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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Kranken-Engel.
Novelle von Max Ring.
(Fortsetzung.)


Erleichtert trat Jadwiga ihren Rückweg an, während das Fräulein zu den Herren zurückkehrte, mit dem festen Entschlusse, den Baron um die Begnadigung des Gefangenen zu bitten. Pawel war ihr nicht unbekannt; sie hatte ihn als Knaben öfters gesehen, wenn er seine Schwester, die damals noch als Magd auf dem Schlosse diente, besuchte. Er war immer so freundlich und aufmerksam gegen sie gewesen. Für sie war er einmal auf den alten Birnbaum geklettert, um die von ihr gewünschten Früchte herabzuholen. Ein Ast brach und er fiel herab, wobei er sich den Arm verrenkte. Damals verbiß er muthig seine Schmerzen, als er sie weinen sah. Seit jener Zeit bestand eine gewisse Freundschaft zwischen dem armen Bauernburschen und der Tochter des Barons. Ihre lange Abwesenheit und der Unterschied der Lebensstellung hatten allerdings jene Jugenderinnerung fast verwischt; jetzt aber trat das Bild des treuen Pawel wieder lebendig vor ihre Seele. Sie wartete, bis die Partie zu Ende war, und die Herren sich empfohlen hatten. Als der Baron sich ebenfalls anschickte, zu Bette zu gehen, brachte sie ihr Anliegen in ihrer herzgewinnenden Weise vor. Sie übte eine gewisse Herrschaft über den rohen Vater aus und verstand es, seine schwachen, oder vielmehr guten Seiten mit weiblicher Feinheit zu benutzen.

Indem sie ihm den Schlafrock und die Pantoffeln holte, wie er es liebte, bat sie zugleich für den Delinquenten. Der milde Schein der Nachtlampe beleuchtete ihr frommes Gesicht, sie glich dem Engel der Gnade, der nicht will, daß der Sünder zu Grunde geht. Ein eigener Zauber umschwebte sie, so daß der rauhe Mann unwillkürlich weicher gestimmt wurde. Er mochte wohl in diesem Augenblick an ihre verstorbene Mutter denken. Er war von Herzen nicht böse, nur voll Vorurtheile. Seine Härte schmolz vor ihrer sanften Ueberredungskunst, und schon glaubte sie gewonnen zu haben, als Tante Kascha alle ihre Bemühungen vereitelte. Die alte Jungfer war so eifersüchtig auf ihren Einfluß, daß sie bei jeder Gelegenheit ihrer Nichte entgegentrat, um sich so die Herrschaft über den Baron zu sichern. Aus diesem Grunde bekämpfte sie auch diesmal das aufsteigende Mitleid ihres Bruders, indem sie dasselbe zu einer sträflichen Nachgiebigkeit und schädlichen Schwäche stempelte. Sie gebrauchte dabei den Kunstgriff, den Baron auf die Folgen einer solchen Begnadigung aufmerksam zu machen und auf den aufsätzigen Geist seiner Bauern, dessen Vorhandensein sich nicht leugnen ließ, entschieden hinzuweisen. Diese Andeutungen verfehlten ihre Wirkung nicht, und Veronika sah sich gezwungen, ihren Schützling aufzugeben.

Der Baron fluchte von Neuem über die königliche Cabinetsordre, über das Beamtenpack, welches nothwendiger Weise noch eine Revolution herbeiführen müsse. Darauf ergriff er den Nachtleuchter, um sich in sein Schlafzimmer zu verfügen. Tante Kascha folgte mit Veronika, welche trotz aller Anstrengung den armen Pawel nicht retten konnte.




III.

Während die Schloßbewohner sich dem Schlafe überließen, herrschte in der Schenke des Dorfes ein sonst um diese Zeit ungewöhnliches Leben. Das große Zimmer faßte kaum die Zahl der Gäste. Hinter seinem Verschlage von Holz stand der jüdische Pachter mit seiner Frau, unablässig beschäftigt, die schnell geleerten Gläser wieder voll zu füllen. An einer langen Tafel von rohem Holz saßen auf langen Bänken Bauern und Häusler. Sie befanden sich augenscheinlich in einem Zustande hoher Aufregung, welche nicht allein dem genossenen Getränke zuzuschreiben war. Die dünnen Talglichter, welche auf dem Tische standen, reichten gerade hin, um die Dunkelheit so weit zu erhellen, daß man ihre wilden, gerötheten Gesichter erkennen konnte. Von Zeit zu Zeit erhoben sie ein lautes, drohendes Geschrei, dann wurde es wieder plötzlich still, und sie steckten flüsternd die Köpfe zusammen, als fürchteten sie, belauscht zu werden.

Der jüdische Wirth, hier Kretschmer genannt, sah dann seine Frau mit bedeutenden Blicken an. Wenn er sich aber beobachtet glaubte, so that er, als ob er nichts hörte, und sein schlaues Gesicht nahm einen möglichst gleichgültigen Ausdruck an.

Unter den Bauern ragte eine eigenthümliche Gestalt hervor. Es war dies ein Mann, der durchaus nicht in diese Gesellschaft zu gehören schien. Weder sein Benehmen noch seine Kleidung paßte dazu. Er trug einen städtischen Rock, der allerdings schon abgeschabt und an den Näthen abgetragen war. Sein Hals steckte in einer steifen, schwarzen Binde, aus der ein schmutziger Hemdkragen heraushing. Ein alter Filz voll Beulen und Quetschungen bedeckte das struppige, röthliche Haupt. Zerrissene Stiefel, aus denen die nackten Zehen hervorlauschten, vollendeten seine noch immer in solcher Umgebung elegante Toilette. In seinem ganzen Wesen gab sich jene eigenthümliche Verkommenheit, gepaart mit List und Schlauheit, kund, welche den Winkeladvocaten und Rabulisten bezeichnet. Unter der niedrigen Stirn lagen die kleinen, [46] fortwährend zwinkernden Augen, die er noch außerdem von Zeit zu Zeit ganz seltsam einzukneifen pflegte. Das Gesicht war gedunsen und hatte die wachsbleiche Färbung, die man bei Gewohnheitstrinkern zu finden pflegt. Ein hellblonder, fast rother Schnurrbart saß unter der gebogenen Nase, und verlieh ihm zugleich ein kühnes und doch wieder komisches Aussehen. Um die feinen Lippen spielte ein unheimliches Zucken, und seine Hände befanden sich in einer nervös zitternden Bewegung, wenn er sie aus seinen Hosentaschen hervorzog, wo er sie gewöhnlich zu verbergen pflegte. Der Stempel der Liederlichkeit und des Cynismus war ihm deutlich aufgeprägt; in seinen verwitterten Zügen konnte der aufmerksame Beobachter einen Lebenslauf voll Veruntreuung, Betrügereien und gemeiner Ausschweifung entdecken. Von den Bauern wurde er Herr Actuar genannt; er war ein entlassener Schreiber, der längere Zeit in den Diensten des Barons gestanden hatte, und von diesem wegen eines gemeinen Betrugs schimpflich fortgejagt worden war. Seine Beschäftigung bestand hauptsächlich darin, die ihm bekannten Bauern gegen ihre Gutsherrschaft aufzuhetzen, Processe zu verursachen, und eine unerlaubte juristische Praxis auf dem Lande auszuüben. So lebte er von den Sporteln und den Gaben seiner einfältigen Clienten, bei denen er in dem Rufe eines überaus gescheuten und listigen Advocaten stand.

In dieser Versammlung führte er das große Wort, und alle Anwesenden hörten ihn mit ungeheuchelter Bewunderung. Die Bauern beugten sich sichtbar vor der höheren Intelligenz.

„Nicht einen Tag länger,“ schrie er jetzt mit heiserer Stimme, „braucht Ihr zu arbeiten, nicht einen Pfennig mehr an den Herrn zu zahlen. So ist der Wille des Königs, den ich Euch gedruckt zeigen kann.“

Bei diesen Worten zog er ein schmutziges Papier aus der Tasche, welches er sorgfältig ausbreitete und mit dem fettig glänzenden Aermel seines Rockes glatt strich. Es war die bekannte Cabinetsordre, die er aus dem Deutschen in’s Polnische übersetzte, wobei er sich nach Gutdünken allerlei Zusätze und Auslassungen erlaubte, wie sie gerade für seine Pläne paßten. Seine beschränkten Zuhörer, welche eine unbeschreibliche Ehrfurcht für alles Gedruckte besaßen, verstanden von seinem Vortrage trotz ihrer Beschränktheit so viel, daß sie keinerlei Dienste und Abgaben mehr an den Gutsherrn zu leisten brauchten.

„So ist es,“ fuhr der Redner fort. „Die Erbunterthänigkeit hat aufgehört, die Robot ist abgeschafft. Esel seid Ihr, wenn Ihr noch für den Edelmann eine Hand rührt, eine Arbeit thut. Niemand hat Euch mehr was zu befehlen. Da steht’s in der Cabinetsordre, welche der gnädige König erlassen hat. Das wissen auch Eure Gutsherrn, aber sie verschweigen es Euch, damit Ihr noch länger ihre Knechte und Sclaven bleibt. Aber der Himmel hat Euch einen Freund geschickt, der Euch die Augen öffnet, der für Euch sorgt und denkt, der alle Kniffe und Pfiffe kennt, der Euch zu Eurem Recht verhelfen wird, wie er Euch schon oft geholfen hat, und dieser Freund bin ich.“

Hier unterbrach ein Beifallssturm den Actuar; er hatte den Gipfel der Popularität erreicht. Von allen Seiten drängten sich die Bauern an ihn heran; sie schüttelten ihm die Hände, umarmten ihn, und tranken auf seine Gesundheit, worauf er ihnen aus seinem vollen Glase Bescheid that, das er mit einem Zuge leerte.

„Aber was sollen wir thun?“ fragte der Veit oder Vorsteher des Dorfes, nachdem sich der enthusiastische Lärm wieder einigermaßen gelegt hatte.

„Das ist leichter gefragt als gesagt,“ erwiderte der Actuar, anscheinend in Nachdenken versunken. „Ihr habt die Cabinetsordre, den königlichen Willen doch verstanden? Sie besagt, daß der Baron Euch freigeben muß, ergo seid Ihr frei, wenn auch nur de jure und noch nicht de facto.“

Der Veit nickte, als ob er diese logische Schlußfolgerung vollkommen verstanden hätte, obgleich er auch nicht ein Sterbenswort davon begriff. Die lateinischen Redensarten, welche der Redner absichtlich hier und da einfließen ließ, imponirten den Bauern ganz besonders.

„Ihr müßt also,“ fuhr der Actuar fort, „Eure Freiheit von dem Gutsherrn als ein vorenthaltenes Eigenthum fordern. Will er sie nicht gutwillig herausgeben, so steht Euch das Recht zu, selbst Gewalt anzuwenden, was ja auch der Executor thut, wenn Ihr die Abgaben nicht bezahlen wollt.“

Der letzte Satz leuchtete den Zuhörern vollkommen ein, obgleich sie noch immer nicht wußten, was sie eigentlich anfangen sollten, um die gepriesene Freiheit, welche sie für eine Art lebenden Wesens hielten, sich zu verschaffen. Der Redner klärte sie indeß darüber auf.

„Am besten thut Ihr, wenn Ihr vor das Schloß zieht, und Euch von dem Herrn eine Urkunde ausstellen laßt, worin er freiwillig auf alle seine bisherigen Rechte verzichtet, und Euch von allen Frohnden und Lasten, die Ihr ihm zu leisten habt, entbindet. Das Actenstück muß er unterschreiben, und mit einem rothen, einem gelben und einem blauen Siegel besiegeln. Dann hat es seine Gültigkeit; dann seid Ihr für immer frei.“

Der Rath gefiel den Bauern, und ganz besonders schienen ihnen die drei verschiedenen Siegel von der größten Wichtigkeit. Die Mehrzahl der Versammlung wollte auf der Stelle aufbrechen, um den Gutsherrn noch diese Nacht zur Ausstellung der wichtigen Urkunde zu zwingen. Einmal aus seiner Indolenz aufgeschüttelt, ist das oberschlesische Landvolk zu raschen und gewaltsamen Entschlüssen sehr geneigt, zumal so lange die aufregende Wirkung des Branntweins noch vorhält. Es gleicht in gewisser Beziehung der Atmosphäre jener Tropengegenden, wo auf die tiefste Ruhe ein plötzlicher Sturm mit ungeheurer Gewalt erfolgt.

Schreiend und tobend verlangte jetzt die Menge, unter Anführung des Actuars vor das Schloß zu ziehen. Dieser war jedoch mit der ihm zugedachten Ehre keineswegs einverstanden; aus naheliegenden Gründen hielt er sich lieber bescheiden im Hintergrunde und überließ es Andern, die gebratenen Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen. Er wollte zugleich seine Rache an dem Baron üben, und dabei im Trüben fischen, aber ohne Gefahr für seine persönliche Sicherheit. Wie Viele seines Gleichen, war er von Haß gegen alles Bestehende erfüllt, und seine verlorene Existenz machte ihm jede Veränderung wünschenswerth, bei der er nur gewinnen, und nichts verlieren konnte. Aus diesem Grunde schürte er die vorhandene Gluth mit feiger Hinterlist, da ein offenes Hervortreten und kühnes Handeln nicht in seinem heimtückischen Charakter lag.

Seiner Ueberredung gelang es auch, die aufrührerischen Bauern wieder einigermaßen zu beruhigen, indem er ihnen die Nothwendigkeit vorstellte, im Einverständnisse mit den benachbarten Dorfschaften und der übrigen ländlichen Bevölkerung zu handeln, welche von dem gleichen Geiste der Empörung beseelt, und von ihm und seinen Gesinnungsgenossen hinlänglich bearbeitet worden war.

Es war auf nichts Geringeres, als auf einen allgemeinen Aufstand des oberschlesischen Landvolks abgesehen. Die Stimmung desselben war ihm bekannt, und aus den entferntesten Gegenden kamen Anzeichen des nahen Sturmes. Nur von einer gleichzeitigen und übereinstimmenden Erhebung ließ sich ein Erfolg erwarten. Es fehlte nur noch der Führer für eine solche Bauernrevolution, und auch für diesen hoffte der schlaue Actuar Rath zu finden.

„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben,“ sagte er beschwichtigend. „Man muß die rechte Zeit abwarten. Wenn alle Bauern wie ein Mann aufstehen, dann hat die letzte Stunde für die Gutsherrn geschlagen. Zwei haben mehr Gewalt als Einer, Tausend mehr wie Hundert, und wenn gar Alle kommen, dann können sie Euch die Freiheit nicht mehr vorenthalten. Im Ratiborer und Rybniker Kreise denken die Bauern so wie Ihr. Wenn es losgehen soll, muß es zu gleicher Zeit, an allen Ecken und Enden losgehen. Bis dahin verhaltet Euch ruhig, und wartet auf den Boten, den ich Euch schicken werde.“

Damit erhob sich der Redner und leerte sein Glas, indem er auch die Uebrigen zum Aufbruch mahnte, da es bereits spät war. Die Bauern zerstreuten sich, und bald blieb nur der jüdische Wirth mit seiner Frau zurück.

„Morgen,“ sagte dieser, „gehe ich auf’s Schloß, und werde da dem gnädigen Herrn verzählen, was sich thut.“

„Was geht’s Dich an?“ fragte die furchtsame Gattin. „Wenn die Bauern hören, daß Du geredt hast, brechen sie Dir Hals, Leib und Leben.“

Diese Gründe schienen dem Manne einzuleuchten; er schwankte wenigstens zwischen der natürlichen Furcht und seiner Anhänglichkeit an das Haus des Barons. Vorläufig beschloß er, sich die Sache zu beschlafen. – Vorsichtig riegelte er die Hausthür zu und löschte die Lichter aus, worauf er sich zu Bette begab.

Bald war es still im ganzen Dorfe, nur hier und da bellte [47] ein wachsamer Hund und wenn er wieder verstummte, regte sich kein Laut in der Nähe und Ferne. Die niedrigen Hütten lagen in der Dunkelheit schweigend da, wie ausgestorben. Der Himmel hatte sich mit schweren Regenwolken umzogen und ließ keinen Stern durchschimmern. Es war eine finstere, schwüle Nacht, recht geeignet für ein Verbrechen oder sonst eine unheimliche That. Mit leisen, kaum hörbaren Schritten eilte der Actuar, wie ein flüchtiger Schatten an den Häusern vorüberschlüpfend, durch das Dorf. Bald hatte er den Ausgang erreicht und jetzt schlug er einen Seitenpfad ein. Der Weg führte ihn an dem Kirchhofe vorüber. Trotz seines Unglaubens konnte er sich eines leisen Schauers nicht erwehren. Er beschleunigte seine Schritte, um aus der Nähe der Todten zu kommen. Es war da das Grab eines jungen Mädchens, das sich vor vielen Jahren um seinetwillen in den Mühlbach gestürzt hatte. Er konnte die Erinnerung an die arme Madlena nicht los werden. Dort an dem schwarzen Kreuze glaubte er ihre bleiche Gestalt zu erblicken. Eilig flog er vorüber und über die schmale Brücke, unter der das Wasser floß, worin ihre Leiche gefunden wurde. Auch da folgte ihm ihr Schatten nach. Eine dunkle Gestalt bewegte sich näher und näher; dem Actuar stand das Haar unwillkürlich zu Berge; er wurde von einem plötzlichen Schwindel gefaßt, der zum Theil wohl von den reichlich genossenen Getränken herrühren mochte. Seine Füße wankten, nur noch ein Schritt und er stürzte von dem Hohlsteg in die Fluth, welche an dieser Stelle mehrere Fuß tief war, wenn ihn nicht eine starke Hand zurückgehalten hätte.

„Erbarmen!“ stöhnte der arme Sünder, welcher seine Besinnung verloren hatte.

„Wollt Ihr denn mit aller Gewalt Euch in das Wasser stürzen?“ fragte ihn eine Stimme, die ihm nicht fremd war.

„Wie, Du bist es, Pawel?“ rief er, durch den Schreck nüchtern geworden.

„Freilich! Ich bin es, Herr Actuar,“ antwortete der Schmiedegeselle, der trotz der Dunkelheit den Actuar sogleich erkannt hatte.

„Ich hörte ja, daß Du gefangen seist,“ bemerkte dieser verwundert.

„Ich habe mich losgemacht und bin glücklich aus dem verwünschten Kerker entkommen. Wie, erzähle ich Euch ein anderes Mal, da ich jetzt keine Zeit habe.“

„Das glaub’ ich gern; aber was willst Du denn nun beginnen?“

„Ich weiß es nicht. Am besten wird es wohl sein, wenn ich über die Grenze nach Polen fliehe. Dort sucht mich kein Mensch.“

„Das geht nicht so leicht,“ sagte der Actuar, den ein plötzlicher Gedanke durchzuckte. „Ich will Dir einen bessern Vorschlag machen, wie Du hierbleiben und Dich an Deinen Feinden rächen kannst. Das ist doch Deine Absicht?“

„Ihr könnt noch fragen?“ antwortete Pawel, indem er bei der Erinnerung an die erlittene Beschimpfung mit den Zähnen knirschte.

„So ist es recht!“ lachte der Actuar, der seine frühere Gespensterfurcht wieder gänzlich überwunden hatte und in Pawel ein willkommenes Werkzeug für seine Pläne sah. „So ist es Recht; es gibt kein süßeres Gefühl, als die Rache, und ich will Dir dazu behülflich sein. Ich habe ohnehin eine Rechnung mit dem Herrn Baron und seinem Verwalter abzumachen, der Dir so übel mitgespielt hat. Ich will Dir die Mittel und Wege schon angeben, wenn Du mit mir kommst.“

„Wohin?“

„In die Waldschenke, wo ich einstweilen meine Wohnung aufgeschlagen habe; dort bist Du sicher, wie in Abrahams Schooß.“

Einen Augenblick schwankte Pawel, ob er seinem Begleiter nach der verrufenen Spelunke folgen sollte, wo sich allerlei Gesindel, Schmuggler, Wilddiebe und ähnliche Gesellen, welche mit der Polizei auf gespanntem Fuße leben, aufzuhalten pflegten. Aber der Durst nach Rache und die wahrhaft dämonische Beredsamkeit des Actuars besiegten seine Bedenklichkeiten. Durch die erduldeten Mißhandlungen war der Schmiedegesell so verwildert und empört, daß er dem Versucher nicht widerstehen konnte, der ihn mit sich fortriß.




IV.

In dieser Gegend Oberschlesiens gab es damals und gibt es vielleicht heute noch einzelne Waldstrecken, so undurchdringlich und dicht, wie die Urwälder Amerika’s. Tausende von Stämmen stürzen dort und verfaulen ungenützt und auf dem von Baumleichen gedüngten Boden steigt ein neues Geschlecht von Kiefern und Fichten, von Birken und Rüstern empor in wilder Ueppigkeit. Der Boden ist glatt von den abgefallenen Nadeln und schlüpfrig von dem Moder der verwesenden Pflanzenwelt, für Wagen und Pferde vollkommen unzugänglich, da der Regen keinen Abfluß hat und das zähe Erdreich wegen mangelnden Zutritts der Sonne und des Windes nie vollkommen austrocknet. Selbst am Tage herrscht daselbst eine tiefe Dämmerung, ein unheimliches Schweigen. Da gibt es keine sichern Wege; nur selten betretene Fußpfade dienen dem Verbrecher und Schmuggler auf seinen verborgenen Wanderungen. Selbst der kühnste Jäger wagt sich nicht in dieses Dickicht, wo dorniges Gestrüpp und junger Nachwuchs ihm den Zugang abwehren und die Kugel des Wildschützen ihn aus sicherem Verstecke treffen kann. Manche Leiche mag dort begraben liegen unter weichem Mose und dem dürren Blätterschutt, der an vielen Stellen fußhoch aufgethürmt liegt.

Meilenlang dehnt sich oft ein solcher Wald und bildet häufig die Grenze zwischen dem preußischen und polnischen Gebiete, ein willkommener Schlupfwinkel für die beiderseitigen Ueberläufer, welche hier eine sichere Zuflucht finden. So hat auch diese Wildniß ihre Bewohner und ein gewisser Verkehr herrscht auch in der Einsamkeit; denn wohin wird nicht der Fuß der Menschen von Verzweiflung oder Furcht vor der Strafe getrieben?

In der Nähe eines derartigen Waldes lag die Schenke, wohin der Actuar seinen Schützling brachte. Es war fast Mitternacht vorüber, als sie daselbst anlangten; ein schwacher Lichtschimmer verkündete, daß der Wirth und vielleicht noch einige Gäste wachten. Lautes Hundegebell ertönte und in der Dunkelheit der Nacht sprang ein wildes Thier von der Schwelle knurrend empor und wehrte zähnefletschend den Eingang. Der Actuar schien hier vollkommen Bescheid zu wissen; er stieß ein eigenthümliches Geschrei aus, das dem Geschrei eines Raubvogels glich. Alsdann wurde der Riegel an der Hausthür zurückgeschoben und dieselbe vorsichtig nur halb geöffnet.

„Wer ist da?“ fragte eine hohle Stimme.

„Ich bin es, der Actuar!“

„Aber Ihr kommt nicht allein.“

„Es ist ein Freund; mach nur schnell auf, Tomek, denn das Gewitter wird bald losbrechen. Der Wind heult schon in den Bäumen.“

In der That hörte man, das Brausen des Sturmes und das ferne Rollen des aufziehenden Gewitters. Der Wirth öffnete vollends die Thür und ließ die späten Wanderer herein. Pawel trat in ein wüstes Zimmer, welches spärlich von einer Oellampe erleuchtet wurde. Auf dem bloßen Boden, der nicht einmal gedielt war, und in der Nähe des Ofens lagen einige wilde Gestalten in ihren zerlumpten Kleidern. Sie fuhren beim Eintritt der Fremden mit ängstlichen Mienen empor. Sobald sie sich jedoch überzeugt hatten, daß sie nichts zu fürchten brauchten, drehten sie sich brummend wieder auf die Seite und schliefen schnarchend ein. In der Mitte stand ein elender Tisch, um den mehrere Männer auf Holzblöcken und leeren Fässern in Ermangelung von Stühlen und Bänken saßen. Sie schienen den Actuar erwartet zu haben. Pawel erkannte einige Bauern aus der Umgegend, berüchtigte Subjecte, aber auch darunter Andere von untadeligem Rufe, die sich in einer solchen Gesellschaft nicht ganz wohl zu fühlen schienen.

„Zum Teufel!“ rief ein breitschulteriger Geselle mit verwogenem Gesicht, „wo seid Ihr denn so lange geblieben? Wir haben schon geglaubt, daß Euch ein Unglück begegnet sei.“

„Das nicht, aber man kommt nicht so bald wieder los, wenn man einmal unten im Dorfe ist.“

„Nun, wie steht’s und wen habt Ihr uns da mitgebracht?“

„Einen braven Burschen, den ich kenne und für den ich mich verbürge. Er wird seine Schuldigkeit thun.“

Die Anwesenden reichten dem ihnen so empfohlenen Pawel ihre Hände und tranken ihm aus der auf dem Tische stehenden Flasche zu.

„Ihr habt ihn doch in Alles eingeweiht?“ fragte der vorherige [48] Redner, welcher der Buschmüller hieß und ein bekannter Wilddieb war.

„Er weiß um Alles und hat mir Verschwiegenheit gelobt. Wir können offen vor ihm reden.“

Die Unterhaltung drehte sich jetzt um die bevorstehende Erhebung des oberschlesischen Landvolkes. Die hier anwesenden Männer, deren Zahl eine ziemlich ansehnliche war, betrachteten sich gleichsam als die Vertreter der verschiedenen Dörfer. Sie hatten sich in der einsamen Waldschenke zusammengefunden, um die näheren Umstände unbelauscht und ohne Verdacht zu erregen, mit einander zu verabreden. Pawel erfuhr jetzt zu seinem Erstaunen die Existenz einer weitverzweigten Verschwörung, welche sich seit Wochen und Monaten über den größten Theil des flachen Landes erstreckte und einen allgemeinen Aufstand der Bauern gegen ihre Gutsherrn zum Zwecke hatte. Man war nur noch über die Zeit nicht einig und diese sollte festgestellt werden, auch fehlte es noch hier und da an zuverlässigen Führern. Eine solche Stellung wurde ihm angeboten und er dazu bestimmt, in seinem Dorfe die Leitung der bereits durch den Actuar aufgereizten und hinlänglich bearbeiteten Bewohner zu übernehmen.

„Bald wird es Dir nicht an Gelegenheit zur Rache fehlen,“ sagte dieser, seinen Schützling anfeuernd.

Pawel erklärte sich sofort bereit, die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen. Sein Thatendrang fand endlich eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen; und dieses Gefühl beherrschte ihn noch weit mehr, als sein Durst nach Rache. Oft hatte er in seinen einsamen Stunden am Schmiedeheerd über die Ungerechtigkeit des Schicksals geseufzt. In seiner Seele schlummerte eine dunkle Ahnung der angeborenen Menschenrechte, die er so frevelhaft an sich selbst und seiner Schwester verletzt sah. Zu der ihm angethanen persönlichen Beleidigung gesellte sich noch das Gefühl des allgemeinen Elends und der widerrechtlichen Knechtschaft, die seit Jahrhunderten schwer auf der ländlichen Bevölkerung lastete. Auch er hatte von der Cabinetsordre des Königs gehört, auch er theilte die verbreitete Meinung, daß die Edelleute sich gegen den ausdrücklichen Befehl des Herrschers auflehnten und die den Bauern verliehene Freiheit diesen vorenthalten wollten. Nicht gemeine und persönliche Motive, sondern weit mehr noch der Gedanke, dem Volke zu seinem Rechte zu verhelfen, machte Pawel geneigt, auf die Vorschläge seiner neuen Freunde einzugehen und zur Ausführung ihrer Pläne behülflich zu sein. – Einstweilen, bis zu dem festgesetzten Tage, hielt er sich in der abgelegenen Waldschenke auf den Rath des Actuars verborgen. Sobald seine Flucht bekannt wurde, ließ es der Verwalter nicht an Nachforschungen fehlen; dieselben blieben aber fruchtlos und Hartmuth mußte sich damit begnügen, seine Wuth an den unschuldigen Knechten auszulassen, denen er die Bewachung des Gefangenen anvertraut hatte. – Auch Jadwiga ließ er seinen Zorn empfinden, da er mit Bestimmtheit glaubte, daß sie um den Aufenthalt ihres Bruders wüßte. Er hütete sich jedoch vor jeder neuen Thätlichkeit, da er die Rache des Abwesenden fürchtete. Nach und nach, als die Verfolgung gegen ihn lässiger wurde, wagte sich Pawel aus seinem sichern Schlupfwinkel hervor. Zuerst benachrichtigte er seine Schwester von seinem Aufenthalte und sie flog sogleich herbei, beladen mit Lebensmitteln und Vorräthen, die sie sich selbst vom Munde abgespart hatte. Niemand gibt lieber und leichter, als der Arme, weil er weiß, wie weh der Hunger thut.

In der Nähe des Waldes lag eine Capelle, welche er ihr zum Ort des Stelldicheins bezeichnet hatte. Zu den Füßen der schmerzhaften Gottesmutter, von hundert Schwertern durchbohrt, saßen die Geschwister, und das zwar roh, aber nicht ohne Ausdruck gemalte Bild schaute auf die beiden Schmerzenskinder nieder. Jadwiga theilte dem Bruder die ihn betreffenden Ereignisse mit, ihre vergeblichen Bemühungen bei dem Baron, seine Freilassung zu bewirken, und das edle Benehmen Veronika’s bei dieser Gelegenheit.

„O! sie ist ein Engel, eine Heilige,“ sagte sie in schwärmerischer Begeisterung. „Sie ist seitdem noch mehrere Male bei mir gewesen und hat sich auch nach Dir erkundigt.“

„Sie war als Kind schon immer so gut und freundlich gegen mich,“ antwortete Pawel, in Gedanken versunken.

„Wenn Du sie gesehen hättest, wie sie für Dich bat, aber der Baron wollte sie nicht hören. Der ist härter noch wie Stein und ohne Erbarmen.“

„Er soll an mich denken. Die Zeit der Rache wird bald kommen.“

„Pawel!“ rief die Schwester erschrocken. „Ist es wahr, was die Leute im Dorfe sagen? Es geht etwas vor; die Männer wollen gegen den Baron Gewalt brauchen und Du sollst an ihrer Spitze stehen. Um Gotteswillen, mache Dich nicht noch unglücklicher, als Du ohnehin schon bist. Vor allen Dingen mußt Du mir versprechen, dem gnädigen Fräulein nichts zu Leide zu thun.“

„Wo denkst Du hin? Hat sie mir nicht helfen wollen, hat sie Dich nicht getröstet und Dir Geld für Deinen kranken Mann gegeben?“

„Schwöre mir bei der heiligen Jungfrau, die zu uns niedersieht, sie zu schützen.“

„Ich schwöre Dir. Was auch immer kommen mag, ihr soll kein Haar gekrümmt werden.“

Durch seine feierlichen Worte beruhigt, entfernte sich Jadwiga. Pawel blieb allein zurück, von den widersprechendsten Gefühlen bewegt. Bald dachte er an den Baron, dessen Härte er verwünschte, bald an das liebliche Bild Veronika’s, deren Andenken wieder in seiner Seele auflebte. Fast reute es ihn, sich so weit in das gewagte Unternehmen eingelassen zu haben, aber er konnte nicht mehr zurücktreten, da er sich durch einen Schwur gebunden hatte. Der Actuarius, welcher ihn zu suchen kam, beschwichtigte vollends jede Bedenklichkeit durch seine Ueberredungskraft.

„Heut’ in der Nacht geht der Tanz los,“ sagte dieser. „Wir machen den Anfang und zugleich stehen alle Dörfer in der ganzen Umgegend auf. Das soll ein Leben werden! Um Mitternacht brechen wir auf; die Bauern erwarten uns an der Ziegelscheune. Zuerst statten wir dem Verwalter einen Besuch im Vorübergehen ab und dann ziehen wir auf das Schloß, wo der Herr Baron uns kennen lernen soll. Freust Du Dich nicht, alter Bursche?“

„Gewiß!“ antwortete Pawel zerstreut.

„Also auf Wiedersehen um Mitternacht!“

(Schluß folgt.)




Ein brasilianischer Urwald.

Die Urwälder, welche als Zeugen der schöpferischen Kraft des neuen Continents in ursprünglicher Wildheit und noch unentweiht durch menschliche Einwirkung dastehen, nennt man in Brasilien jungfräuliche Wälder. In ihnen weht den Wanderer europäische Kühle an, und zugleich tritt ihm das Bild der üppigsten Fülle entgegen; eine ewig junge Vegetation treibt die Bäume zu majestätischer Größe empor, und noch nicht zufrieden mit diesen riesenhaften, uralten Denkmälern, ruft die Natur auf jedem Stamme eine neue Schöpfung von vielen grünenden und blühenden Parasiten hervor. Statt jener einförmigen Armuth an Arten in europäischen, besonders in nördlichen Wäldern, entfaltet sich hier eine unübersehbare Mannichfaltigkeit der Bildungen in Stämmen, Blättern und Blüthen. Fast ein jeder dieser Fürsten des Waldes, welche hier neben einander stehen, unterscheidet sich in dem Gesammtausdrucke von seinen Nachbarn.

Wenn wir es versuchen, ein Gemälde von dem Innern einer tropischen Urwaldung zu entwerfen, dürfen wir nicht vergessen, auf das Verhältniß aufmerksam zu machen, welches rücksichtlich des Selbsterhaltungstriebes zwischen den einzelnen Individuen stattfindet. Bei einer so großen Fülle von Leben und einem so kräftigen Ringen nach Entwicklung vermag selbst ein Boden, so fruchtbar und üppig, wie der hiesige, nicht die nöthige Nahrung in gehörigem Maße zu reichen; daher stehen jene riesenartigen Gewächse in einem beständigen Kampfe der Selbsterhaltung unter [49] einander, und verdämmen sich mehr noch als die Bäume unserer Waldungen. Selbst die schon hocherwachsenen und einer großen Masse von Nahrungsstoffen bedürftigen Stämme empfinden den Einfluß ihrer noch mächtigeren Nachbarn, bleiben bei Entziehung der Nahrung plötzlich im Wachsthum zurück, und fallen so in kurzer Zeit den allgemeinen Naturkräften anheim, die sie einer schnellen Auflösung entgegenführen. Man sieht so die edelsten Bäume nach wenigen Monaten eines tropischen Leidens von Ameisen und anderen Insecten zernagt, vom Grund bis an die Spitze von Fäulniß ergriffen, bis sie plötzlich zum Schrecken der einsamen Bewohner des Waldes unter krachendem Geräusch zusammenstürzen. Im Allgemeinen machen die Landbauer die Bemerkung, daß Stämme, welche einzeln zwischen mehreren einer andern Art stehen, leichter von letzteren unterdrückt werden. Eine regelmäßige Forstcultur, an die freilich bis jetzt in diesen wenig bevölkerten Wäldern noch nicht gedacht worden ist, wird daher hier künftig nicht sowohl das Wachsthum der Stämme gedrängter Nachbarschaft befördern, sondern vielmehr dafür Sorge tragen müssen, daß die Pflanzen in der zweckmäßigen Entfernung von einander aufwachsen.

Es wäre zu weitläufig, hier das Pflanzenwachsthum des Urwalds näher zu charakterisiren. Leichter läßt sich das eigenthümliche Thierleben desselben veranschaulichen. Der Naturforscher, zum ersten Male hierher versetzt, weiß nicht, ob er mehr die Formen, Farben oder Stimmen der Natur bewundern soll. Den Mittag ausgenommen, wo alle lebenden Geschöpfe der heißen Zone Schatten und Ruhe suchen, und wo daher eine majestätische Stille über die im Sonnenlichte glänzende Tropennatur verbreitet ist, ruft jede Stunde des Tages eine andere Welt von Geschöpfen hervor. Den Morgen verkünden das Gebrüll der Heulaffen, die hohen und tiefen Töne der Laubfrösche und Kröten, das monotone Schmettern und Schwirren der Cicaden und Heuschrecken.

Ein brasilianischer Urwald.

Hat die aufsteigende Sonne den ihr vorangehenden Nebel verdrängt, so freuen sich alle Geschöpfe des neuen Tages. Die Wespen verlassen ihre schuhlangen, von den Zweigen herabhängenden Nester; die Ameisen kommen aus ihren künstlich von Lehm aufgethürmten Wohnungen, womit sie die Bäume überziehen, hervor und beginnen die Reise auf den selbst gebahnten Straßen, ebenso die das Erdreich hoch und weit umher aufwühlenden Termiten. Die buntfarbigsten, an Glanz mit den Farben des Regenbogens wetteifernden Schmetterlinge, besonders zahlreiche Hesperiden, eilen von Blume zu Blume oder suchen ihre Nahrung auf den Straßen oder, in einzelne Haufen zusammengestellt, auf besonnten Sandufern der kühlen Bäche, der blauspiegelnde Menelaus, Nestor, Adonis, Laertes, die bläulich weiße Joea und der große, mit Augen bemalte Eurylochus schwingen sich, Vögeln ähnlich, durch die feuchten Thäler zwischen grünen Hügeln hin. Die mit den Flügeln schnarrende Feronia fliegt eilig von Baum zu Baum, während die Eule, der größte der Nachtschmetterlinge, mit ausgebreiteten Flügeln unverrückt am Stamme festsitzend, den Abend erwartet. Myriaden der glänzendsten Käfer durchschwirren die Luft und blinken gleich Edelsteinen aus dem frischen Grün der Blätter oder duftenden Blumen hervor. Indessen schleichen Eidechsen von auffallender Form, Größe und Farbenpracht, düster gefärbte, giftige oder unschädliche Schlangen, welche an Glanz den Schmelz der Blumen übertreffen, aus dem Laube, den Höhlen der Bäume und des Bodens hervor und sonnen sich, an den Bäumen sich hinaufwindend und auf Insecten oder Vögel lauernd. Von nun an ist Alles voll thätigen Lebens. Eichhörnchen, Heerden von geselligen Affen ziehen neugierig aus dem Innern der Wälder nach den Anpflanzungen und schwingen sich pfeifend und schnalzend von Baum zu Baum. Die hühnerartigen Jacus, Haccos und die Tauben verlassen die Zweige und irren auf dem feuchten Waldboden umher. Andere Vögel von den sonderbarsten Gestalten und dem glänzendsten Gefieder flattern einzeln oder gesellig durch die duftenden Gebüsche. Die grün, blau und roth gefärbten Papageien erfüllen, auf den Gipfeln der Bäume versammelt oder gegen die Pflanzungen und Inseln hinfliegend, die Luft mit ihrem krächzenden Geschwätz. Der Tucan klappert mit seinem großen hohlen Schnabel auf den äußersten Zweigen und ruft in lauten Tönen wehklagend nach Regen. Die geschäftigen Pirolen schlüpfen aus ihren lang herabhängenden beutelförmigen Nestern [50] hervor, um die vollen Orangenbäume zu besuchen, und ihre ausgestellten Wachen verkünden mit lautem, zänkischem Geschrei die Annäherung des Menschen. Die einsam auf Insecten lauernden Fliegenschnäpper schwingen sich von Bäumen und Stauden und erhaschen raschen Fluges den dahin wogenden Menelaus oder die vorübersummenden glänzenden Fliegen.

Im Gesträuche verborgen thut indessen die verliebte Drossel die Freude ihres Lebens in schönen Melodien kund; die geschwätzigen Pipren belustigen sich, aus dichtem Gebüsche bald hier, bald dort in vollen Nachtigalltönen lockend, den Jäger irre zu führen, und der Specht läßt, indem er die Rinde der Stämme aufpickt, sein weitschallendes Klopfen ertönen. Lauter als alle diese wunderbaren Stimmen erschallen von der Spitze der höchsten Bäume die metallischen Töne der Uraponga, welche, den Klängen der Hammerschläge auf dem Amboße ähnlich, nach der Wendung des Sängers bald näher, bald ferner, den Wanderer in Erstaunen setzen. Während so jedes lebende Wesen in Bewegung und Tönen die Schönheit des Tages feiert, umschwirren die zarten Colibri’s, an Pracht und Glanz mit Diamanten, Smaragden und Saphiren wetteifernd, die prunkvollsten Blumen. Mit dem Untergang der Sonne kehren die meisten Thiere zur Ruhe; nur das schlanke Reh, das scheue Pecari, die furchtsame Agouti und der rüsselige Tapir weiden noch umher; die Nasen- und Beutelthiere, die hinterlistigen Katzenarten schleichen, nach Raub spähend, durch die Dunkelheit des Waldes, bis endlich die brüllenden Heulaffen, das gleichsam um Hülfe rufende Faulthier, die trommelnden Frösche und die schnarrenden Cicaden mit ihrem traurigen Liede den Tag beschließen, der Ruf des Macun, der Capueira, des Ziegenmelkers und die Baßtöne des Ochsenfrosches den Eintritt der Nacht verkünden. Myriaden leuchtender Käfer beginnen nun gleich Irrlichtern umherzuschwärmen und gespensterartig flattern die blutsaugenden Fledermäuse durch das tiefe Dunkel der Tropennacht.[1]





Ein unaufgelöstes Räthsel.
(Schluß.)


Das sind die Betrachtungen, die wir an die Waldwohnung zu knüpfen haben. Die Unwahrscheinlichkeiten, welche in Carolinens Erzählung dieser Phase ihres Lebens zu liegen scheinen, werden durch sie den Charakter von Verdachtsgründen verloren haben. Daß Caroline diese düstere Wohnung freudig verließ, als man sie zu ihrer Mutter zu führen versprach, liegt in der Natur der Sache. Ihre Reise soll dreizehn Tage und zwölf Nächte gedauert haben, „mit den nämlichen Pferden“, wie sie sagt. Diese Aeußerung darf man nicht streng nehmen; wie soll sie auf das Vorlegen anderer Pferde geachtet haben, sie, welche diese Thiere nur als kleines Kind gekannt hatte und mit ganz anderen Gedanken beschäftigt war. Wenn die Reise genau so erfolgte, wie sie erzählt, mußte sie dann nicht ein Aufsehen erregen, das zur Entdeckung hätte führen müssen? Gewiß nicht. Wagen mit geschlossenen Fenstern fahren tagtäglich auf den Heerstraßen, besonders in den letzten October- und in den ersten Novembertagen, und auch Damen, die im Wagen sitzen bleiben und sich dorthin kalte Küche bringen lassen, gehören keineswegs zu den Seltenheiten. Aufsehen erregt ein Gebahren, wie Caroline es beschreibt, am allerwenigsten; man denkt dabei nicht an ein Geheimniß, sondern an aristokratische Gewohnheiten. Pässe, die scheinbar in Ordnung waren, haben die Reisenden ohne Zweifel gehabt. Wurde der Wagen irgend wo für auffallend gehalten, so war dieser Eindruck längst verwischt, als die öffentliche Bekanntmachung und Aufforderung des Kreisamtes zu Offenbach erschien. Am 14. November 1853 wurde, Caroline in Offenbach verhaftet und am 22. März 1854 erging jene amtliche Aufforderung. Zwischen ihr und der Fahrt Carolinens liegen mithin mehr als vier Monate, und in einer solchen Zeit vergißt sich viel. Bis zu seinem öffentlichen Auftreten scheint das Gericht nichts Nennenswerthes gethan zu haben. So lange Caroline für eine verschmitzte Betrügerin galt, beschäftigte man sich mit ihr allein, und als man endlich – sie war inzwischen einige Wochen krank gewesen – zu einer bessern Ueberzeugung gelangte, verfolgte man einseitig die Vermuthung, „daß gedachte Person mit einem k. k. Militairtransporte in hiesige Gegend gelangt sei“, und stellte in dieser Richtung, die eine falsche war, Ermittelungen an.

Die objective Seite der Sache ist nun bis auf die Geschichte des fremden Mädchens und der Frau, die Carolinen ihrer Sachen beraubt haben, erledigt. Was die Unglückliche in dieser Beziehung erzählt, tragt den Stempel innerer Wahrheit an sich und stimmt mit dem Verfahren der Menschenrasse, in deren Hände sie am Schlusse ihrer Wanderschaft gelangt war, ganz überein. Eine Landstreicherin findet in einsamer Gegend ein Mädchen, das der Landessprache nicht mächtig und arglos und unerfahren wie ein Kind ist. Sie nimmt dieses Mädchen mit sich und führt sie am Abend zu einer älteren Vertrauten, um sie dort im Schlafe zu bestehlen. Sie entfernt sich nach dem Diebstahl und die Vertraute spielt gegen die Bestohlene die Rolle der Wohlthäterin, gibt ihr einige schlechte Kleidungsstücke und entläßt sie darauf. Aehnliches ist hundert Mal dagewesen. Ein äußerer Umstand dient zur Bekräftigung der Wahrheit von Carolinens Aussage: man hat sie mit Kleidern angethan gefunden, die ihr nicht gehörten, wie ihre zu große Weite bewiesen. Noch einen Umstand übersehe man nicht. Ein Mädchen, das so erzogen worden war, wie Caroline, und zuletzt solche Schicksale erlebt hatte, mußte so angegriffen sein, daß am ersten Ruheorte eine Krankheit ausbrach. Caroline ist in der That während der ersten Zeit ihres Offenbacher Aufenthaltes krank gewesen.

Läßt sich ihre Erzählung an sich nicht verwerfen und werden die in ihr enthaltenen Unwahrscheinlichkeiten bei näherer Betrachtung ihre Bedeutung verloren haben, so kommt doch Alles darauf an, ob Carolinens Persönlichkeit in subjectiver Beziehung ihrer Erzählung zur Stütze dient. Eine geschickte und erfahrene Lügnerin ist Wohl im Stande, eine romanhafte Geschichte mit glaubwürdigen Einzelnheiten aufzustutzen. Ehe wir an diese subjective Seite, den eigentlichen Cardinalpunkt, näher herantreten, müssen wir vorausschicken, daß Caroline sowohl in juristischer als in psychologischer Hinsicht geprüft worden ist. Man hat sie für eine Lügnerin gehalten und darauf hin inquirirt, man hat sie drei Jahre lang unausgesetzt beobachtet, auf die Probe gestellt, und sie ist in keiner Verwickelung in ihren so weitläufigen, bis in’s kleinste Detail gehenden Aussagen, auf keinem Widerspruche, auf keinem Verstoße gegen psychologische Gesetze ertappt worden. Man denke sich die abgefeimteste Lügnerin, die mit kaltblütiger Berechnung stets auf ihrer Hut ist, man lasse sie ihr künstliches Lügengebäude bis zur Giebelspitze fertig bringen, und sie wird in irgend einem Augenblicke ihrer Erzählung untreu werden, der ersten Unwahrheit überführt durch ihr Bemühen, das Vertrauen wieder zu gewinnen, sich immer tiefer verwickeln und bald entlarvt sein. Eine solche Lügnerin wird gerade die Unwahrscheinlichkeiten, welche in Carolinens Erzählung vorkommen, am sorgsamsten vermeiden. Hat der Leser unserer Erzählung seine Aufmerksamkeit geschenkt, so wird er mehrerer Punkte sich erinnern, die seinen Argwohn erregten und von denen er sich gleichwohl nicht sagen konnte, weshalb Caroline sie, wenn sie Alles erlogen, in ihr Gewebe [51] eingeflochten habe. Um unsere Erörterung nicht zu weit fortzuspinnen, wollen wir nur einen Punkt hervorheben. Eine Lügnerin würde Adolf, dieses zweite Opfer, aus dem Spiele gelassen haben, einmal, um für ihre eigene Person das Interesse ungeschwächt zu erhalten, und dann, um nicht durch die Erzählung von einem Unglücklichen, der noch in der Waldwohnung schmachte, zu allzu eifrigen Nachforschungen anzureizen, also zu dem, was eine Lügnerin am meisten zu scheuen hätte, da diese Forschungen die wirkliche Wohnung, wo sie ihren Plan entworfen hatte, leicht an den Tag bringen konnten.

Entscheidend ist für uns, daß Caroline, wenn sie eine Rolle spielte, eine solche wählte, an deren unüberwindlichen Schwierigkeiten sie unfehlbar scheitern mußte. Sie spielte ein Mädchen, dessen Körper die jungfräuliche Reife hat, dessen geistige Entwickelung auf der kindlichen Stufe geblieben ist. Für eine solche Rolle gab es kein Vorbild, und nicht der erste Psycholog der Welt hätte ihr alles dazu Nöthige einstudiren können. Sie ist aber wirklich, eine Jungfrau mit dem Geiste eines Kindes, ihr Lehrer Eck bezeugt das ausdrücklich an vielen Stellen seines Buches und verspricht zum weitern Belege eine ausführlichere psychologische Erläuterung. Einiges von dem, was er beispielsweise mittheilt, wollen wir an dieser Stelle aufnehmen. Caroline hatte den Wunsch, über mancherlei Dinge zu fragen, sich zu offenbaren und die vielen Fragen, welche man hinsichtlich ihrer Vergangenheit an sie richtete, zu beantworten. Aber dieses bei ihr in hohem Grade vorhandene Bedürfnis; der Mittheilung konnte sie während der ersteren Zeit ihres Aufenthaltes hier in Offenbach beinahe gar nicht, später nicht so befriedigen, wie sie es wünschte, worüber sie oft weinte. Wurde Caroline nun gefragt, warum sie weine, so antwortete sie gewöhnlich: „Ich nicht sagen können, was ich denken; ich viel wissen und nicht sagen können.“ Spielte sie dagegen mit kleinen Kindern, welche in einem gewissen Sinne mehr ihres Gleichen waren (Caroline war, wie sich später ergeben wird, an Geist und Gemüth selbst noch ein Kind), so haben diese und jenes große Kind einander so ziemlich theils wirklich, theils auch nur eingebildet verstanden. Jedenfalls wurden hier auch nur solche Fragen gegenseitig vorgelegt, welche Caroline und die kleinen Kinder auf die eine oder andere Weise beantworten konnten, gleichviel ob richtig oder unrichtig. Es war also das Bedürfniß der Mittheilung und Unterhaltung auf beiden Seiten einigermaßen befriedigt und darum das große Kind, an seine traurige Lage nicht denkend, eben so heiter und vergnügt, wie die kleinen Kinder. Und hierin findet Carolinens Neigung, mit kleinen Kindern zu spielen, hauptsächlich ihre Erklärung. Daß Bertha ein Kind in Carolinens Stube brachte, muß diese sehr angenehm berührt und darum ganz ungewöhnlich angeregt haben. Nur selten hat Caroline Bertha nach Diesem oder Jenem gefragt. Kaum aber hatte ihr Bertha mitgetheilt, daß dieses Kind Adolf heiße, was alsbald geschah, nachdem sie dasselbe zu ihr in die Stube brachte, so fragte Caroline unmittelbar darauf, woher Adolf gekommen sei. „Ich habe ihn aus dem Wasser geholt“ – war Bertha’s Antwort. Nachdem dies Caroline mir mitgetheilt hatte, fragte ich sie einige Wochen darauf, ob ihr Bertha wohl gesagt habe, wie der Papa und die Mama von Adolf hieße. Caroline erinnerte sich noch, daß sie mir schon gesagt, Bertha habe Adolf aus dem Wasser geholt, und sah mich deshalb etwas befremdet an, als wollte sie mir mit ihren Blicken sagen, wie ich zu dieser von ihr bereits beantworteten Frage komme. Sie antwortete daher ungefähr mit folgenden Worten: „Adolf hatte kein Papa und keine Mama habt; Bertha hat den Adolf aus dem Wasser holt.“ Dies glaubt sie heute noch eben so fest, wie sie bis zur Stunde noch die ganz bestimmte Meinung hat, daß auch Henrik, der Sohn ihres Oheims, nie eine Mutter gehabt, weil sie dieselbe nie gesehen, auch nie etwas von ihr gehört habe. Solche Aeußerungen, von einem zweiundzwanzig- bis dreiundzwanzigjährigen Mädchen in allem Ernste gesprochen, lassen wohl den durchaus reinen, noch so ganz kindlichen Seelenzustand desselben leicht erkennen. Oft sehnte sie sich, besonders während der ersteren Zeit ihres Aufenthaltes hier in Offenbach, wieder zu Bertha in die Waldwohnung zurück. Daselbst sei es so ruhig, so still und so schön gewesen, sei nicht viel und nicht laut gesprochen, sie auch mit den vielen Fragen nicht so geplagt worden, wie dies hier der Fall ist.

Die vielen für sie ganz neuen und darum ungewohnten Eindrücke in der zweiten Welt (indem Bertha mit Carolinen die Waldwohnung verließ, wurde diese gleichsam zum zweiten Male, freilich erst im Alter einer Jungfrau, geboren) verursachten ihr oft eine große Unbehaglichkeit, ja sogar, wie bereits im Eingänge erwähnt, zuweilen Schmerzen im Kopfe. Der Unterschied zwischen ihrer früheren und jetzigen Welt ist wohl auch so groß, daß die mächtigen Eindrücke der letzteren ihr ganzes inneres Leben in eine Art von Bestürzung bringen, ich möchte sagen, gleichsam blenden mußten. Sehr natürlich daher, daß Caroline oft gewünscht hat, jetzt noch so leben zu können, wie sie in der Waldwohnung mit Bertha gelebt hat. Alsdann nur würde sie sich, wie sie zuweilen ebenfalls zu erkennen gab, glücklich fühlen, nicht so viel über ihre Vergangenheit nachdenken, und dieses Nachsinnen sie nicht so traurig stimmen, wie dies hier in Offenbach schon sehr oft der Fall gewesen sei. „O wie unglücklich bin ich; ich wünsche bei Bertha wieder zu sein“ – sagte sie mir noch vor ganz kurzer Zeit.

An einem Tage, als Caroline noch im Gefängniß war, zweifelte die Familie des Aufsehers an ihrer Aufrichtigkeit. Die Veranlassung war folgende. Am Abend eines der ersteren Tage ihres Aufenthalts bei der Familie des Gefängnißaufsehers sollte Caroline auf dem Hofe etwas besorgen. Sehr schnell und mit nicht geringem Erstaunen kam sie, ohne sich des ihr gegebenen Auftrags entledigt zu haben, wieder zurück in die Stube, und gab ihrer Deutschmama zu verstehen, daß sie mit ihr gehen möchte, sie wolle ihr etwas zeigen. Frau Lemser ging mit ihr in den Hof. Hier zeigte Caroline Das, was dieselbe, wie sie später sagte, noch nie gesehen hatte, nämlich – den Mond und die vielen Sterne; eine Thatsache, die zu mancherlei Vermuthungen, ganz besonders aber wohl zu der Frage Veranlassung geben mußte: Wie ist es möglich, daß ein erwachsenes Mädchen noch nie den Mond und die Sterne gesehen hat? Ihr Lehrer beseitigt diese Frage durch folgende Berechnung: „Nach den vorstehenden Mittheilungen verließ Bertha mit Carolinen am 27. October 1853 Morgens früh die Waldwohnumg, um welche Zeit der Mond bereits zwei Tage in’s letzte Viertel getreten war. Am 8. November gegen Abend wurde Caroline von Bertha ausgesetzt, und an diesem Tage, 45 Minuten nach Mitternacht, trat der Mond in’s erste Viertel. Hiernach ist Bertha mit Carolinen beinahe nur zur Zeit des Neumondes gereist. Am 15. November um 6 Uhr 33 Minuten Abends hat die Zeit des Vollmondes begonnen. Von dem Tage der Aussetzung Carolinens bis zu dem ihrer Ankunft in Offenbach (vom 8. bis 15. November) stand also der Mond im ersten Viertel. So lange Caroline in der Waldwohnung lebte, war sie auch nicht einmal Abends oder Nachts außerhalb derselben. Ferner hat sie vom 8. bis 12. November Tag und Nacht in einem Walde größtentheils weinend oder schlafend, sodann auch den 13. und 14. November und die Nacht zwischen diesen beiden Tagen theils im Felde, theils im Walde beinahe immer weinend zugebracht, während sie in den beiden Nächten vom 12. auf den 13. und vom 14. auf den 15. November in einem Bette schlief. Am 15. Nov. kam sie hier zu Offenbach in’s Bezirksgefängniß, in welchem sie wohl das Licht des Mondes, aber nicht den Mond selbst sehen konnte. Hieraus, wie auch aus ihrem ganz eigenthümlichen Sein und Wesen, welches in vorstehenden Zeilen angedeutet ist, erklärt sich wohl zur Genüge, warum Caroline hier zu Offenbach, wie in der Einleitung in Nr. 2 mitgetheilt wurde, in einem Alter von 22 Jahren zum ersten Mal den Mond und die Sterne gesehen hat.“

Ihre sonstigen geistigen Eigenschaften und alle ihre Gewohnheiten legen für sie das günstigste Zeugniß ab. Sie ist bescheiden, fleißig und strebt sichtbar, sich Fähigkeiten, mit denen sie sich ihren eigenen Unterhalt verschaffen kann, möglichst bald zu verschaffen. Um so weit unterrichtet zu werden, daß sie in die Lage versetzt wurde, sich als Dienstmagd, oder mit Nähen und Bügeln ihr Brod zu verdienen, brauchte sie keinen Roman zu erfinden; das konnte sie einfacher haben. Daß sie reinlich ist und im Stricken eine Fertigkeit besitzt, die das Erstaunen erfahrener Hausfrauen hervorrief, wolle man nicht übersehen. Da die Aufforderungen und Nachforschungen der Behörden zu keinem Resultat geführt haben, so bleibt, hält man ihre Geschichte für erfunden, kein anderer Ausweg, als sie aus einer Familie von Umherstreichern hervorgehen zu lassen. Entfernte sie sich mit oder ohne Einwilligung ihrer Angehörigen aus einer Familie mit einem festen Wohnsitze, so fiel ihr Verschwinden auf. Auch stimmt ihre Fertigkeit im Stricken bei gänzlicher Unkenntniß aller andern Hausarbeiten, wie [52] ihre scrupulöse Reinlichkeit neben der vollständigen geistigen Verkümmerung nicht zu einer Erziehung in einer Familie. Fremd oder durch Verwandtschaft mit ihr verbunden, würde sie eine Familie nicht unverständig und motivlos einseitig erzogen haben. Noch weniger stimmen Reinlichkeit und Stricken zu einem umherziehenden Leben. Reinlichkeit ist bei Vagabonden die letzte aller guten Eigenschaften, und zur Ausbildung im Stricken haben solche Leute weder Lust noch Zeit. Reinlichkeit und Stricken stimmen aber vortrefflich zu einer Erziehung, wie Caroline sie beschreibt, bei der die Absicht dahin geht, die Gefangene durch thierisches Wohlsein und eine mechanische Beschäftigung von Gedanken höherer Art abzulenken.

Caroline ist keine Betrügerin, dieses Resultat halten wir nach gewissenhafter Erwägung aller Umstände für sicher. Aber wer ist sie? Auf diese Frage haben wir keine Antwort. Wir überlassen die Lösung des dunkeln Räthsels der Zukunft, verhehlen uns aber nicht, daß, nachdem fast vier Jahre seit den öffentlichen Schritten des Offenbacher Gerichts verflössen sind, die Hoffnung, daß dereinst Carolinen ihr Recht und ihren Feinden ihre Strafe werde, schwach zu werden beginnt.

Er. Bl.


Mutterpflichten und Muttersünden.
Von einem Lehrer und Erzieher.


Die Gartenlaube vertritt die Interessen der Familie. Unterhaltung, Belehrung und Anregung spendet sie unter dem freundlichen Schatten ihres anspruchlosen Titels. Sie verbreitet sich über die wichtigsten Zweige des menschlichen Wissens, und führt die Familienglieder in verständlicher Unterhaltung wie an Freundeshand an die Quellen der Weisheit und Erfahrung.

Zu den Interessen der Familie zählt auch die Erziehung. Die Nachwelt entsproßt ihrem Schooße. Das Wohl kommender Geschlechter wird in ihr begründet oder begraben. Die Erziehung ist der Familie größtes Privilegium, ihre heiligste Pflicht, ihre schönste Aufgabe. Ihr Pfad ist aber oft labyrinthisch, ihr Ziel verschleiert. Leicht ist’s, auf Abwege sich verirren, und nicht selten ermüdet Geduld und Kraft an ihren Verschlingungen, und das Pflichtgefühl erschlafft an ursprünglichen oder selbsterschaffenen Schwierigkeiten. Sollte man darum nicht die Hand eines erfahrenen Rathgebers willkommen heißen, wenn er, durchglüht von heiliger Begeisterung, sie als Führer bietet?

Als solcher auf verschiedene Höhenpunkte zu führen und von dort her eine Aus- und Umschau zu halten, das ist des Verfassers Absicht. Beginnen wir zuerst mit der Bedeutung der Mutter für die Erziehung.

Suchen wir die Namen der Edlen unserer und aller Nationen aus der Geschichte hervor, sie, die Bürgerkronen schmückten, sie, die Glanz der Großmuth umstrahlte, sie, die als Dichterfürsten glänzten: der Mutter Einfluß weckte entweder das Talent oder leitete es in seine Bahnen. Ohne diese ihre Mutter würden sie nur gewöhnliche Menschen oder doch ganz andere geworden sein, als wie wir sie kennen.

Die besten unserer Zeitgenossen, die edelsten von unsern Freunden, fragt man sie, wessen Name noch ihr Herz mit freudiger Rührung füllt, wenn schon der Schnee des Alters auf dem Haupte lagert; wessen Worte, Blick und Wesen sie stets frisch und jugendlich bewahren, hier zur Ermunterung und drüben zur Verwarnung: der Mutter! – Und geht es uns denn selber anders? Ist nicht das Bild der Liebe, das sich um die Tage unserer Kindheit flechtet, auch unauslöschlich tief in’s eigne Herz gegraben? – Der aber, dem es fehlt, ihm füllt Nichts auf der Welt die Lücke aus.

„Die Mutter kann nicht ohne Hülfe des Vaters erziehen“ – das ist eine weit verbreitete Ansicht; aber es ist nicht minder wahr: „Der Vater auch nicht ohne Mitwirkung der Mutter.“ Die Kraft und Strenge, die Härte und Schärfe, das Markige und Eckige, das Strebende und Kämpfende, das Schaffende, mit einem Wort, das Männliche des Charakters verlangt den Mann der That zum Vorbild und zur Stütze. Das Pflegen und Erhalten, das Ordnen und das Dulden, das Zarte und das Sinnige, das Glättende und Gleichende, das Schmückende und Empfangende, kurz, das Aesthetisch-Weibliche kann nur dem Mutterherzen entquellen. Und wie jene erst gemeinschaftlich den edlen Charakter bilden, so kann ein solcher auch nur in vereinter Einwirkung von Vater und Mutter gedeihen.

Der Verfasser hat als Lehrer mannichfache Gelegenheit gehabt, den Charakter der Kinder in ihrem Verhältnis zu dem der Eltern zu beobachten. Es ist Thatsache, daß Leidenschaften und Laster, welche sich auf übermäßiges Begehren zurückführen, wie Trunksucht, Dieberei, geschlechtliche Sünden u. a. m. selten vom Vater auf die Kinder übergehen. Wie mancher Sohn eines Trunkenbolds z. B. ist der nüchternste Mensch, der Sohn des Geizigen oder Habsüchtigen ist in der Regel Verschwender. Kinder sind dem Verfasser bekannt, deren Vater ein fleißiger Insasse des Zuchthauses war, sie selbst waren ehrlich. – Wenn aber die Mutter sich dieser oder ähnlicher Laster schuldig macht, so folgen die Kinder ihren Fußstapfen.

Der erziehliche Einfluß der Mutter ist größer, als der des Vaters. Der Letztere kann oft nur durch die Erstere wirken. – Der Mutter allein ist des Kindes früheste Kindheit anvertraut, die ersten Eindrücke auf das zarte Wesen kommen von ihr, ihrer Hut ist nicht allein die früheste Entwickelung des hülflosen Körpers, nein, auch die unscheinbare, aber unendlich wichtige Anregung der Empfindung und des Bewußtseins anvertraut. Darin liegt aber der Urquell von „Glück und Unglück“ im ganzen spätern Leben; denn nur Gesundes kann Gesundes erzeugen, nur dem Reinen kann das Reine entsprießen.

In seinen ersten Lebensjahren ist das Kind nur ein treues Abbild seiner Umgebung. Achtet man auf seine Lebensäußerungen, es bewegt sich, blickt, drückt in Mienen und Gebehrden aus, spricht in Ton und Urtheil wie die Mutter oder wie die Wärterin, die es stets umspielt. Das ist mehr als blos äußerliche Nachahmung. Man stelle es auf die Probe! Bald wird man sich überzeugen, daß die Denk- und Empfindungs-Weise des Kindes ganz mit derjenigen übereinstimmt, von welcher es täglich Zeuge gewesen. – Der Charakter wird also begründet und angelegt durch die Mutter, wenn sie sich dem Kinde weiht. Aber auch fernerhin ist das Kind immer mehr auf die Mutter angewiesen, als auf den Vater, den sein Geschäft, seine Sorge für das Wohl der Familie häufig und anhaltend daran hindert. Da hat die Mutter Gelegenheit, das zu pflegen, was unter ihren Augen gekeimt hat, was durch ihr eigenes Wesen und Walten entstanden ist.

Ein großer Theil des „Glücks“ der Kinder ist mithin der Mutter in die Hand gegeben. – Welch ein erhabener Gedanke, beseligendes Bewußtsein für jede Mutter, welche erfüllt sie nicht mit wahrem Stolz!

Allein es ist eine Aufgabe, ein Problem für die Mutter. Ihr Ziel zu erreichen, kostet Mühe, Anstrengung und Opfer. Ja, und die Opfer eben sind es, woran ihre Kraft, ihr Pflichtgefühl so leicht scheitert. Es ist so erhebend, so begeisternd, eine Mutter, die ihre Aufgabe begriffen hat, in mütterlicher Liebe und Würde unter den Kleinen walten zu sehen; aber dieses Bild hat man nicht allzu häufig. – Gäbe es mehr Cornelien an Muttertreue, es würde mehr Gracchen geben an Mannesmuth und Edelsinn!

Aber in vielen Fällen scheint die Mutter keine Vorstellung zu haben von ihrem erhabenen Berufe, von ihren heiligen Pflichten, von der Wichtigkeit ihres Wirkens, von der großen Verantwortung gegen sich selbst, ihre Kinder und gegen Gott. Leider aber werden unsre jungen Mädchen auch zu allem Möglichen, zu verkrüppelten Zierpflanzen mißverstandener Civilisation eher erzogen, als zu Müttern.

Die Würdigung des Kleinen in der Erziehung.

Schon im täglichen Verkehr hat es das Volksbewußtsein durch den Volksmund (Sprüchwort) zur Weisheit gestempelt „das Ehren des Kleinen.“ Die tägliche Erfahrung hat es gelehrt. – [53] Am glänzendsten bewährt sich der Werth des Kleinen in der Natur, und wer auch nicht die Wunder der mikroskopischen Welt aus eigener Anschauung kennt, sie sind durch die populären Werke unserer Tage, auch durch verschiedene Artikel der Gartenlaube, einem Jedem zugänglich. Ueberdies gibt jeder Gegenstand in unserer Umgebung, jedes Geschehen in unserm Bereiche, die Blumen in unserer Fensterbank, die Vögel im Käfig, der Verkehr mit Speisen und Getränken etc. etc. jedem aufmerksamen Beobachter Gelegenheit, sich mit eigenen Sinnen von dem Werthe des Kleinen zu überzeugen. – Es ist zu beklagen, daß die Mehrzahl dies auf’s Wort hin blos – glaubt, um bei nächster Gelegenheit wieder zu zweifeln, anstatt sich zu überzeugen und in dieser Ueberzeugung zu eigenem Nutz und Frommen zu handeln.

Nirgends wird aber „das Kleine“ häufiger und leider mit größeren Nachtheilen unterschätzt, als auf dem Gebiete der Erziehung. Immer kehrt der Refrain wieder: „Ach, das ist ja so unbedeutend, das wird nicht schaden!“ – So erklärlich dies ist, da die Einwirkung auf die Seele sich dem Auge verbirgt, dem Kundigen sich oft nach langer Zeit erst, dem Unkundigen niemals offenbart: so verderblich und unheilvoll ist es aber auch.

Wer freilich unter Erziehung sich nichts Anderes denkt, als Befehle und Strafen ertheilen, der wird es nie begreifen. Die Erziehung ist aber die Arbeit für die Gesundheit und Reinheit der Seele im gesunden und kräftigen Körper. Der Grund, worauf sie fußt, ist die Natur des Menschen. Da die körperliche Erziehung aber durch die Artikel des hochverehrten Herrn Prof. Bock in der Gartenlaube so klar und gründlich uns an’s Herz gelegt ist, so darf hier nur von der seelischen Erziehung noch geredet werden. Ihr Grund ist die Natur der menschlichen Seele. Wie die Medicin, so ist die Erziehung empirische Wissenschaft und Kunst zugleich und der Erzieher sollte im vollsten Sinne des Wortes der Arzt der Seele sein. Da ist denn wohl nöthig, die Erscheinungen des menschlichen Seelenlebens auf ihren Ursprung zurückzuführen und die Einwirkungen auf die Seele in ihren Entwickelungen zu verfolgen. – Von diesem Standpunkte aus sind die „Fehler und Sünden“ der Jugend seelische Krankheitserscheinungen, deren Ursache man zu erforschen und durch deren Hinwegräumung man die Seele auf ihren Naturzustand zurückzuführen hat.

Einige Beispiele aus des Verfassers eigener Praxis mögen den Werth des sogenannten „Kleinen“ nachweisen und das vermeintlich Kleine als bedeutsam darthun!

Ein Knabe nicht unbemittelter Eltern, talentvoll und mit vorherrschend gutmüthigem Charakter, zeigte schon vom neunten Jahre an eine heftige Neigung für geistige Getränke. Durch allerlei Mittel, selbst durch Betrügerei und Diebstahl, suchte er solche zu erlangen und wurde häufig betrunken gefunden. Und woher dieser Abgrund sittlichen Verderbens in so früher Jugend? – Die Eltern, übrigens achtungswerthe Leute, sind durch ihr Geschäft abgehalten, speciell die Kinder zu beaufsichtigen – sie haben ein Gasthaus – haben wohl bemerkt, daß der Knabe sich die Tropfen aus den kaum geleerten Gläsern der Gäste sammelte, und hielten das für unbedeutend, und als er später sich an die Neigen wagte, da war auch das noch unbedeutend. Erst als er an die Flaschen im Schenkschranke sich machte, da schien es ihnen bedeutend genug, um einzuschreiten. Es ist aber nur zu gewiß, daß auch die strengsten Strafen ihn nicht bessern werden. In dem Hause seiner Eltern, unter den Augen von Vater und Mutter wird er vom Strudel der Leidenschaft fortgerissen und sehr elend werden. – Strenges Abhalten vom Kosten der Tropfen hätte dies verhütet.

Wie oft tritt Eltern und Erziehern die Unwahrheit, die Lüge so plötzlich entgegen, daß sie im höchsten Grade erstaunen. Es ist ihnen ein Räthsel, wie der sonst „so aufrichtige und wahrheitliebende“ Zögling so geschickt und so frech zu leugnen, zu lügen vermag. – Das Gefühl leitet uns richtig. Die Lüge und ihre Begleitung ist eine solche Abweichung von dem Rechten, das Natur uns in die Brust gegraben, daß die erste Lüge und eine Reihe Nachfolgerinnen sich auf der Stelle verrathen. – Die geschickte, freche Lüge setzt eine Gewohnheit, eine Uebung voraus, welche leider übersehen ist, weil man das Alles ja nur Kleinigkeiten nannte. – Hier die Beispiele einzeln anzuführen, würde zu viel Raum in Anspruch nehmen, aber wir müssen wieder darauf zurückkommen, wenn wir die Jugendsünden einzeln betrachten. – Auch Lügner werden nicht geboren, sondern erzogen und die Schuld liegt in den meisten Fällen in den Erziehern.

Welch’ einen Eindruck des Mitleidens und des Ekels erregt es, wenn Kinder sich vor jedem Dinge fürchten, schreiend fliehen oder zitternd nahen. Diese Furcht ist nicht unbedeutend; denn durch Schläge und Einsperren und andere Gewaltmaßregeln will man sie vertreiben. – Als aber für das kleine Kind jeder Platz, den es meiden sollte, einen „schwarzen Mann“ beherbergte, jedes Ding, das es nicht anfassen sollte, „beißend“ war, des Kindes Unvorsichtigkeit nicht, sondern der unschuldige Tisch etc., an den es sich gestoßen hattet bestraft wurde und die ängstliche Mutter bei jedem Aufschrei des Kindes einen ganzen Erguß von Mitleid und Trost aufwandte, da ward dem warnenden Freunde entgegnet: „das sind ja Kleinigkeiten, was können die schaden!“

„Es ist ja nur eine Kleinigkeit,“ wenn das kleine Kind ein paar Mal seinen Willen erhält, gegen den ausdrücklich ausgesprochenen Willen des Erziehers, man mag es ja solcher „Kleinigkeit“ halber nicht schreien lassen, sich nicht deshalb bemühen. Nach kurzer Zeit „ist es mit dem eigensinnigen Kinde nicht mehr auszuhalten,“ und da gibt’s dann Strafe über Strafe, welche nur zu oft nicht hilft, manchmal das Uebel verschlimmert.

Erstaunen und Schreck sind nicht zu unterdrücken, wenn wir die Arglist und Pfiffigkeit endlich erkennen, welche Kinder, und besonders Mädchen, in ihren „Tricks“ gegen Eltern, Geschwister, Dienstboten und Andere entwickeln. Das beifällige Lächeln bei den „kleinen allerliebsten Schelmenstreichen der Kleinen“ war ja auch eben nur „eine Kleinigkeit.“

Massenhaft sind in der That die betrübenden Beispiele, wo durch Nichtachtung des vermeintlich „Kleinen“ eben die Kleinen selbst verdorben oder doch leicht zu vermeidenden schmerzlichen Strafmitteln entgegengeführt werden. Das Angeführte mag genügen, um die denkenden Eltern auf das Kleine aufmerksam zu machen. Sie werden sich sehr bald überzeugen, daß ohne Aufmerksamkeit auf das „Kleine“ und also ohne große Mühe keine Erziehung möglich ist. In der Erziehung gibt es nichts Unbedeutendes. – Die Kinder sind klein, ihre Handlungen geschehen in dieser ihrer kleinen Welt und haben für sie dieselbe Bedeutung, als unsere Handlungen in unserer großen Welt. Was in dieser ihrer kleinen Welt sich ereignet, macht auf sie nicht den Eindruck des Kleinen, es erregt sie so stark und nachhaltig, wie uns die Ereignisse in der Welt der Erwachsenen. Der Erzieher muß den Charakter der Zöglinge erkennen. Dieser offenbart sich im Kleinen. – Der Erzieher muß die Anlagen, Talente und Neigungen seiner Kinder erkennen, um sie zu leiten, zu benutzen und endlich seinen Beruf zu bestimmen. Sie zeigen sich nur klein und im Kleinen. Je früher aufmerksam geworden, je früher erkannt, desto leichter und erfolgreicher die Einwirkung. Man klage nicht über Stümper in diesem oder jenem Berufe, diese könnten eher klagen über die Stümperei in ihrer Erziehung.

(Ein zweiter Artikel: „Muttersünden“ folgt nächstens.)


Noch einmal der „Leviathan“.

Das doppeleiserne Doppeldampf-Ungeheuer, das auf Verlangen mit mehr als 10,000 Pferdedampf- und 6500 Quadrat-Yards-Segelkraft die Reisen nach und von Australien mit der Geschwindigkeit des Sturmes und mit den Flügeln der Morgenröthe, mindestens in einem Fünftel der bisherigen Geschwindigkeit zurücklegen will, hat zu seiner ersten Reise mehr Zeit gebraucht, als jemals ein vom Stapel laufendes Schiff: über zehn Wochen zu einer blos 300 Fuß weiten und noch dazu bergabführenden Entfernung. Zuerst ließ es sich mit Hunderttausend-Centner-Lasten von Druck und Zug (hydraulischen Pressen und Dampfböcken, [54] welche von hinten drängten, und 8 Barkschiffen davor, welche vermittelst der kolossalsten Flaschenzüge, die jemals construirt wurden, zogen) nur einige Fuß weit bringen und richtete dabei gleiches Unheil unter Maschinen und Menschen an. Dann stand es einige Wochen still, bis man mit neuem Zug und Stoß, die zu fabelhaften Massen von Pferdekräften stiegen, es Tag für Tag, oft mit Hülfe der Nächte bald einige Fuß, bald einige Zoll, bald gar nicht vorwärts, aber nach wochenlangen, fabelhaft theuern Anstrengungen doch endlich etwas in’s Wasser brachte. Am 9. December Abends spülte die rauschende, schäumende, donnernde Hochfluth der Themse mächtig um den Riesenbauch des Leviathan, aber ohne ihn im Geringsten zu rühren, während schwere Schiffe und tiefgeladene Kohlenflöße auf der Fluth umherschaukelten wie Nußschalen.

Er wird noch manches Stoßes und Zuges bedürfen, ehe er ordentlich in sein Element und in Zug kommt, denn noch immer (18. December) liegt er während der Ebbe in seiner „Wiege“ auf dem Trocknen. Doch das Schlimmste scheint überwunden und der Lauf vom Stapel im Wesentlichen gelungen und vollendet zu sein, obwohl nicht auf die einfachste, wohlfeilste und wissenschaftlichste Weise. Tüchtige, wissenschaftliche, praktische Mathematiker und Techniker würden sehr wahrscheinlich einen praktischeren, sicherern Weg vom Stapel construirt und das Schiff ihn unter ihrer Leitung schneller zurückgelegt haben.

Doch das ist hier nicht unsere Sache. – Wir wollen, nachdem diese kolossale Arche wiederholt von uns in ihren verschiedenen räumlichen, architektonischen und technischen Verhältnissen geschildert ward,[2] uns jetzt nur das Innere dieser schwimmenden Eisenstadt ansehen, wie es aussehen muß, wenn man sie vollständig ausgestattet, bemannt und verproviantirt, zugleich aber zur Bequemlichkeit für die Leser gleichsam halb durchgeschnitten haben wird. Diese „Sections-Ansichten“ sind bei dergleichen complicirten und in der Wirklichkeit verdeckten Bauten und Structuren das einzige Mittel, sich eine klare Vorstellung von den innern Raumverhältnissen zu bilden, zumal da Andeutungen des verschiedenen Inhalts dieser Räume sehr bequem zu Hülfe kommen, so daß wir noch einiger Zahlen und der Erklärung derselben bedürfen, um uns ganz ohne Irrthum überall zurecht zu finden. Wir verweisen also auf untenstehende Ansicht nebst erklärendem Text.

Wir wissen dann, wenigstens topographisch genommen, Bescheid, und wenn wir früher mitgetheilte Raum- und Größen-Verhältnisse, Bauart u. s. w. zu Hülfe nehmen, wird es uns nicht zu schwer werden, eine ziemlich umfassende Vorstellung von dieser riesigsten aller Schiffsbauten zusammenzubringen.

Wir fügen nur noch einige Notizen hinzu, um die früher gemachten Mittheilungen zu ergänzen. Das Dampfungeheuer wird, wenn erst ordentlich auf und im Wasser, sich immer in ehrerbietiger Entfernung vom Lande halten müssen und braucht deshalb zum Verkehr mit Häfen und Landungsplätzen kleinere Fahrzeuge. Dazu sollen außer 20 Seebooten, die ringsherum hängen werden, auch zwei Dampfschiffe, jedes von 40 Pferdekraft, dienen. Letztere werden, wenn nicht gebraucht, wie Spielwaarenschiffe hinter den Schaufelrädern hängen, um hängend im Nothfalle geheizt und zum sofortigen Gebrauch hinunter gelassen zu werden. Die schwimmende Eisenstadt für 8 bis 10,000 Personen wird durch eine ganz besondere Gasanstalt erleuchtet und außerdem des Nachts an den Außenwänden durch elektrisches Licht illuminirt werden, so daß es wie ein ungeheueres, leuchtendes Meteor hinschießen und in weiter Ferne ringsum gesehen und gemieden werden kann.

Von besonderen Dampfmaschinen im Innern zum Auf- und Einziehen der Segel, zum Heben, Schrauben, Ziehen für innere ökonomische Zwecke, von des Capitains Arm-Telegraphen am Tage und dem elektrischen Telegraphen für die Maschinen unten zum Commandiren und sonstigen niedlichen Nebensachen ließe sich noch Vieles singen und sagen. Doch wollen wir warten, bis die Henne das Ei vollends gelegt haben wird.

Wenn Alles, was noch zum Ganzen fehlt, in derselben Weise ausgeführt wird, wie die Operationen des Entstapelns, wird man noch in verschiedene Brüche kommen und den Generalnenner suchen. Nach dem Urtheil eines Sachverständigen hätte man durch eine wissenschaftlich-mathematische Entstapelung allein gegen 30,000 Pfund bei dieser Operation sparen können. Bis jetzt sollen die 300 Fuß Weges vom Bauplatze bis in die Themse, die ihre Last


Längen-Durchschnitts-Ansicht des „Leviathan“.

1. Der große oberste Salon. – 2. Der Haupt-Salon. – 3. Die Cajüte des Capitains. – 4. Das sogenannte Vorder-Castell – 5. Schlafsaal der Matrosen[. – 6.] Speisesaal derselben. – 7. Dampf-Cylinder für die Schaufelräder. – 8. Dampfkessel für dieselben. – 9. Dampfkessel für die Schraube. – 10. Dampfschraubenmaschinen. – 11. Kohlen. – 12. Schlafsäle und Wohnungen für Passagiere. – 13. Schaufelrad. – 14. Speisesaal für untere Beamte u. s. w. – 15. Vieh zum [--]hten für die Passagiere. – 16. Cargo (Frachtgüter). – 17. Wasserbehälter. – 18. Vorrathsräume für Taue, Ketten u. s. w. – 19. Dampfschraube. – 20. Speisesaal für obere Beamte Officiere u. s. w. – 21. Schlafsäle für Maschinisten und Ingenieurs. – 22. Car[--] Schiffswinden u. s. w. – 23. Ganz hinten unter dem Steuerrad Officiers-Salon. – 24. Stallung für Pferde.

[55] noch nicht trägt, beinahe 100,000 Pfund kosten. Nun kostet aber das ganze Schiff bis jetzt nicht viel über 600,000 Pfund, wobei man rechnete, daß andere 100,000 Pfund zur vollständigen „Seefertigkeit“ des Schiffes hinreichen würden. Diese sind nun, gegen alle Vorausberechnung, blos für die noch nicht gelungene Entstapelung darauf gegangen, so daß Leviathan, wenn er erst im Themsewasser wirklich schwimmen sollte, so stark von Geldverlegenheit beladen werden wird, daß er wieder nicht vorwärts kommen kann. Wenn er einmal glücklich auf dem Wege nach Australien oder wohl gar zurückgekehrt ist, wollen wir uns wieder sprechen.




Blätter und Blüthen.

Ein Abenteuer in London. „Ich wurde,“ erzählt der junge Baron S…, der Sohn eines der ersten Banquiers von W…, „im Jahre 184. während meines Aufenthaltes in London mit einem Manne bekannt, der sich Lord L… nannte und, wie er sagte, in sehr naher Geschäftsbeziehung mit meinem Vater stehe. Er schloß sich schnell an mich an und schien überhaupt ein sehr verständiger und gebildeter Mann zu sein. Eines Tages lud er mich zu sich zum Thee ein, welcher Einladung ich auch den nächsten Tag Folge leistete. Lord L… war nicht zu Hause und man führte mich zur Lady, die ich noch nicht kannte, die indeß auffallend freundlich und zuvorkommend mir entgegen kam, was man sonst bei Engländerinnen gegen Fremde nicht findet. Sie lud mich ein, bei ihr auf dem Sopha Platz zu nehmen und ließ Thee und Confect herumreichen. Ueber das Ausbleiben ihres Mannes schien sie sehr erzürnt; überhaupt lobte sie denselben nicht sehr, sondern schilderte ihn mir als einen Trunkenbold, der sie hart behandelte. Dabei ergriff sie ganz gerührt meine Hände und klagte mir über den Stand der Frauen in England überhaupt, gegenüber dem des weiblichen Geschlechtes in Deutschland. Es schien ihr Trost zu gewähren, endlich einen Freund gefunden zu haben, dem sie ihren Kummer mittheilen konnte. Hierbei darf aber nicht vergessen werden, daß während dieser Zeit die Bedienten immer ein- und ausgingen und Alles sahen, was vorging. –

Plötzlich öffnete sich die Thüre des Saales und Lord L… trat ein. Finster runzelte er seine Stirn; seine Blicke schienen Feuer zu sprühen. Seiner erschrockenen Frau befahl er stolz, sich in ihre Gemächer zurückzuziehen, während er mich zornig anfuhr, ob ich die Gesetze des Landes nicht kenne? Auf meine verneinende Antwort erfuhr ich nun das sonderbare Gesetz, das noch aus den ältesten Zeiten Englands herkommt, nämlich: „daß, wenn der Ehemann einen Fremden bei seiner Frau auf dem Sopha antrifft und beide die Hände ineinander haben, der Ehemann dies als einen Angriff auf seine Ehre betrachten darf und das Recht hat, den Fremden auf zehn Tage in’s Gefängniß abführen zu lassen oder ihm eine Geldbuße aufzulegen.“ Der Lord ließ mir die Wahl. Die Summe setzte er auf 500 Pfund Sterling fest Ich erklärte ihm, daß ich eine so bedeutende Summe gar nicht bei mir habe, worauf er erwiderte: „er kenne meinen Banquier wohl, bei dem ich unbeschränkten Credit habe, ein paar Worte meinerseits[WS 1] genügten, um ihn bezahlt zu machen.“ Auch versprach er, mir sodann die Freiheit zu geben. Ich willigte ein, indem ich mir vornahm, gleich zu meinem Banquier hinzugehen und die Acceptation verweigern zu lassen. Allein fehlgeschossen. Ich ward in eine Dachkammer abgeführt, bis der Wechsel acceptirt wurde, worauf man mich entließ. Voll Wuth ging ich sogleich auf die Polizei und zeigte den Vorfall an. Ich erklärte, daß die Lady mich zu sich auf den Sopha eingeladen und meine Hände ergriffen habe, auch sei es eine Ungerechtigkeit, gegen einen Fremden, der die Gesetze nicht kenne, die ganze Schärfe derselben in Anwendung zu bringen. Einige Polizeimänner wurden mir beigegeben, um die Sache näher zu untersuchen. Aber wie groß war mein Erstaunen, als keine Seele mehr im ganzen Hause zu erblicken war. Es ward mir bald klar, daß ich von einer Diebesbande geprellt war. Die schöne Lady, die mit zur Bande gehört, hatte ihre Rolle meisterhaft gespielt. Ich erfuhr nun, daß das große Haus einem Lord gehöre, der auf dem Lande sei und es unterdeß vermiethet hatte. Die Bedienten waren verkleidete Diebe, die nur auf den günstigen Augenblick gewartet hatten, um ihren Herrn zu rufen.“

K. C. 

Friedrich Wilhelm Freiherr von Reden starb am 12. December des eben verflossenen Jahres nach kurzem Krankenlager in Wien. Nur erst 53 Jahre alt, mußte er sein mühsames und segensreiches Tagewerk beschließen. Es ist die statistische Wissenschaft, der er sein Leben widmete, ja die er in Deutschland eigentlich erst begründete. Vor mehr als zwanzig Jahren begann er in Deutschland die Wichtigkeit der statistischen Wissenschaft zu lehren – aber es ging ihm wie den meisten Verkündern einer neuen Lehre, gleichviel auf welchem Gebiet: er predigte meist tauben Ohren. Seine Schriften blieben lange Zeit ungelesen, sein Streben fand wenig Beachtung. Er aber ließ sich dadurch nicht abschrecken. Er verstand, die todten Zahlen zu beleben, und auf die Statistik die vergleichende Methode anzuwenden, die eines seiner Hauptverdienste ist, und in welcher er gar bald eine feste und sichere Position einnahm, die er mit Meisterschaft zu beberrschen [56] verstand. Mit Fleiß und Ausdauer wußte er die Erkenntniß aller Beziehungen und Verhältnisse im politischen, wissenschaftlichen und socialen Verkehr auf die in letzter Instanz entscheidenden Zahlen zurückzuführen. Es ist erstaunlich, zu sehen, wie weit es durch diesen einzigen Mann die Privatstatistik brachte – die officiellen statistischen Bureaus, die statistischen Vereine, welche es jetzt gibt, sie existirten nicht beim Beginn der Wirksamkeit von Redens, sie sind vielmehr erst eine Folge derselben. Er säete die Saat, die nun überall aufgegangen, und bestellte selbst unter Mühe und Anstrengung den Acker, der nun überall herrliche Früchte trägt. Vor Allem begrüßt die Wirthschaftslehre in der Statistik eine mächtige Bundesgenossin und strebt, Hand in Hand mit ihr, die Erkenntniß der menschlichen Dinge zu fördern, die Verhältnisse des socialen Lebens zu beleuchten und Irrthum, Vorurtheil und Aberglauben zu verdrängen.

Welcher Lohn ist von Reden dafür geworden? Er starb zu Wien, wie ein deutscher Schriftsteller stirbt – arm und nichts hinterlassend, als seine Schriften, ein trauerndes Weib und drei unerzogene Kinder! Was er erübrigen konnte, hatte er seinen Bestrebungen, seinen statistischen Arbeiten gewidmet, die durch Sammlungen, Hülfsarbeiten u. s. w. einen großen Kostenaufwand nöthig machten. Er hatte darum auch an die deutsche Bundesversammlung ein Gesuch gerichtet um Wiedererstattung eines von ihm dem Verein für deutsche Statistik geleisteten Vorschusses von 4000 Thalern. Aber er ward abschläglich beschieden, und erklärte darum in der Vorrede seiner letzten Schrift „Deutschland und das übrige Europa, Handbuch der Boden-, Bevölkerungs-, Erwerbs- und Verkehrs-Statistik, des Staatshaushaltes und der Streitmacht in vergleichender Darstellung“ – daß dies wohl sein letztes Werk sein müsse, da er keine Unterstützung finde, und seine eigenen Geldmittel erschöpft wären.

Wird die deutsche Bundesversammlung, was sie dem Lebenden verweigerte, nun dem Todten gewähren? Hoffen wir wenigstens dies! Es ist ja die Art der Deutschen, wenn die Männer, die dem Vaterland mit Selbstaufopferung dienten, die Augen geschlossen haben, sie durch ein Denkmal zu ehren, und nun plötzlich all ihre Verdienste anzuerkennen. Auch von Reden ist gestorben – möge man an seinen armen Hinterlassenen nun wenigstens gut zu machen suchen, was man dem Lebenden schuldig blieb.


Der europäische Reisende in China und sein Zopf. – Zu den Schwierigkeiten, mit denen der Reisende im Innern China’s zu kämpfen hat, gehört, abgesehen von der unumgänglich nothwendigen Kenntniß der chinesischen Sprache, eine möglichst täuschende Verkleidung, um als Eingeborner gelten zu können. Hellfarbige Augen können leicht mit gefärbten Brillen verdeckt werden, schwieriger aber ist das Tragen eines künstlichen Zopfes; der Kopf muß bis auf ein Büschel Haare am Scheitel rasirt und das gefälschte Anhängsel an dieselben befestigt werden. Dennoch muß der Träger dieser erborgten Zierde stets fürchten, dieselbe zu verlieren, was leicht drohende Gefahren über das verrathende Haupt bringen kann. Dr. Medhurst, der im Anfang vorigen Jahres verstorbene berühmte chinesische Missionair und Reisende, erzählt in dieser Hinsicht in seinem Tagebuche folgenden Vorfall, den das „Calwer Missionsblatt“ mittheilt: „Ich saß zu Tische und hatte ein Gespräch mit mehreren Eingebornen; dann stand ich auf und zog mich in meine Schlafkammer zurück, aber ein paar Minuten nachher kam mein chinesischer Führer herein und hatte meinen Zopf in der Hand. Er war heruntergefallen, während ich in meinem Sessel saß, und so dahinten geblieben. Mein Führer war in großer Unruhe, da er den losgegangenen Zopf herbeibrachte, und mir ging es eben so. Er versicherte mir, er sei so eben einer großen Gefahr entronnen; denn wäre der Zopf während unseres vorhergehenden Marsches oder in irgend einem der vielen Kaffee- und Theehäuser, wo wir einkehrten, los geworden und herabgefallen, so wäre die Enthüllung unseres Geheimnisses nicht zu verhüten gewesen. Er machte sich so eilig als möglich daran, den Schaden auszubessern. Dies geschah, indem er die Haarflechten des Zopfes auseinander machte und jede einzeln mit Faden an die Locken meines eigenen Haares festband. Aus Furcht, es möchte wieder so ein Unglück vorkommen, zog er die Knoten so fest zusammen, daß es mich nicht wenig incommodirte. Doch ich ließ mir das gern gefallen, und von jetzt an waren wir natürlich um so vorsichtiger, damit nicht ein ähnliches Unglück an einem mehr öffentlichen Orte vorkäme, wo dem Uebelstande nicht mehr abzuhelfen wäre.“


Luther vor dem Reichstage in Worms 1521. (Kupferstich von Prof. Schwerdgeburth in Weimar, nach eigener Erfindung und Zeichnung. 13 Zoll hoch, 20 Zoll breit.)

Der Cyklus von sechs Darstellungen aus Luther’s Leben von diesem Künstler ist so allgemein bekannt, ist eine Erscheinung, die im Zeitbedürfniß, im Sinn und Bewußtsein aller Protestanten so tief wurzelt, daß man nichts häufiger als Zimmerschmuck antrifft, als diese Bilder.

Das jetzt neu hinzugekommene Blatt bildet nun, der äußern Form und dem Umfang nach, den Mittelpunkt und Abschluß dieser Reihe; dem Inhalt nach stellt es den großen Moment dar, wo Luther vor dem versammelten deutschen Reich seine Lehre öffentlich bekennt und besiegelt. Der von dem Papstthum so gefürchtete Mann ist vor die Reichsversammlung beschieden, nicht um seine neue Lehre zu vertheidigen, sondern pure als Irrlehre zu widerrufen.

Da verkündet er laut die inhaltschweren Worte: „Dem Papst und Concilien glaube ich nicht, überwiesen bin ich nicht, widerrufen kann ich nicht! Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Gott helfe mir! Amen.“

Dem großen Moment entspricht nun auch die künstlerische Auffassung und Darstellung: Lokalitäten, Anordnung, Beleuchtung machen im Allgemeinen schon einen feierlichen Eindruck, man wird gespannt, zur unmittelbaren Theilnahme als gegenwärtig angeregt. Der kaiserliche Orator neben Luther, inmitten der Versammlung, deutet auf die als verbrecherisch angeklagten Schriften, welche auf einer niedern Bank liegen, und hat die Aufforderung zum unbedingten Widerruf ausgesprochen, auf welche Luther die oben mitgetheilte, ewig denkwürdige Antwort zu geben im Begriff ist.

Es möchte wohl schwerlich ein anderer günstigerer Moment für die Darstellung in dem ganzen Hergang zu finden sein. Gegner und Freunde Luther’s sind gleich lebhaft interessirt und gleich erwartungsvoll; die Erklärung mußte die lebhafteste Bewegung in allen Gemüthern hervorbringen, wodurch der Künstler Gelegenheit erhielt, Mannichfaltigkeit in Ausdruck und Bewegung der verschiedensten Charaktere darzustellen. Und das ist Herrn Schwerdgeburth in hohem Grade gelungen, wobei besonders zu beachten ist, daß er die Portraitähnlichkeit von einer Menge der damals gegenwärtigen Hauptpersonen in wunderbarer Weise festgehalten hat. Wer nur einigermaßen mit den oft sehr mangelhaft in Holzschnitt und Malerei dargestellten gleichzeitigen Portraits bekannt ist, wird sie hier augenblicklich in den vollendeten Miniaturbildchen wiedererkennen. Vielleicht wird das gerade bei der Hauptperson, bei Luther, nicht der Fall scheinen, da derselbe fast nur in Portraits aus seinen spätem Jahren allgemein bekannt ist. Da sich der Künstler aber mit der größten Gewissenhaftigkeit, mit der größten Strenge an die Zeit gehalten hat, so mußte er auch hier bei einem Portrait Luther’s aus diesen Jahren festhalten, deren es in Oelbildern, Kupferstichen und Holzschnitten von seinem Freund und Anhänger Lucas Cranach eine große Zahl gibt. Wer nur eins davon gesehen hat, wird auch hier die größte Aehnlichkeit finden, nur ist das durch Arbeit und Kämpfe noch schärfer Ausgeprägte etwas gemildert.

Aus letzterem Grunde ist das Blatt auch für Portraitsammler von besonderem Interesse: sie finden hier 51 bekannte Männer aus dieser für uns Deutsche so wichtigen Periode, und zwar um so ansprechender, da sie zugleich den Antheil für und gegen deutlich ausdrücken, ein Bild der ganzen aufgeregten Zeit in den Parteihäuptern erhalten. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich lange mit dieser Periode in Beziehung auf Kunst beschäftigt, aber alle die Portraits, deren es so viele in neueren Kupferstichen, Holzschnitten und Lithographieen gibt, sind nicht so frisch, lebendig und dabei den älteren bekannten so treu geblieben.

Eine angenehme Zugabe ist es auch, daß der Künstler ein selbst auf Stein gezeichnetes Blatt mit den Köpfchen der 51 namhaften Portraits seinem Werke beigefügt hat, so wie ein anderes Erklärungsblatt in deutscher, englischer und französischer Sprache.

Die Ausführung des Stichs ist sorgsam und fleißig, besonders sind Köpfchen und Hände sehr durchgebildet. Die Anordnung der Localität und der Beleuchtung ist sehr verständig, so daß der Raum dadurch weit und vollständig ausgefüllt erscheint; alles ist voll Bewegung und Leben, ohne die Ruhe und Würde einer solchen Versammlung im mindesten zu stören.



Ein Buch für Alle!

In unserem Verlage erscheint in Bändchen von 12–15 Bogen, und ist in allen Buchhandlungen zu haben:

Deutsche Criminalgeschichten

von

Jod. Temme,

Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“

Preis à Bdchn. nur 12 Ngr.

Aus der Feder eines Fach-Mannes (früherem Criminaldirector in Berlin), der wie kein anderer deutscher Schriftsteller es versteht, den schwierigen Stoff der Criminalistik zu beherrschen und in eben so klaren wie ansprechenden Bildern zur Anschauung des Laien zu bringen, verbindet dieses Werk in ausgezeichneter Weise mit dem Zwecke der Unterhaltung zugleich den der Belehrung.

Die Tendenz des Werkes gibt der Verfasser selbst in der Vorrede mit kurzen Worten an: „Die nachfolgenden Erzählungen beruhen auf Wahren Thatsachen. Sie sind nur in eine novellistische Form gebracht. Dieses Letztere aus einem einfachen Grunde. Hätte ich sie nur actenmäßig erzählen wollen, ich hätte, namentlich in der ersten Erzählung des ersten Bändchens, fast nur Grausen und Abscheu erregen können. Dadurch unterhält man weder, noch belehrt man. Ich aber wollte Beides, vorzüglich belehren durch Unterhaltung.“

Die Sammlung wird höchstens 8 bis 10 Bändchen à 12 bis 15 Bogen zu dem sehr billigen Preise von – 12 Ngr. – umfassen. Einzelne Bände kosten den dreifachen Preis.

Magazin für Literatur in Leipzig.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Wir entnehmen, mit Autorisation der Verlagshandlung, Schilderung und Abbildung dem so eben bei J. J. Weber complet erschienenen: Hausschatz der Länder- und Völkerkunde von Al. Schöppner, ein mit 24 Ansichten in Tondruck verziertes Buch, das wir allen unsern Lesern empfehlen. Der Herausgeber eifert mit Recht gegen die Unzweckmäßigkeit und Langweiligkeit unserer geographischen Lehr- und Handbücher, welche die Jugend und den Mann des Volkes von dem Studium der Geographie im Allgemeinen abhalten, und glaubt, diesem Uebelstande am besten durch eine wissenschaftlich geordnete Zusammenstellung von Charakterbildern aus dem Bereiche der Länder- und Völkerkunde, den anerkannt besten Reisewerken der Neuzeit entnommen, entgegenzuarbeiten. Das 102 Bogen starke Buch macht einen so belehrenden wie unterhaltenden Eindruck.
    Die Redaction.
  2. Vergl. Nr. 4. Jahrg. 1855. Nr. 48. Jahrg. 1856. Nr. 47. Jahrg. 1857.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mienerseits