Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[565]

No. 40. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


„Es gibt gute, es gibt schlechte Gesetze. Nicht jedes Gesetz setzt das Recht fest. Wie wenige! Aber das schlechteste Gesetz kann unschädlich werden in den Händen eines verständigen, gerechten, humanen Beamten. Und das beste Gesetz ist nichts werth in den Händen eines schlechten Beamten. Und wie gute und schlechte Gesetze, so hat es auch zu allen Zeiten gute und schlechte Beamte gegeben.

Ueberheben wir uns nicht über die Zeit vor uns. Sagen wir nicht, wenn uns so manchmal nur die Gebrechen früherer Rechtspflege vorgehalten werden, sagen wir nicht pharisäisch hochmüthig: das kann jetzt nicht mehr vorkommen!“

So schrieb mir vor wenigen Tagen ein sehr alter Criminalist aus Deutschland, indem er mir die nachfolgende Geschichte ausdrücklich zum Zwecke ihrer Veröffentlichung mittheilte. Die Zeit seiner Geschichte liegt fünfzig bis sechzig Jahre hinter uns. Das, was er erzählt, ist wahr und belehrend auch für die jetzigen Zeiten.

Er erzählt:

Ich war ein junger Amtsauditor.

Amtsauditoren, Referendarien, Aspiranten, Praktikanten – die Unzahl junger Männer, die in Deutschland nach vollendeten Universitätsstudien bei den Behörden ihres Vaterlandes arbeiten, um sich als tüchtige Mitglieder der Büreaukratie auszubilden, hat viele Namen, wie – die lieben Kinder.

Sie sind auch liebe Kinder. Dem Rathe, der ihnen seine Arbeiten übertragen kann; dem Staate, der ihnen für ihre Arbeiten nichts zahlt; den jungen Mädchenherzen, die darnach seufzen, Frau Amtmännin, Frau Räthin, gar Frau Präsidentin, selbst Frau Ministerin zu werden. Amtmann, Rath, Präsident, Minister – der Auditor, der Referendarius, und wie sie weiter heißen, sie sind das Holz, aus dem Alles geschnitten werden muß. Sie sind auch glücklich, wie die lieben Kinder. Sie müssen zwar manchmal recht herzhaft schwitzen unter der Last ihrer Arbeiten, und sie erhalten nie auch nur einen rothen Pfennig dafür. Ja, man hat Beispiele, daß, wenn sie einmal, um sich zu erholen, Urlaub nehmen wollen, sie auf ihre Kosten einen Stellvertreter bestellen. Aber sie sind in der lustigen, kräftigen, goldenen Zeit der Jugend und die Welt ihres Staates steht ihnen offen. Es gibt im Lande kein Amt, bei dem sie nicht Amtmann werden, keine Rathsstelle, die sie nicht einmal einnehmen, keinen Präsidentenposten, auf den sie nicht künftig erhoben werden können. Man muß nur Muth und Vertrauen haben.

Ich arbeitete bei dem Amte meiner Heimath. Meine Heimath lag in einem Winkel des Landes. Auf diesen Winkel war meine künftige Carriere nicht beschränkt, denn auch mir stand das ganze Land offen. Es war gleichsam meine Domaine. Ich mußte meine künftige Domaine kennen lernen.

Als die nächsten Ernteferien kamen, trat ich eine Fußreise durch das Land an. So ganz absonderlich groß war damals, außer Oesterreich, kein deutsches Land, und in Oesterreich war ich nicht.

In den Ernteferien arbeitet der Landmann doppelt, und daher feiert der Richter.

„Kommst Du auch nach Z., mein Sohn?“ fragte mich meine Mutter.

Wie meine Heimath an dem einen, so lag Z. an dem andern, entgegengesetzten Ende des Landes.

Aber das ganze Land wollte ich kennen lernen.

„Gewiß,“ antwortete ich meiner Mutter.

„So erkundige Dich doch nach einer Jugendfreundin von mir, Nettchen Thalmann; sie ist von hier gebürtig, und später nach Z. gekommen.“

„Seit wann, Mutter?“

„Es können einige zwanzig Jahre sein.“

„Verheirathet oder unverheirathet?“

„Verheirathet.“

„Und wie hieß ihr Mann?“

„Den Namen habe ich vergessen. Aber der Mann war ein Mechanikus, ein Genie. Du wirst sie schon finden. Erkundige Dich, wie es ihr geht, und grüße sie von mir.“

Ich mußte lächeln. Mir fiel etwas Aehnliches bei.

Als ich vier Jahre vorher zur Universität abgegangen war, hatte mein Vater zu mir gesagt:

„Mein Sohn, vergiß ja nicht, den Professor B. zu besuchen und ihn und die ganze Familie von mir zu grüßen. Ich hatte als Student freundliche Aufnahme im Hause. Grüße besonders seine älteste Tochter, die schöne Auguste. Nimm Dich aber vor ihr in Acht, sie ist eben so gefallsüchtig wie schön. Sie wollte auch mich – Nun, ich hoffe, Du wirst nicht weniger verständig und besonnen sein, wie Dein Vater.“

Ich mußte es feierlich versprechen.

Ich kam zur Universität und in das Haus des Professors B.

Himmel, wie sah die „schöne Auguste“ aus, die vor fünfundzwanzig Jahren ihre Netze nach meinem Vater ausgeworfen hatte, vor der ich mich „in Acht nehmen“ sollte. Fünfundzwanzig Jahre vermögen über die Schönheit eines Mädchens doch etwas mehr, als mein Vater gedacht hatte. Freilich nicht immer über die Gefallsucht. Die [566] „schöne Auguste“ mit ihren grauen Runzeln und entsetzlichen Zahnlücken kokettirte zwar nicht mehr mit jungen Studenten, aber desto mehr mit dem lieben Gott.

Das fiel mir wieder ein bei der Bitte meiner Mutter, und ich mußte lächeln. Aber ich versprach ihr Alles, und reiste ab.

Ich kam nach Z. Es war im Monat August, als ich hinkam. Der Tag war sehr heiß gewesen und ich hatte ihn deshalb meist ausruhend zugebracht, in Dorf, in Wald, unter den dichten Haselnußhecken der Wiesen am Wege. Gegen Abend erst, als es kühler wurde, fing ich an, eigentlich zu marschiren.

Ich wollte den Tag noch bis Z. Nach den Erkundigungen, die ich einzog, konnte ich hingelangen, aber erst zwischen zehn und elf Uhr in der Nacht, und auch das nur, wenn ich tüchtig darauf los marschirte.

Ich marschirte desto langsamer, behaglicher. Was lag mir daran, wenn ich auch erst um Mitternacht ankam! Ich war desto länger in der schönen, frischen Nachtluft, in dem klaren Scheine des Vollmondes, der so malerisch über Flur und Wiese, über Wald und Berg, über Dörfer und Landhäuser sich ausbreitete. Und das Wirthshaus des Städtchens öffnete sich mir auch nach Mitternacht.

Ich wanderte mit voller Lust einsam durch die schöne Nacht auf breiter, bequemer Landstraße dahin. Aber als es zehn Uhr vorbei war, erhielt ich ungebetene Gesellschaft. Zwar zuerst nur in weiter Ferne und auch hoch genug über mir; allein sie kamen doch immer näher, und zuletzt drohten sie mir gar sehr frech. Dunkle Wolken zogen von allen Seiten am Himmel herauf, sie schienen Regen, ein Gewitter bringen zu wollen. Vorläufig freilich brachten sie noch nichts, sie drohten nur. Doch eins brachten sie, indem sie nahmen; sie nahmen das schöne klare Licht des Mondes weit und breit der Erde völlig fort, und hüllten Alles um mich her in dunkle, schwarze Nacht ein.

Ich setzte meinen Weg ruhig, nur mit etwas schnelleren Schritten fort. Vom Regen durchnäßt, vom Gewittersturm gejagt zu werden, ist eben kein großes Vergnügen, wenigstens nicht immer und nicht für Jedermann. Die Landstraße blieb breit und bequem; ich konnte mich nicht verirren, und ging ihr immer nach.

Es konnte bald Mitternacht sein. Ich sah links von der Straße einige Lichter. Ueber den Lichtern grenzten an dem dunklen Nachthimmel sich noch dunklere Umrisse von Gebäuden ab. Das mußte Z. sein. Die Zeit traf zu, in der ich die Stadt erreichen sollte. Auch die Lage. Ein Bauer hatte mir unterwegs gesagt, nahe vor dem Wege biege sich die Landstraße nach rechts, um dann, wieder links sich krümmend, in das Thor zu führen; ich brauche aber diesen Krümmungen nicht zu folgen; ein Fußweg führe links von der Straße in gerader Richtung nach dem Thore hin. Ihn solle ich einschlagen; ich könne nicht fehlen, er führe an dem alten Kloster vorbei, das man schon von Weitem sehe.

Von Weitem sah ich nun bei der großen Dunkelheit gar nichts, aber einen schmalen Fußweg, der links von der Straße abbog, entdeckte ich. Er ging nach jenen Lichtern hin. Ich schlug ihn ein; aber nach wenigen Minuten hatte ich ihn auf einmal verloren. Ich hatte nicht auf ihn geachtet, sondern nach den Lichtern gesucht, die mir ebenfalls so auf einmal und so sonderbar abhanden gekommen waren. Ueber dem Suchen nach ihnen entkam mir auch der Weg. Ich wollte umkehren, um ihn so wiederzufinden, da aber hatte ich in der Finsterniß Richtung und Alles verloren. Ich befand mich nur auf einem unebenen Boden zwischen wild durcheinander stehenden Stauden und Sträuchern. Und der Boden war so sonderbar uneben, Berg und Thal, Thal und Berg; wohin ich meinen Fuß setzte, stolperte ich. Und die Sträucher waren fast nur Dornen; wohin mein Körper sich wandte, waren meine Kleider festgepackt, wohin ich mit den Händen fühlte, wurden sie mir zerrissen.

Wo war ich denn?

Ich ging rechts und links, ich ging vorwärts und zurück, und konnte aus dem Labyrinthe von Thal und Berg, von Strauch und Dornen nicht heraus.

Auf einmal rissen über mir zwei Wolken auseinander, der Mond stand hell und klar zwischen ihnen, und beschien mich und den Ort, an dem ich mich befand. Zugleich wurde kaum dreißig Schritte von mir ein Ton laut, und zeigte es auch meinem Ohre an, wo ich war. Ich war mitten auf einem alten Kirchhofe, mitten zwischen alten, verfallenen, verwüsteten Gräbern. Dreißig Schritte von mir schlug auf einem Kirchthurme die Uhr zwölf.

Ah! Um Mitternacht allein, fremd, so auf einmal auf einem einsamen Kirchhofe, zwischen verfallenen, verwüsteten Gräbern!

Ich mußte doch unwillkürlich hinter mich blicken, ob nicht ein Grab sich geöffnet habe, und ein Gerippe hinter mir stehe, und drohend auf mich zuschreite. Aber es standen nur Dornen hinter mir, und wenn ich nicht zu ihnen kam, so kamen sie nicht zu mir. Und auch ein alter Schädel, in den mein Fuß sogar hineingetreten war, blieb ruhig liegen, und that mir nichts.

Ich wußte, wo ich war. Ich hatte den rechten Weg getroffen, den der Bauer mir angezeigt hatte, ich hatte ihn nur später wieder verloren und war, anstatt an dem Kirchhofe entlang zu gehen, mitten auf den Kirchhof gegangen. Ich war indeß vor dem Thore von Z., neben dem Kloster, an dem der rechte Weg vorbeiführte. Ich brauchte nur auf das Kloster zuzuschreiten, um den Weg wieder zu finden.

Der Thurm mit einem hohen Kirchendache stand dicht vor mir; gleich daneben dehnten einige andere hohe und lange Dächer sich aus. Es waren das Alles unzweifelhaft Klosterkirche und Klostergebäude. Sie lagen in dem hellen Mondscheine vor mir. Ich ging darauf zu; vorsichtig zwischen den Dornen und Gräbern und Schädeln und Knochen von allerlei Gestalten.

Allein schon nach wenigen Schritten stand ich auf einmal wieder in völliger Dunkelheit. Die Wolken hatten sich eigensinnig wieder zusammengefügt; kein Mondstrahl schien mehr zu mir hernieder, kein anderer Lichtstrahl schien zu mir herüber. Doch die Umrisse des Kirchthurms, auf dem es Mitternacht geschlagen hatte, konnte ich noch am Himmel erkennen. Zu ihm wollte ich mich hinarbeiten, über die Gräber, durch die Dornen. Ich begann die Arbeit; es war keine leichte in der tiefen Dunkelheit. Ich stolperte voran, ich riß mich los.

Plötzlich hörte ich ein sonderbares Stöhnen. Es kam unten aus der Erde, kaum dreißig Schritt von mir, fast unter mir. Es war leise, schwach, aber ich vernahm es deutlich. Die Haare standen mir fast zu Berge.

Was war das? Woher kam es? War es wirklich unter der Erde, oder kam es von der Oberfläche des Bodens?

Es hielt an, ich hörte es immer deutlich, an derselben Stelle, in denselben Tönen. Und es war nicht über, es war unter der Erde, nur wenige Schritte von mir. Sollte sich doch noch ein Grab neben mir öffnen? Sollte ein lebendes Wesen oder der Tod mir entgegentreten? Dem einsamen, fremden Wanderer, in der tiefdunklen Mitternachtsstunde?

Ich sah um mich, ob ich denn in der That einsam und allein sei, ob ich nicht ein Licht oder irgend ein anderes Zeichen der Nähe von Menschen entdecken könne? Die weitläufigen Klostergebäude, die so nahe vor mir lagen, mußten doch bewohnt sein. Die Thurmuhr hätte doch nicht Mitternacht schlagen können, wenn nicht ein lebendes menschliches Wesen sie aufgezogen hätte. Ich sah nichts. Kein einziges Licht aus allen den weitläufigen Gebäuden schimmerte mir entgegen.

Das Stöhnen in der Erde hielt an. Auf einmal hörte es auf, aber ein Klagen, ein Jammern trat an seine Stelle. Es drang ebenfalls nur schwach zu mir herauf.

Aber es war entsetzlich anzuhören. Ich wollte fortstürzen und konnte es nicht. Das ist eben das Bannen des geheimnißvollen Entsetzlichen, daß es uns ewig forttreibt und ewig festhält. Aber konnte ich auch unthätig, feige, blos dastehen und horchen? Ich wollte mich kund geben, wollte meine Hülfe anbieten, wenn hier überhaupt Hülfe geleistet werden konnte; da vernahm ich plötzlich einen andern, zwar unbestimmten Ton, aber es kam mir vor, als wenn eine Thür in alten Angeln knarre. Da unten in der Erde? Daher kam auch dieser Ton.

Jetzt hörte ich auch von dem Klagen und Jammern nichts mehr. Ich lauschte eine lange Zeit mit Anstrengung, vernahm aber keinen Ton, keinen Laut mehr.

Was hatte sich denn da in der alten Erde, unter den wüsten Gräbern zugetragen?

Es blieb still. Aber wie es still blieb, konnte ich mich nicht entfernen, ohne vorher einen Versuch gemacht zu haben, ob ich nichts entdecken könne. Warum hatte ich jetzt den Muth, da Alles still und vorbei war? – Vorbei? – Ich klopfte mit meinem Reisestocke auf die Erde. „Heda, heda!“ rief ich.

Ich bekam keine Antwort; es blieb still, wie vorher, unter mir, um mich. Ich wiederholte Klopfen und Rufen.

[567] „Heda, wer ist hier? Kann ich hier Jemandem helfen?“

Ich trat rasch ein paar Schritte vor. In demselben Momente bewegte sich Etwas in meiner Nähe. Ein Gebüsch rauschte, als wenn Jemand hindurchdringen wolle; es war kaum zehn Schritte von mir.

„Wer da?“ rief ich in die Finsterniß hinein.

Ich erhielt keine Antwort; um desto lauter aber wurde das Rauschen.

Ich hatte mich völlig wieder gefaßt und eilte jetzt der Stelle zu, wo ich das Geräusch gehört. Ich stolperte aber dabei über ein paar Gräber. Auf einmal flog Etwas an mir vorüber. Es war wie der Schatten eines langen, hageren Menschen. Er flog mit leichten geflügelten Schritten dahin. Als ich mich nach ihm umsah, gewahrte ich nichts mehr; auch mein Ohr vernahm keinen Laut weiter.

Was war denn das wieder? Hatte ich einen Todtenschatten erblickt? War ein Lebender in meiner Nähe gewesen? Was hatte er in der Mitternacht auf dem alten Kirchhofe gemacht? Warum hatte er sich verborgen gehalten, bis ich rief? Warum war er bei meinem Rufe davongeeilt? War er einem Grabe entstiegen? Rührte gar von ihm jenes unterirdische Klagen und Jammern her?

Ich hatte auf alle meine Fragen keine Antwort. Ich stand sinnend und wieder horchend; aber diesmal nicht lange, da kam es mir vor, als hörte ich Schritte. Sie kamen mir zur Seite, rechts, etwa funfzehn bis zwanzig Schritte von mir, Sie kamen näher. Das Alles dem Gehöre nach; denn die Wolken hatten sich dunkler zusammengezogen und ich sah nichts. Es war mir doch unheimlich. Ich faßte meinen Reisestock schlagfertig; es war ein tüchtiger, bewährter Ziegenhainer. Aber was ich beinahe in dem nämlichen Augenblicke sah, dagegen half der beste Ziegenhainer nichts. Zwei glühend rothe Punkte leuchteten auf einmal vor mir, starrten mich an, unbeweglich, gleich zwei dunkel glühenden Kohlen. Ein Schauder überlief mich. Dann wollte ich dreinschlagen. Da schoß, unmittelbar über den beiden unheimlichen, unbeweglichen, leuchtenden Punkten, eine ganze helle Feuermasse auf mich los. Ich stand geblendet.

Ich hatte nur eins erkannt in der Helle des Feuers, daß ich mich dicht neben einer hohen, alten Mauer befand. Das war die Mauer des Klosters, an dem ich vorbeikommen mußte.

Hatte mich im Augenblick vorher ein Schauder überlaufen, jetzt ergriff mich Entsetzen. Alle Geschichten, die ich jemals von lebendig und auf Lebenszeit eingemauerten Mönchen und besonders Nonnen gehört und gelesen hatte, fielen mir wieder ein. Waren das Stöhnen und Klagen, das ich vernommen hatte, Schmerzenstöne einer eingemauerten Nonne aus ihrem fürchterlichen unterirdischen Grabe? Oder hatte – da sie mir mehr einer männlichen Stimme anzugehören schienen, worin ich mich allerdings täuschen konnte – hatte ein unglücklicher, vielleicht wegen seiner freien Ansichten eingemauerter Mönch sie ausgerufen?

Ich wußte nur, daß ich an einem Kloster vorbeikommen mußte; ob es ein Mannes- oder Frauenkloster sei, davon war mir nichts bekannt.

Aber ich wußte auch nicht, ob es noch als Kloster bestand oder ob es nicht schon längst aufgehoben war. Das Letztere war sogar das Wahrscheinlichere, da schon seit hundert Jahren Klöster in unserem Lande aufgehoben waren. Hatte ich dann nicht den klagenden, jammernden Geist eines oder einer vor Hunderten von Jahren, vielleicht schon im grauen Mittelalter, eingemauerten Unglücklichen vernommen, verdammt zum Stöhnen und Wehklagen bis zur Stunde seiner Erlösung, des letzten Gerichts?

Mein Auge erholte sich von der plötzlichen Einwirkung der blendenden Lichtmasse. Ich unterschied.

Ein langer, baumstarker Mann stand vor mir, in der einen Hand eine Blendlaterne haltend, die er plötzlich geöffnet hatte, in der andern einen ungeheueren Knotenstock. Vor ihm stand mit dunkelglühenden Augen ein riesiger Hund.

Der Mann war schon alt, er hatte graue Haare; aber er stand kräftig da, in seinem langen, weiten Kamisol und seiner alten Pelzmütze auf dem Kopfe. Sein verwittertes Gesicht war finster, ingrimmig, drohend.

„Was macht Er hier?“ rief er mir drohend zu.

Aber es war kein Bild aus dem Mittelalter. Im Mittelalter hatte man den Begriff, den reinen, geläuterten Begriff der Obrigkeit noch nicht erfunden, und der Mann sah so durch und durch obrigkeitlich aus, hatte so vollständig das Aussehen eines Handlangers der Obrigkeit.

Die Entdeckung machte mich sicher, ruhig. War ich doch selbst ein Stück der Obrigkeit.

„Guter Freund,“ sagte ich, „bin ich auf dem rechten Wege nach Z.?“

Aber da wurde sein Gesicht finsterer, drohender. Er musterte mich von unten bis oben.

„Hat Er vorhin gerufen?“ rief er.

„Ich habe hier gerufen.“

„Folge Er mir.“

„Wohin?“

„Das wird Er sehen.“

„Hört, guter Freund –“

„Ich bin Sein guter Freund nicht,“

„Zum Teufel, Freund, Landsmann, Mann, ich will nach Z. Ich hatte mich hierher verirrt. Wollt Ihr mich wieder in die Stadt bringen oder nicht?“

Er besann sich einen Augenblick.

„Folge Er mir,“ wiederholte er dann.

„Ihr wollt mich also in die Stadt führen?“

„Ja.“

Er setzte sich in Bewegung. Sein großer Hund war immer einen Schritt vor ihm, nicht mehr und nicht minder. Das Thier schien wunderbar dressirt zu sein.

Ich folgte ihm. Er führte mich an der alten, hohen Mauer entlang, die ich vorhin gesehen hatte.

„Wo sind wir hier?“ fragte ich ihn im Gehen.

„Braucht Er das zu wissen?“

Seine Stimme, wie seine Worte waren immer kurz, grob. Ich überzeugte mich mehr und mehr, daß ich es mit einer obrigkeitlichen Person zu thun hatte, zu der ich mithin in einem berufsverwandtschaftlichen Rapport stand. Seine Grobheit machte mich um so sicherer, beinahe kecker,

„Ihr hattet also vorhin meinen Ruf gehört?“

„Ja, und wenn Er sich noch einmal untersteht, mitten in nachtschlafender Zeit so zu schreien, so wird man anders mit Ihm verfahren.“

„Wo wart Ihr denn, als Ihr mich hörtet?“

„Bekümmere Er sich um Seine Sachen.“

„Wißt Ihr, warum ich rief?“

„Es geht mich nichts an.“

„Ich hatte so sonderbare Töne gehört.“

„Auf einem Kirchhofe, in der Nacht, hört jeder Narr etwas Sonderbares.“

„Was ich hörte, konnten auch verständige Menschen hören, zum Beispiel Ihr selbst.“

Auf einmal drehte er sich nach mir um, leuchtete mir hell in das Gesicht und sah mich dabei so unheimlich forschend und überlegend an, daß ich wahrhaftig meinen konnte, er gehe mit sich zu Rathe, nicht, ob er mir den Garaus machen solle, sondern nur noch, ob er dies sofort und in welcher Weise ausführen werde.

Auch sein großer Hund richtete sich wieder höher auf, schüttelte sich und rollte seine glühenden Augen.

Ich erschrak doch unwillkürlich. Ich wußte nicht, wo ich war, und in dem obrigkeitlichen Aussehen des Mannes konnte ich mich irren. Aber er wandte sich still wieder von mir, ging noch einige Schritte weiter, blieb dann stehen und sagte:

„Hier, marschire Er!“

Mit den kurzen Worten schob er die Blende seiner Laterne vor, ich stand in voller Finsterniß und er und sein Hund waren meinen Augen entschwunden. Auch meinem Ohre. Plötzlich, wie sie auf dem Kirchhofe vor mir gestanden hatten, sah und hörte ich nichts mehr von ihnen. Waren sie vorhin aus der Erde emporgeschossen? Hatte die Erde sie jetzt wieder verschlungen? Hatte ich lebendige, körperliche Wesen oder Gespenster gesehen? Hatte ich gar nur geträumt?

Ich schaute und horchte noch eine Weile, doch ich sah und hörte nichts mehr. Aber in weiterer Entfernung, einige hundert Schritte vor mir, entdeckte ich bald einige Lichter und als ich darauf zuschreiten wollte, sah ich, daß ich mich zur Seite einer breiten Straße befand.

Hinter mir erhoben sich hohe, lange, mehrfach gezackte Dächer; darüber ein dicker Thurm. Das war wohl das Kloster, an dem [568] ich vorbeigekommen, auf dessen Kirchhofe ich ein seltsames, noch nicht entwickeltes Abenteuer bestanden hatte. Ich folgte der Straße. Sie führte mich den Lichtern entgegen und bald war ich an den ersten Häusern der Stadt Z. Es war ein offenes Landstädtchen. Ich klopfte an eins der Häuser und fragte nach dem besten Gasthofe der Stadt. Ein dienstfertiger Bursche führte mich bereitwillig dahin.

Meine Neugierde, Näheres über mein Abenteuer zu erfahren, war groß genug; ich mußte ihre Befriedigung auf morgen verschieben. In dem Wirthshause war nur noch ein schläfriges Dienstmädchen wach; von ihr hätte ich schwerlich befriedigende Auskunft erhalten können.

Am andern Morgen war mir doch zuerst der Auftrag meiner Mutter heilig, mich in Z. nach ihrer Jugendfreundin zu erkundigen. Allein welche Anhaltepunkte sollte ich dafür auffinden? Wer konnte mir Auskunft geben über eine Frau, die als Mädchen Nettchen Thalmann geheißen hatte, aus A. gebürtig, vor vielleicht dreißig Jahren an einen Mechanikus unbekannten Namens verheirathet und dann hierher gekommen war?

„Wohnt hier im Orte ein Mechanikus?“ fragte ich den Wirth.

„O, mein Herr, unsere Stadt hat sogar zwei, und beide sind sehr berühmt. Der Eine ist besonders stark in Bruchbändern und der Andere –“

„Ihre Namen, Herr Wirth?“

„Müller heißt der Eine und Schulze der Andere.“

„Verheirathet?“

„Der Eine noch nicht.“

„Aber der Andere?“

„Nicht mehr; er ist Wittwer.“

„Sie wissen wohl nicht, was für eine Geborene seine Frau war?“

„O ja. Sie ist erst im vorigen Jahre gestorben und hieß Therese Schrader.“

„Hat nicht früher noch ein Mechanikus hier gewohnt?“

„Es ist möglich, aber ich erinnere mich nicht. Ich selbst wohne erst seit zwölf Jahren hier.“

„Ist Ihnen der Name Nettchen Thalmann nicht bekannt?“

„Nein.“

Das war also nichts. Ich hatte meine Pflicht gegen meine Mutter erfüllt und konnte nun zur Befriedigung meiner eigenen Neugierde übergehen.

„Ist hier ein Kloster im Orte, Herr Wirth?“

„O ja, mein Herr, aber ein aufgehobenes.“

„Ah! War es ein Mönchs- oder Nonnenkloster?“

„Ein Nonnenkloster.“

„Und ist schon lange aufgehoben?“

„Ich habe gehört, schon vor hundert Jahren.“

Eine lebendige, lebendig eingemauerte Nonne hatte ich also unter der Erde an der Klostermauer nicht gehört.

„Teufel!“ rief ich.

„Fällt Ihnen das auf, mein Herr?“ fragte der Wirth.

„Nicht im Geringsten. – Welche Bestimmung hat das Kloster gegenwärtig?“

„Das Amt ist darin.“

„Das Amt?“ rief ich noch verwunderter.

„Gewiß, mein Herr,“ erwiderte belehrend der Gastwirth, „das Justiz- und Rentamt, denn die moderne französische Revolutionscultur ist noch nicht bis zu uns gedrungen und bei uns zu Lande sind Justiz und Verwaltung glücklicher Weise noch nicht getrennt.“

Ich bedurfte der Belehrung nicht; ich mußte nur Auskunft über mein Abenteuer haben und fragte deshalb weiter:

„Wohnen auch die Beamten des Amtes in dem Kloster?“

„Sie haben ihre Amtswohnungen darin.“

„Alle?“

„Mit Ausnahme einiger Schreiber.“

„Sind Ihnen die Beamten bekannt?“

„Gewiß.“

„Kennen Sie einen alten Mann unter ihnen, groß, stark, fast ein Riese und von finsterem Aussehen?“

„Ja, ja.“

„Er trägt ein langes, weites, graues Kamisol, eine Pelzmütze –“

„Richtig, richtig!“

„Führt einen riesengroßen Hund bei sich?“

„Der Hund sieht braun aus.“

„Sie kennen ihn also genau?“

„O ja, es ist der Schließer des Amtes, Martin Kraus.“

„Schließer?“

„Oder Gefangenwärter, wie man auch sagt.“

Welch’ ein Licht wollte mir da auf einmal aufgehen! Welch’ ein trübes, fürchterliches, entsetzliches Licht!

Der Schließer, der Gefangenwärter des Amtes hatte mich gestern Abend, vielmehr heute Nacht, in der Mitternachtsstunde gehört, als ich die seltsam und schrecklich klingenden Klagetöne vernommen und dem Klagenden meine Hülfe angeboten hatte! Er hatte also auch jene Klagetöne gehört. Er war vielleicht zu dem Klagenden eingetreten, als die Töne plötzlich verstummten. Er hatte die Thür geöffnet, deren Knarren ich vernommen hatte. Er, der Schließer! Ein Gefangener, ein Gefangener des Gerichts hatte also gestöhnt, geklagt, gejammert.

Aber da unten in der Erde? Unter der Klostermauer? An dem alten, verwüsteten Kirchhofe? Vielleicht unter diesem, unter den Gräbern? Wie konnte ein Gerichtsgefangener dahin kommen? Und warum hatte der Mann mich, der ich in der Nähe der Klagetöne gewesen war, mit solchem obrigkeitlichen Mißtrauen behandelt und, als ich ihn nach ihnen gefragt, mit solcher obrigkeitlicher Grobheit abgefertigt? Kam ich da nicht aus einem Geheimniß in ein anderes, geheimnißvolleres, aber auch schreckenvolleres?

„Hat das Amt viele Gefangene?“ fragte ich den Wirth weiter.

„Es fallen immer Verbrechen vor, wenn auch nicht schwere. Ein paar Dutzend Menschen mögen da sitzen.“

„Wo sind die Gefängnisse?“

„In einem Klosterhause, das zum Stockhause eingerichtet ist.“

„Liegt das Stockhaus nach dem alten Kirchhofe hin?“

„Nein, gerade auf der andern Seite, nach der Stadt zu.“

„Herr Wirth, erzählt man sich nicht Spuk- und Gespenstergeschichten von dem alten Kloster?“

„Von welchem alten Kloster erzählte man sich die nicht!“

„Von welcher Art zum Beispiel hier?“

„Mein Herr,“ erwiderte mir der Wirth mit großer Selbstgenugthuung, „den Glauben an Märchen und Gespenstergeschichten überlasse ich den ungebildeten Classen.“

„Aber man kann sich doch davon erzählen, Herr Wirth!“

„Auch damit gebe ich mich nicht ab.“

Auch mit meinen Fragen über mein Abenteuer war ich nun zu Ende; sie waren aber gleichfalls ohne Resultat, doch nicht ganz ohne allen Erfolg.

(Fortsetzung folgt.)




Indianische Räuber.

Seit die Weißen in Amerika die rothen Bewohner des Landes von dem Boden ihrer Väter zu verdrängen begannen, haben zahllose blutige Kämpfe zwischen den beiden Racen stattgefunden. Die Indianer übten überall und bei jeder Gelegenheit durch Rauben und Morden und Sengen die gräßlichste Wiedervergeltung an ihren weißen Gegnern, die ihnen auch nicht eine Wohlthat gebracht hatten, wohl aber neue Laster, neue Krankheiten und das Gift des verlockenden „Feuerwassers.“ Haarsträubende Scenen dieses vier Jahrhunderte alten Kampfes sind in Reisebeschreibungen, Romanen und andern Schriften zu Tausenden geschildert worden, bis man endlich, des Einerlei des Gräßlichen müde, schon seit vielen Jahren fast aufgehört hat, von neuen blutigen Thaten solcher Art zu erzählen. Das große Publicum, dem die Lage der Dinge in Amerika nicht so genau bekannt sein kann, glaubt nun, es gäbe gar keine Feindseligkeiten mehr zwischen Indianern und Weißen. Die Rothhäute sind freilich aus vielen Gegenden des Landes lange und gänzlich verdrängt, aber im „fernen Westen“, an den Grenzen der Ansiedlungen der Weißen, in Minnesota, in Iowa, in Californien, in Texas,

[569]

Indianischer Raubzug.

[570] in Oregon, in Utah u. s. w. hausen die Indianer heute noch zu Tausenden und da setzen sich auch die Kämpfe ganz so fort, wie sie gleich nach der Ankunft der Europäer begannen. Ein bekannter amerikanischer Maler hat eine dieser Scenen in einem großen Gemälde verewigt, das auf den Ausstellungen der Hauptstädte durch seine Wahrheit und durch den traurigen Vorfall, der dem Künstler das Sujet lieferte, allgemeines Aufsehen erregte. Unsere heutige Abbildung gibt eine sehr gelungene Copie dieses Gemäldes.

In Texas mußten vor einigen Jahren ein paar Indianerstämme ihre Jagdgründe verlassen und weiter ziehen, weil die Weißen das Land mehr und mehr überflutheten. Eine Anzahl der Rothhäute hatte ihr Lager an einem Flusse, und sie erfreuten sich zum letzten Mal da an der Jagd auf heimischem Boden, von dem sie nach wenigen Tagen scheiden sollten. Ein etwa fünfzehnjähriger Bursch, der längst schon behaglich nach den Feuerwaffen der Weißen gesehen, hatte eine günstige Gelegenheit erlauscht, in ein Blockhaus zu schleichen und da ein Jagdgewehr zu stehlen. Aber ehe er mit seiner Beute entkommen konnte, erschienen drei der Ansiedler, die ihn ergriffen, ihm das Gewehr abnahmen und ihn mit grünen, schmiegsamen, fingerdicken Ruthen blutig schlugen. Hätten sie ihn auf der Stelle niedergeschossen, so wäre es vergeben und vergessen worden, aber durch die Züchtigung, die der stolze Indianer ohne einen Schmerzenslaut ertrug, hatte man den ganzen Stamm beleidigt, und sie dachten an nichts als an Rache. Zu befriedigen freilich war sie nicht sogleich. Der Stamm wanderte aus, Jahre vergingen, und viele Meilen lagen zwischen den verhaßten Feinden, aber die Erinnerung an die erlittene Schmach blieb lebendig und schürte fortwährend das Feuer der Rache. Der Bursch war herangewachsen, und ein angesehener Krieger geworden. Aber Freude kannte er nicht, so lange der einst erlittene Schimpf nicht im Blute der Weißen getilgt wurde. Er schlich mehr als einmal in die Nähe der Stätte, die seine Schmach gesehen, theils um seine Rachlust zu reizen, theils um zu sehen und zu hören, wie er sie für ihn am freudigsten, für die Gegner am schmerzlichsten befriedige. Er fand es, denn er erfuhr, daß einer der Männer, die ihn gezüchtigt hatten, eine schöne Tochter habe, die der Stolz und die Freude seines Lebens sei, seit er seine Frau, die Mutter der schönen „Blume der Prairie“, verloren. Darauf bauete er seinen Plan, den er den Kriegern seines Stammes mittheilte. Mit feurigen Worten stellte er ihnen vor, die Stunde sei gekommen, die Schmach abzuwaschen, die er wie der Stamm so lange getragen, und er forderte sie auf, mit ihm auszuziehen, Rache zu üben und Beute zu machen.

Neunzehn junge Krieger, die muthigsten und blutgierigsten, schlossen sich ihm an und auf ihren halbwilden Pferden zogen die wilden Krieger aus. Hundert Meilen weit ritten sie, wohl bedacht von Niemandem gesehen zu werden, durch das Land, in dem bereits wenigstens dreitausend Weiße wohnten, bis sie in die Nähe der Ansiedelungen kamen, die einst die Schande des Indianers gesehen hatten und nun Zeuge der Rache desselben sein sollten. Die Rothhäute verbargen sich in der Nacht in der Nähe und als der Morgen graute, schlichen sie vorsichtig aus ihrem Verstecke hervor. Die drei Besitzer der drei Blockhäuser standen eben beisammen, vielleicht um sich wegen einer gemeinschaftlichen Arbeit zu berathen, ohne im Mindesten zu ahnen, welche Gefahr sie bedrohe und wie nahe sie sei. Zwei der Männer wurden erschossen, als sie nach ihren Wohnungen zugingen, der Dritte aber, an welchem das Hauptstück der Rache geübt werden sollte, ergriffen und an einen Baum in der Nähe festgebunden. Dann theilten sich die Indianer in drei Haufen, drangen in die schutzlosen Blockhäuser ein und erschlugen da mit kaltem Blute die Bewohner, alle, mit Ausnahme der schönen Tochter dessen, der an den Baum gebunden die Seinigen morden, die Lieblingstochter aber einem schrecklicheren Schicksale als dem Tode zuführen sehen mußte. Diese nahm der Führer des Raubzuges auf sein Pferd, um sie mit sich zu nehmen zu den Seinigen und sie zu seinem Weibe zu machen. Das beste Vieh wurde dann zusammengetrieben, um mit hinweggeschleppt zu werden. Das Mädchen schrie in den Armen ihres Räubers vergeblich um Hülfe, und sie rief in verzweifelter Angst den Vater an, der die Fesseln nicht zerreißen konnte, welche ihn fest und fern hielten von der geliebten Tochter.

Jubelnd zogen die Rothhäute mit der Beute in rasender Eile von dannen, so daß ein Weißer, der zufällig in diesem Augenblicke erschien, ihnen nur aus weiter Ferne eine Kugel nachsenden konnte, die nicht traf. Aber er vermochte wenigstens den Vater des geraubten Mädchens zu befreien, der, heiser vor Zorn und Angst, ihn anrief. Aber was sollte der Mann beginnen? Sollte er die Räuber seiner Tochter verfolgen? Er hatte kein Pferd und – drinnen im Hause lagen alle seine andern Kinder todt und im Sterben. Er beschwor den Fremden, nach der nächsten Farm zu reiten, zu erzählen, was er gesehen, die Leute aufzufordern, ihm ein Pferd zu bringen und, nachdem er seine Kinder mit eigener Hand begraben, sich ihm anzuschließen, die Räuber zu suchen und die Tochter ihnen zu entreißen.

Alle Ansiedler in meilenweitem Umkreise, die der immer drohenden Gefahr gegenüber gleichsam eine Familie ausmachen, fanden sich am nächsten Tage wohlberitten und wohlbewaffnet bei dem unglücklichen Vater ein und stellten sich ihm zur Verfügung. Sie suchten die Spur der Indianer, sie fanden dieselbe auch, aber die Rothhäute hatten einen zu großen Vorsprung und waren, wie es sich ergab, in das Gebirge entkommen. Die Weißen mußten unverrichteter Sache umkehren.

Der beraubte Vater hat seitdem keine Mühe und keine Kosten gespart, wenigstens zu erfahren, ob seine Tochter noch lebe. Es ist ihm bis heute nicht gelungen und so weiß er nicht, ob seine „Blume der Prairie“ die Frau des rothen Mannes geworden ist, der sie geraubt, oder ob sie den Mißhandlungen, dem Grame und der Sehnsucht erlegen.




Erinnerungen aus Afrika.
Aus dem Tagebuche eines Touristen.
Sidi-Ben-Jellul. – Das Frühstück auf dem „Cameleon.“ – Des Califat’s Einladung nach Dschebel-Ammur. – Reise dorthin. – Bivouacs. – Ali’s culinarische Bestrebungen. – Ankunft bei Mustapha-Ben-Saïd. – Begrüßung Sidi-Ben-Jellul’s. – Sein Palast. – Die Sahara.


Es war zu Anfang des Octobers 1854, als Sidi-Ben-Jellul, der Kalifat (spr. Kalifa) des Dschebel-Ammur, begleitet von den Vornehmsten seines Stammes, in Algier eintraf, um dem französischen Gouverneur die Zeichen seiner kürzlich erfolgten freiwilligen Unterwerfung zu bringen und dafür den rothen, goldgestickten Burnuß, das Zeichen seiner Anerkennung Seitens der französischen Regierung, in Empfang zu nehmen.

Ben-Jellul, der die Grenzen der Sahara am südlichen Abhange des großen Atlas beherrscht, und ehemals zu den eifrigsten und mächtigsten Anhängern Abd-el-Kader’s gehörte, ist ein Kind der Wüste, und stammt aus einer der nobelsten Familien jener alten Berber-Aristokratie, welche das Vordringen der türkischen Macht in den Sand der Sahara zurückgetrieben hat. Er hatte früher die französischen Städte mit dem seinem Volke eigenen Mißtrauen gemieden; alle unsre Einrichtungen, Sitten und Gebräuche waren ihm und seinem Gefolge vollkommen fremd, aber die Araber schienen es sich zum Gesetz gemacht zu haben, über Nichts zu erstaunen. Sie würdigten die großartigen Bauwerke und reichen Läden kaum eines Blickes – nur das Meer schien Ben-Jellul, der vielleicht nie ein anderes Wasser gesehen hatte, als den schmalen Streifen des Ouëd-Mydroë und die schäumenden Gießbäche seiner Berge, unwiderstehlich anzuziehen. Stundenlang stand er an der Ballustrade des Platzes, der die Aussicht auf das mittelländische Meer gewährt, und schaute mit stillem Entzücken auf die tausend bunt bewimpelten Masten der im Hafen liegenden Schiffe, und folgte mit seinen Adlerblicken den Fischerkähnen, die mit ihren weißen vom Winde geblähten Segeln über das blaue Wasser dahinschossen, wie riesenhafte Möven. Nur die kommenden und gehenden Schiffe schienen die Wißbegierde des Kalifat zu erregen, und um diese zu befriedigen, lud der Commandant der Dampfcorvette „Cameleon“ den Wüstenfürsten zu einem Frühstück am Bord ein.

Am andern Morgen führte das Boot des Capitains eine muntere Gesellschaft, unter welcher sich der Kalifat, sein Sohn, sein Kodja und der Agha seiner Reiterei befanden, dem Schiffe zu.

[571] Die Corvette zeigte sich zu Ehren der seltenen Gäste im vollen Glanz und Schmuck. Die Mannschaften befanden sich in Paradeuniform auf Deck, und präsentirten das Gewehr, die Trommeln wirbelten, das blank geputzte Kupfer der dreißig Karonaden und das Compaßhäuschen blitzten wie Gold im Sonnenlicht. Auf dem Quarterdeck war ein elegantes Zelt mit Festons von rothen schweren Fransen aufgeschlagen und Blumen und Waffentrophäen schmückten die Brustwehr. Die Tafel war mit prächtigem Krystall und Porzellan bedeckt und bot einen Anblick, der ebenso angenehm für das Auge wie für den Magen hoffnungerregend war.

Bis zur Frühstücksstunde führte der Commandant seine Gäste auf dem Schiffe umher, und der Kalifat konnte ganz nach Belieben die einzelnen Theile desselben bewundern. Er ließ sich das Fahrzeug vom Kohlenraume bis zur Cajüte des Commandanten zeigen, und man führte, um ihn vollkommen zu befriedigen, selbst einige kriegerische Evolutionen mit dem Schiffe aus. Bei diesen schnellen, leichten und präcisen Bewegungen konnte er sein Erstaunen nicht mehr verbergen, aber es sollte sich noch steigern, als wir den Maschinenraum betraten. Der Anblick dieses Kunstwerks von polirtem Stahl, dessen einzelne Theile mit ebenso viel Eleganz wie Präcision in einander griffen, trieb seine Verwunderung auf den Gipfel. Sein Auge folgte den Bewegungen der Maschine mit dem Eifer und der Hartnäckigkeit eines Kindes, welches den Mechanismus eines Spielzeuges ergründen will. Er schien durchaus erspähen zu wollen, wo sich die Seele des Werkes versteckte, dessen Thätigkeit und Kraft er sich nicht zu erklären vermochte.

Endlich machte das aufgetragene Frühstück seinen Untersuchungen ein Ende. Die Söhne der Wüste aßen sehr mäßig, bedienten sich dabei ihrer Finger und fanden den Gebrauch, den wir von unsern Gabeln machten, sehr belustigend. Sie tranken nur Wasser und Limonade, während wir den ausgesuchten Weinen des Commandanten alle Ehre erwiesen.

Beim Dessert glaubte der Kalifat, dem die cordiale Gastfreundschaft, mit der er empfangen wurde, zu gefallen schien, sich nicht besser revanchiren zu können, als durch eine Einladung nach dem Dschebel-Ammur. Wir waren in einer Stimmung, die uns eine achtzig Lieues weite Vergnügungsreise, die durch wüste Ebenen und zerklüftetes Hochland führte, wie eine ganz natürliche Sache erscheinen ließ. Die Einladung wurde also angenommen und wir schieden sehr entzückt von unsern neuen Bekannten, die nach zwei Tagen die Stadt verließen, nachdem sie uns nochmals das Versprechen unseres baldigen Kommens abgenommen hatten.

An dem Tage, als wir die liebenswürdige Einladung des Kalifats annahmen, hatten sich wenigstens ein Dutzend Theilnehmer an der Reise gefunden und während einer ganzen Woche blieben auch Alle bei ihrem Entschlusse; als aber der 15. October, der letzte Termin der Abreise, herangekommen war, den wir nicht versäumen durften, wenn wir noch die schöne Jahreszeit benutzen wollten, da fanden fast Alle gute Gründe, sich von der Ausführung des Projectes zurückzuziehen. Es blieben von den Eingeladenen außer mir nur drei, welche fest entschlossen waren, ihr dem Kalifat gegebenes Wort zu halten.

Zwei von meinen drei Gefährten waren eben angekommene Pariser, die nach Abenteuern dürsteten, das Land noch nicht kannten und selbst von Frankreich noch nichts gesehen hatten, als die Bannmeile von Paris und die Straße, welche nach Marseille, dem Orte ihrer Einschiffung, führt. Mein dritter Gefährte, Henri G., ein lustiger Kumpan, der seit Jahren ein vagabondirendes Leben theilte, und Ali, mein arabischer Diener, vervollständigten die Karawane. Ali war ohne Zweifel die eigenthümlichste Personage der Gesellschaft. Er war sechzehn Jahre alt, listig und behend, wie ein Affe, treu und anhänglich wie ein Mann, muthig wie ein Löwe, flink wie eine Gazelle, faul wie eine Schildkröte, und lügnerisch wie fünfundzwanzig Beduinen zusammen, was gewiß nicht wenig sagen will. Zwei Maulthiere, die durch einen Araber geführt wurden, trugen unsere Zelte und Provisionen und zwei Mekalliahs, welche das arabische Bureau zu unserer Verfügung hatte, sollten uns als Führer und Bedeckung dienen.

Wir traten unsern Weg in früher Morgenstunde an, passirten die Stadt Blidah, durchschwammen die reißenden Wasser der Chiffa und kamen am folgenden Abende in Medeah, der alten Hauptstadt der Provinz Titterih, an.

Erst von hier aus gewann unsere Reise einen eigenthümlichen Charakter. Bis hierher hatten wir noch immer Wirthshäuser, ein Obdach und Spuren europäischer Civilisation gefunden, von da ab gab es aber weder Straßen, noch Städte, noch Gasthäuser. Wir trafen nur hier und da noch einen Militairposten, stießen hin und wieder auf die Duars (Zeltdörfer) arabischer Hirten und das von tiefen Schluchten durchschnittene Land wurde immer wilder und einsamer.

Zuweilen genossen wir, Dank unserem Schutz- und Empfehlungsbriefe, die Gastfreundschaft der Kaïeds (Häuptlinge der Nomadenstämme), auf deren Horden wir stießen, nicht selten aber waren wir auch genöthigt, unser Nachtlager an einer Quelle im Schutze eines Palmenwäldchens aufzuschlagen. Wir Beide, Henri und ich, fanden uns ziemlich gut in diese Lebensweise, aber unsere Pariser zeigten sich, obgleich sie sich Mühe gaben, zufrieden auszusehen, wenig empfänglich für die Schönheiten dieser Bivouacs. Sie fanden die riesenhaften Flöhe, die zu Millionen im heißen Sande der Wüste nisten, außerordentlich unbequem und konnten sich nicht daran gewöhnen, ihren Schlaf durch das Gebell des Schakals und das klägliche Geheul der Hyäne unterbrochen zu sehen, welche sich nur durch die angezündeten Feuer in respectvoller Entfernung halten ließen.

Auch die culinarischen Bestrebungen Ali’s, welcher unter unserer Aufsicht und oft sogar mit unserer Mithülfe die Mahlzeiten bereitete, ließen viel zu wünschen übrig. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich freilich gestehen, daß er sein Möglichstes that und selbst nie versäumte, die Gärten zu plündern, an denen wir vorüberkamen. Henri bestärkte ihn durch Lobsprüche in diesen verderblichen Neigungen und die gestohlenen Wassermelonen, Orangen und Datteln, sowie einige Rebhühner, die wir schossen, und zwei oder drei Hasen, welche so unvorsichtig gewesen waren, unseren Hunden zu Gesicht zu kommen, bildeten die Hauptbestandtheile unserer Nahrung, deren Zubereitung eine sehr summarische war. An den an Schildkröten reichen Ufern des Ouëd-Mydroë machte ich den Versuch zu einer Schildkrötensuppe, aber ich fand dabei nur neue Gelegenheit, mich zu überzeugen, daß Eifersucht der Grundzug des französischen Charakters ist. Meine Reisegefährten fanden die Suppe abscheulich, während sie hingegen den Arabern, die nicht von jenem Gefühl beherrscht waren, ausgezeichnet schmeckte. Ich, als Chef der Gesellschaft, erklärte sie ebenfalls für delicat.

Wlr waren seit acht Tagen unterwegs, als wir am Duar des Mustapha-Ben-Saïd, eines Vasallen Ben Jelluls, ankamen. Nachdem der alte Muselmann den Firman des arabischen Bureau’s und das Siegel des General Daumas genau betrachtet hatte, sprach er seine Ergebenheit und seinen Eifer, uns zu dienen, mit echt orientalischer Uebertreibung aus, stellte uns zwei große Erdhütten, die mit der von ihm selbst bewohnten in Verbindung standen, zur Disposition und lud uns endlich zu einem Souper ein, bei welchem er mit großer Liebenswürdigkeit die Honneurs machte.

Wir trafen bei dieser Gelegenheit mit einem der berühmtesten Thalebs (Gelehrter, auch Richter) der Gegend zusammen, welcher die neuesten Commentare zum Koran geliefert hatte, und waren nicht wenig erstaunt, zu bemerken, daß er wirklich in den exacten Wissenschaften ziemlich zu Hause war, ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Collegen, die sich Thalebs nennen, wenn sie fertig lesen und schreiben können.

Dies Dorf war unser letzter Ruhepunkt. Am andern Morgen saßen wir mit Sonnenaufgang zu Pferde. Der Kaïd erbot sich, uns mit einer Ehrenwache von funfzig Reitern zu begleiten, und ich konnte nicht umhin, bei dieser Gelegenheit die ungewöhnliche Größe seiner Leute und den reinen Typus ihrer Gesichtsbildung zu bewundern, der sich bei den in den Küstengegenden lebenden Stämmen durch die Vermischung der Racen verloren hat. Auch die Pferde waren von seltner Schönheit.

Nach zweistündigem ziemlich schnellem Ritt näherten wir uns den Höhen des Dschebel Ammur. Noch einige Schritte und wir sollten die grenzenlose Sahara vor uns sehen – nur die Bergkette, deren Gipfel wir fast erreicht hatten, verbarg sie noch vor unsern Blicken; da, als wir um die Ecke eines schwärzlichen Felsens bogen, an welchem sich ein arabischer Weg, d. h. eine Art Ziegenpfad hinauf zog, sahen wir plötzlich eine Wolke von Reitern mit wahrhaft erschreckender Schnelligkeit auf uns zukommen. Die Burnusse flatterten im Winde und die lange Reihe der Bewaffneten wand sich wie eine Schlange um den Felsen, an welchem sich der Pfad herabschlängelte. In stolzer Haltung und mit hoch erhobenen Flinten ritt, oder vielmehr flog die Truppe auf uns zu.

[572] Von einem momentanen Mißtrauen überfallen, hielten wir einen Augenblick unsre Pferde an und sahen uns nach unserm Kaïd um, aber sein wohlwollendes, ruhiges Lächeln beruhigte uns und wir hörten nun, daß er Ben-Jellul von unsrem Kommen benachrichtigt hatte, und daß dieser in eigner Person kam, um uns einzuholen. In diesem Augenblicke begrüßte uns die nahende Truppe mit einer tausendfach in den Bergen wiederhallenden Gewehrsalve und wenige Minuten später hatte der Kalifat und sein Sohn uns erreicht. Wir schüttelten uns die Hände auf’s Freundschaftlichste; Ben-Jellul dankte uns mit Herzlichkeit für das Vergnügen, das wir ihm durch unser Kommen bereiteten, während die uns begleitenden Araber seinen Burnuß und seine Steigbügel küßten, und bald darauf ritten wir an der Seite des Wüstenfürsten seiner Residenz zu.

Ben-Jellul ließ das Zeichen seiner Macht, eine grüne, reich mit Gold gestickte Fahne, vor sich hertragen. Er wollte uns mit allem ihm zu Gebote stehenden Pomp empfangen und ich habe diesen Empfang in so dankbarem Gedächtnisse, daß ich von den Leistungen der Musiker, die uns ganze anderthalb Stunden mit einer Fanfare von zehn sich ewig wiederholenden Takten regalirten, kein Wort sagen will; aber ich bin fest überzeugt, daß der Director dieser Musikschule nicht allzugroße Mühe gehabt haben kann. um seine Eleven bis zu dieser Höhe der Kunstfertigkeit zu bringen.

Nachdem wir endlich eine Art Avenüe hinter uns gelassen hatten, kamen wie auf einem Platze an, welcher mit einem Wassertrog und einem Brunnen versehen war, und hielten vor dem Palais unsres Wirthes.

Im Vergleich zu den Bauwerken, die es umgaben, konnte man den Palast Ben-Jelluls großartig und prächtig nennen. Es war ein umfangreiches, in maurischem Geschmack erbautes Haus, welches westlich mit einem Säulengange verziert war und aus einem etwas erhöhten Parterre und einer ersten Etage bestand, über welcher sich eine Plattform befand. In der Mitte der Gebäude lag ein Hof, nach welchem hin sich sämmtliche Fenster der Zimmer öffneten.

In diesem Hofe wurden wir empfangen. Ein Springbrunnen kühlte hier die heiße Luft. Die Steinplatten des Fußbodens waren mit Teppichen belegt und hier und da lag ein Kissen, das uns zum Sitze dienen sollte. Etwas seitwärts stand ein niedriger Tisch, mit Schüsseln und Körben besetzt, in denen sich Wassermelonen, Datteln und Feigen befanden. An jedem Ende der Tafel erhob sich eine Pyramide von Orangen; ein Dutzend kleine Tassen, die auf kleinen silbernen Dreifüßen standen, waren für den Kaffee bestimmt, und drei große Gefäße voll Schnee theilten ihre Frische den Limonadenkrügen mit, die man in ihrer Mitte versenkt hatte.

Man servirte den Kaffee und während unsre Araber die Pferde in die an das Haus grenzenden Schuppen brachten, konnten wir nach Belieben das Landschaftsbild betrachten, das sich uns durch die Zwischenräume der maurischen Colonnade zeigte. Im Norden erhoben sich mächtige terrassenförmig aufsteigende dunkle Bergmassen und südlich dehnte sich die unabsehbare, vom Sonnenlicht vergoldete Sahara vor uns aus. Einige ferne Karawanen, die nur wie bewegliche dunkle Linien erschienen, und der leichte Nebel einiger Quellen, der in die Luft aufstieg und hin und her wogte wie ein weißer leuchtender Federbusch, boten die einzigen Ruhepunkte für das Auge. Der Anblick dieses glänzenden unendlichen Sandmeeres macht einen großartigen Eindruck auf jeden für Naturschönheiten empfänglichen Menschen und unser Auge schweifte noch immer ungesättigt bald über die Wüste hin, bald zu den Gipfeln der Berge hinüber, als Ben-Jellul zu uns trat und sich entschuldigte, daß er uns nicht in seinem eignen Palaste aufnehmen könnte. Da Frauen im Hause seien, sagte er, wäre das unmöglich. Dann ließ er uns in ein andres Gebäude führen, welches zwar an seinen Palast grenzte, aber nicht damit in Verbindung stand.

(Fortsetzung folgt.)




Stein- und Braunkohlen und Torf.[1]
Von E. A. Roßmäßler.
Woraus entstanden die Steinkohlen?

Zwischen den Bedürfnissen, nicht blos des Menschengeschlechts, sondern aller Thier- und Pflanzengeschlechter und den tausenderlei Befriedigungsmitteln jener besteht ein so inniges und oft so überraschend bedingtes Wechselverhältniß, daß man sich über Diejenigen nicht zu sehr wundern darf, welche die allerdings wunderliche Meinung aussprechen, es seien jene Befriedigungsmittel eine vorausbedachte Abhülfe für das später auftretende Bedürfniß. Bei den Steinkohlen hört man diese sonderbare Umkehr zwischen Ursache und Wirkung zuweilen auch aussprechen. Ein vorausbedachter Wille soll da die Steinkohlen im Schooße der Erde niedergelegt haben, damit sich später mit ihrer Hülfe die großartige Industrie unseres Jahrhunderts entwickele! Ist es nicht gescheidter, die Sache einfach zu nehmen, wie sie ist, d. h. Ursache und Wirkung in ihrer naturgemäßen Aufeinanderfolge zu lassen und zu sage: das Vorhandensein der Steinkohlen ist eine selbstständig bedingte Thatsache, und erst in zweiter Linie wird sie die Ursache für den ungeheueren Aufschwung unserer Industrie.

Immerhin aber bleibt es ein erhabener Gedanke, die Ereignisse unserer Tage mit Zuständen in unmittelbarem Folgezusammenhange zu sehen, welche vor Millionen von Jahren stattfanden, die Wurzeln des mächtig und über den ganzen Erdkreis verzweigten Baumes der Industrie der Culturvölker Tausende von Fußen tief in den Erdboden verfolgen zu können.

Wo jetzt der Bergmann im finstern Schacht die Steinkohle bricht – die unerläßliche Bedingung der Fabrikindustrie, die emsige Gehülfin des Arbeiters, das oft blos erträumte Gut des Actienschwindels – da grünte einst eine stille Pflanzenwelt in üppiger Fülle, so verschieden in ihren Formen von der gegenwärtigen, daß ein Bild davon, an die heutigen Fundstätten der Steinkohlen gezaubert, unserem Deutschland einen durchaus fremdartigen Charakter geben würde.

Es ist schon mehrfach versucht worden, nach den vorhandenen versteinerten Ueberresten der Steinkohlenpflanzen landschaftliche Bilder jener Pflanzenwelt zusammenzustellen. Nebenstehendes Bild hat auch einen solchen Versuch gemacht und ein Blick auf dasselbe lehrt uns, daß Saarbrücken und Zwickau, wenn wir sie wieder mit einer solchen Pflanzenwelt umgürten könnten, das Ansehen von Städten der Südsee-Inseln oder von Peru gewinnen würden. Damit soll jedoch nur ein oberflächlicher Vergleich ausgesprochen und keineswegs gesagt werden, daß auf den Südsee-Inseln und in Peru oder überhaupt irgendwo auf der Erde eine solche Pflanzenwelt zu finden sei. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß von allen jenen Pflanzenarten keine einzige auf uns gekommen ist, ja, daß die meisten Geschlechter und sogar ganze Familien derselben völlig ausgestorben sind.

Machen wir mit der alle Hindernisse überwindenden Gedankenlocomotive eine botanische Excursion in einen Steinkohlenwald. Auch die Naturwissenschaft, die doch vor allem sich unbestechliche Nüchternheit bewahren muß, auch sie hat ihre Zaubermärchen und Feengärten. Es würde meinen Lesern die geistige Rückkehr in längst verklungene Aeonen oder Zustände, und somit den Erfolg meiner Worte erleichtern, wenn sie mit diesem Blatte in der Hand hinuntersteigen könnten in einen tiefen Kohlenschacht, um in einer ausgebeuteten Weitung bei dem schwachen Scheine des Grubenlichtes unser Bild zu betrachten und die nachfolgende Schilderung zu lesen.

Unser Blick dringt nicht in weite Ferne und unser Fuß schweift nicht auf bequemen trockenen Pfaden, denn eine dichte Pflanzenwelt hüllt uns in ein mattes Dämmerlicht und der Boden ist von Wasser durchtränkt und vielfach von Lachen und natürlichen Canälen verdeckt. Die Luft ist mit feuchtwarmen Dünsten erfüllt und das Sonnenlicht fällt nicht in blendenden Strahlen von einem blauen Himmelsgrund hernieder, sondern durchleuchtet als weißer Schein die dampferfüllte Atmosphäre.

Der Ort, wo wir uns befinden, ist ein Punkt in dem pflanzenreichen flachen Ufergelände, welches einen großen Binnensee umschließt, [573] dessen süßes Wasser in zahlreichen Buchten und Kanälen in seine Ufer eindringt.

Ehe wir die einzelnen Formen dieser uns fremden Pflanzenwelt mustern, lassen wir die nicht minder befremdende Stille des Ortes in unser Gemüth einziehen. In den Wipfeln der uns umragenden Bäume tönt nicht das kräftige Rauschen unserer deutschen Laubwälder, sondern nur ein feines, melancholisches Säuseln bebt über uns in der Luft, ähnlich demjenigen, welches der Abendwind hervorruft, wenn er durch die feinbenadelten Kronen eines Kieferngehölzes auf einsamer Hügelkuppe im Felde streicht. Kein einziger thierischer Laut mischt sich in dieses verstohlene Kosen des warmen Lufthauches mit der zarten Belaubung. Ein frischer grüner Wald ohne Sänger, etwas uns völlig Neues, umgibt uns; ja, selbst die Insectenwelt ist nur durch wenige vereinzelte Stücke vertreten. Dagegen ist das Wasser von Thieren mancherlei Art belebt und zwischen ihm und dem Lande spielt schon hier wie auch heute eine Amphibie, der sonderbare Archegosaurus, eine Eidechse, die Vermittlerrolle. Schnecken und Muscheln bedecken den schlammigen Grund der Gewässer, über welchem die Fische in bereits sehr großer Mannichfaltigkeit der Arten ihr Element durchgleiten, hier, wo Alles stumm ist, den Beinamen der stummen eigentlich nicht verdienend. Höheres zeigt uns die Thierwelt nicht, denn Vögel und Säugethiere ruhen noch tief in der unerschöpflichen Vorrathskammer schöpferischer Gestaltungspläne.


Ein Blick in einen Steinkohlenwald.


So ist denn unsere Aufmerksamkeit beinahe allein an die Pflanzenwelt gewiesen.

Der erste Blick erinnert uns an den melancholischen Charakter unserer Fichtenwälder und diese unwillkürliche Vergleichung läßt es uns Anfangs übersehen, daß hier etwas fehlt, weil es ja auch unseren Fichtenwäldern, wenn auch nicht so gänzlich, mangelt: der bunte Blüthenschmuck. Grün und nur Grün in vielen Abstufungen. Die Form der Blätter ist im wesentlichen nur eine dreifache: die einfache Nadelgestalt unserer Kiefern und Fichten, die säbelförmigen Blätter unserer sogenannten Schilfgewächse und die fein zusammengesetzten Blätter der Farrenkräuter. Nur einige niedrige unscheinbare Pflanzen zeigen noch eine andere Blattform. Unsere Erinnerung an die Pflanzenschätze der Gewächshäuser macht uns nach und nach vertraut in dieser Geister-Pflanzenwelt. Wir glauben Casuarinen und Araucarien, Fichten, Pandanen und baumartige Farren zu sehen, welche letztere auch in der That in reicher Mannichfaltigkeit in diesem unterirdischen Zauberhaine vor uns stehen. Aber jene Casuarinen und die anderen täuschenden Formen sind etwas ganz Anderes und mit Ausnahme der Farrenkräuter haben wir durchaus nur Pflanzen vor uns, welche höchstens Familienähnlichkeit und nur wenige, welche Gattungsverwandtschaft mit heutigen haben.

Keiner der Bäume trägt in die Augen fallende Früchte, noch weniger solche, welche zur menschlichen Nahrung dienen könnten. Doch dazu war ja auch in jenen Jahrtausenden kein Bedürfniß [574] vorhanden, wo das Menschengeschlecht noch tief im Schlummer des Nichtseins ruhte und noch lange auf den Weckruf zu warten hatte, welcher erst dann allmählich laut und immer lauter werden konnte, als die Bedingungen des Entstehens und des Bestehens des Menschengeschlechts sich immer günstiger gestalteten. Wir befinden uns also bei unserer gedachten Wanderung durch den Steinkohlenwald recht eigentlich in einer Lage, die für menschliches Sein gar nicht angethan ist.

Mit steigendem Interesse betrachten wir die Einzelnheiten. Vor Allem fallen uns schlanke Stämme dicht vor uns in die Augen, denn ihre Rinde zeigt eine Zierlichkeit und Regelmäßigkeit der Bildung, die wir noch an keinem lebenden Gewächse sahen. Die Wissenschaft gab diesen Bäumen auch ganz dieser Rindenbeschaffenheit angemessene Namen. Hier steht eine Gruppe schlanker Schuppenbäume, Lepidodendron, (links im Vordergrunde des Bildes) – deren oben gabelästig getheilte Stämme zierlich beschuppten Schlangenleibern gleichen. Die reiche luftige Krone besteht aus dicht und lang benadelten Zweigen, und gewinnt dadurch eine große Aehnlichkeit mit unsern Kiefern, namentlich mit der aus Nordamerika eingeführten Weimuthskiefer. Die Schuppenbäume haben jedoch mit den Nadelhölzern unserer Tage nichts gemein; sie sind die kräftigen Ahnen eines in der Gegenwart verkommenen Geschlechts, der Bärlappgewächse, Lykopodien, welche jetzt entweder wie die Moose, denen sie auch ähnlich sind, am Boden kriechen, oder höchstens 1 bis 2 Fuß hoch sich über denselben erheben. An den Spitzen der Triebe zeigen die Schuppenbäume, wie manche unserer Bärlapparten, zapfenähnliche Bildungen, zwischen deren Blättchen sie die kleinen Fruchtkapseln tragen.

Durch einen kleinen Canal getrennt, treffen wir – (rechts im Vordergrunde) – eine schlanke Sigillaria, Sigillaria, was wir deutschthümelnd Siegelbaum übersetzen müssen. Die glatte, zarte Rinde derselben ist reihenweise mit zierlichen Eindrücken besetzt, welche wie bei den Schuppenbäumen die bleibenden und sich sogar noch fortbildenden Spuren der abgefallenen Blätter sind. Diese elegante Rindenbildung ist bei dieser Gattung eben so wie bei den Schuppenbäumen beinahe das einzige Mittel, die verschiedenen Arten zu unterscheiden, deren man von ihnen weit über 30 und bei den Schuppenbäumen über 40 unterscheidet.

Doch wir schauen uns den unserm Standpunkte, der durch das Wasser sehr beschränkt ist, weiter um und bemerken – (rechts im Mittelgrunde des Bildes) – mehrere Arten baumartiger Farrenkräuter, einer Pflanzenfamilie angehörend, welche Jeder liebt, der ihre eigenthümliche Organisation und Laubentfaltung und ihre besondere Bedeutung als Glied in der Reihe des Pflanzensystems neben ihrer einfachen Schönheit kennt. Während die gegenwärtige Flora Europa’s nur etwa 50 Arten zählt, welche nur einen kleinen Bruchtheil der etwa 6000 Arten betragenden Flora Europa’s bilden, waren die Farrenkräuter in der Steinkohlenflora die herrschende Pflanzenclasse. In runder Summe kann man etwa 500 Pflanzenarten aus den Schichten der Steinkohlenformation als bekannt annehmen, und von diesen sind 250 Farren, über 100 schuppenbaumartige Bärlapppflanzen und baumartige Schachtelhalme, welche beide den Farrenkräutern sehr nahe verwandt sind. Hier rechts ganz in unserer Nähe bei dem Stamme einer Sigillaria steht ein junger kräftiger Farrenstock, an welchem wir die eigenthümliche spirale Entfaltung der zwei jungen Blätter sehen, welche jedoch auch an den entfernter stehenden baumartigen deutlich erkennbar ist.

Was sind das für sonderbare Gewächse, welche zu den Füßen jener zwei sich kreuzenden Farrenbäumchen dicht am Ufer im Wasser stehen? Wenn bei den andern bisher betrachteten unsere hülfreiche Einbildungskraft in der Hauptsache das Richtige getroffen haben wird, so ist diese Pflanze, von der drei Stöcke vor uns stehen, vielleicht nichts weiter als Phantasiegebilde; wenigstens wird sie von vielen Naturforschern dafür erklärt, indem sie behaupten, daß diese Gebilde, die man namentlich in den englischen Kohlengruben häufig findet, nicht sowohl selbstständige Pflanzenarten, sondern nichts Anderres als Wurzelstöcke der Sigillarien seien, deren Stamm von jenen abgebrochen sei, und die man allerdings fast immer in der unmittelbaren Nachbarschaft der Stigmaria findet, wie man diese räthselhaften oder wenigstens streitigen Gebilde nennt.

Links jenseits des Wassers bemerken wir, den Farrenbäumchen gegenüber, einen dichten Trupp von baumartigen Gewächsen, welche die regelmäßige längsgestreifte quirlartige Zweigstellung der Kiefern zeigen. Es sind Calamiten, deren regelmäßig längsgestreifte Stämme in den Schiefer- und Sandsteinschichten der Steinkohlenformation außerordentlich häufig vorkommen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sie zu der Familie unserer Schachtelhalmgewächse gehören. Wie bei den Schuppenbäumen, so glaubte man auch von den Calamiten bis heute, daß ihre auf uns gekommenen überlebenden Familienverwandten sämmtlich nur schwächliche, kleine, höchstens einige Fuß hohe Pflanzen seien, und man erblickte darin ein Zurückgehen der schaffenden Natur in diesen niedern Pflanzenordnungen, während in den höheren ein Fortschreiten stattfindet. Allerdings waren die bis heute bekannten Schachtelhalme nur schwächliche Gebilde gegenüber den Calamitenbäumen der Steinkohlenflora. Ganz neuerdings hat jedoch Spruce in den Urwäldern von Peru Schachtelhalme von 20 bis 30 Fuß Höhe gefunden, so daß dadurch der Abstand zwischen der ältesten und der heutigen Pflanzenwelt wieder um einen Schritt geringer geworden ist.

Die schlanken Stengel, welche hier vor uns aus dem Wasser emportauchen, sind dagegen schwer zu deuten und haben in der Jetztwelt nicht ihres Gleichen. Es sind Asterophylliten und Annularien, welche durch ihre quirlförmig stehenden Blätter einigermaßen an unsere Labkräuter erinnern.

Den Hintergrund unserer Landschaft bilden die majestätigschen Gestalten von Nadelbäumen, welche sich aber sehr von den heutigen unterscheiden.

Dies ungefähr ist es, was uns die von der Wissenschaft erleuchtete Vorstellungsgabe über die Steinkohlenflora vormalt. Außerordentlich groß muß die Fruchtbarkeit des jugendlichen Bodens gewesen sein in der Hervorbringung so großer Pflanzenmassen, daß aus ihnen die unerschöpflichen Steinkohlenvorräthe sich bilden konnten; und mit Interesse sehen wir unser Bild wieder an, denn wir erblicken auf ihm die geistig wiedererweckten Gründer unserer großartigen Industrie. Wie sie aus dieser wurden, soll uns im nächsten Artikel beschäftigen.




Der Dampf-Pflug.

Von dem Spaten und dem Pfluge, womit seit Jahrtausenden der Getreide- und Fruchtacker bearbeitet ward, bis zu den unzähligen, complicirten und zum Theil genialen Hand- und Dampfmaschinen, welche jetzt in England und Amerika über und durch den Boden fliegen, um in Stunden bessere und mehr Arbeit zu verrichten, als der Bauer mit seinen Ochsen in ganzen Wochen, ist ein großer, weiter Culturschritt, zwischen welchem ungeheuere Massen von angewandter Mathematik und Mechanik aufgespapelt liegen. Und doch findet man noch überall neben dem vollkommensten Ackerbau mit Dampfmaschinen die rohesten Spaten und einfachsten Pflüge, wie sie von einem Jahrhundert zum andern sich von Vater auf Sohn und Enkel forterbten. Die kleinen Farmer und Gärtner in England arbeiten noch mit den rohesten Werkzeugen neben den triumphirendsten Dampfpflügen, und die ermüdende Menschenhand muß noch concurriren mit den nie ermattenden feurigen Drachen oder räder- und hebelreichen Mechanismen, welche für die Menschen dreschen, Getreide von der Spreu und vom Staub sichten, Häcksel schneiden, Getreide säen, mähen und mahlen, Knochen in Düngerstaub zermalmen, Rüben schneiden, buttern, käsen und sonstige Bauerarbeiten verrichten. Ja, man hat schon versucht, mit einer einzigen, irgendwo feststehenden Dampfmaschine alle diese Arbeiten und noch mehr gleichzeitig verrichten zu lassen. Der einzige Kolben, der von der Dampfkraft gedankenlos, aber zuverlässig, sicher und unermüdlich auf- und abgetrieben wird, zieht hier den Pflug, dort drischt er, an einer anderen Stelle schneidet er Häckeling, und auch zum Buttern läßt er sich dabei herab.

Als Bauer und Ackersmann steckt der Dampf-Riese noch in den Kinderschuhen und in allerlei kindischen Versuchen, die aber alle in der einen oder andern Weise Vorzüge vor der Menschenarbeit haben. Im Allgemeinen sind die Apparate, welche als hand- oder dampfbewegte Mechanismen die Menschen-Plackerei beim Ackerbau ersetzen und überwiegen sollen, noch zu complicirt und theuer. Aber [575] unzählige Köpfe und Hände arbeiten fortwährend praktisch und theoretisch daran, auf einfache, wohlfeile Wege zurückzukommen, d. h. den simpeln Spaten und den rohen Pflug für die höhere Mechanik wiederzugewinnen und deren Unbeholfenheit und Langsamkeit zu überwinden.

Ohne uns hier auf das bunte Gebiet der Maschinerie für den Ackerbau im Allgemeinen einzulassen, wenden wir uns sofort zu einer bestimmten, der interessantesten Sphäre und zwar dem Dampfpfluge. Da es nun deren auch wieder eine große Menge von Arten gibt, über deren Werth man noch nicht im Klaren ist, scheint es für unseren Zweck am Gerathensten, uns auf einen der in England beliebtesten und zwar auf bestimmte Experimente damit einzulassen.

Dies ist der Dampfpflug, der durch eine feststehende Maschine getrieben wird. Die Experimente damit wurden von William Smith in Woolston, Berkshire, vorgenommen. Einem Berichte darüber an Disraeli sind die Hauptthatsachen dieses Artikels entnommen. Der Pflug wendet die Oberfläche des Bodens blos um, ohne ihn gehörig zu lockern, ohne Unkrautwurzeln zu vertilgen. Im Gegentheil zerreißt er diese in der Regel blos und vervielfältigt sie. Der Spaten kann den Pflug nicht ersetzen, so daß seine Vorzüge vor dem Pfluge für Getreidefelder kaum in Betracht kommen können. Man hat mit dem Spaten den Boden mehr in der Gewalt und kann ihn in kleinen Stücken aufgraben, umwenden und von wuchernden Unkrautwurzeln aus dem Gröbsten befreien. Aber das Umwenden gelingt dabei nur theilweise. Pflug und Spaten in ihrer Wirkung vereinigt wären schon eine vollkommenere Bearbeitung des Bodens. Ersterer wendet blos roh um und in der Regel blos auf einer Tiefe von 5-6 Zoll. Der Spaten dringt leicht bis 12 Zoll tief und die nur theilweise gelingende Umwendung des Bodens wird durch tiefe Auflockerung und Zerstückelung des Grundes mehr als aufgewogen. Gute Vorbereitung des Bodens zu reichen Ernteerträgen müßte die Arbeiten des Pfluges und Spatens vereinigen. Dies thut der Dampfpflug, wie ihn W. Smith anwandte. Der mit dem Dampfpfluge bearbeitete Acker lieferte durchschnittlich 461/2 Scheffel Weizen von jedem Acker, der gewöhnlich gepflügte blos 421/2 Scheffel. Dieses Ergebniß ist schon allein etwas werth, steigt aber noch bedeutend, wenn wir erfahren, daß die Beackerung mit Dampf weniger kostete, als die Bestellung mit Menschen- und Pferdekraft.

W. Smith fing im Winter 1855–56 mit dem Dampfpfluge an und fuhr damit auf 100 Morgen bis zum heutigen Tage fort. Die bisher gewonnenen Ergebnisse laufen auf folgende Thatsachen hinaus. Verschieden construirte Pflüge je nach Boden und Saat (S. Fig 1., 2., 3. und 4. auf unserer Abbildung) von einer Siebenpferdekraft Dampfmaschine gezogen, wendeten und lockerten den Boden so, daß er porös blieb und die schädlichen Unkrautwurzeln auf die Oberfläche kamen, wo sie verdorrten und der so bearbeitete Acker 9 Quarters 2 Scheffel Hafer, 5 Quarters 1 Scheffel Erbsen, 6 Quarters 3 Scheffel Bohnen per Morgen lleferte.

Was die Pflüge betrifft, so wandte er Nr. 3. für Herbstsaat an. Er ist von Eisen und zieht drei Untergrund-Schare, das mittelste 30 Zoll vor den beiden andern, tief durch den Boden. Durch das Mittelrad wird die Tiefe, bis zu welcher die Schare greifen sollen, geregelt. Vom Dampfe widerstandslos gezogen, reißt er spielend den Boden 8 und mehr Zoll tief und über 1 Yard breit auf, so daß er dahinter durcheinander bröckelt und schädliches Wurzel- und Queckenwerk auf die Oberfläche wirft.

Nr. 4. wird zur Vorbereitung brachen Landes und zum Pflügen im Frühlinge gebraucht. Eine Dampfmaschine kann damit in einem Tage 12 Morgen Landes umwühlen, um- und durchpflügen.

Nr. 2. ist ein Untergrund-Rajolpflug, sehr gut für Herbst-Bestellung. In der Construction ähnlich dem Nr. 3., hat er hinten zwei Untergrund-Schare, in der Mitte ein Schar mit doppelten Streichbretern und vorn das übliche Sech. Die hinteren Untergrund-Schare sind so gestellt, daß sie 5 Zoll tiefer dringen als das mittelste Pflug-Schar. So wird der Boden in 28 bis 36 Zoll breite Furchen auseinander gelegt und zugleich unter Grund aufgerissen, so daß Wind und Winterwetter erfolgreich darauf einwirken und die nöthigen chemischen Zersetzungen unterstützen, den Boden lüften, austrocknen und ertragkräftig machen können.

Der einfache Untergrund-Pflug Nr. 1. wird auf dem von Nr. 2. bearbeiteten Boden mit 3 Pferden gebraucht, um die Furchenrücken wieder in 15 bis 20 Zoll breite und 18 bis 22 Zoll tiefe neue Furchen aufzureißen und den Boden wieder aufs neue der Luft und dem Lichte zu öffnen.

Um diese und andere Pflüge vom Dampfe ziehen zu lassen, macht’s Mr. Smith, wie Figura zeigt. Die Mitte unserer Abbildung stellt ein Feld von 12 Morgen dar und die Art, wie der Dampf pflügen muß. Wir sehen im Vordergrunde die feststehende Dampfmaschine, welche den Krahn oder die Winde vor ihr dreht. Letztere besteht aus Zwei großen, trommelartigen Körpern, aus welchen sich der starke Draht der den Pflug zieht, auf- und abwindet. Die eine Trommel zieht hin, die andere her, je nachdem die Dampfkraft der Maschine mit einem einfachen Mechanismus auf sie übergetragen wird. C1, C2, C3, C4 sind Drehscheiben, um welche das eiserne Tau läuft, E1, E2, E3, E4 die Anker, durch welche sie gestellt und festgehalten werden, so daß der Pflug sich danach ziehen lassen und richten muß. Um die Friction der Ziehenden Taue auf dem Boden etc. zu vermeiden, läßt man ihn über Rollen laufen, wie man sie auf allen vier Seiten des Taues angedeutet findet. Diese müssen auf dem Boden leicht beweglich sein, damit sie vor dem Pfluge bequem weggenommen und hinter demselben wieder placirt werden können.

Das nöthige Personal besteht aus einem Manne an der Maschine, einem andern an der Krahnwinde, dem Pflüger und einem Assistenten, um die Rollen zu entfernen und wieder zu placiren, endlich einem Anker-Manne, der durch verschiedene Fixirung der Anker die Richtung des Pfluges und die Furchen bestimmt. Von letzteren sind, wenn’s schnell gehen soll, zwei erforderlich neben C2 und C3. Am Ende des Pflugbaumes befindet sich eine Handhabe von starkem Schmiedeeisen, um daran das ziehende Eisentau zu befestigen. Man nehme dies als geschehen an und den Pflug in Bewegung von C2 nach C3, gezogen von dem sich über C3, C4 und C1 und die Krahnwinde wickelnden Zugtaue, dessen anderes Ende sich von der zweiten Krahnwinde um C2 herum loswickelt. Der Pflug wird, bei C3 angekommen, durch ein Signal für den Maschinenmann angehalten, Drehscheibe und Anker bei C3 zu einer neuen Furche gestellt, der Pflug gewendet, die Bewegung der Krahnwinden rückwärts gerichtet, die Maschine wieder in Thätigkeit gesetzt und eine neue Furche in umgekehrter Richtung gezogen. Diese Operation, um den Pflug wieder in umgekehrter Richtung in Bewegung zu setzen, dauert nicht länger, als 1/4 bis 1/2 Minute.

Während sich der Pflug von C3 nach C2 bewegt, schiebt der Ankermann E3 in der Richtung nach C4. Aehnlich macht’s der andere Ankermann am Punkte C2, während der Pflug sich wieder in entgegengesetzter Richtung bewegt. Dieser Proceß wird wiederholt, bis von dem einen Ende her, von C3, der Punkt C4 und von dem andern, E6, der E1 erreicht und somit die ganze Fläche Nr. 1 bestellt ist. Um die andere Hälfte Nr. 2 ebenso zu bearbeiten, werden von den Endpunkten der gepflügten Theile aus die Punkte C3, C4 und C5 beankert, und das ganze Feldstück mit dem Zugtaue umspannt, so daß es nun vollständig beherrscht und eben so, wie das erstere, mit Furchenlinien durchzogen werden kann. Die bequemste Größe für ein Feldstück ist nach Mr. Smith etwa 10 bis 12 Morgen und die beste Entfernung zwischen C2 und C3 etwa ein Achtel einer englischen Meile.

Ohne Rücksicht auf die Details unserer Abbildung wird man nun leicht begreifen, daß der Pflug von den Zugtauen der beiden Krahnwinden hin- und hergezogen und dessen Richtung und Furchen durch die Anker und Drehscheiben bestimmt werden. Also eine sehr einfache Operation, die man allenfalls durch ein Stück Bindfaden und zwei in entgegengesetzter Richtung gedrehte Winden anschaulich machen kann.

Was die Kosten, die Zeit und Bestellungsart des Dampfpflügens betrifft, so gibt Mr. Smith darüber folgenden Aufschluß. Im September vorigen Jahres pflügte er mit Nr. 3. 30 Morgen Stoppelfeld in 6 Tagen für 7 Pfund und 15 Schillige oder 5 Schillinge 2 Pence per Morgen, alle Ausgaben für Leute, Feuerung u. s. w. mit eingerechnet. Hierauf wurde mit dem Dampfpfluge Nr. 2 das Land unter Grund gepflügt und für die Winterwitterung geöffnet. Dies dauerte 8 Tage mit einem Kostenaufwande von 8 Schillinge 8 Pence per Morgen. Eine zweite Untergrundpflügung mit Pferden von 18 Zoll tief brachte das Feld in musterhafte Ordnung.

Diese erste, skizzenhafte Veranschaulichung der Dampfpflugarbeit möge genügen, da wir hier nicht für den Landmann schreiben, damit er auch etwa gleich Dampf anspanne, statt der Pferde, sondern für Land und Leute im Allgemeinen, die blos ein Bild von den [576] Operationen bekommen sollen, mit welchen man in England und Amerika zu dampfpflügen angefangen. Man versucht’s noch auf verschiedene andere Weise, ist aber bisher noch mit keiner vollkommen zufrieden. Die königliche Agricultur Gesellschaft hat über 20 Preise auf verschiedene Ackerbau-Maschinen ausgesetzt und den ersten von 500 Pfund Sterllng auf den besten Dampfpflug. Beweises genug, daß man zugibt, den besten noch nicht gefunden zu haben.

Aber es ist auf tausenderlei Weise theoretisch und praktisch eine neue, wissenschaftliche und künstlerische Bahn für den Ackerbau, den goldenen Boden alles menschlichen Gedeihens, gebrochen worden und schon in den mannichfaltigsten Regungen betreten und befahren.


Der Dampfpflug.


Der eigentliche Zweck des Dampfpfluges ist, eine größere Tiefe zu erreichen und so den bisher unbenutzbar bleibenden Unterboden mit zu verwerthen, aus der Tiefe zu gewinnen, was an Ausdehnung auf der Oberfläche etwa mangelt, außerdem die unten wuchernden schädlichen Wurzeln auf die Oberfläche zu bringen und so von Luft und Sonne zerstören zu lassen (oder zu entfernen), Summa Summarum den durch flache Cultur erschöpften Boden aus der Tiefe zu recrutiren und so bessere und ergiebigere Ernten zu sichern.

Was unsere Abbildung betrifft, so fügen wir hinzu, daß die lebendigen Einhegungen der Ackerfläche nicht etwa Phantasie, sondern über den ganzen englischen Boden millionenfach in Kreuz und Quere gezogene lebendige Einhebungen und Verbarricadirungen sind, theils um persönliches Grundeigenthum überhaupt besser zu sichern, theils um Kühe, Schafe und Pferde im Herbste und Winter darauf ohne Hirten zu weiden. Gemeinde-Hirten und Gemeinde-Triften gibt’s nicht in England. Jeder für sich ein- und abgeschlossen in Haus, Heerd, Herz und Hutung.




Ein Abend bei Mendelssohn mit Lessing.

Es war am Freitag zur Abendstunde; der jüdische Gottesdienst ging zu Ende, der Vorbeter hatte schon das Schlußgebet gesprochen oder vielmehr in singendem Tone vorgetragen, wobei er es nicht an den üblichen Bewegungen und Schütteln, Beugen und Verneigen des Oberkörpers fehlen ließ. Die Gemeinde verließ die in der Heidereitergasse gelegene große Synagoge und strömte in ziemlicher Unordnung und mit orientalischer Lebhaftigkeit zu dem geöffneten Portale hinaus, um sich in den benachbarten Straßen und Winkelgassen zu verlieren, wo die meisten Juden in Berlin damals zu wohnen pflegten. – Mitten in dem summenden Schwarme befand sich ein Mann, der unter seinen beweglichen Glaubensgenossen eine hervorragende Stelle einzunehmen schien, denn wo er sich zeigte, machte man ihm ehrerbietig Platz und begrüßte ihn mit dem üblichen Zurufe: „Gut Schabbes, Reb Moses!“

Diesen Vorzug hatte er jedoch keineswegs seiner körperlichen Gestalt, noch weniger seinen Reichthümern zu verdanken. Er war klein und verwachsen, eine merkliche Erhöhung, die man fast einen Buckel nennen konnte, verunstaltete seinen Rücken; sein Hals war schief und nach einer Seite geneigt, aber auf diesem Halse ruhte ein Kopf, der bei genauerem Anschauen durch seinen geistigen Ausdruck unwillkürlich Achtung und Interesse einflößen mußte. Die hohe Stirn, mit bräunlich krausem Haar bewachsen, trug den Stempel, welchen die großen und tiefen Ideen wie einen Abglanz des Ueberirdischen um das Haupt des Denkers zurücklassen; um die feinen Lippen schwebte ein eigenthümliches Lächeln, das man versucht war für ironisch zu halten, wenn nicht die Milde und Freundlichkeit des ganzen Mannes dieser Annahme widersprochen hätte. War es Ironie, so schien es die göttliche Ironie eines Sokrates zu sein. – Zuweilen aber nahm dieses Lächeln einen wahrhaft schmerzlichen Ausdruck an und man bemerkte dann wohl um den Mund jenen traurigen Zug, welchen Jahrhunderte voll Leid und Schmach dem Volke der Juden aufgedrückt. – Ein unaussprechlicher Zauber aber lag in den dunklen Augen dieses Mannes, welche trotz ihres Glanzes so sanft und freundlich dreinschauten, daß man über ihre friedliche Klarheit seine Mißgestalt vollkommen vergessen mußte. Es war die Tiefe des Philosophen, die Milde des Menschenfreundes, [577] mit der unschuldigen Schalkhaftigkeit eines Kindes gepaart, die so wunderbar aus diesen Blicken leuchteten. – Seine etwas bleichen und kränklich aussehenden Wangen wurden, von einem schmalen Bartstreifen wie von einem Rahmen eingefaßt. Er war einfach, aber reinlich und sorgfältig gekleidet mit einem zimmetbraunen Frack ohne jede Stickerei, die damals von den besseren Ständen mit Vorliebe getragen wurde. Kurze Hosen von geschorenem Sammet, seidene Strümpfe und Schuhe mit silbernen Schnallen vollendeten seinen Anzug; ein dreieckiger Hut mit Band eingefaßt bedeckte seinen Kopf; in der Hand trug er das mit Messing beschlagene Gebetbuch und einen kleinen grünen Beutel, der den Gebetmantel enthielt.

Freundlich dankend ging er an den Glaubensgenossen vorüber, die sich meist durch seinen Gruß geehrt fühlten; nur einige finstere Zeloten, denen seine tolerante Gesinnung ein Aergerniß war, wandten ihr Gesicht ab und murmelten eine Verwünschung in den Bart, dem Abtrünnigen fluchend, für den sie ihn hielten.

Dieser Mann war der schon damals bekannte und berühmte jüdische Philosoph Moses Mendelssohn.

An seiner Seite ging ein polnischer Jude, der erst seit Kurzem nach Berlin gekommen war, hauptsächlich, um Moses kennen zu lernen. Rabbi Isaak Satanof konnte seine orientalische Abkunft noch weniger wie Mendelssohn verleugnen. Dafür sprachen die langen, wie Propfenzieher gedrehten, schwarzen Locken, welche unter der hohen Pelzmütze hervorquollen; die gebogene Nase, die dunklen, unstäten Augen und die echt jüdischen Gesten der Hände und des ganzen Körpers, womit er seine Rede zu begleiten pflegte. Trotz seiner schlechten und gebückten Haltung schien er fast noch einmal so groß, wie sein philosophischer Freund zu sein, neben dem er wie ein Riese neben einem Kinde dahinschritt.

Das seltsame Paar mochte die Aufmerksamkeit eines vorübergehenden Officiers auf sich gezogen haben, der sich nicht das Vergnügen versagen konnte, sein Müthchen an den Juden zu kühlen, die zu jener Zeit ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung selbst für die besseren Stände waren.

„Jude! Nischt zu handeln?“ fragte der Lieutenant, den buckligen Mendelssohn anstoßend.

„O ja!“ antwortete dieser schnell gefaßt und mit seinem feinen Lächeln. „Nur fürchte ich, daß der Herr Officier von unserer Waare keinen Gebrauch machen kann.“

„Na, womit handelt denn der Mauschel?“

„Mit Witz und Verstand!“ entgegnete Moses und ließ den verblüfften Officier stehen, der sich, so abgeführt, mit einem lauten Fluch entfernte.

Ohne weitere Abenteuer gelangten die Beiden in Mendelsohns Wohnung, welche in der Spandauerstraße Nummer 68 lag. Das Zimmer, in welches sie traten, war zu Ehren des kommenden Sabbats festlich geschmückt, der Fußboden mit frischem Sand gestreut, der Tisch mit einem reinen, weißen Leinentuch bedeckt, auf welchem die silberne Lampe mit sieben Armen stand, ein Hochzeitsgeschenk des reichen Seidenfabrikanten Bernhard, bei dem Moses, trotz seines hohen Rufes, noch immer als Buchhalter in Diensten stand, zufrieden mit seinem bescheidenen Loose. – Die übrigen Möbel waren überaus einfach, einige Stühle ohne Polster mit hohen Rückenlehnen, ein Bücherschrank, der eine Auswahl der vorzüglichsten deutschen, französischen und englischen Schriftsteller enthielt, dazwischen auch viele seltene hebräische Werke, selbst römische Classiker und griechische Autoren, die letzteren in Uebersetzung. Eine derartige Bibliothek war in dem Hause eines Juden eine unerhörte Seltenheit in damaliger Zeit, wo es fast für ein Verbrechen galt, andere Bücher, als hebräische, zu lesen. Für Moses knüpften sich an diese Bücher noch die schönsten Erinnerungen an die Vergangenheit. Diesen zerlesenen „Cicero“ hatte er für die Ersparnisse gekauft, die er sich an seinem Leibe abgedarbt; er hatte Wochen lang gehungert, um ihn endlich zu erlangen. Heimlich und mit Hülfe eines Lexikons, worin er jedes Wort einzeln nachschlug, hatte er Latein gelernt, oft beim Scheine des Mondes oder im Zwielicht der Morgendämmerung, weil ihm das Geld fehlte, um sich das nöthige Oel für seine Lampe anzuschaffen.

Von heißem Wissensdrange beseelt, war er aus dem kleinen Dessau nach dem großen Berlin gekommen, wo ein neuer Geist unter den Augen des großen Friedrich erwacht war, der Geist allgemeiner Bildung und Aufklärung. Von diesem Geiste wurde auch der arme Judenknabe so mächtig ergriffen, daß ihm kein Opfer, keine Anstrengung, selbst der Ruin seiner Gesundheit, die er durch übermäßigen Fleiß zerstörte, zu groß oder zu schwer schien. Seinen Körper gab er für Geist hin und für Wissen tauschte er Gesundheit ein.

Ein solches Streben konnte nicht unbemerkt bleiben, er fand Freunde und Gönner, die ihn materiell und gelstig unterstützten. Ein junger Arzt gab ihm unentgeltlich Unterricht im Lateinischen, ein College desselben stellte dagegen Mendelssohn selne große und auserlesene Bibliothek zur Verfügung, wodurch er mit der neuesten Literatur, besonders mit den philosophischen Werken eines Leibnitz und Wolf bekannt wurde. Mehrere talentvolle Jünglinge suchten den scheuen Moses auf, der in ihrem Umgange seine bisherige Einseitigkeit verlor und eine neue, weitere Weltanschauung erlangte, als der enge, beschränkte Geist seiner talmudischen Studien gestattete. Er bekam auch später einige Schüler, denen er Unterricht ertheilte, wodurch er den nothdürftigen Lebensunterhalt gewann, der gerade hinreichte, um ihn vor dem Verhungern zu bewahren. Endlich war er Hauslehrer in der Familie des reichen Seidenhändler Bernhard geworden und gegenwärtig Aufseher und Geschäftsführer in dessen Fabrik.

Das Alles erzählte nun Mendelssohn seinem Gaste, den er zu Tische geladen hatte, während die emsige Hausfrau ab- und zuging, um noch allerlei Anordnungen zu treffen. Endlich wurde das Essen von der Köchin aufgetragen und auf den Tisch gesetzt. Der Hausherr erhob sich und sprach den Segen über die geflochtenen und mit Mohn bestreuten Weißbrode, welche am Sabbath in keinem frommen Judenhause fehlen dürfen; ebenso verfuhr er mit dem Weine, den er in den silbernen Becher goß, wobei er ebenfalls einen frommen Spruch hersagte. Der Becher wanderte darauf von Mund zu Mund und Jeder trank daraus nur einen Schluck. Das Mahl war einfach und bestand hauptsächlich aus einem Gericht schmackhaft zubereiteter Fische, welche am Freitag Abend allen anderen Gerichten vorgezogen wurden.

„Laßt es Euch schmecken,“ sagte Mendelssohn zu seinem Gaste, ihn zum Zugreifen einladend.

„Ihr sorgt,“ entgegnete Isaak Satanof im blumigen Styl des Orients, „nicht nur für den Leib, sondern auch für den Geist; Euere Worte sind wie Manna in der Wüste und Euere Lehren wie edler Wein. Ihr seid ein Licht in Israel; um so weniger begreife ich die Vorsehung, daß sie Euch zum Diener eines so rohen und ungebildeten Mannes, wie dieses Herrn Bernhard, gemacht hat, der nichts gelernt hat und in jeder Beziehung weit unter Euch steht. Man möchte sich fast versucht fühlen, an ihrer Weisheit zu zweifeln.“

„Das wäre ein großes Unrecht!“ entgegnete Mendelssohn im milden Tone. „Die Vorsehung weiß, was sie thut, und hat immer Recht, denn wenn ich an der Stelle des Herrn Bernhard wäre und er an der meinigen, so wüßte ich ihn nicht zu gebrauchen; ich könnte ihn nicht anstellen, wie er mich, da er leider nichts gelernt hat.“

„Ja, ja!“ lachte der Gast. „Ihr habt dieses Mal, wie immer, Recht. Die Vorsehung muß für die Dummen sorgen. Dem Einen gibt sie Reichthum, dem Andern Wissen und Gelehrsamkeit. Ihr seid eben so gut, als klug, und darum ertragt Ihr die Ungerechtigkeit des Schicksals mit derselben Sanftmuth, wie die Schmähungen und Verleumdungen der Menschen. Wo mir die Faust zuckt, habt Ihr höchstens ein mitleidiges Lächeln, und wo ich gleich dreinschlagen möchte, da zuckt Ihr nur mit den Achseln. Denkt Ihr, ich habe nicht bemerkt, wie die eifrigen Finsterlinge Euch verwünschten, als wir an ihnen vorüberkamen?“

„Das können sie immerhin thun. Meinetwegen sollen sie mich auch prügeln, wenn ich nur nicht dabei bin,“ scherzte der Philosoph in sokratischer Weise. „Wer die Vorurtheile der Welt bekämpfen will, muß vor allen Dingen Geduld haben. Ihr seid noch immer zu aufbrausend, mein lieber Isaak! Denkt an die Fabel von dem Wanderer mit dem Mantel, den ihm der Sturmwind entreißen wollte. Was that er? Er hüllte sich nur immer fester hinein und gab ihn nicht; als aber die milde Sonne mit ihren erwärmenden Strahlen schien, da legte er ihn von selber ab.“

„Ich an Euerer Stelle hätte schon längst die unfruchtbare Mühe aufgegeben, dies störrige Volk zu bekehren. Was nützen alle Euere guten Lehren, Vorschläge und Arbeiten zur Hebung Israels; hat es nicht ein anderer Moses schon ein hartnäckiges und verstocktes Volk genannt?“

„Und doch hat er es nicht aufgegeben. Wißt Ihr denn nicht, Satanof, daß ein Vater von allen seinen Kindern das schwächste und ungezogenste am meisten liebt, das ihm die größten Sorgen bereitet? Ich werde meine Aufgabe, die mir vorschwebt, nach besten [578] Kräften zu lösen suchen; wenn es mir nicht gelingen sollte, so liegt die Schuld gewiß an mir und nicht an meinen Glaubensgenossen.“

„Und was wollt Ihr aus ihnen machen?“

Aus verachteten Juden geachtete Menschen, aus schachernden Hausirern nützliche Staatsbürger.“

„Und Ihr glaubt, daß die Christen uns eine solche Stellung einräumen werden, selbst wenn wir uns derselben würdig zeigen? Geht, geht, lieber Mendelssohn! Ihr träumt mit offenen Augen. Soll ich Euch erst an den Officier erinnern, der kaum vor einer Stunde Euch beschimpft hat, blos weil Ihr ein Jude seid? Wie er, denken alle Christen.“

„Ich glaube das Gegentheil und hoffe, Euch noch heute Abend von Euerer Ansicht zu heilen.“

„Und ich glaube,“ entgegnete der feurige Gast, die schwarzen Locken schüttelnd, „daß es nicht eher besser wird, bis der Messias kommt, auf den wir warten, der Sohn David’s, der das auserwählte Volk erlösen wird aus der Sclaverei und heimführen in das Land seiner Väter; bis die Zeit kommt, von der geschrieben steht in den heiligen Büchern, von welcher die Propheten verkündet haben, daß sie nicht ausbleiben soll nach den Tagen des Trübsals und des Elends.“

Mendelssohn antwortete nicht, sondern schüttelte nur lächelnd das weise Haupt; er nöthigte den Gast, von den aufgetragenen Speisen zu genießen, wozu derselbe sich auch nicht lange bitten ließ. Als das Mahl zu Ende war, sprach der Wirth den üblichen Segen, dann rief er seine Kinder, denen er mit einem frommen Spruch die Hände auf den Kopf legte, worauf sie von der sorgsamen Mutter zu Bette gebracht wurden.

Die beiden Männer blieben allein zurück und vertieften sich in gelehrte, talmudische Gespräche, als die Thür sich öffnete und mehrere Herren eintraten, von denen einer von Mendelssohn mit lautem, freudigem Ausrufe begrüßt wurde. Der neue Gast konnte ungefähr in den dreißiger Jahren stehen; er war von mittlerer Größe, breitschulterig und kräftig gebaut; die majestätische Stirn mit den zurückgestrichenen Haaren und vorzüglich die scharfen, durchdringenden Augen verkündigten schon äußerlich einen ungewöhnlichen Geist. In seinem ganzen Wesen lag etwas Festes, Energisches, verrieth sich bereits der abgeschlossene Charakter, wie es bei deutschen Gelehrten nur selten angetroffen wird. Sein vorwiegender Verstand und manche bittere Lebenserfahrung gaben ihm einen ernsten Anstrich; doch konnte er auch selbst heiter bis zur Ausgelassenheit erscheinen; sein Lächeln war dann bezaubernd und von hinreißender Liebenswürdigkeit. In den offenen Zügen herrschte eine unverkennbare Gutmüthigkeit vor, die freilich weit entfernt von unmännlicher Schwäche war. Man sah es den festen, ausgeprägten Linien des Gesichtes sogleich an, daß man es mit einem rücksichtslosen Forscher zu thun hatte, dem die Wahrheit mehr als Alles galt. Ungeachtet einer gewissen Bescheidenheit, womit er auftrat, zeigte er doch das Bewußtsein seiner geistigen Ueberlegenheit, die er zwar nur seinen Gegnern, niemals aber seinen Freunden empfinden ließ. Unwillkürlich wurde man durch seine Erscheinung an die Worte Shakespeare’s erinnert:

„Nehmt Alles in Allem; er war ein Mann.“

„Willkommen, mein lieber Lessing !“ rief ihm jetzt Mendelssohn entgegen, indem er ihm die Hand bot. „Willkommen, Ramler, Nikolai und Sulzer! Einen solchen Besuch hab’ ich für heute kaum noch erwartet.“

„Wir hatten uns schon längst vorgenommen,“ entgegnete Lessing, „Sie zu überfallen, da wir wußten, daß Sie am Freitag Abend sicher anzutreffen sind. Ich hatte wieder einmal Lust, mich mit Ihnen herumzustreiten und zur Abwechselung auch eine Partie Schach zu ziehen.“

„Das trifft sich prächtig,“ sagte Mendelssohn, indem er auf Satanof zeigte. „Sie finden hier einen Meister, vor dem ich die Segel streichen muß.“

Erst jetzt bemerkte Lessing den polnischen Juden, der sich bisher verlegen, fast scheu im Hintergrunde gehalten hatte.

„Gut! Ich will mit Ihrem Gast eine Partie spielen, während Sie mit unseren Freunden Philosophie und Aesthetik treiben. Ich höre doch zu und wenn Ihr es mir zu toll macht, so fahr’ ich nach meiner gewohnten Weise mit dem kritischen Besen in Euere metaphysischen Spinneweben.“

Schüchtern folgte Isaak der ehrenvollen Einladung des berühmten Gelehrten, dessen Name und Schriften ihm nicht unbekannt geblieben waren. Gern hätte er ihm seine Bewunderung zu erkennen gegeben, aber die den besseren Juden fast angeborene Furcht, zudringlich zu erscheinen, schloß ihm den Mund. Das Spiel begann und schon nach einigen Zügen erkannte Lessing, daß er es mit einem ausgezeichneten Meister im Schach zu thun hatte; auch das geistreiche Gesicht Satanof’s flößte ihm Interesse ein. Er strengte sich an, die Partie zu behaupten, aber weil er zugleich auf das Gespräch der Uebrigen achtete und von Zeit zu Zeit seine scharfen Bemerkungen dazwischen warf, kam es wohl, daß er einige Fehler machte und Blößen gab, die indeß sein Gegner nicht benutzen wollte. Als sich dieser Umstand indeß mehrere Male wiederholte, wurde auch von Lessing das nachsichtige Benehmen des Juden bemerkt.

„Ihr schont mich, guter Freund!“ sagte Lessing. „Aber ich will nicht geschont werden. Warum benutzt Ihr Euren Vortheil nicht.“

„Vielleicht,“ entgegnete Satanof, „lasse ich mir einen kleinen Profit entgehen, um einen weit größeren zu haben.“

„Das läßt sich hören, doch wir spielen nicht um Geld. Ihr könnt mir daher nichts abgewinnen.“

„Muß es denn immer Geld sein, was man gewinnen will?“

„Ihr seid ein Jude, und verachtet das Geld?“ bemerkte Lessing mit einem freundlichen Lächeln, das seine Worte mildern sollte.

„Das nimmt Sie freilich Wunder, aber der Talmud sagt: Wissen ist mehr als Gold und Silber werth, es kann Dir nicht gestohlen werden; es ist wie der Ring des weisen Salomo, welcher Gewalt gibt über die Geister in der Höhe und Tiefe, der dem Besitzer alle Schätze der Welt verschafft.“

„Ich wollte, daß Ihr die Wahrheit sagtet,“ scherzte Lessing. „Mir hat mein ganzes Wissen noch nicht so viel eingetragen, daß ich ohne Sorge leben kann.“

„Weil Ihr Sinn nicht auf den irdischen Erwerb gerichtet ist, weil ein höheres Ziel vor Ihren Augen schwebt. Sie haben gesucht die Wahrheit und gefunden, um deretwillen ich hierher gekommen bin, und verlassen habe meine polnische Heimath, von Durst nach der Wissenschaft gequält, welche hier lebendig fließen soll.“

„Ich habe die Wahrheit gesucht,“ wiederholte Lessing nachdenklich, „aber nicht gefunden. Wer kann sich rühmen, sie gefunden zu haben? Auch wäre sie kein Glück. Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menchen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht träge, stolz. – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrhell, und in seiner Linken den einzig immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlosssen hielte und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!“

„Bei Gott!“ rief Satanof mit leuchtenden Augen. „Sie haben gesprochen, wie unsere weisesten Gelehrten. Wenn Alle so dächten, wie Sie, würde kein Zank und Streit mehr sein in der Welt, Keiner dem Andern vorwerfen, daß er irrt, Niemand mehr verfolgt werden wegen seines Glaubens und seiner Religion.“

In einem Enthusiasmus war der Jude mit echt orientalischer Lebendigkeit aufgesprungen, und hatte die Schachfiguren in einander geworfen, so daß das Spiel nicht mehr fortgesetzt werden konnte. Auch Lessing trat jetzt zu den Uebrigen, um an der allgemeinen Unterhaltung Theil zu nehmen. Dieselbe drehte sich um die Ernennung Mendelsohn’s zum Mitgliede der Berliner Akademie, welche indeß von Friedrich dem Großen nicht gut geheißen wurde, indem der sonst so tolerante König mit eigener Hand den Namen des jüdischen Philosophen von der Liste der vorgeschlagenen Candidaten gestrichen hatte.

„Es ist kaum glaublich,“ bemerkte Professor Sulzer, „daß Friedrich der Große, der gekrönte Philosoph, bei seinen bekannten Ansichten über Religion so handeln konnte.“

„Ich habe keinen Grund,“ entgegnete der milde Mendelssohn, „mich über den König zu beklagen. Er hat bereits mehr für mich gethan, als ich billiger Weise fordern konnte. Hat er mir nicht voll Gnade das Bürgerrecht und die Erlaubniß, in Berlin zu wohnen, ertheilt, da ich bisher nur als Dienstbote meines Brodherrn Bernhard geduldet wurde, und jeden Augenblick ausgewiesen werden konnte.“

„In der That,“ rief der Buchhändler Nikolai. unsere Enkel werden es für Verleumdung halten, wenn sie einst hören, daß der [579] weise Mendelssohn nur seiner Eigenschaft als Diener seinen Aufenthalt in Berlin zu danken hatte, daß er erst nach wiederholten Bitten und den dringendsten Empfehlungen eines Franzosen und persönlichen Freundes des Königs das[WS 1], aber nur für seine Person und nicht einmal für seine Kinder, erlangen konnte.“

„Das ist nun die gepriesene Toleranz und Aufklärung in Berlin,“ fuhr Lessing auf. „Sie beschränkt sich lediglich darauf, von der Religion so viel Schlimmes als möglich zu sagen, und den Glauben zu verspotten.“

„Wenn man Sie so reden hört,“ entgegnete Nikolai, „weiß man wirklich nicht, woran man mit Ihnen ist. Die Theologen glauben, daß Sie ein Freigeist sind, und die Freigeister, daß Sie ein Theolog geworden.“

„Mögen sie von mir halten, was sie wollen. Mein Glaube ist, daß die Religion nur dazu dienen soll, die Menschen zu erziehen, sie sittlicher und humaner zu machen, Duldung und Liebe zu verbreiten. Ich will kein Freigeist, aber noch weniger so ein intoleranter Pietist sein, der da meint, die Seligkeit allein gepachtet zu haben, und gleich mit Feuer und Schwert dreinschlagen will, wenn ein Mann eine andere Ansicht hat, als er. Nur gegen diese blinden Eiferer gedenk’ ich meine Waffen noch einmal zu erheben. Wie wenig verstehen sie den wahren Geist des Christenthums, wie wenig beherzigen diese das Wort des milden Johannes, des Lieblingsschülers unsers Herrn! Als dieser alt und schwach geworden war, so daß ihn seine Schüler in die Kirche tragen mußten, wo er, anstatt wie sonst zu predigen, nur einige Worte mühsam vorbringen konnte, sprach er nur das einzige und wiederholte es immer wieder: „Kindlein, liebet einander!“ Seine Schüler und die übrigen Zuhörer wurden darüber auf die Länge der Zeit ungeduldig und fragten: „Meister, warum redest Du immer dasselbe?“ – „Weil,“ antwortete der würdige Greis, „die Liebe das Gebot Gottes ist, und allein schon zur Seligkeit hinreicht.““

„Damit kommen Sie schön bei unseren Theologen und Orthodoxen an,“ bemerkte Ramler, der bisher nach seiner Gewohnheit still geschwiegen hatte.

„O!“ entgegnete Lessing, „diesen Herren kann ich noch mit einer andern Geschichte dienen, die ich im Dekameron des Boccaccio gefunden habe, worin mehr Toleranz zu finden ist, als in all’ den Schriften des windbeuteligen Monsieur Voltaire, von dem der König so entzückt ist, daß er ihn allen deutschen Schriftstellern vorzieht.“

„Lassen Sie uns Ihre Geschichte hören, lieber Lessing!“ bat Mendelssohn.

„Ein Jude,“ begann Lessing, „so klug und auch so mild wie unser Moses hier, wurde von dem Sultan gefragt, welche Religion er für die beste halte.“

„Eine schwierige Frage,“ bemerkte Mendelssohn, „und besonders, wenn ein Sultan sie an einen armen Juden richtet, der dadurch in die größte Verlegenheit gerathen mußte.“

„Hören Sie, wie sich unser Jude aus dieser Schlinge gezogen hat. Er erzählte dem Sultan eine Geschichte, die ungefähr folgendermaßen lautete. Vor Jahren lebte ein reicher Mann, der drei Söhne besaß, welche er gleich lieb hatte. Unter den Schätzen, mit denen ihn der Himmel gesegnet hatte, befand sich auch ein kostbarer Ring, der die Eigenschaft hatte, daß er dem Besitzer Macht und Ansehn verlieh und ihn zugleich beliebt vor Gott und Menschen machte. Als der Vater sein Ende nahe fühlte, gerieth er in die größte Verlegenheit, indem er nicht wußte, welchem der drei Söhne er den Ring und mit ihm die ganze Erbschaft, wie es in der Familie bräuchlich war, lassen sollte, weil er alle Drei eben so sehr liebte und Keinen kränken wollte. Außerdem hatte er mit zärtlicher Schwachheit Jedem von ihnen diesen Wunderring schon früher zugesagt. Was nun beginnen? Da gerieth er auf einen Ausweg; er ließ von einem geschickten Meister noch zwei falsche Ringe anfertigen, die dem wahren so ähnlich waren, daß sie kein menschliches Auge und selbst er nicht zu unterscheiden vermochte. Als er nun auf dem Sterbebette lag, ließ er seine Söhne einzeln kommen, segnete sie und gab Jedem heimlich den Ring und somit das Anrecht auf die gesammte Erbschaft. Kaum hatte der Vater die Augen geschlossen, als jeder der Söhne die Erbschaft für sich beanspruchte, weil er sich im Besitz des Ringes wußte und diesen vorzeigte. Natürlich behauptete jeder, den echten Ring allein zu haben, und erklärte die andern beiden Brüder für Betrüger und Fälscher. Der Streit wurde immer heftiger und endlich kamen die Söhne überein, ihre Ansprüche vor dem Richter geltend zu machen. Dieser war ein weiser Mann und hörte sie ruhig an.“

„Ich bin wirklich neugierig auf das Urtheil,“ bemerkte Professor Sulzer.

„Und ich kann es mir denken,“ sagte Satanof; „der weise Richter wird durch das Loos entschieden haben, da es nach meiner Meinung kein anderes Mittel gab.“

„Dann wäre er der weise Richter nicht,“ meinte Mendelssohn mit sanftem Lächeln. „Irre ich nicht, so besaß der wahre Ring die Eigenschaft, den Besitzer beliebt vor Gott und Menschen zu machen. Dies Kennzeichen mußte nach meiner Ansicht den Ausschlag geben. Dem besten der Söhne gebührte die Erbschaft, demjenigen vor Allen, welcher sich durch sein Betragen als der Würdigste im Lauf der Zeit erwiesen.“

„Und konnte der weise Richter nicht auch sagen: Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring ging vermuthlich verloren? Und hiermit endet meine Geschichte, die ich dem Boccaccio entlehnt.“

Als Lessing jetzt schwieg, waren alle Anwesende von seinen Worten tief ergriffen; erst nach einer längeren Pause brach der Dichter Ramler das allgemeine Stillschweigen.

„Und die Moral,“ fragte er ernst, „die Moral der Geschichte?“

„Liebet einander,“ entgegnete Mendelssohn, „beweist durch Duldung, Nachsicht und Menschenfreundlichkeit, daß Ihr den wahren Ring besitzt. Das soll von nun an unser einziges Streben sein.“

„Ja!“ rief Lessing mit einem sonst an ihm nicht gekannten Feuer. „Wir wollen insgesammt nach dem echten Ringe suchen, der, wie der weise Richter sagt, verloren gegangen ist. Die Liebe, welche schon Johannes gepredigt hat, soll unsere Führerin auf den richtigen Weg sein; die Toleranz uns zur Seite stehn. Ich verstehe freilich darunter nicht jene schwächliche, weichliche Nachsicht auch mit dem Schlechten und mit den Vorurtheilen der Menge. Gerade gegen diese müssen wir mit aller uns zu Gebote stehenden Kraft ankämpfen. Unsere Bundesgenossin aber soll die Wissenschaft werden, welche in Deutschland aus dem Todesschlaf erwacht, die Fackel schwingt, vor der die Nachteulen und Fledermäuse des Aberglaubens, der Verfolgungssucht und der geistigen Inquisition fliehen müssen. Dann wird die Zeit kommen, die Zeit der Vollendung, der nach meinem festen Glauben die Menschheit trotz aller Hemmungen und Hindernisse unaufhaltsam entgegengeht, die Zeit eines neuen Evangeliums für Alle, zu welcher Religion sie sich auch äußerlich bekennen mögen.“

„Amen!“ rief Mendelssohn mit gefalteten Händen und mit seinen Blicken an den Lippen des Freundes hängend.

„Und der Messias?“ fragte Rabbi Satanof hartnäckig. „Der Messias, wird er dann kommen?“

„Jene Zeit bringt Allen und auch den Juden sicher die Erlösung,“ entgegnete der weise Moses lächelnd. „Der Messias wird nicht ausbleiben, mein lieber Freund!“

„Ich verstehe Euch jetzt,“ antwortete der Jude. „Unser Messias heißt Liebe mit Wissen verbunden und dort Herr Lessing ist sein Verkündiger. Mir ist’s, als hätt’ ich ein Gesicht gehabt, als wäre der Geist des Ewigen hier unter uns.“

Lessing nahm die Hand des Rabbi, die ihm dieser hinreichte, und drückte sie; als er die seinige zurückzog, glänzte sie von einer Thräne, die der Jude darauf fallen ließ.

Einige Jahre später hat Lessing die „Geschichte der drei Ringe“ zu einem Drama benutzt, das seinen Namen unsterblich gemacht hat. Nathan der Weise war sein Freund Mendelssohn, der ihm die Umrisse zu diesem herrlichen Charakter lieferte; Rabbi Isaak Satanof aber wurde von dem Dichter in der Figur des ehrlichen Schach spielenden Derwisch gezeichnet.

Max Ring.




Blätter und Blüthen.

Aus den holsteinischen Marschen. II. Wie das Land, so die Leute. Beide stehen in genauester Wechselbeziehung. Fruchtbar, unerschöpflich an Ergiebigkeit ist der Boden der Marsch und kräftig, gesund, blühend der Menschenschlag, der auf ihr wohnt. Der nationale Charakter ist bei den holsteinischen Marschbewohnern vielleicht mit am reinsten und bestimmtesten unter allen deutschen Stämmen erhalten. Blonde Haare, blaue Augen, breite Schultern, starke Flanken, die Nase in der Regel wohlgeformt, mehr groß, als klein. Stumpfnäschen sieht man selbst beim weiblichen Geschlecht selten. Ich erinnerte mich, als ich diese holsteinischen Gesichter sah, lebhaft der interessanten Beobachtungen, die Arndt in seinen [580] „Wandlungen und Wanderungen mit dem Freiherrn von Stein“ über die charakteristische Verschiedenheit der deutschen und russischen Physiognomien macht. Die russischen Nasen nennt er breite, unförmliche Fleischklumpen, flach und platt in’s Gesicht geklebt, im schärfsten Gegensatz zu der bestimmten, scharf begrenzten, hervortretenden Nasenbildung der germanischen Race. – Das weibliche Geschlecht in den Marschen steht den Männern an körperlicher Tüchtigkeit nicht nach. Frauen und Mädchen blühen und strotzen von Kraft und Gesundheit und wenn sie im Durchschnitt auch mehr feste, dralle Figuren, als zarte, ätherische Erscheinungen sind, so findet man doch auch nicht unter ihnen jene bleich- und schwindsüchtigen Gestalten, wie sie anderwärts nur zu zahlreich unter der Frauenwelt zu erblicken. Eine allerdings nicht gerade schöne Eigenthümlichkeit der Frauen und Mädchen aus der Marsch ist, daß sie fast durchgängig große Füße haben, eine Specialität, an welcher der fette, schwere Marschboden, in welchem sich, besonders nach dem Regen, der Fuß beim Gehen platt und breit drückt, Schuld sein soll. Diese Eigenthümlichkeit des Bodens mag auch wohl – wie hier gleich bemerkt werden mag – den so häufigen Gebrauch des hohen, schweren Holzpantoffels, wie er auch von dem Bauer in Frankreich und Belgien getragen wird, verursacht haben. Niemals ist mir das abscheuliche Geklapper der Holzpantoffeln häufiger vorgekommen, als in den holsteinischen Marschen, wo sie von Jung und Alt auf dem Lande und auch von den ärmeren Classen in der Stadt durchgängig getragen werden.

Der Hauptgrund dieser kräftigen Gesundheit liegt wohl vor Allem in der reichlichen und nahrhaften Kost, welche die Marschbewohner genießen. Zum Frühstück Grütze und Klöße mit Speck, zu Mittag wieder Speck, wieder Klöße, dann Rindfleisch, Fische in Butter gebraten, Kartoffeln, Grütze und wieder Speck: das ist so die Kost der Bauern in der Marsch, wozu als Modulation vielleicht einmal eine Fruchtsuppe oder Buttermilchsuppe mit Klümpen oder Klößen tritt. Im Durchschnitt werden die Speisen sehr fett zubereitet und zu einem Gericht Bohnen (sogen. Pferdebohnen), welches vielleicht für drei Personen bestimmt ist, kommt sicherlich ein Pfund Speck. Das Brod, das eigentliche Schwarzbrod, ähnelt dem westphälischen Pumpernickel; das Korn wird nur geschroten und dann verbacken. Es sieht schwärzer aus, als das Commißbrod unserer Soldaten, ist zwar etwas schwer zu verdauen – für einen mitteldeutschen Magen nämlich – doch trotzdem wohlschmeckend und man gewöhnt sich auch leicht an den Genuß desselben. Häufig wird dazu, wie überhaupt in Norddeutschland, feines weißes Brod gegessen, so daß die Grundlage ein Stück Schwarzbrod bildet, worauf eine Lage Butter oder ein Stück Speck, auch Schinken kommt, und ein Stück weißes Brod den Schluß macht. Auf eine Entbehrung muß man sich in den Marschen gefaßt machen, auf den Mangel an gutem Trinkwasser, von Bier nicht zu reden, denn das, was man unter diesem Namen braut, kann von einem Menschen, der nur einmal in seinem Leben gutes Bier getrunken, nicht über die Lippen gebracht werden. Aber dieser Trinkwassermangel ist für den, welcher aus einer quellenreichen Gegend kommt, in der That sehr empfindlich. Quellen mit gutem Trinkwasser gibt es in den Marschen sehr wenige, man muß daher zu dem Hülfsmittel seine Zuflucht nehmen, das schon die Patriarchen des alten Testamentes anwendeten und das noch heute im Orient, der Natur der Sache nach, gebräuchlich: zum Cisternenwasser. Wohlhabendere filtriren dieses Wasser durch Tropfsteine, die arbeitenden Classen im engeren Sinne aber trinken es, wie es eben aus der Cisterne kommt. Im Winter mag dies noch hingehen, aber im Sommer, wenn die Juli- und Augustsonne mit einer Gluthhitze von 25–27 Grad R. auf diesem Cisternenwasser gebrütet, ist es ein ganz abscheuliches Getränk. Und selbst dieses Cisternenwasser war in diesem jetzigen, anfangs so heißen und trockenen, regenarmen Sommer so kostbar und selten, daß in Dithmarschen dieses Wasser förmlich unter Aufsicht vertheilt wurde.

Durstige Herzen müssen sich in den Marschen mit dem landesüblichen Thee, mit Milch und Tropfsteinwasser, das sie mit Rothwein, Cognac, Rum etc. vermischen können, begnügen. Die letztgenannten Spirituosen, sowie die französischen Weine sind in den Marschen wohlfeiler, als im Zollvereinsgebiet, da die von der dänischen Regierung davon erhobene Steuer eine bedeutend niedrigere ist, als die zollvereinsländische. – Die eigentliche Industrie ist unbedeutend in den Marschgegenden; Handel, Schiffahrt und Ackerbau nebst Viehzucht sind die vorherrschenden Berufsarten. Wenn man von Ackerbau und Viehzucht spricht, denken wir in Mittel- und Süddeutschland zugleich an Dörfer, große geschlossene ländliche Ortschaften. Diese findet man in den Marschen nicht. Jeder Bauer oder Hofbesitzer hat sein alleinstehendes Haus, um welches dicht herum seine Grundstücke, Aecker und Wiesen liegen, und ihn dadurch von dem vielleicht eine Viertel- oder halbe Stunde weit entfernt wohnenden Nachbar isoliren. Eine vielleicht halb- oder ganzstündige Entfernung der Grundstücke vom eigentlichen Bauerhofe, wie es in vielen unserer ländlichen Districte vorkommt, ist dort schon wegen der Bodenbeschaffenheit, die ein weites Fahren mit schwerbeladenem Wagen ungemein beschwerlich und mühsam macht, nicht üblich. Das Haus, der Hof selbst ist ein Muster von Reinlichkeit, und wir übertreiben nicht, wenn wir sagen, daß in manchen Bauerhöfen die Stalldiele, zu deren beiden Seiten die Ställe mit den Futterkästen hinlaufen, und die zugleich als Tenne zum Ausdreschen des Getreides dient, so blank und reinlich aussieht, wie in vielen andern Gegenden die Wohnzimmer der Menschen nicht. Das oft wüste, liederliche Durcheinander so vieler Bauerhöfe kennt man dort nicht, es herrscht eine fast holländische Ordnung und Reinlichkeit, die beim ersten Anblick in’s Auge springt. Unter den Landleuten selbst trifft man sehr viele gebildete Männer mit scharfem, praktischem Verstand, die neben ihrem Platt, das sie im gewöhnlichen Verkehr sprechen, auch das schönste und reinste Hochdeutsch reden, besser, als mancher elegante Spaziergänger der Brühl’schen Terrasse, der das „beste Deitsch“ zu reden glaubt, weil er in „dem scheenen Träsden“ das Licht der Welt erblickt hat. Doch von der Sitte, Bildung und dem innern Wesen des Volks wollen wir in unserm dritten und letzten Bericht erzählen.

K. Wtg.


Ein delphisches Orakel im neunzehnten Jahrhundert. In dem protestantischen Rom, wie die stolzen Genfer ihre Stadt einst nannten, hat in diesem unserm aufgeklärten Jahrhundert jenes allbekannte und wieder verschollene Experiment, Holz mit animalischer Elektricität zu durchdringen, das Tischrücken nämlich, einen so mächtigen Eindruck auf einige ihrer guten Bürger gemacht, daß sie darin einen übernatürlichen Einfluß zu erkennen vermeinen.

Gestützt auf einen Ausspruch des alten Testamentes, wonach eine Zeit kommen solle, in welcher selbst die Hölzer reden würden, glauben sie, daß der Geist Gottes sich auf diese Weise fort und fort offenbare, und haben dem seine Orakel verkündenden Tisch als göttlichem Organ einen bestimmten Cultus gewidmet.

Gering freilich ist die Zahl dieser Gläubigen, die den gebildeten Ständen angehören, aber sie hoffen, daß das neue Licht sich weiter verbreiten werde, und halten sich ihres Glaubens willen für keine schlechteren Christen, als Andere. In ihrem Versammlungssaale steht ein runder Tisch von Mahagoniholz mit einem Psychograph versehen, auf welchen ringsum die Buchstaben des Alphabetes eingeschoben werden. Die Gemeinde beginnt mit einem Gebet, in welchem der göttliche Geist angefleht wird, dann legen sie die Hände auf und sobald der Tisch in Bewegung gesetzt ist, stellt der Vorsteher, Mr. de M., die Frage, ob er gestatte, heute durch ihn den Ausspruch Gottes zu vernehmen? worauf er sich nun entweder bejahend neigt oder sich, falls er die Gemüthsverfassung der Versammlung nicht für geeignet hält, verneinend schüttelt.

In ersterem Falle kann dann jedes Mitglied seine Fragen, überweltliche Interessen berührend, an ihn richten. Selten jedoch erfolgen darauf kurze und bündige Antworten, sondern das Orakel läßt es sich sehr angelegen sein, die Gewissen seiner Gläubigen durch Dictiren langer Strafpredigten zu erschüttern, und der Blässe auf den Gesichtern der sündigen Frager nach zu schließen, verfehlen sie auch ihre Wirkung keineswegs. Mitunter begeistert sich auch der Tisch zum Dictiren frommer Dichtungen, sechs bis acht Verse lang und im besten Rhythmus, in welchen er göttliche Geheimnisse verkündet.

Der oder die von der Versammlung bestimmte Schreiber oder Schreiberin muß allerdings viel Uebung haben, um mit dem Psychographen gleichen Schritt zu halten, denn „der geheiligte Finger“ arbeitet rasch.

Mitunter werden jedoch auch weltliche Angelegenheiten dem Ausspruch des Orakels unterbreitet. Ein junges Mädchen, die Tochter eines der Gründer der Secte, fügte sich ganz gegen ihre Neigung in den also verkündeten Willen des Himmels, ihre Hand einem eifrigen Jünger dieser neuen Lehre zu reichen.

Auch an den im Jahre 1857 verkündeten Untergang der Welt glaubte die Gemeinde so fest, daß ihr reichstes Mitglied bereitwillig seine Börse zum allgemeinen Besten öffnete. Wie sich das Orakel aus der Affaire gezogen, als die Welt doch nicht unterging, ist freilich dem Laien ein Geheimniß geblieben.

Ein polnischer Arzt und Magnetiseur, der eine seiner fremden Patientinnen, eine Dame von Distinction, für diese Sache zu gewinnen hoffte, führte dieselbe in die Versammlung ein, die alsbald erkannte, wie besonders befähigt die Dame sei, in unmittelbaren Verkehr mit den himmlischen Mächten zu treten, und ihr einige Fragen zu thun gestattete. Darauf eingehend, stellte die Neophytin nur die Bedingung, daß ihr der Tisch auf englisch antworte, da es ja dem göttlichen Geist gleich sein müsse, in welcher Sprache er rede. Das Orakel jedoch schien eben so wenig, wie Jemand aus der Versammlung, dieser Sprache mächtig, und da man darauf nicht einging, blieb Jene unerleuchtet und unbekehrt.

Wenn man aber aus dem Umstande, daß eine solche religiöse Verirrung in Genf geduldet wird, schließen wollte, daß sie darum auch gebilligt werde, so wäre dies ein großer Irrthum. Im Gegentheil möchten sich vor jedem Mitglied der Tischrücker-Secte alle Thüren der Genfer Patricierfamilien schließen, so wie vermuthlich die aller vernünftigen Menschen, denen das Christenthum eine Wahrheit geworden ist.



Mit dem 1. Oktober begann ein neues Quartal der bei Ernst Keil in Leipzig erscheinenden Zeitschrift:

„Aus der Fremde.“ Wochenschrift für Natur- und Menschenkunde der außereuropäischen Welt,
redigirt von A. Diezmann,
Wöchentlich ein Bogen mit und ohne Illustrationen. Vierteljährlich 16 Ngr.

Unsere Zeitschrift beschäftigt sich mit Land und Leuten weit und breit, auf dem ganzen Erdenrunde. Sie gibt nicht Erdichtetes, sondern Wahrheit, aber, was sie erzählt, bestätigt gar oft den altbewährten Spruch: „Wirklichkeit ist seltsamer als Dichtung.“ Sie gibt nicht trockne Reiseberichte; sie beschreibt vielmehr Erlebnisse in der pikantesten und kleidet ihre Schilderungen in die eleganteste und anmuthigste Form; denn, was gelesen zu werden verdient, soll auch angenehm zu lesen sein. Ihr Feuilleton ist stets reich und neu. – Die große Verbreitung, welche die „Fremde“ seit ihrem kurzen Bestehen gefunden hat, beweist am besten die Gediegenheit des Blattes.

Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bürgerrrecht