralisirenden Gewalt. Ferner erklärten Sie, daß die wahre von Gott geschaffene Aristokratie, jene der sich erschließenden Talente und des Geistes, unter Ihnen das civilisirende Leben der Nation befördern würde. Aber können Sie auch nur eine Spur von Freiheit in einem Lande aufweisen, das, Dank Ihnen! unter die übrigen gesunken ist, wo Hunderte von Männern im Gefängnisse schmachten, um nach Cayenne oder Lambessa deportirt zu werden, ohne daß mit ihnen auch nur ein gerichtliches Verhör vorgenommen worden wäre? Können Sie in Ihrem kaiserlichen Frankreich auch nur eine einzige unabhängige Zeitung aufweisen? Auch nur eine einzige Classe von unabhängigen Männern, der es ermöglicht wäre, den Gedanken, Wünschen und Bestrebungen des Landes Ausdruck zu geben? Einen einzigen Mann, der von seinen Landsleuten in eine Ihrer hohlen Scheinversammlungen gewählt werden könnte, ohne im Voraus durch einen Eid sich verpflichten zu müssen, daß er Ihre despotische Herrschaft aufrecht erhalten wolle? Können Sie nur einen einzigen wahrhaftigen, talentvollen und gesinnungstüchtigen Mann nennen, der in Ihrem Rathe säße und dadurch Ihr verhaßtes System anerkennte?
„Nein. Sie sind nie im Stande gewesen, einen Minister, eine Stütze Ihrer Politik außerhalb des Kreises Ihrer unmittelbaren Mitschuldigen zu finden. Von Thiers zu Guizot, von Cousin zu Villemain, von Michelet bis zu Jean Reybaud scheut das intellectuelle Frankreich vor Ihrer Berührung zurück, weil diese besudelt.
„Noch vor Kurzem strahlten Sie vor Europa groß damit, daß Frankreichs Herz Ihr Herz sei und, glücklich, ruhig und ungestört, Sie als seinen Retter und Heiland begrüße. Aber vor wenigen Monaten ertönte ein Krach in der Straße Levelletier, und dann erklärten Sie – vermittelst Ihrer brutalen und vom Schrecken eingegebenen Zwangsmaßregeln, durch halb drohende, halb flehende Appellationen an Europa, durch die militairische Eintheilung Frankreichs, – Sie erklärten, nachdem Sie sieben Jahre lang eine uneingeschränkte Gewalt geführt mit Hülfe eines Heeres, das Alles überwältigte, und nachdem Sie die Nation von den Männern gelichtet, die Ihnen Furcht einflößten, – Sie erklärten, daß Sie nicht leben und nicht herrschen können, falls nicht Frankreich in eine große Bastille und Europa in ein großes kaiserliches Polizeiamt umgewandelt werde!
„Frankreich mag tief in den Staub getreten sein, aber es läßt sich nicht in eine Bastille umschaffen, und Europa mag nicht Ihretwegen in eine Zweiganstalt Ihrer corsischen Polizei umgewandelt werden. Deshalb, mein Herr, üben Sie Entsagung, sinken Sie nur wieder unter! Ihr Kaiserthum hat sich als eine Lüge herausgestellt, und Lügen verdienen, der Vernichtung anheim zu fallen.
„Ja, das Kaiserreich hat sich als eine Lüge erwiesen! Sie, mein Herr, bildeten dasselbe nach Ihrem eigenen Angesichte. Im Verlaufe des verflossenen halben Jahrhunderts hat, mit Ausnahme Talleyrand’s, kein Mann so viel gelogen, wie Sie. Darin liegt das Geheimniß Ihrer zeitweiligen Gewalt. In einem skeptischen und zerfahrenen Zeitalter, wie dem unseren, werden Lügen leicht geglaubt, aber sie halten nicht vor.
„Im Jahre 1831 erklärten Sie, in Gemeinschaft mit Ihrem Bruder, den Aufstand und die Bewegung gegen den Papst für eine heilige Angelegenheit; jetzt und seit 1849 brandmarken sie diesen Aufstand als eine Demagogenrebellion. In Arenenberg sagten Sie 1838, Sie wären, weil alle edelen Seelen in die Verbannung gejagt seien oder von den Regierungen verfolgt würden, stolz darauf, zu der Schaar der Geächteten zu gehören. Seither haben aber gerade Sie gegen dieselben eine grausame Verfolgung organisirt.
„Als im Jahre 1836, nach dem von Ihnen verübten Straßburger Attentate, Ludwig Philipp Sie nach Amerika schickte, erklärten Sie, es sei Ihnen bewußt, daß Sie schuldig seien; Sie sagten weiter, daß Sie sich durch seine Großmuth und Milde tief gerührt fühlten, und Sie übernahmen die Verpflichtung, gegen ihn nie mehr eine Verschwörung anzuzetteln. Aber schon zwei Jahre nachher conspirirten Sie gegen ihn von der Schweiz aus und vier Jahre später landeten Sie in Boulogne.
„Im Jahre 1848 eilten Sie nach Paris, „um sich unter die Fahne der Republik zu stellen und der republikanischen Sache volle Hingebung zu bezeigen.“
„Noch in demselben Jahre schrieben Sie: „Im Angesichte der Souverainetät der Nation kann ich und will ich nichts in Anspruch nehmen, außer den Rechten eines französischen Bürgers.“
„Sie sprachen 1850 mit feierlicher Betonung: „Wenn die Verfassung Fehler hat und Gefahren in sich trägt, so steht es bei Ihnen, dieselben zu beseitigen. Ich aber halte mich durch meinen Eid gebunden, streng innerhalb der von ihr gezogenen Grenzen mich zu bewegen.“
„Wenige Tage vor dem Staatsstreiche von 1851 sagten Sie zur Armee: „Ich werde nichts von Ihnen fordern, das über mein von der Verfassung anerkanntes Recht hinausginge“. Und am 2. Dec. selbst, dem Endergebniß Ihrer Usurpationspläne, proclamirten Sie: „Es sei Ihre Pflicht, die Republik zu schützen“.
„Aber was kam gleich darauf? Es kam die Verletzung aller Eide und aller Garantieen. Es herrschte der eine ehrgeizige Wille, welcher sich an die Stelle des gesetzlich ausgesprochenen Willens der Nation drängte; es kam unter Strömen von Blut die Berufung an die brutale Gewalt; es kam der unerbittliche Befehl an St. Arnaud; die Volksvertretung wurde zersprengt oder verhaftet; Generale wurden verhaftet; Paris wurde einem durch Geld gewonnenen, aufgeregten, berauschten, mitleidlosen Soldatenpöbel preisgegeben. Das Feuer der Linie und der Pelotons wurde gegen eine unbewaffnete, unschädliche Volksmenge auf den Boulevards gerichtet und ein methodisches Niedermetzeln veranstaltet, um die Seelen der demnächstigen Stimmabgeber mit Angst und Schrecken zu erfüllen. Es fielen 2652 Opfer, 88 Volksvertreter wurden geächtet, Tausende eingekerkert und viele ohne auch nur die geringste Form eines gesetzlichen Verfahrens deportirt; dann erst war der Triumph vollständig und es erfolgte die Scheinwahl!
„Und Sie, mein Herr, konnten sich der Hoffnung hingeben, daß eine Dynastie sich gründen ließe auf so systematische Lüge, auf solch’ einen Unterbau von Blut und Leichen? Sie konnten glauben, daß die vorübergehende, ephemere Ehrfurcht einiger auswärtigen Mächte, die nur den Erfolg in Betracht ziehen, aushalten werde gegen das Kainszeichen, welches durch Gott und die Gerechtigkeit auf Ihre Stirn gedrückt ist?
„Herr! Es gibt etwas, das über dem bloßen Erfolge steht: [303] Gott! Etwas, das stärker ist, als die einzelne Thatsache: das Recht! Etwas, das höher steht, als götzendienerische Verehrung: die Zeit!
„Vermögen Sie, Gott vom Throne zu stoßen?
„Können Sie das Recht austilgen?
„Können Sie die Zeit vernichten?
„Die Männer des Rechtes und der Freiheit haben die Inquisition und das große Kaiserreich besiegt; verlassen Sie sich darauf, Herr, daß auch Sie besiegt werden! Joseph Mazzini.“
Dieses Actenstück hat Napoleon’s Moniteur natürlich nicht abgedruckt. Er wird dazu wohl seine guten Gründe gehabt haben. Complimente sind freilich nicht darin, auch keine Aussichten auf Ruhm in der Nachwelt, wie in dem Briefe des „Tölpels“ Orsini.
(Fortsetzung)
Derartige Menschen, mit Nichts zu verlieren und Alles zu gewinnen, hatten sich schon aus schwierigeren Lagen befreit, und er befahl dem Schooner deshalb, mit zwei von seinen Leuten als Wache an Bord, ohne Weiteres wieder unter Segel zu gehen und diese kostbare Ladung erst einmal an das County-Gefängniß abzuliefern. Dann sollte er ohne Zögern wieder umkehren, sie selber abzuholen oder vor Anker zu bleiben, bis sie an Bord kämen.
Tolmer behielt, nachdem er zwei von seinen Leuten der Schoonermannschaft beigegeben, noch mit Borris, sieben Mann und dem Matrosen. Der Seemann hatte sich freilich mit auf dem Schooner einschiffen wollen, Tolmer war aber viel zu vorsichtig, das zuzugeben, denn er wußte nicht, ob er vielleicht mit ein oder dem anderen der Gefangenen schon früher Bekanntschaft gemacht hätte, und wollte sich nicht muthwillig selber einen Helfershelfer für die Schaar in das Fahrzeug setzen. Mit ihnen versprach er ihm aber freie Passage nach Adelaide, wenn er sie dahin begleiten wolle.
Nun galt es vor allen Dingen, den jetzigen Aufenthaltsort John Mulligan’s herauszubekommen, und das schien viel schwerer, als es Tolmer in: Anfange erwartet hatte.
Mulligan war mit allen Schlichwegen der Insel genau bekannt, und Lindsay, an den er sich wieder wandte, versicherte ihm von vornherein, daß es ein verzweifeltes und völlig nutzloses Unternehmen sei, dem kecken und verwegenen Burschen auf diese Weise nachzustellen. Er schien es dabei nicht einmal gern zu sehen, daß ihn Tolmer auf seiner Station besuchte, denn wie leicht konnte Mulligan das durch irgend einen seiner eigenen Leute erfahren und dann, in dem Glauben, der Stationshalter stecke mit der Polizei unter einer Decke, Rache an ihm nehmen.
Tolmer sah bald, daß mit dem Manne nichts anzufangen war, und doch gewöhnt fast stets auf eigene Hand zu handeln, schrak er auch vor einer solchen Aufgabe nicht zurück.
So viel schien gewiß, daß Mulligan, nachdem sie die übrige Bande glücklich überlistet, keine weiteren Begleiter mehr hatte, auf deren Hülfe er sich verlassen konnte.
In seine alte Hütte war er übrigens nicht wieder zurückgekehrt, und Tolmer, um seine beiden Wachen nicht länger dort unnütz zu verwenden, ließ das Nest in Brand stecken. Hatte der Buschrähndscher dann noch irgend etwas darin versteckt oder vergraben, so sollte es ihm wenigstens schwer werden, es wiederzufinden.
Außerdem entwarf Tolmer einen anderen Plan. Er schickte nämlich seine Mannschaft als Bündelleute vereinzelt auf alle Stationen in der Nachbarschaft, sich dort zu zerstreuen und selber auf den verschiedenen Stellen die Nachricht zu verbreiten, daß die Polizei gelandet wäre und die Buschrähndscher aufgehoben hätte. Während sie sich natürlich unter die Arbeiter mischten, erfuhren sie dann vielleicht, ob der flüchtige Verbrecher wohl irgendwo gesehen worden.
Am zweiten Tage hatten sich aber Alle wieder in der Nähe der verbrannten Hütte einzufinden, um gemeinschaftlich zu operiren.
Der Plan mochte ganz gut sein, erwies sich aber als erfolglos. Allerdings brachten die Leute von drei, vier verschiedenen Seiten die Nachricht mit, Mulligan sei dort in der Nähe gesehen worden. Die wahrscheinlichsten dieser Stellen wurden auch untersucht, doch ohne den geringsten Erfolg. Nicht einmal die Spur des Flüchtigen fand man, und es blieb jetzt außerordentlich schwer, zu sagen, ob sich der Buschrähndscher nach dem Osten oder Westen der großen Insel gewandt habe.
Borris selber war dafür, nach dem festen Lande zurückzukehren und lieber wieder hierher zu kommen, wenn Mulligan auf’s Neue irgendwo einen bestimmten Aufenthalt genommen. Tolmer aber, starr wie immer den einmal gefaßten Plan im Auge, wollte davon nichts hören und gedachte einen anderen Versuch zu machen.
Er theilte seine Leute in zwei Trupps – den einen von fünf Mann unter Borris’ Führung schickte er nach Osten zu und die anderen, wie den Matrosen, der sich freiwillig erboten hatte ihnen beizustehen, behielt er bei sich, um damit nach Westen hin die Insel abzusuchen. In vier Tagen spätestens sollten Alle wieder am Schooner zusammentreffen, und hatten sie den Flüchtigen dann nicht eingefangen, so wollten sie die Jagd für dies Mal aufgeben.
Borris schüttelte den Kopf zu dem ganzen Unternehmen, denn er kannte besser, wie sein Vorgesetzter, das Innere der Insel und die Schwierigkeit, darin von einer Stelle zur andern zu gelangen. Tolmer aber, Feuer und Flamme für den jetzt entworfenen Plan, ließ keine Einrede gelten, und die beiden Parteien trennten sich noch an demselben Morgen.
Einem schmalen Kuhpfade folgend, wanderte Tolmer mit seinen Leuten ab, gerieth aber bald in ein so furchtbares Dickicht von jenen nichtswürdigen Känguruhdornen, von denen das ganze Innere der Insel überwuchert war, daß sie sich nur mit Mühe und Noth einen Weg seitwärts hindurch und mehr der Küste zu brechen konnten. Was sollten sie auch in einem solchen Dickicht, in dem Mulligan selber nicht fortkonnte, sich also auch wohl hüten würde es zu betreten?
Ziemlich erschöpft und ohne den ganzen Tag ein lebendes Wesen angetroffen zu haben, erreichten sie Abends einen kleinen Bach und lagerten dort, und Tolmer sah jetzt die Unmöglichkeit ein, das eigentliche Innere des Busches, wie er beabsichtigt hatte, abzusuchen. Es blieb ihm nichts übrig, als sich auf die besiedelten oder doch wenigstens zugänglichen Theile der Küste zu beschränken.
Gegen Morgen hörten sie einen Hund bellen; schon am letzten Abend hatten sie Schafspuren gefunden und es ließ sich erwarten, daß sie wenigstens nach der Richtung und in der Nähe des Trinkwassers eine Schäferhütte finden würden. Darin hatten sie sich auch nicht geirrt. Als sie nach rasch eingenommenem Frühstück dorthin aufbrachen, fanden sie mitten im Busch, aber an einer von Dornen vollkommen freien Stelle, eine kleine Rindenhütte liegen, und Tolmer ließ seine Leute noch zurück, erst selber allein den Platz zu recognosciren.
Der Schäfer war mit seiner Heerde schon vor einer Stunde ausgezogen, den Hutkeeper oder Hüttenwächter fand Tolmer aber gerade beschäftigt, die gewöhnlichen Damper zu backen, und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein.
„Holla, Mate,“ sagte er nach einer Weile, als er am Feuer saß und den für ihn rasch warmgestellten Becher Thee trank, „Ihr seid ja hier außerordentlich fleißig mit Brodbacken. Da stehen, wie ich sehe, zwei große fertige Damper, hier unter der Asche liegt auch noch einer und Ihr rührt schon wieder frische an. Macht Ihr sie zum Verkauf?“
„Ja, schön zum Verkauf,“ sagte der eben nicht besonders appetitlich aussehende Bursche mit einem Kernfluche, „ein prächtiger Platz wär’ das hier im Busche zum Verkauf, wo man das ganze gesegnete Jahr keinen blanken Schilling zu sehen bekommt. Die Käufer, die hierher kommen, soll überhaupt der Teufel holen, sobald er Lust hat, und wenn meine Zeit um ist, will ich verbrannt werden, wenn ich nur eine Stunde länger in den blutigen Dornen sitzen bleibe.“
„Es treibt sich hier viel Gesindel im Busche herum, wie?“ warf Tolmer hin.
Der Hutkeeper sah ihn mißtrauisch von der Seite an und meinte dann:
[304] „O, Gott bewahre; es sind lauter Gentlemen und noch dazu Menschen, wie die Kinder; was sie sehen, wollen sie haben.“
„Seid Ihr kürzlich belästigt worden?“ frug Tolmer, der nicht mit Unrecht glaubte, daß er von dem Hutkeeper für nichts Besseres, als eben auch für einen Buschrähndscher gehalten würde.
„Ich will Euch was sagen, Fremder,“ meinte da der Bursche, indem er sich von seiner Arbeit aufrichtete und die mehlbedeckten Fäuste zur Seite von sich hielt, „es ist ein altes Gesetz, im Busche sich – das Maul nicht zu verbrennen – an heißen Blechbechern mein’ ich – Ihr versteht mich schon.“
„Nichts für ungut, Freund.“
„Bitte, bemüht Euch nicht,“ meinte der Hutkeeper trocken. „Es könnte sein, daß morgen Jemand käme und nach Euch früge, und dann wär’s Euch auch vielleicht angenehm, wenn ich ein kurzes Gedächtniß hätte.“
Tolmer lachte. Mit der Politik derartiger Buschleute aber vollkommen vertraut, kannte er recht gut die Triebfedern, die ihn zum Schweigen brachten, und er lenkte das Gespräch auf etwas Anderes, um erst einmal herauszubekommen, mit wem er es hier zu thun habe. War es ein früherer Sträfling, dann ließ sich freilich nicht viel von ihm erwarten, doch sah er ihm zu jung dafür aus und vorsichtige Fragen konnten das bald aufklären. Tolmer hatte sich auch nicht in seinem Manne geirrt. Jim Riddle war erst vor zwei Jahren mit einem Auswandererschiffe als freier Mann nach Australien gekommen, hier sein „Glück zu machen“ – nicht „Damper für alles blutige Gesindel im Busche zu backen“, wie er hinzusetzte, und schien das ganze Land schon so satt zu haben, daß er je eher je lieber wieder nach Alt-England zurückgekehrt wäre, wenn er eben gewußt hätte, womit.
Einmal darüber im Reinen nahm Tolmer keinen Anstand länger, dem Hutkeeper zu sagen, wer er selber sei und weshalb er auf die Insel gekommen wäre – diese nämlich von der Plage herumstreifenden Gesindels zu befreien. Er rief dann seine Leute herbei, die der Hutkeeper aber immer noch mißtrauisch betrachtete, denn sie sahen ihm nicht aus wie Polizei, und erst als ihm Tolmer seine Vollmacht vorlegte, die das große Regierungssiegel trug, wurde er überzeugt.
„Dann ist’s recht,“ sagte er, mit einem kräftigen Hiebe die rechte geballte Faust in die linke schlagend, daß der Mehlbrei überall umherspritzte, „dann hab’ ich nichts dagegen, und ich gönne Euch die Gesellschaft des unheimlichen Burschen, der hier seit zwei Tagen herumkriecht, von ganzem Herzen.“
Und nun erzählte er mit einfachen und kurzen Worten, daß vorgestern ein Mann, dessen Beschreibung Tolmer keinen Zweifel ließ, Mulligan sei damit gemeint, zu ihm in die Hütte gekommen wäre, und Essen und Tabak verlangt hätte. Der Fremde trug eine Muskete und sah wild und zerfetzt genug aus. Jim Riddle gab ihm beides, um ihn nur loszuwerden. Gestern aber war er wieder gekommen, sich neuen Vorrath zu holen, und hatte ihm mit allem Möglichen gedroht, wenn er an irgend Jemand durch eine Sylbe verrathe, daß er bei ihm gewesen. Ja, noch mehr, er verlangte von dem Hutkeeper, der selber keine Waffen hatte sich zu widersetzen, daß er ihm von jetzt an, die nächsten Tage wenigstens, einen besonderen Damper backe, und ihm denselben mit Fleisch und Thee nicht weit von dort in den Busch bringe. Er mußte selber mit ihm gehen, daß er ihm die Stelle zeigen konnte.
Wahrscheinlich wollte sich der Buschrähndscher nicht wieder der Gefahr aussetzen, an eine fremde Hütte anzulaufen, in der recht gut Feinde versteckt sein konnten; wußte er ja doch jetzt, daß ihm die Polizei auf der Fährte war.
Jim Riddle hatte natürlich den verzweifelten Menschen gefürchtet, dessen Haß und Rache er sich hier nicht allein und hülflos aussetzen mochte. Mit der Polizei zum Schutz war er aber froh, solch einen lästigen Brodverzehrer los zu werden und vielleicht unschädlich gemacht zu sehen, und zeigte sich jetzt augenblicklich bereit, Tolmer zu der Stelle hinzuführen, an der er die bestimmten Lebensmittel für den Buschrähndscher verbergen sollte.
Rasch hatte er alles Nöthige zusammengepackt und wanderte jetzt mit den Polizeileuten in den Busch hinein, etwa vier- oder fünfhundert Schritt von der Hütte, wo eine kleine Lichtung lag. Es standen dort nur wenige Bäume, dicht daran grenzte aber ein Dickicht, und der Platz war in sofern vortrefflich ausgesucht, als der Flüchtling, von den Büschen gedeckt, unbemerkt herankommen und leicht übersehen konnte, ob ihm in der Nähe irgend eine Gefahr drohe.
Tolmer beschloß ohne Weiteres auf ihn zu warten, denn es war augenscheinlich, daß der Buschrähndscher hier in der Nähe keine andere Stelle hatte, an der er Nahrungsmittel zu bekommen wußte. Er ließ deshalb die Speisen so hinstellen, daß sie der Anschleichende von Weitem sehen konnte, und verbarg dann seine Leute dem Dickicht gegenüber hinter Bäumen und eingesteckten Büschen, so gut das irgend gehen wollte. Außerdem gab er ihnen bestimmte Ordre, den Flüchtling erst vollständig herauszulassen und nur im äußersten Nothfall auf ihn zu schießen, da er ihn lebendig zu fangen wünschte.
Er selbst legte sich hinter die Wurzel eines umgestürzten Gumbaumes, der Stelle gerade gegenüber, die er für den wahrscheinlichsten Wechsel des Räubers hielt, und erwartete nun geduldig dessen Nahen.
Der Hutkeeper war wieder in die Hütte zurückgeschickt, und sehr zufrieden mit der Aussicht, von einer Nachbarschaft befreit zu werden, die ihm mit der Zeit nur verderblich werden mußte.
Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein; er hatte sein Brodbacken lange beendigt, die Laibe auf dem an der Wand stehenden Tisch aufgestellt, seine Hütte nothdürftig ein wenig ausgekehrt, und lag jetzt auf einer alten wollenen Decke behaglich ausgestreckt am Feuer, das langweilige Buschleben in Australien verwünschend, als er draußen vor der Hütte einen Schritt hörte.
„Haben sie ihn schon?“ dachte er bei sich, als er rasch den Kopf der Thür zudrehte – draußen stand Jemand, aber er öffnete nicht. „Wer ist da?“ rief der junge Bursche, von seiner Decke emporspringend, aber er sollte nicht lange in Zweifel gelassen werden, denn schon im nächsten Augenblick ging die Thür auf und – der Buschrähndscher stand auf der Schwelle,
„Hallo, Jim, wie geht’s?“ sagte der Mann, indem er einen gierigen Blick nach dem Brod hinüber warf – „habt wieder einen hübschen Vorrath eingelegt. Das ist recht – wollte nur noch einmal nachfragen, ob Ihr meinen Wunsch nicht vergessen hättet, da die Luft noch rein ist – schaute nur erst einmal durch die Ritzen, ob Ihr allein wäret.“
„Wer soll einen hier in dem blutigen Busch besuchen?“ sagte der junge Bursch, der fühlte, daß er erblaßt sein mußte, und sich rasch zum Feuer niederbog, seine Bewegung zu verbergen.
„Nun,“ lachte der Buschrähndscher, „gelt ich nicht als Besuch? Aber das ist brav – rückt den Theetopf zum Feuer, und laßt mich ’was Warmes haben. Ich bin so ein wenig in Eile und möchte wieder fort.“
Er war wieder zur Thür gegangen, neben der er seine Muskete an die Wand lehnte, und sah durch die Spalten derselben in’s Freie.
„Doppelte Portionen?“ sagte Jim, der sich indessen wieder gesammelt hatte. „Erst laßt Ihr Euch Euer Essen in den Busch tragen, weil’s Euch nicht gefällig ist, es hier zu verzehren, und dann kommt Ihr auch noch hierher um eine andere Mahlzeit. Zum Henker auch, Mate, Ihr wißt doch eben so gut wie ich, daß wir hier im Busch nicht aus dem großen Sack leben, sondern vom Master unsere bestimmten Rationen bekommen, mit denen wir haushalten müssen. Sind die verzehrt, wo hernehmen und nicht stehlen?“
„Nur nicht hitzig, Mate,“ sagte der Buschrähndscher, während er sich ruhig an den Tisch setzte, ein Stück von dem frischen Damper abschnitt und sich den Teller herüberzog, auf dem noch einige Scheiben kaltes Hammelfleisch lagen. „Ihr habt doch nicht heute schon das Brod hinausgeschafft?“
„Gewiß hab’ ich,“ sagte der Hutkeeper. „Es liegt an der Stelle, die Ihr mir gestern angegeben, und Fleisch dazu und ein Becher Thee.“
„Hm,“ meinte der Buschrähndscher, mit vollen Backen dabei kauend – „das mit dem Thee ist unbequem. Da, füllt mir einmal das kleine Säckchen mit trockenem Thee – einen Becher hab’ ich selbst, und will ihn mir dann lieber draußen kochen. Hier ist auch ein Beutel für Zucker, bin gerade jetzt ein wenig knapp mit Provisionen.“
Kleiner Briefkasten. – Der Schluß des Artikels: „Löbichau“ folgt in nächster Nummer. – C. M. in Mgdbg. Eignet sich nicht zur Aufnahme. – C. C. in D. Wenden Sie sich wegen Ihres Sohnes an Herrn Wislicenus in Zürich, dessen Knabeninstitut wir Ihnen sehr empfehlen können.