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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[461]

No. 34. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zu rechter Zeit.
Novelle von Ernst Fritze.

Frau von Kurow war zu ihrer Zeit das reizendste Mädchen gewesen, und das konnte sie noch immer nicht vergessen, obgleich sie vierzig Jahre zählte, und eine zwanzigjährige Tochter hatte. Es war auch nicht zu leugnen, daß sie sich dreist in die Reihe jüngerer Frauen stellen konnte, ohne den Vergleich zu ihrem Nachtheile ausfallen zu sehen. Dabei war sie lebendigen Geistes, stets guter Laune, plauderlustig nach weltlichem Style, und verstand so vortrefflich Toilette zu machen, daß das leidige Enbonpoint der wohl conservirten Vierzigerin sich in angenehmer Form präsentirte.

Ihr Gemahl war seit zwei Jahren todt. Er hatte sie aber in guten Verhältnissen zurückgelassen, so daß sie mit einiger Vorsicht ein Haus machen konnte. Ihre Tochter Lucilie befand sich seit Jahresfrist bei einer alten Großtante, die sie beerben sollte. Mithin ereignete es sich, daß Frau von Kurow sehr selbständig und unbehindert eine ganze Welt voll Vergnügungen mitmachen und in der Wintersaison die Rolle einer annehmbaren Partie spielen konnte.

Der Winter machte jedoch dem Frühlinge Platz. Soirée, Ball und Concert hörte auf. Das Tageslicht verdrängte die Illusion des Gaslichtes.

Frau von Kurow fühlte sich nicht behaglich in dem Wechsel der Jahreszeit. Sie hatte eine Liaison angeknüpft, die von Resultaten zu sein schien, welche, bei näherm Nachdenken, mit ihren übrigen Verhältnissen nicht in Einklang zu bringen waren. Mit einem Worte: sie hatte ihre Tochter vergessen und an die Verbindung mit einem Manne gedacht, der nicht ganz so alt war, wie sie.

Zu Erklärungen war es noch nicht gekommen, und wenn Herr Clemens von Schlabern sich mit dem Erlöschen der Winterbeleuchtung in seine Schranken zurückgezogen hätte, so würde Frau von Kurow die kleine interessante Episode ihres Winterlebens als einen Nachtrag jugendlicher Triumphe betrachtet haben, und ruhigen Herzens in das weniger berauschende Sommerleben übergegangen sein.

Herr Clemens von Schlabern schien jedoch tieferes Interesse für die reizende Wittwe zu fühlen. Er setzte seine Besuche fort, und hatte sich schon gewisse Rechte dabei usurpirt, welche Frau von Kurow die Augen für die Folgen öffnen mußten. Sie dachte darüber nach. Ihre Stellung in der Welt hatte sie etwas blind für die Einwirkungen der Zeit gemacht, ihre Lebhaftigkeit und Regsamkeit war ein Hinderniß geworden, den Ernst der Jahre zur Geltung kommen zu lassen, und sie schlug leichtsinnig die paar Jahre, die Herr von Schlabern weniger zählte, nicht an, als sie an die Möglichkeit dachte, nochmals das Glück einer engen Verbindung für’s Leben zu versuchen. Endlich aber tauchte das Bild ihrer Tochter Lucilie in ihr auf. Ein Schrecken überlief ihre Seele!

„Sie muß kommen!“ sagte sie sogleich entschlossen, und da sie nicht gewohnt war, sich lange zu besinnen, so setzte sie sich hin, und forderte in einigen flüchtig hingeworfenen Worten Lucilie auf, zurückzukommen.

Mit der Hast und Lebhaftigkeit ihres Naturells siegelte sie, adressirte und schellte dann dem Kammermädchen.

„Dieser Brief muß sofort zur Post!“ befahl sie mit einer Eile und Wichtigkeit, als hinge das Leben daran.

Dann aber stellte sie sich vor den Trümeau, musterte selbstgefällig ihr Haar und ihren eleganten Anzug, nahm eine Stickerei und ließ sich wohlgeordnet in ihren rothen Plüschsessel nieder.

„Er bleibt lange –“ flüsterte sie nach einer Weile, aufschauend zur Uhr. Ein flüchtiges Lächeln folgte diesem Blicke. „Mein Herz fängt an, sich nach ihm zu sehnen, und findet die Zeit der Erwartung lang – es ist erst zwölf Uhr.“

Bald darauf ertönten Männerschritte im Vorsaal, die Thür öffnete sich, und ohne alle ceremoniöse Meldung erschien Herr von Schlabern auf der Schwelle.

Frau von Kurow erhob sich ein wenig und streckte ihm mit dem Ausdrucke liebevoller Hingebung die Hand entgegen, die er ergriff und mehrmals küßte.

Die Dame sah ihn fest und prüfend an. Nachdem sie einen Entschluß in Bezug auf ihn gefaßt hatte, fühlte sie sich ihm näher gerückt, und ihr Blick mochte etwas von dem warmen Wohlwollen verrathen, das in ihr lebte. Herr Clemens ahnete sein Schicksal nach diesem Blicke und er beeilte sich, die Minute des Glückes zu benutzen. Seine ersten Worte der Begrüßung athmeten einen Geist, der genug von seinen innerlichen Empfindungen enthielt, um Frau von Kurow über dieselben aufzuklären. Mit feinem Lächeln wehrte sie die Fortsetzung einer Conversation ab, die nach ihrer Meinung noch zu früh war.

„Ich habe eben meiner Tochter geschrieben,“ begann sie ohne Rücksicht auf die Aufregung des jungen Mannes, und lud ihn mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. Herr von Schlabern wußte vom Hörensagen, daß sie eine Tochter erster Ehe habe, kannte aber weder ihr Alter, noch sonst etwas von ihren früheren Verhältnissen, da er erst seit einigen Monaten in dem Orte stationirt war, und zufällig ziemlich isolirt lebte.

„Lucilie wird in der nächsten Woche zurückkommen,“ fügte sie hastig hinzu, „ich bin begierig, wie sie Ihnen gefallen wird.“

Die Artigkeit allein schon verlangte auf diese Worte von Herrn [462] von Schlabern eine schmeichelhafte Bemerkung, aber der Zustand seines Herzens färbte dieselbe noch mit bedeutender Wärme. Frau von Kurow wendete das Gespräch auf andere Materien, und Herr Clemens blieb in vollständiger Ungewißheit über diese Tochter Lucilie, die allerdings geeignet war, ein Stein des Anstoßes für seine Huldigungen zu werden. Wenn er sich auch von der hinreißenden Aeußerlichkeit der Dame hatte blenden lassen, so ist doch zu begreifen, daß eine zwanzigjährige Tochter ein gar zu treuer Kalender für die weiblichen Stufenjahre ist, um nicht hinter die Blendlichter einer glänzenden Toilette zu kommen.

Herr von Schlabern kam täglich um zwölf Uhr, um seine huldigende Aufwartung zu machen, dann fand er seine Angebetete in einem Costüm, das der Erfindungsgabe einer Ninon de l’Enclos Ehre gemacht hätte, und Herr von Schlabern gehörte zu den seltenen Ausnahmen seines Geschlechtes: „er wußte nichts von Toilettenkünsten.“




Zwei Tage waren verflossen. Frau von Kurow saß vor ihrem Toilettentisch, und betrachtete mit Verdruß die Falte auf ihrer hohen weißen Stirn, die mit jedem Tage tiefer wurde. Das Kammermädchen flocht ihr reiches Haar in kunstvolle Flechten. Auch diese machte die Bemerkung, daß sich die einzelnen Silberfäden des heranrückenden Alters schon merklicher zeigten, als sonst, aber sie theilte diese Entdeckung ihrer gnädigen Frau nicht mit. In diesem Momente rollte ein Wagen die Straße hinab und hielt vor der Thür.

„Schon Besuch –“ flüsterte das Kammermädchen, eilig den Kopfputz endend.

„Ich bin nicht zu sprechen!“ befahl die Dame. Ehe sie sich jedoch besinnen konnte, flog die Thür auf, und ein junges Mädchen warf sich in fieberhafter Eile an ihre Brust.

„Lucilie – Kind – wo kommst Du denn her?“ rief Frau von Kurow freudig erstaunt.

„Gott – Dein Brief hat mir einen Todesschreck verursacht, Mama,“ entgegnete Lucilie, sich aufrichtend und mit herzlicher Freundlichkeit das Gesicht der Mutter betrachtend. „Du siehst aber gottlob sehr gesund aus!“

Frau von Kurow lachte und fragte verwundert: „Was habe ich denn nur geschrieben? Ich weiß nicht ein Wort mehr davon!“

„Es klang wie ein Hülferuf, Mama,“ erwiderte die Tochter, sich schmeichelnd an ihre Mutter lehnend. „Ich hatte keine Ruhe, ich dachte, Du seiest krank.“

„Mein gutes Kind,“ flüsterte die Mutter. „Es ist ganz schön, daß Du da bist, wenn ich auch nicht Deiner Pflege bedürftig bin. Ich erwartete Dich erst in der nächsten Woche.“

In diesem Augenblicke schlug die Uhr elf. Frau von Kurow erschrak. Ihr Anzug war noch lange nicht vollendet – und um zwölf Uhr kam Herr Clemens. Sie bat ihre Tochter, auf ihr Zimmer zu gehen, und eine Erfrischung zu nehmen, und begann dann mit Hülfe des Kammermädchens ihre Toilette.

Ihr Blick hatte mit dem Ausdrucke mütterlichen Wohlgefallens die schöne schlanke Gestalt Luciliens verfolgt, als diese das Zimmer verließ. Das Kammerzöfchen, eines jener schlauen und listigen Geschöpfchen, die vortrefflich nach dem Munde zu reden wissen und die Geheimnisse aus den Blicken ablesen, sagte schmeichelnd: „Das gnädige Fräulein sieht nicht halb so blühend aus, wie gnädige Frau!“

„Aber sie hat eine weit schönere Taille,“ warf die Dame lächelnd ein.

Dagegen ließ sich, der Wahrheit gemäß, nichts einwenden und die Zofe schwieg.

Kaum war die Toilette der Frau von Kurow beendet, kaum hatte sie mit der bekannten Grazie ihren Plüschsessel eingenommen und ihre Tochter nochmals mit Ruhe begrüßt, so trat Herr Clemens von Schlabern mit der gewohnten Freiheit ein, und wurde von ihr dem Fräulein als ein neugewonnener Freund von der Mutter vorgestellt.

Ein gegenseitiges Erstaunen brach aus beider Augen, als sie sich ceremoniös gegen einander verneigten. Herr von Schlabern erstaunte über die große und schöne Tochter – Lucilie verwunderte sich über einen Hausfreund, wovon noch nicht eine Sylbe zu ihr gedrungen war.

Das Fräulein faßte sich zuerst. Gewandt und lebhaft, wie ihre Mutter, von einer Geistesfrische, wie sie nur die Sicherheit einer tiefern Bildung verleiht, und mit der Schwungkraft der Beredsamkeit begabt, die von der Phantasie gehoben wird, wurde es ihr leicht, die Bahn zu einer Unterhaltung zu brechen, die alle drei gleich lebhaft zu fesseln vermochte.

Herr Clemens hingegen webte, wie in einem Traume. Hier die Tochter – dort die Mutter! Wollte er sie vergleichen, so mußte er der Mutter vielleicht etwas regelmäßigere und feiner geschnittene Züge zusprechen. Aber Lucilie hatte das unbezahlbare Glück der Jugend voraus. Ihr Auge schwamm in dem unverstandenen Feuer innerer Erregtheit, während der Blick der Mutter selbstbewußt eine Wärme annahm, die von übrig gebliebenen Jugendelementen sprach. Die Wagschale sank mit jeder Minute mehr zu Gunsten der Tochter und er pries das Geschick, welches ihn früh genug mit Klippen bekannt gemacht, woran sein Herzensfrieden auf ewig scheitern mußte.

Was er thun sollte, um mit Ehren aus einer Freundschaft sich zu retten, die ihren Charakter bis zu der Innigkeit der Liebe erhoben hatte, das wußte er noch nicht. Wollte er das ganze Verhältniß aufgeben, so half ihm eine schleunige Entfernung, eine Abreise auf unbestimmte Zeit. Allein dagegen sträubte sich rebellisch sein Herz, das an dieser liebenswürdigen Frau hing, und nur die jugendliche Leidenschaft von ihrer Persönlichkeit abgewendet hatte, um sie heißer und verlangender auf die Tochter zu übertragen, welche das geistige, aber veredelte Abbild ihrer Mutter war.

Frau von Kurow ahnete nichts von dem Wankelmuthe seines Herzens, der, von ihrem Standpunkte aus betrachtet, ein strafbarer war. Befriedigt von dem guten Eindrucke, den die beiden jungen Menschen augenscheinlich auf einander gemacht, überließ sie sich harmlos einer Heiterkeit, die wohlthuend auf die peinliche Gemüthsstimmung des Herrn von Schlabern wirkte. Er begann von der Möglichkeit zu träumen, zwischen diesen beiden Damen ein seltsames Glück zu finden, wenn er der Gatte der jüngeren und der bewährte Freund der älteren zu werden vermöchte.

Die Stunden flogen schnell dahin unter dem geistreichen Austausch von Gedanken, denen das Gefühl Leben und Glanz gab. Clemens blieb zu Tische, und schied erst gegen Abend mit der sichern Ueberzeugung, ein glücklicher Mann werden zu können.




Die beiden Damen blieben allein. Der Abend dämmerte. Nach aufregenden Gesprächen tritt oftmals eine Erschlaffung des Geistes ein, die nur durch Schweigen gehoben werden kann. Lucilie senkte ihren Kopf in die Hand, und blickte mit ihren glänzenden Augen ruhig in die Weite, ohne eigentlich etwas zu denken. Sie fühlte sich zufrieden und glücklich, wie noch niemals in ihrem ganzen Leben, aber woher diese Empfindung stammte, das wußte sie sich nicht recht klar zu machen. Sie würde erstaunt gewesen sein, hätte Jemand diese träumerische Glückseligkeit dem Einflusse des Herrn von Schlabern zugeschrieben.

Frau von Kurow lehnte in ihrem Sessel, und dachte darüber nach, auf welche Weise sie ihre Tochter am besten von einem Verhältnisse in Kenntniß setzen könne, das nach dem heutigen Besuche sehr bald in den Bereich der Oeffentlichkeit zu treten befugt war. Sie athmete tief und beklommen, und ihre Wangen brannten in einem unnatürlichen Roth.

Es wollte sich kein Anknüpfungspunkt finden, der sie leicht zu der Offenbarung ihrer innerlichen Entschließungen führte, so viel sie auch sann und grübelte. Ihre Beklommenheit stieg und nahm den Charakter der Beängstigung an. Lucilie bemerkte es. Sie kannte die Eigenthümlichkeit ihrer Mutter zu genau, um nicht zu wissen, daß sie von irgend einem Gedanken unangenehm beschäftigt sei. Besorgt stand sie auf und näherte sich der Mutter, stützte sich leicht auf den Tisch, der neben ihr stand, und blickte liebreich in ihr stark geröthetes Gesicht.

„Willst Du nicht ein Glas Limonade trinken, Mama?“ fragte sie gütig.

Frau von Kurow bejahete. Lucilie schellte und bat um Wasser. Das Kammermädchen brachte es und ließ dabei ihre verschmitzten Blicke forschend rundum laufen. Ihr entging nicht das sorgengefaltete Gesicht der gnädigen Frau und nicht das glücklich stille Lächeln des Fräuleins. Lucilie mischte die Limonade selbst und reichte sie, noch im Beiseins des Kammermädchens, ihrer Mutter, die sie bis zum Grunde austrank.

„Du verstehst es doch meisterhaft, Limonade zu mischen –“ sprach Frau von Kurow, indem sie das Glas der Zofe überreichte. [463] „Aber, was ist das, Lucilie? sie hat ja einen sonderbaren Nachgeschmack –“

„Vielleicht ist die Citrone etwas bitter gewesen,“ meinte das Fräulein leicht.

„Ja, so schmeckt es!“

Das Kammermädchen entfernte sich mit dem Glase. Jetzt nahm Frau von Kurow ihren ganzen Muth zusammen, um eine Erklärung der vorwaltenden Verhältnisse rasch und sicher einzuleiten.

„Wie gefällt Dir Herr von Schlabern?“ fragtc sie, sich aus ihrer Stellung erhebend, um eine Promenade im Zimmer zu beginnen, die ihre Bewegung besser zu verbergen vermochte.

Zuerst zögerte Lucilie, sichtlich befangen, dann erklärte sie offen: „Sehr gut! Er ist ein Mann von gediegenem Wissen, ohne pedantisch zu sein –“

„Und von unbeschreiblich gutem Herzen,“ fiel von Frau von Kurow ein.

„Dabei seine liebenswürdige Fröhlichkeit –. Wie bist Du mit ihm bekannt geworden?“

Frau von Kurow fuhr mit der Hand über die Stirn, als müsse sie sich besinnen. Sie blieb plötzlich stehen und faßte die Lehne des Sessels, um sich zu halten.

„Dir ist unwohl, Mama,“ rief Lucilie und umfing sie mit ihren Armen.

„O nicht doch, Kind,“ beschwichtigte die Mutter sie. „Ich bin nur beunruhigt, heftig beunruhigt, sonst fühle ich mich ganz gesund.“

„Dein Gesicht ist heiß und roth –. Mama, laß Dich nieder in Deinen Sessel,“ bat das Fräulein. Frau von Kurow richtete sich schnell aus Luciliens Armen auf.

„Ich bin nichts weniger als krank, Lucilie,“ sprach sie hastig. „Aber ich befinde mich in einer seltsamen Lage, daher meine Aufregung. Antworte mir ehrlich! Was würdest Du sagen –“ Wieder fuhr die Dame mit der Hand an ihre Stirn und sah leeren Blickes vor sich hin.

Geängstigt heftete Lucilie ihr Auge auf die Mutter und prüfte ihre seltsam angespannten Mienen, die ihr in der natürlichen Röthe der Wangen etwas Verzerrtes anzunehmen schienen, Sie war jetzt geneigt, diesen Zustand mehr der Einwirkung einer geistigen Unruhe zuzuschreiben, und horchte gespannt auf das, was kommen sollte, ohne den Versuch zu machen, den Ideenkreis zu durchbrechen, der den Grund der Beunruhigung in sich faßte.

„Was würdest Du sagen, meine Lucilie,“ begann Frau von Kurow abermals, „wenn ich Dir den Herrn von Schlabern als –“

Sie vermochte nicht weiter zu sprechen – das Schicksal nahm ihr das Wort von den Lippen. Als ob sie von einem Dolchstoß tödtlich getroffen wäre, fuhr sie mit der Hand nach dem Herzen und senkte ihren Kopf – Lucilie schrie laut auf und rief um Hülfe, indem sie mit aller Kraft die Mutter unterstützte, welche machtlos in ihre Arme glitt. Die Dienerschaft eilte herbei. Man brachte die ohnmächtig zusammengesunkene Dame auf das Sopha und rief den ersten, besten Arzt herbei.

Noch athmete Frau von Kurow, noch war das Leben nicht ganz verschwunden, allein der Arzt zeigte eine bestürzte Miene und verlangte den Hausarzt. Als er hinaus ging, um den Bedienten zu beauftragen, denselben herbeizuholen, folgte ihm das Kammermädchen in’s Vorzimmer.

„Was ist hier geschehen?“ fragtc der Doctor, der zu denjenigen Aerzten gehörte, welche immer eine besondere Ursache zu einem Todt haben wollen.

„Ach Gott,“ jammerte die Zofe, „meine gnädige Frau wird doch nicht sterben?“

„Das wird sie ganz gewiß!“ erklärte der Doetor fest. „Ist irgend eine Veranlassung zu diesem Falle da? Hat die gnädige Frau Gemüthsbewegung gehabt? Hat sie etwas eingenommen?“

Der Zofe fuhr schnell ein Heer von Gedanken durch das Gehirn. Sie wußte sehr gut Bescheid in den Herzensbewegungen ihrer Gebieterin. Sie hatte schlau erspähet, daß Herr von Schlabern heute plötzlich dem Fräulein eine innigere Theilnahme gezollt, als ihrer Gebieterin, und sie war sehr neugierig darauf gewesen, was diese Geschichte für eine Wendung nehmen würde. Jetzt fügte sie alle ihre Betrachtungen zusammen und theilte sie dem Arzte in regelrechter Folge dergestalt mit, daß er ihre Vermuthungen als Thatsachen anzusehen berechtigt zu sein glaubte. In der Nacht starb Frau von Kurow, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Der Schmerz Luciliens grenzte an Verzweiflung. Sie konnte nicht begreifen, daß die blühende, gesunde Mutter in der Kraft und Fülle des Lebens geknickt und dem Tode zum Opfer verfallen sein könne.

„Was ist der Grund ihres Todes?“ fragte sie den Hausarzt im wilden Tone.

„Ein Herzübel, das vielleicht längst den Keim zu diesem schnellen Ende gelegt hat,“ meinte der Hausarzt achselzuckend, während der Doctor, der zuerst gerufen war, einen zweideutigen Blick auf das junge Fräulein warf.




Eine Nacht und ein Tag war über das traurige Ereigniß hinweggerauscht. Wir finden Lucilie von Freunden umgeben, die sie beklagten und trösteten. Im dunkelsten Winkel des Zimmers saß eine traurige Gestalt, wortlos den niederbeugendsten Gefühlen hingegeben. Es war Clemens von Schlabern. Sein todtenbleiches Gesicht und sein starres Auge drückten mehr Weh aus, als alle die Klagelieder, welche von den Lippen aller Anwesenden tönten. Er hatte am Lager der Todten den schweren Zoll des bittern Schmerzes in einer einzigen Thräne entrichtet und diese Thräne war auf der friedlich geglätteten Stirn derselben verronnen und getrocknet.

Die Freunde verließen endlich das Trauerhaus. Clemens blieb stumm und traurig sitzen, bis sie Alle fort waren. Dann erhob er sich und trat vor das Fräulein hin, das erschöpft in eine wohlthätige Lethargie zu versinken schien.

„Gestatten Sie mir eine Frage,“ flüsterte er, zu ihr niedergebeugt; „Sie sprachen von einer Gemüthsbewegung, die Ihre Frau Mutter peinlich gequält. – Hatte diese Gemüthsbewegung Bezug auf mich?“

Lucilie erröthete heiß und ihre von Thränen schweren Augen senkten sich. Sie war in den Irrthum verfallen, ihre Mutter habe sagen wollen: „Was meinst Du, wenn ich Dir den Herrn von Schlabern als Gatten vorschlüge –?“

„Ich beschwöre Sie, mein Fräulein,“ flehete Herr von Schlabern, „beantworten Sie unverholen meine Frage. O mein Gott,“ fügte er leidenschaftlich hinzu, als Lucilie noch immer zögerte, „wie soll ich leben mit dem entsetzlichen Gefühle, den Tod dieser Frau verschuldet zu haben –!“

„Ihre Befürchtungen führen Sie zu weit,“ entgegnete sie leise.

„Aber, leugnen Sie nicht, ich gab den Grund dieser todbringenden Gemüthsbewegung ab?“ forschte der junge Mann.

„Wenn ich auch das nicht in Abrede stellen kann, so wäre doch die Art der Aufregung, worin meine Mutter sich befand, nicht als „todbringend“ zu bezeichnen.“

„Sie wollen nicht aufrichtig sein!“ rief Clemens verzweiflungsvoll.

„Mein Gott, mein Verhältniß zu Ihnen ist so sonderbar,“ antwortete Lucilie geängstigt. „Ich befinde mich plötzlich in so naher Beziehung zu einem Manne, der mir vor achtundvierzig Stunden noch gänzlich fremd war –“

Der Eintritt des Kammermädchens unterbrach sie. „Der Criminalrath Buggenborg wünscht aufzuwarten,“ meldete sie mit einem Gesichte, auf welchem Neugier und Schrecken sich malte. Fräulein von Kurow erhob sich ein wenig aus ihrer hinfälligen Lage.

„Ich bin außer Stande, ihn zu empfangen. – Entschuldige mich, Nannette,“ sagte sie freundlich.

Das Mädchen ging bis zur Thür, wendete sich aber dort und sagte verlegen: „Ich habe schon versucht, Sie zu entschuldigen –.“

„Was kann der Herr weiter wollen, als eine Condolenzvisite machen,“ warf der Herr von Schlabern ungeduldig ein. „Seine Karte wird vollständig zu diesem Zwecke genügen.“

Das Kammermädchen richtete ihren naseweis klugen Blick auf den jungen Herrn, dessen vornehme Schroffheit ihr nie gefallen hatte.

„Der Herr Criminalrath sprach von Geschäften,“ sagte sie keck.

„Um so eher muß er abgewiesen werden,“ entschied Herr Clemens. Mamsell Nannette ging hinaus.

(Schluß folgt.)



 

[464]
Das Berliner Arbeitshaus.

Wie jedes Haus, so hat auch die grosse Stadt ihren Kehrichtwinkel, wo der Ausschuß, das Gerümpel, der Schmutz, die Armuth und das unverschuldete Elend sich zusammenfinden. Ein solcher Kehrichtwinkel ist für Berlin das Arbeitshaus, in der Volkssprache auch der Ochsenkopf genannt. Es wurde von Friedrich dem Großen im Jahre 1742 gestiftet und zur Aufnahme von verarmten Bürgern und arbeitsscheuen Bettlern bestimmt. Zu diesem Behufe wurde anfänglich ein Haus in der Nähe des Halleschen Thores gemiethet, welches dem Schlächtergewerke angehörte und mit einer Reihe von Ochsenköpfen verziert war, woher wohl auch der Spitzname rühren mag. Erst später ließ der König das gegenwärtige Gebäude aufführen, welchem der Geheimerath Jordan, der Freund Friedrichs des Großen, längere Zeit mit großer Umsicht vorstand. Bis in die neueste Zeit fanden hier auch Criminalgefangene während ihrer Untersuchungshaft Aufnahme, erst seit Kurzem dient es ausschliesslich nur für die Armen, Gebrechlichen und zum Theil auch für diejenigen, welche ihre Strafe wegen eines leichteren Vergehens absitzen.

Obdachlose im Arbeitshaus.

Das finstere Gebäude, welches seine traurige Bestimmung schon von Außen durch sein düsteres Aussehen verräth, liegt auf dem Alexanderplatze, dicht in der Nähe des früheren Königsstädtischen Theaters, das einst ausschließlich dem Dienste der heiteren Musen gewidmet war. Der Eingang zum Hause wird durch einen Militairposten bewacht. Die schweren Thüren öffnen sich und wir werden von dem Pförtner nach der Inspection gewiesen, um daselbst die nöthige Erlaubniß zur Besichtigung der Anstalt nachzusuchen. Wir fanden mehrere Beamte, darunter einen Sträfling in seiner grauen Jacke von Leinwand, der hier die Dienste eines Boten oder Schreibers zu verrichten schien und bereits ein komisch bureaukratisches Wesen angenommen hatte. Der wackere Inspector wies uns, da er selbst beschäftigt war, an den jungen Arzt, der mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit sich zum Führer hergab und uns auf dieser mehrstündigen Wanderung begleitete. Dieselbe war uns interessanter als die Besichtigung manches fürstlichen Lustschlosses und mancher kunstreichen Gallerie. Wir gingen durch dieses Palais der Armuth, durch diese Gallerie des menschlichen Elendes. Welche Bilder wurden uns hier geboten, wie sie weder die düstere Phantasie des unsterblichen Dante, noch der wilde Pinsel eines Höllen-Breughel phantastischer und verzweiflungsvoller zu malen im Stande war.

Zunächst gelangten wir in einen Keller, wo eine Anzahl von Wahnsinnigen mit Anfertigung von Strohmatten beschäftigt wurde. Meist waren es Reconvalescenten oder nur leichtere Fälle; sie schienen sich in dem kühlen Raume, während draußen die Julisonne brannte, ganz wohl und behaglich zu fühlen; obgleich der äußere Anschein allzuleicht trügen kann. Gestern hatte sich erst einer aus ihrer Zahl in demselben Keller an einen Nagel in der Wand gehängt, den uns der Arzt zeigte. Der Unglückliche hatte in seinem Wahnsinn zwei seiner Kinder früher ermordet; aus der Charité vollkommen geheilt entlassen, war er in das Arbeitshaus gekommen, [465] weil er keine Beschäftigung fand. Dort verweilte er ruhig und ohne seinen Entschluß durch schwermüthiges Aussehen oder durch eine Miene zu verrathen, zwei Tage; am dritten endete er freiwillig sein elendes Leben. Nahe an vierhundert Wahnsinnige enthält die Anstalt, an welcher der bekannte Irrenarzt Professor Leubuscher in Jena mehrere Jahre wirkte und so Gelegenheit fand, hinlängliche Studien zu machen.

Kranke und Wahnsinnige.

Unter diesen Irren erregte ein blödsinniger Knabe vorzugsweise unsere Aufmerksamkeit. Sein nicht unschönes Gesicht trug den Stempel der vollkommenen Thierheit; er sprach nicht, sondern drückte nur durch unarticulirte Laute seine Bedürfnisse aus. Mit glanzlosen Augen starrte er uns an und stieß bei unserer Annäherung ein unverständliches Geheul aus. Bemerkenswerth war die niedere, plattgedrückte Stirn, der flache Schädel und das kurze Hinterhaupt; Zeichen, welche auf eine mangelhafte Ausbildung des Gehirns mit Recht schließen ließen. In seiner Nähe lag ein durch sinnliche Ausschweifungen ruinirter Mensch, ein Kaufmann, der ebenfalls in einem Anfalle von Wahnsinn sein einziges Kind getödtet hatte. Er blickte stumpfsinnig vor sich hin und murmelte, als wir an ihm vorübergingen, einige Worte, welche wie eine Bitte um Schnupftaback klangen.


Straßendirnen.

Auf der Abtheilung, welche für die weiblichen Patienten bestimmt ist, fanden wir ein schönes, blondes Mädchen von sechszehn Jahren, welches eine auffallende Aehnlichkeit mit der berühmten Künstlerin Marie Seebach zeigte; sie erinnerte uns besonders an deren „Gretchen“ in Goethes Faust. Auf der Treppe hielt uns noch eine Frau mit ihrem tollen Geschwätze auf: sie bildete sich nämlich ein, daß wir von der Kaiserin von Rußland an sie abgeschickt wären, und ließ uns nur auf die strenge Ermahnung des von ihr gefürchteten Arztes los.

Obdachlose Kinder fertigen Cigarrenkisten.

Ueber einen der vielen Höfe gelangten wir nach den folgenden Sälen, wo die unheilbaren Kranken, die Hospitaliten liegen, und das Lazareth sich befindet. Im Vorübergehen warfen wir noch einen Blick auf die Tretmühle, wo von den Gefangenen Gyps zum Düngen zerstossen wird. Die Arbeit ist beschwerlich, einförmig und verlangt gesunde Lungen. Dicht daneben steht ein kleines Gebäude von Holz, worin die Prügelstrafe an den Schuldigen vollzogen wird, welche sich gegen die Gesetze oder die Hausordnung der Anstalt vergehen. In der Mitte steht eine lederne Bank mit Riemen zum Anschnallen versehen, worauf der Delinquent ausgestreckt wird. An den Wänden hängen in einer gewissen Reihenfolge die nöthigen Instrumente zur Züchtigung, Ochsenziemer von ansehnlicher Stärke und Stöcke von jedem Kaliber. Der Vollstrecker des Urtheils, ein großer und starker Mann, der sich durch seine rothe Nase noch ganz besonders auszeichnete, gab uns die tröstliche Versicherung, daß der dickste Ochsenziemer, der uns einen wahren Schauder einflößte, im Ganzen nur sehr selten zur Anwendung komme. Für die hier herrschende Humanität legte auch die Angabe des Arztes das beste [466] Zeugniß ab, daß im ganzen Laufe seiner dreijährigen Thätigkeit erst zwei Bewohner der Anstalt heimlich entwichen seien. Auf einem zweiten Hofe, den wir zu passiren hatten, lag die Todtenkammer. Wir sahen hier einen einfachen Holztisch, auf welchem die Sectionen der Leichen vorgenommen werden. In einem Winkel standen zwei ärmliche, schwarz angestrichene Särge, welche die sterblichen Reste zweier Todten enthielten, die heute noch begraben werden sollten. Sie hatten ausgerungen, ein Leben voll Elend mit Jammer beschlossen; bald werden sie in der kühlen Erde auf dem Armenkirchhof ruhen. Nicht der Tod, sondern das Leben unter solchen Verhältnissen ist das Schrecklichste.

Neben der Leichenkammer befindet sich eine Vorrichtung zum Reinigen der Kleider. Dieselben werden einem hohen Wärmegrade ausgesetzt, um durch die Hitze alle ansteckenden Stoffe, durch welche sie oft verunreinigt sind, zu entfernen. Die Operation wird natürlich von einem mephitischen Geruch begleitet. Dieser, so wie die Ausdünstungen der Todtenkammer, welche sich in der Nähe des Lazareths befindet, sind ein großer Uebelstand für das letztere und gaben dem Arzte mit Recht Veranlassung zu Beschwerden. Leider erlaubt es die Lage der Anstalt und ihre Mittel nicht, diese Uebelstände zu beseitigen, obgleich eine schleunige Abhülfe dringend Noth thut. In den Krankenhäusern selbst herrscht der größte Grad von Reinlichkeit; die Bettstellen sind von Eisen und jeder Patient hat seine Matratze und eine warme wollene Decke. Hier werden nur solche unheilbare Kranke vorgenommen, welche durchaus keine Mittel haben, sich in eine andere Anstalt aufnehmen und verpflegen zu lassen. Wahrhaftes Mitleid flößte uns ein geschickter Mechanikus ein, der an Händen und Füßen gelähmt hülflos an sein Lager gefesselt war. Er gehörte einer angesehenen Familie an, deren Name in der gelehrten Welt als geachtete physikalische Arbeiter einen guten Klang hat. Er selbst war durch sein Mißgeschick so sehr heruntergekommen, daß er im Arbeitshause eine Zuflucht suchen mußte, wo er wohl bis zu seinem Ende bleiben wird. Noch schrecklicher schien uns das Loos jener unglücklichen, alten Frau, deren Gesicht und Augen bereits vom unheilbaren Krebse entsetzlich zerstört waren. Sie saß, von fürchterlichen Schmerzen gepeinigt, halb aufrecht in ihrem Bette, das Antlitz mit einem dunkelbraunen Tuche verhangen, um den Uebrigen den scheußlichen Anblick zu entziehen. Auf demselben Flur besuchten wir die Kirche der Anstalt, worin der angestellte Prediger jeden Sonntag mit dieser Gemeinde von Armen, Gebrechlichen, Verirrten und Schuldigen den Gottesdienst abhält. Wenn irgendwohin, so gehört die Religion mit ihrem Troste in diesen Aufenthalt des Jammers und meist selbstverschuldeten Unglücks. Der Betsaal ist im höchsten Grade einfach; nackte kahle Wände, weiß angestrichene Bänke, ein schlichter Altar mit dem Bild des Gekreuzigten bilden den ganzen Schmuck. Hier kommen wirklich Alle her, welche mühselig und beladen sind, wie es im Evangelium heißt. Aber es ist ein steinig harter Boden, auf den das Wort Gottes fällt; versteckte Herzen, verhärtete Gemüther, abgestumpft durch die Noth, das Verbrechen und den thierischen Genuß; für alle edleren Gefühle, für jedes Streben nach dem Höheren verloren. Eine traurige Kirche für eine noch traurigere Gemeinde!

Wir warfen einen Blick durch das Fenster auf den unten liegenden Hof, wo eine Anzahl von Mädchen ihre Freistunden genossen. Sie waren in braune Jacken gekleidet, einzelne trugen einen gelben Streifen auf der Schulter, zum Zeichen, daß sie rückfällig geworden. Ein Blick auf das freche Treiben der Dirnen, ihr schamloses Gelächter, ihre gemeinen Späße, die zu uns emporschallten, verriethen sogleich ihre bürgerlich entehrte Stellung. Es waren dies die Prostituirten. Den Meisten stand ihr Gewerbe und Laster auf der Stirn geschrieben; sie kokettirten noch in ihren Sträflingskleidern und ließen ihre Augen frech im Kreise umher schweifen. Gestern noch in rauschender Seide und Champagner schlürfend, büßen sie heute im Arbeitshause den Taumel der durchschwelgten Nacht. Ihr Gelächter gilt einer neuen Collegin, welche so eben erst von der Polizei eingebracht und mit niedergeschlagenen Augen, beschämt und traurig über ihr Schicksal nachdenkt. Sie wendet sich mit Entrüstung von den frechen Dirnen weg und faltet still die Hände, während ihre Leidensgefährtinnen sie mit Spottreden übergießen. Bald wird sie sich jedoch mit ihnen befreunden und den letzten Rest von Scham verlieren. Der gefällige Arzt sagte uns, daß nach seiner Erfahrung derartige Mädchen meist noch verdorbener die Anstalt verlassen, als sie hineingekommen sind. Bei ihrem Austritte werden sie von einer Schaar alter Weiber erwartet, welche die Entlassenen mit den nöthigen Kleidern versehen. Noch an demselben Abend kann man sie in den Straßen und an verschiedenen öffentlichen Vergnügungslocalen herumstreifen sehen. Die noch am Morgen Wolle gezupft, erblickt man in der Dämmerstunde im höchsten Staat ihr schamloses Gewerbe treiben, bis die Polizei sie von Neuem aufgreift und in das Arbeitshaus abliefert.

Wir wenden uns von diesem Auswurf der Gesellschaft zu einem erfreulicheren Bilde, In einem kleinen, hellen Zimmer finden wir einige Knaben von zehn bis zwölf Jahren mit frischen Kindergesichtern, welche sich mit Anfertigung von Cigarrenkisten und ähnlichen leichten Arbeiten beschäftigen. Es sind dies entweder kleine Herumtreiber oder obdachlose Kinder, welche ein vorläufiges Unterkommen finden. Was die Hauptsache ist, sie lernen hier arbeiten und mancher kleine Tagedieb verläßt die Anstalt um ein Gewerbe bereichert, das ihm im späteren Leben zu Nutzcn kommt. Auch für den übrigen Unterricht wird durch einen Lehrer gesorgt, der mit den Kindern in einem der Säle förmlich Schule hält. Die erwachsenen Anwohner werden ebenfalls in der verschiedensten Weise beschäftigt. Da gibt es vollkommene Schuster- und Schneider-Werkstätten, wo fleißig den ganzen Tag genäht und geflickt werden muß. Auch hier finden wir junge Leute, welche dazu angehalten werden, unter Anleitung eines ordentlichen Meisters ein Handwerk zu lernen. Es gibt indessen einzelne, unverbesserliche Taugenichtse, welche eine wahre Arbeitsscheu besitzen, eine fast krankhafte Manie gegen jede Beschäftigung, kaum entlassen, werden sie wieder wegen Herumtreibens eingebracht; sie sind die Habitué’s der Anstalt, und Mancher bringt hier den größten Theil seiner Jugend zu, seine Heimath ist das Arbeitshaus abwechselnd mit dem Criminalgefängnisse. In der nahen Berührung mit ehemaligen Sträflingen, entlassenen Verbrechern aller Art bilden sich in solcher Umgebung die zukünftigen Spitzbuben, wo nicht Mörder aus. Nur durch die strengste Sonderung, welche sich leider bei dem beschränkten Raume nicht durchführen läßt, dürfte es möglich sein, die Ansteckung des Lasters zu verhindern.

Die Uebrigen, welche nicht ein Handwerk treiben, beschäftigen sich mit Krempeln der Wolle, Spinnen, Anfertigen von Matten; die Frauen und Gebrechlichen mit leichteren Arbeiten, wie das Einschlagen von Seifen, Dütendrehen u. s. w. Unter den alten Leuten trafen wir neben wahrhaft ehrwürdigen Gesichtern eine Reihe von vollkommen verlebten und verwitterten Gestalten, unverbesserliche Trunkenbolde mit rothen Nasen, gefährliche Gauner, welche die Schwäche des Alters einzig und allein dem Verbrechen entzogen hat, gebrochene Existenzen, verlorene Menschen aller Art. Ein Maler und ein Dichter würden hier hinreichenden Stoff finden, wenn sie sich die Schicksale der Einzelnen erzählen ließen. Dort der Greis, welcher mit zitternden Händen jetzt Roßhaare zupft, war einst ein reicher Verschwender, der Tausende mit seinen Zechbrüdern und schönen Frauen verpraßt hat. Eines Tages waren seine Taschen leer, seine Freunde verschwunden, die schönen Frauen kannten ihn nicht mehr, und er erwachte von seinem Rausch im Arbeitshause. Sein Nachbar war einst ein geachteter Kaufmann, der sich aus Verzweiflung über eine mißglückte Speculation dem Trunk ergeben hat. Er ist seit einigen Tagen von der Polizei eingebracht worden, die ihn im Rinnstein liegend fand. Der rückfällige Bettler an der Ecke hat wie König Lear sein ganzes Vermögen noch bei seinem Leben auf die Erziehung und Einrichtung seiner Kinder gewendet. Zum Danke lassen sie ihn jetzt im Arbeitshause sitzen. Jene welke Frau mit den Runzeln im Gesicht war einst die gefeiertste Schönheit der Residenz, die Geliebte eines Fürsten. Als er das Verhältniß löste, sank sie schnell von Stufe zu Stufe; sie wurde zuletzt Lumpensammlerin, aber ihr trauriges Gewerbe konnte sie nicht ernähren, weshalb sie ihre Zuflucht zur Anstalt nehmen mußte. Welche Mysterien verbirgt das Arbeitshaus, welche wunderbare Schicksale, welch eine Fülle von interessanten Begebenheiten. Ein Besuch desselben lehrt mehr, als die längste Predigt, mehr als alle Vorschriften der Moral.

Neben dem verschuldeten Unglück gibt es aber auch so manches unverschuldete Elend. Eine eigene Abtheilung bilden die obdachlosen Familien, welche hier einstweilen ein Unterkommen finden. An jedem Quartal, bei jedem Wohnungswechsel werden in Berlin eine Menge armer Leute obdachlos; theils weil sie nicht die verhältnißmäßig theuren Miethen bezahlen können, theils weil sie den Segen [467] der Armuth, eine allzu zahlreiche Nachkommenschaft, besitzen. Die meisten Wirthe in Berlin vermiethen ihre Wohnung nur an kinderlose Leute oder an solche, die nicht mehr als zwei oder drei Kinder haben. Diese Grausamkeit setzt viele Familien in die traurigste Verlegenheit. Mit Schrecken sehen sie den Ersten des Monats nahen, sie können keine Wohnung finden. Verzweiflungsvoll irren sie umher, suchen Tage, selbst Wochen lang, ohne ein Quartier zu bekommen. Wo sie anpochen, werden sie zurückgewiesen, wo sie anfragen, werden sie abschläglich beschieden. Sie wollen gern pünktlich ihre Miethe zahlen, aber der Hauswirth bleibt unerbittlich; er nimmt sie nicht auf, weil sie so glücklich oder unglücklich sind, Kinder zu besitzen, So naht der gefürchtete Augenblick heran, sie müssen ziehen, und wissen nicht, wohin. Oft mit Gewalt aus ihrer früheren Wohnung herausgestoßen, nirgends aufgenommen, lagern sie mit ihrem jämmerlichen Mobiliar unter dem freien Himmel in der dunklen Nacht, bis die Polizei oder der Bezirksvorsteher ihre Aufnahme in das Arbeitshaus vermittelt. Dies passirt nicht nur den Armen, sondern auch zuweilen dem ehrlichen Handwerker, dem fleißigen Arbeiter, dem dadurch seine Kinder zur Last werden müssen. Mehrere derartige Familien, deren Anzahl besonders im Winter sich auf Hunderte und mehr beläuft, lernten wir im Arbeitshause kennen.

Da war das Weib eines Holzhauers mit ihren Kleinen. Die bleiche, abgehärmte Frau trug das jüngste auf dem Arm. Ein Knabe und ein Mädchen trieben sich in dem großen Saale herum, und spielten mit einander Verstecken; sie kümmerten sich nicht um die Noth der Eltern. Stumpfsinnig saß die alte Großmutter auf dem Stuhl mit gefalteten Händen; auch ihr war es gleichgültig, wo sie war, wenn sie nur ein Plätzchen und eine Brodrinde zum Kauen fand. Um so trüber war die Frau, sie weinte, als sie mit uns sprach. Der Gedanke, im Arbeitshause sitzen zu müssen, kam ihr gar zu schrecklich, fast unerträglich vor; es dünkte ihr eine Schande, da sie ein feines Ehrgefühl zu besitzen schien.

„Mein Mann,“ sagte sie, „ist fortgegangen, um sich Arbeit zu verschaffen. Er ist gar fleißig und ein braver Mensch Er hat mir versprochen, sich auch nach einer Wohnung umzusehen. Ich halte es hier nicht aus.“

„Werden Sie denn im Arbeitshause schlecht behandelt?“ fragte ich die Unglückliche.

„Gott behüte! Die Stuben sind reinlich, die Betten warm und gut, das Essen vollauf, aber ich möchte doch nicht hier leben wollen. Es ist ganz anders in seinen vier Pfählen, wo man sein eigener Herr ist. Auch mag ich nicht von anderer Leute Gnade und auf Kosten der Commune leben; lieber will ich und mein Mann arbeiten, bis uns das Blut zu den Fingern herausspritzt. Wenn nur die Kinder nicht wären, so hätten wir längst schon ein Quartier gefunden.“

Dabei warf sie einen traurigen Blick auf die zahlreiche Familie. Die alte Großmutter nickte mit dem wackeligen Kinn, und die Kinder lachten laut bei ihren Spielen.

Wir nahmen tief bewegt Abschied von der armen Frau, und gingen nach dem Speisesaal, wo die Bewohner des Arbeitshauses an langen Tafeln ihr Mittagsbrod einnahmen. Dasselbe besteht aus einer Suppe und Hülsenfrüchten, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln u. s. w. Fleisch gibt es nur einmal im Jahre und zwar am Geburtstag des Königs. Für die Kranken wird besonders nach Anordnung des Arztes gekocht. Jeder erhält eine genügende Portion von einem gut ausgebackenen Brod, das in drei verschiedenen Qualitäten vorhanden ist. Hinter einem Verschlage waren gewiß tausend solcher Rationen für den heutigen Tisch bereits geschnitten und aufgespeichert.

Durchschnittlich leben im Arbeitshause täglich 900 bis 1000 Personen, darunter 350 Hospitaliten. Im Jahre 1856 enthielt die Anstalt Arrestanten und Corrigenden 3171 Männer und 2416 Weiber, zusammen 5587 Personen; obdachlose Familien 1195 Personen und außerdem noch an Einzelnen ohne Anhang 317. Im Ganzen wurden 8530 Menschen verpflegt und 344,888 Personen, nach Tagen berechnet, beherbergt und verköstigt. Die Gesammtkosten betrugen 69,045 Thaler 29 Sgr., also durchschnittlich für den Kopf jährlich 73 Thaler 8 Sgr. und 11 Pf., oder täglich 6 Sgr. Durch Arbeit verdiente die Anstalt 16,969 Thlr. 1 Sgr. 2 Pf. Von den eingelieferten Personen sind 2116 einmal, 646 zweimal, 393 dreimal, 139 viermal, 82 fünfmal, 40 sechsmal, 21 siebenmal, 7 achtmal, 3 neunmal, 14 zehnmal, 1 elfmal zur Anstalt gekommen. An Kindern waren 403 Knaben und 400 Mädchen, unheilbare Geisteskranke durchschnittlich täglich 489 vorhanden. Im Lazareth der Anstalt befanden sich durchschnittlich 40 Personen.

Im Ganzen zeichnet sich das Arbeitshaus durch musterhafte Ordnung und Reinlichkeit, sowie durch die anerkannte Humanität der vorgesetzten Beamten aus. Leider aber sind Uebelstände vorhanden, welche sich bei den beschränkten Räumlichkeiten nicht vermeiden lassen. Dazu rechnen wir hauptsächlich das dadurch bedingte vielfache Zusammenleben von bescholtenen und unbescholtenen Personen. Abgesehen von der Ehrenkränkung, welche dadurch den letzteren bereitet wird, leistet dieser Umstand der Ansteckung und Verbreitung des Lasters und der Verbrechen den größten Vorschub. Wie kränkend muß es nicht dem ehrlichen Arbeiter, der verständigen Frau sein, neben dem bestraften Delinquenten oder der öffentlichen Dirne zu verweilen! Welch ein Beispiel für die schuldlosen Kinder, für die so leicht verführbare Jugend!

Dieser Mangel und die schlechte Lage des Lazarethes wurden mit Recht von den Berliner Stadtverordneten gerügt und die Gründung eines allgemeinen, städtischen Siechenhauses stark befürwortet. Das Sterblichkeitsverhältniß ist trotz der Menge unheilbarer Kranker im Ganzen ein günstiges zu nennen, da es nicht mehr als 25/6 pCt. beträgt.

Gewiß gehört das Berliner Arbeitshaus zu den interessantesten Instituten der Residenz; es vereint nur zu viele und gänzlich verschiedene Elemente, indem es zugleich als Lazareth für die Kranken, als Correctionshaus für die geringeren Verbrecher und Arbeitsscheuen, als Strafort für die liederlichen Dirnen, als Asyl für das gebrechliche Alter und für die obdachlosen Familien dienen muß. Dazu reichen weder die vorhandenen Räume, noch die bisher verausgabten Mittel aus. Gegenwärtig ist das Arbeitshaus gleichsam die allgemeine Kloake für den moralischen Unrath der grossen Stadt, der Kehrichthaufen, wo sich die Lumpen und der Schmutz, die verlorenen Existenzen und untergegangenen Menschenruinen zusammen finden.

Unter den bemerkenswerthen Bewohnern desselben befand sich auch vor einiger Zeit der Prinz Leo von Armenien, der hier als verdächtiger Herumtreiber, ob mit Recht oder Unrecht, wagen wir nicht zu entscheiden, festgehalten wurde. Der junge und gebildete Aventurier machte nach der Schilderung des unparteiischen Arztes einen durchaus günstigen Eindruck; er sprach geläufig mehrere lebende Sprachen, und besaß wirklich nicht gewöhnliche Kenntnisse. Sein Benehmen war bescheiden und würdevoll. Bis zum letzten Augenblicke behauptete er seine fürstliche Abkunft: er wurde wegen mangelnder Beweise entlassen, und ohne richterliches Verfahren einfach von der Polizei ausgewiesen.

Auf der Rückkehr aus dem Arbeitshause trafen wir vor der Thür desselben einen Möbelwagen, der soeben ausgeladen wurde. Der dürftige Hausrath lag herum auf der Erde zerstreut, ein alter, gebrechlicher Küchenschrank, eine Bank, ein Tisch und ein Waschfaß. Daneben stand ein kräftiger Mann, und half mit freudestrahlendem Gesicht, trotzdem ihm bei der Arbeit der Schweiß über die Stirn lief. Auf unser Befragen erfuhren wir, daß es der brave Holzhacker war. Er hatte endlich eine Wohunug für sich und die Seinigen bei einem Hauswirth gefunden, der kein Kinderfeind war. Nun fühlte er sich erst wieder glücklich, da er das Arbeitshaus verlassen konnte.

„Alles gut,“ sagte er, „aber wer noch seine gesunden Glieder hat und eine Hand rühren kann, der wird nicht hier im Ochsenkopf zwischen Kranken, Krüppeln und Spitzbuben sitzen.“

So äußert sich der gesunde Volkssinn über das Berliner Arbeitshaus.
Max Ring.



[468]
Ein hochherziger Mann aus dem Volke.
Von Ludwig Storch.
(Schluß.)
Der Besuch bei Goethe. – Stumpff als Poet. – Gedicht auf Holz. – Storch und Stumpff. – Eine Stunde beim Weine. – Vaterlandsliebe eines Dichters. – Ein Wort an die Zeitgenossen.

Ich entnehme einem Briefe Stumpff’s an mich eine Stelle, die sich auf diese Abendbesuche bei Goethe bezieht.

„Am ersten Abend mußte ich dem großen Manne viel von London erzählen, besonders von Malern, Bildhauern und anderen Künstlern, und ihm die Namen der vorzüglichsten vorbuchstabiren, welche er sich notirte. Endlich, nachdem ich von den Theatern und Volksbelustigungen gesprochen, fragte er mich plötzlich: „Und womit beschäftigen Sie sich denn in ihren Erholungsstunden in London?“

Diese Frage machte mich etwas verlegen, doch gab mir der Geist schnell eine Antwort ein, die ein langes Nachsinnen nicht besser zu geben vermocht hätte, nämlich: „Dann reite ich mein Steckenpferd, Excellenz.“

„Und darf man wohl wissen, welches das Ihrige ist?“ fragte Goethe weiter und, wie es schien, über meine Antwort verwundert.

„Ei, so muß ich es wohl gestehen, ich pfusche Ihnen in die Kunst und bin ein zwar plumper und unbeholfener Reimschmied, der aber doch für sein Leben gern einen Vers macht, und es nicht lassen kann, jedoch Niemandem mit seinen Schreibereien zur Last fällt.“

„Haben Sie vielleicht etwas von Ihren Poesien mit hier?“ fragte der Dichtergreis ungemein freundlich.

„So ist’s, Excellenz.“ – Ich hatte nämlich ein Gedicht auf der Reise in mein Portefeuille geschrieben. Auf Goethe’s freundliches und ermuthigendes Zureden versprach ich denn, das Gedicht zum nächsten Abend mitzubringen. Kaum war ich am folgenden Tage bei ihm eingetreten, als er mich auch schon fragte: ob ich mein Gedicht mitgebracht habe? Nicht ohne Befangenheit zog ich mein Buch hervor und bat um Erlaubniß vorher bemerken zu dürfen, daß man in keinem Lande mehr als in England darauf bedacht sei, mit Maschinen zu arbeiten. Mittels derselben könnten Leute, die sich solche anschafften und im Gange erhielten, große Reichthümer erwerben, und so seien denn auch Tausende bedacht, auf solche Art ihr Glück zu machen; man habe deshalb fast nichts als Maschinen vor Augen. Dies sei denn auch der Grund, aus welchem ich mir vor kurzem die Dampfmaschine zum Gegenstande dieses Gedichtes „der Kampf der Elemente“ betitelt, erwählt habe.

„Die Dampfmaschine als Gedicht!“ rief Goethe höchlichst verwundert. „Nun, das ist sehr originell. Aber ich bitte Sie: lesen Sie mir das Gedicht vor; ich bin jetzt um so neugieriger darauf.“

Ich willfahrte ihm ohne Ziererei. Er hatte sich erhoben und stand neben mir ganz aufrecht und mit voller Aufmerksamkeit zuhörend. Mir wuchs der Muth; ich las ohne Furcht und hob die kräftigsten Stellen hervor. Goethe schlug mich während des Lesens auf den Arm und sagte dazu außerordentlich gütig: „Gut gut! das ist brav!“ Und als ich fertig war: „Wahrlich, Sie haben Ihre Aufgabe überraschend schön gelöst! Haben Sie die Güte mir das Blatt zu überlassen.“ Nachdem ich es ihm überreicht, fuhr er mit einem bezaubernden Liebreiz in Stimme und Zügen fort: „Also Sie haben noch mehr solcher Verse geschrieben?“

„O ja. Excellenz, aber die übrigen sind so eigenthümlich hölzern, daß ich sie nicht gut jemandem zeigen konnte, hätte ich auch die Furcht überwinden wollen, man möchte darüber spötteln.“

„Nein, mein Freund! Kein Vernünftiger spöttelt über so etwas. Aber, wie meinen Sie das, hölzern? Sie betonen das Wort schelmisch lächelnd.“

„Ei, ich wette, Ew. Excellenz lachen selbst, wenn ich Ihnen die Bedeutung des gebrauchten Eigenschaftswortes gebe, die in der That und Wahrheit die natürlichste und wirklichste und durchaus keine bildliche ist. Meine Verse sind nur in Holz zu finden. Mein Herz sprühte schon in meiner Jugend Begeisterungsflammen für die großen Dichter meines deutschen Vaterlandes; aber nie kam mir der Gedanke in den Sinn, selbst einen Vers zu machen. Das hielt ich für ganz unmöglich und nur wenige Menschen von der Natur mit der Gabe zum Dichten begnadigt. Ein zufälliges Ereigniß, das mich gemüthlich sehr anregte, rang mir im Jahre 1807 das erste Gedicht ab; ich konnte gar nicht widerstehen; es kam gleichsam gegen meinen Willen. Ich war damals schon achtunddreißig Jahre alt, also gerade kein unreifer Poet. Von jener Zeit nun hat der unverstandene Drang meiner Seele, der mich in der Jugend fast wahnsinnig machte, einen Ausweg gefunden. Ich war nicht Meister der deutschen Sprache – wo und wie hätte ich mir auch diese Meisterschaft erringen sollen? – aber alle meine stürmischen Gefühle erzeugten Verse, alle Gluth, die in meiner Seele aufflammte, wurde zum Gedicht. Zwar sagten diese Erzeugnisse nie vollständig, je zuweilen kaum annäherungsweise, was in mir stürmte und drängte, aber sie nahmen mir doch die Last theilweise vom Herzen. Da mich der Sturm fast immer in meiner Werkstatt überfiel, wo ich mich die meiste Zeit des Tages aufhielt, so konnte ich sie nicht zu Papier bringen, denn das hatte ich nicht zur Hand; ich brachte sie also zu – Holz, das mich in Menge umgab, d. h. ich schrieb sie schnell mit Bleistift auf kleine Stückchen Brett, Abfälle der Resonanzböden, Fourniere u. s. w. Diese mit meinen Geistesproducten beschwerten Hölzchen – sie wurden eben nicht schwerer davon – warf ich in einer Ecke übereinander, ohne sie je wieder anzusehen oder einem anderen Menschen zu zeigen, und so ist’s denn seit vollen zwanzig Jahren ein hübsches Häufchen geworden, das eines schönen Tages in lichten Flammen aufgehen wird.“

Goethe lachte wirklich recht herzlich, indem er mit wahrhaft bezaubernder Freundlichkeit sprach: „Nun, was die Art und Weise Ihrer poetischen Production betrifft, so sind Sie wahrlich der originellste Dichter, der mir vorgekommen. Befreien Sie nun aber diese armen gefangenen Vögel aus ihren hölzernen Käfigen und schicken sie sie mir in Papier gepackt zu. Es liegt ein unbebautes Feld in Ihrer Brust, und es ist Pflicht, es zu cultiviren.“

Welch eine hinreißende, herzgewinnende Anmuth und Milde entfaltete diesen Abend der hochverehrte Dichtergreis, so daß er mir wie ein verklärtes höheres Wesen vorkam! Ich wünschte nichts mehr, als ein genialer Maler zu sein, um seine Gestalt, wie sie sich mir an jenem Abende zeigte, und wie sie vielleicht nur wenig Menschen gesehen haben mögen, zu fesseln. Er sprach lange über den Unterschied der Naturpoesie und der gelehrten Poesie, und gab mir herrliche Aufschlüsse über die Eigenthümlichkeiten des schottischen Naturdichters Robert Burns. Wahrlich, es floß ihm vom Munde, wie ein begeistertes Evangelium! Seine Aeußerungen thaten auch das Unzweifelhafteste kund, daß er mich lieb gewonnen hatte, und diese Ueberzeugung hob meine Seele, wie Adlerfittiche.

Am folgenden Abend begrüßte er mich wie einen Freund, den man mit liebevoller Sehnsucht erwartet hat, und sagte zu mir:

„Da ich Sie, mein werther Landsmann, in den Cirkel meiner Freunde aufgenommen habe, so werde ich Ihnen morgen einen Maler über den Hals schicken, der Ihr Conterfei für mich anfertigen wird. Haben Sie die Güte, ihm zu sitzen; ich werde Ihr Bild dann meinem Stammbuch einverleiben, welches aus den Portraits meiner Freunde zusammengesetzt ist.“

Und so geschah’s. Die mit dem großen Manne im vertrauten Umgange verlebten Stunden haben mich unaussprechlich glücklich gemacht, und ich schied endlich mit einer seligen Wehmuth von ihm. Meine Ahnung täuschte mich nicht: ich sah ihn nicht wieder. Zu Hause angelangt, holte ich meinen poetischen Breterschatz hervor, um ihn auf Papier überzutragen. Aber Zeit und Staub hatten die Schrift auf den meisten Bretchen unleserlich gemacht. Was ich retten konnte, wurde mir lieb: es waren ja die Kinder meines Herzens, und Goethe interessirte sich für sie. Ich schickte sie ihm zu, und er überraschte mich mit dem Abdruck einiger davon in seinem Journale „Chaos.“ – So weit Stumpff über die Geschichte seiner Gedichte. –

An einem schönen Maitage des Jahres 1835 stand ich Morgens an meinem Schreibtische. Ich wohnte damals in Gotha. Das junge Laub der Linden, welche den Vorplatz einer mir gegenüber liegenden Kirche zierten, leuchtete erfrischend und anregend durch die offnen Fenster in mein Zimmer. Man klopft an die Thür. [469] Auf meine Einladung tritt ein hoher, stattlicher Mann herein und redet mich an:

„Ein weit gereister Fremder kann sich bei seiner Durchreise durch diese Stadt das Vergnügen nicht versagen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Und wenn ich den Mann auch nicht schon auf den ersten Blick wieder erkannt hätte, der weiche süße Ton seiner Stimme würde mir gesagt haben, wer er sei; denn so hatte ich nur einen Menschen sprechen hören, und aus diesen Lauten vernahm ich die eigenthümlichen Anklänge an das ruhlaer Idiom, die auch von meiner Aussprache unzertrennlich sind.

„Herr Andreas Stumpff aus London, seien Sie mir herzlich will kommen!“ entgegnete ich, mit Wärme ihm die Hand entgegen bietend.

„Wie? Sie kennen mich?“ rief er erstaunt. „Wie ist das möglich? Haben Sie eine Ader von Vörwerts-Häns?“

„Sie müssen doch von sich selbst wissen, verehrter Herr, daß der Dichter ein Seher ist,“ entgegnete ich lachend, „Und weht um die Berge unseres Geburtsortes nicht etwas Prophetengeist? Trauen Sie mir nun nicht auch ein wenig poetisch-divinatorische Clairvoyance zu, vorzüglich wenn das Object selbst ein Poet ist?“

„Ich könnte versucht sein, Ihre Aeußerung für Ernst zu halten; denn es ist mir unerklärlich, wie Sie mich kennen können.“

„Ich will die Sehermaske abwerfen. Sie sind mir von meiner Kindheit an eine sehr theuere Person gewesen, nur als Sie vor zwanzig Jahren in Ruhla zum ersten Mal zum Besuch waren, betrachtete ich Sie oft mit der stummen aber heiligen Verehrung einer reinen und begeisterten Kinderseele. Wie ich damals Ihr Bild in mich aufgenommen, ist es nie wieder von mir gewichen, und ich hätte Sie unter Tausenden erkannt, wenn auch die Hand der Zeit über Ihre Züge hingestrichen hat.“ Ich erzählte ihm nun von den Berichten meiner Mutter über ihn und von meiner dadurch geweckten schwärmerischen Liebe zu ihm. Er ergriff meine Hand und drückte sie mehrmals gerührt. Er sah mich mit einem fromm lächelnden, süß verklärten Kinderblicke an. Das immer noch schöne Auge wurde feucht und gewährte mir eine tiefe herrliche Perspective in die heilig geschonte, kindlich gebliebene Seele dieses poetisch gemüthlichen edlen Mannes.

„Mein lieber Freund,“ sagte er dann mild zu mir, „Sie haben mir durch Ihre Erzählung recht wohl gethan. Das lohn’ Ihnen Gott! Zugleich haben Sie mir einen Blick in Ihr Herz vergönnt. Und deshalb will ich gleich mit der rechten Farbe herausgehen. Unmöglich können sie ein Mensch sein, wie man Sie mir hier geschildert hat. Mit dem größten Interesse für sie bin ich hierher gekommen, denn ich habe Ihre Novelle: „Vörwerts-Häns“ gelesen, nein, verschlungen. Ich habe ja den Häns selbst gekannt und mit ihm verkehrt. Ich habe Sie geliebt, als ich mit dem Buche fertig war; ich habe mich auf Ihre persönliche Bekanntschaft gefreut. Ich schwärme für Deutschland, besonders für Thüringen, und am meisten für unsern Geburtsort, dessen poetische Verherrlichung in Ihrer Novelle mein Herz mir Wonnegefühl er füllte. Nun bin ich seit drei Tagen in Gotha und habe Urtheile über Sie vernommen, die mich befremdet und schier mißtrauisch über Sie gemacht haben.“

„Wenn Sie den über allen Ausdruck abgeschmackten Kleinigkeitsgeist einer kleinen moralisch kränkelnden Residenz erwägen wollen,“ erwiderte ich, „in welcher kein Mensch etwas gelten soll, der nicht Hof- oder Staatsdiener, Geschäfts- oder reicher Mann ist, in welcher das öffentliche und Privatleben matt und schläfrig im alten schmutzigen Geleise fortrumpelt und Alles Neue und Ungewöhnliche störend auf die Schlafmützenbequemlichkeit und Abderiten-Weisheit der Privilegirten und Herkömmlichen einwirkt, dann werden Sie auch begreifen, daß ein junger Mann, der sich untersteht, außer allem Geleise etwas rasch und unvorsichtig zu fahren und hier einen überklugen Dummkopf, dort einen aufgeblasenen Autoritätsmenschen, weiter einen verbissenen Egoisten u. s. w. unsanft anzustoßen, ein Gegenstand des allgemeinen Aergernisses sein muß. Das ist überall allen Schriftstellern meines Schlages so ergangen, was hätten denn ich und Gotha voraus, daß wir eine Ausnahme miteinander machen sollten? Ich erinnere Sie nur an Jean Paul’s Leben in Hof. Da geht’s mir hier noch leidlich.“ Ich schilderte nun die Einflüsse des Hofs und der öffentlichen Institute, deren Geist ich zu charakterisiren suchte, auf die Gesellschaft; ich führte ihm das ganze Elend, die tiefe traurige Verkommenheit der modernen Zustände vor. Er schien das Leben in Deutschland von dieser Seite noch gar nicht gekannt zu haben. Ich hatte die Genugthuung, daß mein aufmerksamer Zuhörer, als ich endlich schwieg, mir die Hand noch einmal drückte und in die Worte ausbrach: „Nun ist mir Alles klar. Sie sind diesen Leuten eine unbequeme Erscheinung, die sie auf ihre Weise zu beseitigen suchen. Davon sei ferner zwischen uns nicht mehr die Rede! Ich wünsche, daß Sie mir morgen Ihren Besuch schenken. Ich werde Ihnen Einiges mittheilen, was nur Wenige von mir erfahren, und ich will Ihnen damit einen Beweis geben, was ich von den albernen Schwätzereien über Sie halte.“

Er hinterließ mir den angenehmsten Eindruck. Nie noch war mir ein Mann herzengewinnender entgegengetreten. Ich fühlte, daß er einer der Verehrungswürdigsten unseres Geschlechtes sein müsse, und dieses Gefühl hat sich mir nachher als die schönste Wahrheit bestätigt. Solchen großartigen Erscheinungen gegenüber ist es nicht schwer, ein glücklicher Divinator zu sein.

Zur bestimmten Stunde des folgenden Tages trat er mir im vornehmsten Zimmer des vornehmsten Gasthauses in nobler Hauskleidung und mit der freundlichen Würde seines Wesens entgegen. Auf dem Tische vor dem Sopha, auf welchem wir Platz nahmen, lagen Manuscripte. Ein Kellner brachte Wein. Mein verehrter Landsmann schenkte die Gläser voll und sprach mit Gefühl: „Mit diesem deutschen Weine wollen wir unseren Freundschaftsbund einweihen. Seit ich Sie gestern kennen gelernt habe, ist es mein inniger Wunsch, daß Sie mein Freund sein möchten. Ich habe das öffentliche Unrecht eingesehen, das man Ihnen hier thut; vielleicht besitz’ ich ein Herz, das Ihnen einigen Ersatz dafür bieten kann. Sie haben mich geliebt, eh’ Sie mich kannten; ich hoffe, Sie sollen mich noch mehr lieben, wenn Sie mich kennen. Ich kenne und liebe Sie nun, und damit Sie auch mich kennen lernen, hab’ ich mir Ihren Besuch erbeten. Also aus unsere Freundschaft!“ Mir fiel eine Thräne in den Becher, während ich trank. Es war ein herrlicher elfer Rheinwein, recht geschaffen für deutsche Poeten.

„Wie im Weine überhaupt,“ fuhr Stumpff fort, „eine wunderbare symbolische Bedeutung für Liebe und Freundschaft und die edelsten und heiligsten Gefühle des Herzens liegt – hat ihn doch unser göttlicher Herr und Meister selbst zum Symbol seiner unergründlichen Liebe zur Menschheit und zum sichtbar geistigen Bande geweiht, das uns an ihn fesselt – so ist der edle Rheinwein insbesondere für mich Symbol und Medium der deutschen Treue, der deutschen Liebe, der deutschen Freundschaft. Und wer wie ich mit einem deutschen Herzen sein Leben in der fremde abspinnt, weiß die Tugenden des deutschen Charakters mehr zu schätzen, als die, welche daheim bleiben und sie gar oft an denen verkennen, die in ihrer Mitte leben, ja nicht selten die mit Füßen treten, die sie ihrer Tugenden wegen verehren sollten. Sind Sie in Gotha auch verletzt: üben Sie Vergebung! Sie ist auch eine Tugend und eine der schönsten. Ertränken Sie den Groll in diesem Weine. Folgen Sie dem Herrn, der da gebeut: du sollst deinem Feinde siebenzigmal siebenmal vergeben, ehe die Sonne untergeht.“

„Sie irren, lieber Stumpff, ich zürne den Leuten, die mich herunterreißen, nicht, ich bedaure sie, und habe nur ein „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie thun!“ für sie.“

„Das ist brav? – sehr brav!“ rief der edle Mann freudig aus. „Darauf Eins trinken! Denn deutscher Wein und deutsche Tugend gehören zusammen. Der Wein soll der Verherrlicher der Tugend sein; dies halt’ ich für seine wahre Aufgabe. Darum soll man ihn nicht täglich und stündlich genießen und stets mit jener frommen Scheu, die uns erfüllt, wenn uns der Priester den geweihten Kelch an die Lippen setzt. Mein lieber, indem wir diesen köstlichen Wein genießen, wollen auch wir einen Gottesdienst begehen, den der Freundschaft, der Liebe, der Vergebung. Ich denke, er ist so heilig, wie irgend ein anderer.“

Wir tranken, küßten uns und schüttelten uns die Hände.

Hierauf griff er nach den Manuscripten.

„Ich will und muß Ihnen nun das Beste mittheilen, was je aus meiner Seele hervorgegangen ist, einige meiner Gedichte. Aber ich muß eine Einleitung dazu machen.“

Er erzählte mir nun vom Sturm und Drang seiner Jugend, der ihn nach London getrieben, von seiner Begeisterung für deutsche Dicht- und Tonkunst, von seiner Freundschaft mit Goethe, Beethoven, K. M. v. Weber. Ich erfuhr, wie er selbst zum Dichter geworden; er zeigte mir die Blätter des Chaos, in welchem Goethe seine Gedichte hatte abdrucken lassen, und erzählte die naive Geschichte [470] derselben. Er zeigte mir ferner Goethe’s Vermächtniß an ihn, ein eigenhändig vom Dichtergreise geschriebenes und mit dessen Namen unterzeichnetes Gedicht und eine Zeichnung von seiner Hand, eine Partie des weimarischen Parks vorstellend. Ein anderes Geschenk der Frau von Goethe, der Schwiegertochter, bestand aus vier vom Alten geschriebenen Versen mit ihrem Zusatze: „Sie waren einer von des Vaters geschätztesten Freunden.“

Man kann sich denken, mit welcher Theilnahme ich der Erzählung meines Freundes zuhörte, mit welcher Ehrfurcht ich diese Blätter betrachtete! Und die Bescheidenheit, mit welcher Stumpff von sich sprach, und welche mich die Hauptsachen stets errathen ließ, erhöhte gar sehr den Reiz dieser Mittheilungen. Als er mit seiner ungemein interessanten Geschichte fertig war, und ich ihm noch einmal in seligster Rührung die Hand gedrückt hatte, las er mir einige seiner Gedichte vor. Und wie las er! Mit welchem Gefühle, mit welchem Ausdruck! Wie himmelweit war dieser Vortrag verschieden von dem declamatorischen Pathos professioneller Vorleser! Aus diesen eigenthümlichen Modulationen der sonoren Stimme leuchtete und loderte die ursprüngliche und natürliche Gewalt der Poesie auf ein hochedles, durch keine Corruption blasirtes Menschenherz hervor. Ja, dieser sechsundsechzigjährige schöne Greis hatte sich ein keusches, für Gott, König und Vaterland begeistertes, für deutsche Poesie und Tonkunst, für Menschengröße und Tugend schwärmendes Jünglingsherz bewahrt. Es zuckte und zitterte jetzt im Wonnerausche unter der Berührung des Gottes, und die Stimme bebte, das Auge leuchtete von der Macht des Gefühls, das so gewaltig mit der Sprache rang, um sich kund zu geben, aber nicht im Stande war, sie zu bewältigen.

Ich bat ihn, mir seine Gedichte zu überlassen, damit ich sie drucken lassen könne.

„Ich will es mir überlegen“, entgegnete er, „und komm’ ich zum Entschluß, so schick’ ich Ihnen die Sachen.“

Aber obgleich wir im Laufe der Jahre einige Briefe wechselten, die Gedichte erhielt ich nicht. Erst zu Ende des Jahres 1845 schickte er mir das Manuscript eines größeren Gedichtes mit der Bitte, es zum Druck zu befördern. Fast siebenundsiebzig Jahre alt, hatte er sich erst entschlossen. Vergebens würde ich versuchen, der Rührung, die mich über dem Lesen des Gedichtes ergriff, Worte zu geben. Es war eine Idylle, welche das bekannte Kirmeßfest unseres Geburtsortes Ruhla besang. Die Fabel ist eine einfache, wahrscheinlich von ihm selbst erlebte Scene, ja er ist vielleicht selbst der Held des Gedichtes und die schöne Rühlerin darin seine Jugendgeliebte. O heilige Vaterlandsliebe, die du deine Wurzeln tief in das Herz des Dichters schlägst, so daß sie eins mit ihm werden, was bist du doch für ein wunderbar herrliches Wesen! Drüben im Nebel des modernen Babel wandelst du einen Greis zum begeisterten Jüngling und führst seiner Seele in lieblichen Bildern das grüne Ruhlathal in den thüringischen Bergen mit seinen fröhlichen Bewohnern vorüber. Näher und näher der einsamen Gruft am fernen Themsestrand wurde sein heiß gebliebenes Herz von immer stärkerer Sehnsucht nach dem Bergflecken, der ihn geboren, erfüllt; er ringt noch einmal mit der Sprache sich der Gefühle zu entäußern, die sein Leben lang seine Brust durchglühten, ihn aber jetzt mächtiger als je beherrschen, und er schreibt ein Gedicht voll Jugend und Heimathglanz. So schließt sich der Lebensring eines echten Dichters, wenn er auch nicht so glatte Verse gedrechselt hat, wie Herr O. von Redwitz. – Am Grabe steht er geistig wieder seiner Wiege gegenüber.

Die Herausgabe seiner Gedichte, die ich beabsichtigte, zerschlug sich, und als sie sich endlich verwirklichen sollte, überraschte mich die Nachricht von Stumpff’s Tode. Er war am 2. Novbr. 1846 zu London in Folge einer Verletzung des rechten Schienbeins, welche Knochenfraß erzeugt hatte, gestorben. Bis an sein Ende war er fleißig und wohlthätig gewesen. Ich hatte ihn auch gebeten, seine Lebensgeschichte selbst zu schreiben. Die Antwort war: „das kann ich nicht; ich bin kein Schriftsteller. Wenn Sie mich aus meinen Papieren nicht kennen lernen, würden Sie es noch weniger aus einer mit Absicht verfaßten Lebensgeschichte.“ Er hatte Recht. Aus der absichtslosen Natürlichkeit seiner Herzensergießungen trat mir das Bild seiner stillen Größe rein und deutlich hervor.

Stumpff’s Correspondenz mit Mozart’s nächsten Verwandten und mit Beethoven bildet einen merkwürdigen, aber echt deutschen Pendant zu den Mozart- und Beethoven-Monumenten. Man kann nicht oft und stark genug an diesem Pfahle im Fleische des deutschen Volkes rüttelen und reißen; er muß doch endlich heraus. Ich meine diese prahlerische und lächerliche Monumentensetzerei zur Verherrlichung großer Männer, die im Leben mit Aller Wissen dem Elend des Mangels verfielen. Ist es nicht eine Schande für Deutschland, daß Beethoven und Maria Anna Mozart, die weibliche Kehrseite von ihres Bruders hohem musikalischen Genie und einst seine bewunderte Begleiterin auf ihren berühmten Kunstreisen, Bettelbriefe nach London schreiben mußten, um krank und alt nicht zu darben oder Schulden zu hinterlassen? Wußte es etwa Wien nicht, daß der große Tonschöpfer des Fidelio draußen in Mödling Noten für’s tägliche Brod schrieb und daß er nichts hatte, als ihn die Wassersucht unthätig machte? Ah, die Sache war kein Geheimniß! Wußte Deutschland nicht, daß Mozart’s einzige Schwester und Kunstgenossin im hohen Alter Noth litt ? Deutschland mußte es wissen. Wenn wüthender Applaus dem Champagnerlied des Don Juan folgte und das allgemeine Verlangen des ganzen Hauses nach Wiederholung den Beleber der Mozart’schen Zaubertöne mit abgezogenem Hut an die Lampen rief, wo er im langsameren Tempo das bekannte: „Vivat, Mozart, unsterblicher Meister!“ absang, so daß in jeder deutschen Brust das Herz höher schlug aus gerechtem Stolz und hoher Freude, daß Er das unveräußerliche ewige Eigenthum unseres Volkes ist, dachte da Niemand daran laut zu rufen: „Und seine Schwester und seine Wittwe darben?“ Aber ich fürchte sehr, nur blutwenig Leute in Deutschland wußten, daß Mozart’s einzige Schwester, die Theilnehmerin seines Genie’s und seiner frühen Triumphe, noch lebte. Wer hat Lust und Zeit sich um eine alte vergessene Frau zu bekümmern? Und Beethoven war ein finsterer schroffer Mann, von der Taubheit nur noch mehr verdüstert, der nicht vor den Hutknöpfen und Pfauenfedern des widerwärtigen deutschen Mandarinenthums katzenbuckelte, ein Kern- und Kraftmensch, eine durchaus edle und herrliche deutsche Natur war dieser Beethoven, ein Mann, der das Gefühl seines hohen Werthes in der stolzen Brust trug und sich nicht herabwürdigte, sich vor jedem betitelten oder decorirten Frack zu bücken. Deshalb mußte er Noth leiden im gemüthlichen Wien.

Aber, Gottlob! es gibt noch edle deutsche Herzen, die in echter Begeisterung schlagen für deutsche Genialität und dem Genie, ohne zu zählen und zu rechnen, die volle Hand freudig und schnell reichen. Es gibt noch Deutsche, die ihre dem großen deutschen Namen schuldige Huldigungssteuer nicht bis zum Monument desselben aufsparen, sondern sie still und reich dem bedürftigen Leben spenden. Wohl wandte sich die alte vergessene Frau in Salzburg, die Mozart’s Genie, Liebe und Namen besaß und „nicht gern Schulden hinterlassen wollte,“ und Mozart’s Ruhmesgenosse vom Krankenbette nach England um Unterstützung, aber sie wandten sich an einen Deutschen! Hör’ es, mein Vaterland: ein deutscher Arbeiter war es in London, ein Mann ohne Vermögen, aber mit einem flammenden Herzen für deutsche Größe, ein Thüringer war es, der den Bittenden mit vollen Händen und der zartesten Discretion gab, der im Namen Deutschlands der Schwester deines Mozart und deinem Beethoven die letzten Stunden versüßte, der deinem K. M. v. Weber das „Fahrwohl“! nachrief. Sei stolz auf diesen Mann und trage seinen bescheidenen Namen in die Liste deiner Edelsten ein. Und ihr, deren Schuld er abtrug, nehmt euch ein Beispiel an ihm! Laßt die Männer nicht darben, die dem deutschen Namen allein Ehre machen vor anderen Völkern der Erde!




Zwickau und seine Kohlen.
Nr. 2.

Der Zwickauer Steinkohlenbergbau ist sehr alt und wohl der älteste in Deutschland. Seine ersten Anfänge reichen bis in das 10. Jahrhundert n. Chr. zurück, als noch die betriebsamen Sorbenwenden Bewohner der Zwickauer Gegend waren. Der Sage nach wurden die ersten Steinkohlen auf Planitzer Flur von Hirten zufällig aufgefunden. Dort lagen die Kohlen, wie man auch heute noch [471] sehen kann, zu Tage aus. Die Hirten nun sollen ein Feuer, das sie sich angezündet hatten, mit dort herumliegenden Kohlen umstellt und dabei verwundert bemerkt haben, daß die schwarzen Steine selbst in Brand gerathen waren. Ein großer Werth konnte freilich dem nun aufgefundenen Brennmaterial nicht beigemessen werden zu einer Zeit, die Holz in Hülle und Fülle hatte, so daß man noch i. J. 1514 in Zwickau die Klafter hartes Holz für 6 gGr. und die Klafter weiches für 2½ gGr. kaufen konnte. Nur nach und nach erhielten die Steinkohlen mit dem Steigen der Holzpreise einen etwas höhern Werth und es wurden hauptsächlich die Feuerarbeiter der näheren und ferneren Umgebung von Zwickau je länger, desto bessere Kohlenabnehmer.

Der erste Abbau der Kohlen war, da dieselben zu Tag auslagen, nur Tagebau; als man sie aber endlich bei dem steten Fallen der Kohlenflötze nach der Tiefe durch den Tagebau nicht mehr gewinnen konnte, stellte sich das Abteufen von Schächten, – senkrecht niedergebrachten, mit Holz ausgefütterten, länglich viereckigen Löchern – von selbst ein. Auch in Nieder-Cainsdorf, in dem der Bockwaer Commun zugehörigen Walde konnten die ersten dort ebenfalls zu Tage ausstreichenden Kohlen durch Tagebau gewonnen werden. Wann man damit begonnen hat, darüber gibt es keine zuverlässigen Nachrichten, nur so viel läßt sich mit Sicherheit angeben, daß der Kohlenbau dort in der Mitte des 16. Jahrhunderts schon über 100 Jahre im Gange war. Denn ein Zwickauer Bürger sagt in einer Bittschrift v. J. 1551 ausdrücklich, daß sein Schwager, ein gewisser Müller in Bockwa, sowie dessen Vater und Großvater „schon länger als 100 Jahre“ Kohlen dort gefördert hätten.

Freilich brachte der Abbau, da das Bedürfniß nach Kohlen noch keine wesentliche Steigerung erfahren hatte, nur sehr bescheidenen Gewinn, und je mehr die Grundbesitzer in Bockwa Schächte zum Abbau der Kohlen unter ihren Grundstücken niederbrachten, desto mehr mußte die Befürchtung rege werden, es möchte der Kohlenpreis nach und nach so weit herabsinken, daß sich die Kohlenförderung zuletzt gar nicht mehr der Mühe verlohne. Um nun der völligen Entwerthung der Kohle vorzubeugen, vereinbarten sich der Besitzer des Rittergutes Planitz und die Kohlengrubenbesitzer in Bockwa um das Jahr 1520 dahin, daß die Kohle von Keinem von ihnen unter einem bestimmten Preise verkauft werden dürfte und daß die Reiheladung eingeführt werden solle, d. h. es sollte die Verladung von Kohlen allemal nur bei einem Grubenbesitzer erfolgen und dabei war genau geordnet, in welcher Reihe die Besitzer aufeinander folgen sollten, und welches Quantum sie nach Verhältniß ihres Grundbesitzes abgeben durften. Als nun die Auffindung von Kohlen in Oberhohendorf i. J. 1530 und in Reinsdorf i. J. 1540 erfolgt war, übten die dortigen Besitzer zuerst eine Zeit lang freien Kohlenverkauf, sahen sich aber bald genöthigt, sich der Planitz-Bockwaer Kohlenordnung anzuschließen. Es wurden zwar zu verschiedenen Malen Versuche gemacht, die das freie Verfügen über das Eigenthum aufhebende Reiheladung abzuschaffen; aber gewöhnlich dauerte der freie Verkauf nicht lange, weil man bald erkennen mußte, daß er von zwei unvermeidlichen Uebeln das größere sei. Nun bemühte man sich, der Kohlenordnung solche Gestaltung zu geben, daß die bei der Reiheladung immer vorkommende Bevortheilung möglichst in Wegfall gebracht würde; denn wer einmal an der Reiheladung war, suchte dieselbe thunlichst weit auszudehnen, und wendete allerhand Mittel an, um die zur Beaufsichtigung der Verladungen angestellten Beamten über das abgegebene Kohlenquantum zu täuschen. So entstanden nach und nach neun Kohlenordnungen, von denen die letzte v. J. 1740 bis 1823 in Geltung blieb. Dann aber wurde der Kohlenverkauf völlig freigegeben. Denn der Kohlenbedarf war inzwischen so gewachsen, daß die Aufhebung der Reiheladung, welche die Benutzung des Grundeigenthums der Kohlenwerksbesitzer monopolistisch beschränkte, zur unumgänglichen Nothwendigkeit geworden war.

Die Straßen waren in guten Zustand gekommen, und ermöglichten das Verfahren der Kohlen in weitere Entfernung; der Preis des Holzes war so gestiegen, daß ein dasselbe ersetzendes billigeres Brennmaterial nur angenehm sein mußte; die bessere Herrichtung der Oefen hatte den Leuten deutlich gemacht, daß das Brennen der Kohlen auch ohne üblen Geruch geschehen, und mit den Forderungen der Reinlichkeit recht wohl in Einklang gebracht werden könne, und den Ausschlag gab die Erfindung der Dampfmaschine und deren Verwendung als fortbewegende Kraft auf eisernen Bahnen.

Die Dampfmaschine war es auch, welche allein die Kraft hatte, den Feind des Kohlenbergbaues siegreich niederzuwerfen, dem er sonst in nicht zu weiter Ferne hätte ganz erliegen müssen. Dieser mächtige Feind war das Wasser. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß die Schächte im Laufe der Jahrhunderte immer tiefer und tiefer niedergebracht werden mußten, bis endlich der Zudrang des Wassers so heftig wurde, daß ein Tiefergehen nicht mehr möglich war. Zu Planitz und Hohendorf, die beide auf ansehnlichen Höhen liegen, sicherte man sich den Abbau der Kohlen bis auf eine Tiefe von 50 bis gegen 70 Ellen durch Anlegung von Stollen, d. h. man trieb vom Fuße der Berge aus wagrecht gehende Löcher in deren Inneres bis zu den zu entwässernden Schächten, setzte diese mit den Stollen in Verbindung und ließ die Wasser in ihnen abfließen. Die Kohlen aber, die unterhalb des Stollens und im Thale lagen, waren für jene Zeit kaum abbaubar. Die Lösung der Aufgabe, ganze Bäche voll Wasser aus der Erde zu heben, und dem Bergmann die Kohlenförderung aus jeder Tiefe zu ermöglichen, blieb der Dampfmaschine vorbehalten. Ihre erste Verwendung zur Wasserhaltung bei dem Kohlenbergbau fand sie in Oberhohendorf im Jahre 1826, doch bald folgten auch andere Kohlenbergwerksbesitzer dem gegebenen Beispiele nach.

Der jetzt erzielte Gewinn bei dem Kohlenbergbau war sehr bedeutend, und mehrte sich noch, als i. J. 1830 die Cokbrennerei Eingang fand. Denn durch diese wurden die klaren Kohlen, welche früher fast werthlos waren, eine gesuchte Waare. So wuchs der Wohlstand und Reichthum der Bergherren zusehends.

Bei solchen Ergebnissen des Steinkohlenbergbaues lag der Gedanke, die Planitz und Bockwa zunächst liegenden Fluren behufs ihrer Kohlenführung zu untersuchen, sehr nahe; und doch mußte der Anstoß hierzu erst von außen her durch Herrn Professor Breithaupt aus Freiberg gegeben werden. Dieser stellte im Jahre 1837 das Gesuch, auf den bei Niederplanitz liegenden, der Commun Zwickau zugehörigen Feldern des Pietzschischen Gutes und des rothen Vorwerkes, unter welchen er Kohlen erwartete, Bohrversuche anstellen zu dürfen. Dadurch wurde plötzlich den Zwickauern der Staar gestochen: sie unternahmen unter starker Betheiligung der Commun selbst auf jenen Feldern zwei Bohrversuche, die glücklich zur Auffindung von zwei 12 und 14 Fuß mächtigen Kohlenflötzen führten, von denen das erstere – ein Rußkohlenflötz – in einer Tiefe von 80 Lachter – 1 Lachter gleich 7 Fuß, – das andere – ein Pechkohlenflötz – in einer Tiefe von 110 Lachter erbohrt wurde. Auf solche Grundlage hin wurde der „Zwickauer Steinkohlenbauverein“ gegründet, der mit so glänzenden Erfolgen arbeitete, daß seine Actien, auf welche im Ganzen 46 Thlr. eingezahlt worden sind, jetzt schon einen Werth von 340 Thlr. haben. Dieser Verein hat jetzt zwei große Schächte in vollem Betrieb, die Schächte „Vereinsglück“ und „Aurora.“ Jeder derselben hatte zur Wasserhaltung eine Dampfmaschine von 20 Pferdekräften und zur Kohlenförderung eine dergleichen von 16 Pferdekräften; beide sind bis auf die beiden erbohrten Flötze niedergebracht und bei dem Abteufen der Aurora war man noch so glücklich, bei 75 Lachter Tiefe das vier Fuß mächtige sogenannte Schichtenkohlenflötz anzuhauen.

Das Kohlenfeld des Vereins umfaßt jetzt, nachdem zu dem ursprünglichen Felde noch mehrere Grundstücke erworben worden sind, 513 Scheffel. Die Kohlenförderung ist im Jahre 1856 bis auf 182,802 Karren – eine Karre gleich fünf Dresdner Scheffeln – gestiegen, wird sich aber fast verdoppeln, wenn der dritte im Abteufen begriffene, auf Doppelförderung eingerichtete Schacht, der „Glückauf-Schacht“ in vollen Betrieb gebracht sein wird. Das Werk beschäftigt jetzt 400 Arbeiter und hat im Jahre 1856 an Arbeitslöhnen 63,688 Thlr. ausgezahlt.

Professor Breithaupt ließ sich dadurch, daß sein erster Versuch zur Gründung eines großen Steinkohlenwerkes wenigstens für ihn nicht gelungen war, nicht von der weiteren Verfolgung seines Planes abhalten. Er erwarb mit zwei anderen Herren auf Lichtentanner-Planitzer-Marienthaler Flur, westlich von der Stadt Zwickau, das Kohlenunterirdische von 3000 Scheffeln Areal und gründete im Jahre 1840 den „erzgebirgischen Steinkohlen-Actien-Verein,“ welcher sodann im Jahre 1841 beinahe die ganzen Fluren von dem Dorfe Schedewitz, – 250 Scheffel lauter mächtige Kohlenflötze führendes Feld – an sich brachte. Der erste Versuch auf Lichtentanner Flur verunglückte, denn der Bohrer traf das Urgebirge, unter welchem niemals Kohlen lagern. Dagegen wurden im Jahre 1841 auf Niederplanitzer Flur 2 Pechkohlenflötze von 9 Fuß 10 Zoll und 20 Fuß 5 Zoll Mächtigkeit erbohrt. Der [472] zum Abbau der hier lagernden Kohlen niedergebrachte Schacht erhielt den Namen „Segen-Gottes-Schacht“ und ist 138 Lachter tief. Die Wasserhaltung und Kohlenförderung besorgen 2 Dampfmaschinen, die erstere von 50, die letztere von 20 Pferdekraft.

In dem auf Schedewitzer Flur niedergebrachten „Hoffnungs-Schachte“[WS 1] wurde bei 83 Lachter Tiefe das erste Flötz – Pechkohle – von 6 Fuß 6 Zoll Mächtigkeit, bei 99 Lachter das zweite Flötz – Rußkohle – von 8 Fuß 5 Zoll Mächtigkeit und bei 128 Lachter das dritte Flötz – Rußkohle – von 12 Fuß Mächtigkeit erreicht. Zur Wasserhaltung hat, da jede Minute 60 Cubikfuß Wasser zuführt, eine 140pferdige Dampfmaschine aufgestellt werden müssen und die Förderung ist einer Maschine von 20 Pferdekraft überwiesen. Ein zweiter Schacht auf Schedewitzer Flur, der „Vertrauens-Schacht“[WS 2] ist noch im Bau begriffen, doch schon so weit vorgerückt, daß er binnen einem Jahre in Betrieb sein wird. Diese Schachtanlage, unter der Leitung des als erste bergmännische Autorität bei dem Zwickauer Bergbau allgemein anerkannten Herrn Bergverwalter Modrach stehend, wird nicht nur die umfangreichste auf Zwickauer Revier, sondern es werden auch die wohldurchdachten Pläne mit solcher Genauigkeit und Solidität unter ungeheuerem Kostenaufwand ausgeführt, daß das Werk nach seiner Vollendung jedenfalls als eine Musteranstalt in seiner Art dastehen wird.

Die Kohlenförderung auf beiden Schächten betrug im Jahre 1856 196,330 Karren, von denen 42,132 Karren von der Cokbereitung und Feuerung der eigenen Maschinen in Anspruch genommen wurden. Eine Actie des Vereins, auf welche 100 Thlr. eingezahlt sind, hat jetzt schon einen Werth von 330 bis 340 Thaler.

Ein drittes großes Steinkohlenunternehmen steht ebenfalls in Beziehung zum Herrn Professor Breithaupt. Dieser vermuthete nämlich im Jahre 1841 auf den westlich von Zwickau gelegenen, Bürgern der Stadt zugehörigen Feldern Steinkohlen, konnte aber zur Begründung eines Unternehmens nicht gelangen, weil sich die betroffenen Grundstücksbesitzer, nachdem sie sich zuvor mit noch vielen anderen Zwickauer Grundbesitzern vereinigt hatten, zum eigenen Abbau der unter ihren Feldern lagernden Steinkohlen entschlossen. Sie traten unter dem Namen „Bürgergewerkschaft“ zusammen und besitzen jetzt einen Feldcomplex von 863 Scheffeln. Ein Bohrversuch wurde nicht erst angestellt, sondern sofort ein Schacht abgeteuft. Mit diesem erlangte man im Jahre 1846 bei 128 Lachter Tiefe das erste Flötz – Pechkohle – von 2 Ellen 8 Zoll Mächtigkeit und bei 147 Lachter das zweite Flötz – Pechkohle – von 7 Fuß 5 Zoll Mächtigkeit. Zur Wasserhaltung und Förderung sind zwei Dampfmaschinen von 24 und 12 Pferdekräften aufgestellt. Der zweite von der Bürgergewerkschaft niedergebrachte Schacht ist der unlängst zum Betrieb gekommene „Hülfe-Gottes-Schacht“; dieser ist nicht nur für Doppelförderung eingerichtet, sondern auch mit einer Fahrkunst versehen, welche den Bergleuten das ermüdende und zeitraubende Ein- und Ausfahren an den Fahrten erspart.

Als eine besondere Merkwürdigkeit möchte hier noch erwähnt sein, daß der Bürgerschacht auch Zufluß von salzhaltigem Wasser hat. Obgleich aber dessen Salzgehalt ein nur sehr geringer ist, so hat es doch dem rühmlichst bekannten Fickentscher Veranlassung zur Errichtung einer Saline gegeben, durch welche er unter Verwendung der sonst ganz nutzlos verfliegenden Hitze von mehreren Coköfen dem Wasser sein weniges Salz noch mit Vortheil abzunehmen weiß.

Die Kohlenförderung vom Jahre 1856 ist noch nicht bekannt geworden, im Jahre 1855 betrug sie 84,261 Karren. Der Verein beschäftigt auf seinen beiden Schächten ungefähr 300 Arbeiter und zahlt 14tägig gegen 3000 Thlr. Löhne aus.

Im Jahre 1847 kam noch der Steinkohlenbau-Verein zu Nieder-Planitz und Vorder-Neudörfel zu Stande. Er besaß ursprünglich nur etwas über 9 Scheffel Areal; es ist aber nach und nach bis auf 80 Scheffel vermehrt worden. Das erste 7 Fuß mächtige Pechkohlenflötz wurde in einer Tiefe von 77½ Lachter erreicht und ihm folgte nach einem Zwischenmittel von nur 1 Lachter ein zweites Pechkohlenflötz von 14 Fuß Mächtigkeit. Demungeachtet hat der Verein bis jetzt nicht mit besonders günstigen Erfolgen gearbeitet. Erst konnte er mit seiner Verwaltung nicht recht in Ordnung kommen, und in diesem Jahre hat der Betrieb in Folge eines ausgebrochenen Grubenbrandes ganz eingestellt werden müssen. Jetzt arbeiten die beiden Maschinen des Vereins von 30 und 15 Pferdekräften, die Wasser aus dem über und über „ersoffenen“ Himmelfürst[WS 3] zu heben; es wird aber kaum zu ermöglichen sein, die Kohlenförderung noch in diesem Jahre wieder zu beginnen.

Die Versuchsarbeiten zur Auffindung immer neuer Kohlen haben zwar niemals aufgehört; aber erst seit zwei Jahren hat sich hierin eine so umfängliche Regsamkeit und kühne Unternehmungslust entwickelt, wie sie in solchem Grade vorher noch nicht vorhanden gewesen ist. An allen Punkten, wo die Geognosten Kohlenführung mit Wahrscheinlichkeit vermuthen, wird rüstig gebohrt, mit Dampf und mit der Hand und viele Bohrlöcher sind schon so weit vorgerückt, daß wir noch in diesem und im nächsten Jahre entscheidende Aufschlüsse erhalten müssen. Ein Aufschluß von durchgreifender Wichtigkeit ist auch schon in diesem Jahre durch den Zwickau-Oberhohendorfer Steinkohlenbau-Verein dadurch gegeben worden, daß er jenseits des östlichen „Vorschusses“, hinter welchem nach Ansicht der Meisten Kohlen nicht zu finden sein sollten, 3 schöne Kohlenflötze allerdings in sehr bedeutender Tiefe erbohrt hat, ohne daß noch das Urgebirge erreicht worden wäre.

Nothwendig ist es, daß sich die Kohlenförderung sobald als möglich verdoppele und verdreifache. Denn wenn auch im Jahre 1856 bei dem Zwickauer Bergbau ungefähr 14⅓ Millionen Centner Kohlen gewonnen worden sind, während 1830 nur erst 3½ Millionen Centner geliefert werden konnten: so ist doch der Bedarf nach Eröffnung der sächsisch-bairischen Eisenbahn und danach der bis unmittelbar an die bedeutendsten Werke führenden Kohlenbahn so gestiegen, daß er zeitweilig kaum zur Hälfte befriedigt werden kann, und es steht zu befürchten, daß dieses für die Kohlenconsumenten ungünstige Verhältniß sich noch greller herausstellen werde, wenn die Eisenbahnen nach Chemnitz und Schwarzenberg in Betrieb kommen.

Wenn man aber bedenkt, daß in dem jetzt schon im Abbau begriffenen Kohlengebirge auf dem rechten Ufer der Mulde bereits 9 über einander liegende Flötze mit einer Gesammtmächtigkeit von 107 Fuß, und in dem auf dem linken Ufer der Mulde ebenfalls 9 Flötze mit einer Gesammtmächtigkeit von 120 Fuß Kohlen nachgewiesen sind, übrigens aber nach dem Urtheile der gediegensten Geognosten zu erwarten steht, daß in wenigen Jahren das jetzt aufgeschlossene Kohlengebirge nur den kleineren Theil des Gesammtkohlengebirges bilden werde: so darf mit Zuversicht angenommen werden, daß der Zwickauer Steinkohlenbergbau in der Zukunft jeden, auch den ungeheuersten Kohlenbedarf zu befriedigen im Stande sein werde.

Die Beschaffenheit der Kohlen anlangend, so hat zwar jedes Flötz seine eigenthümliche Kohle und der Bergmann arbeitet bald im Schichtenkohl, bald im Lehkohl, bald im Zachkohl, bald in noch anderem Kohl; aber im Handel unterscheidet man blos 2 Arten von Kohle, die Pechkohle und die Rußkohle. Die Pechkohle ist hart, spröde und meist vom tiefsten schwarzen Glanze, färbt nicht ab und brennt sehr lebhaft; die Rußkohle ist weicher, besitzt keinen Glanz, färbt ab und brennt matter. Früher war man der Rußkohle wenig zugethan; aber seit man bemerkt hat, daß sie eine mildere Wärme gibt, länger im Feuer nachhält, weniger Schlacken macht und weniger Ruß im Ofen und in der Esse ansetzt, und seit sie namentlich zur Heizung der Locomotiven viel verwendet wird, hat sie in der Achtung der Leute und, was dasselbe sagen will, im Preise wohl 100 Procent Ausschlag erlitten.

Um nun unsern Lesern, von denen wohl die wenigsten den Kohlenbergbau durch Augenschein kennen gelernt haben, ein Bild von der Gewinnung der Kohlen und den Anstalten, welche dieselbe nöthig macht, vor die Augen zu stellen, laden wir sie ein, mit uns eine große Schachtanlage zu besuchen und zu den Arbeitsstätten der Bergleute hinabzufahren.

(Die Fahrt in den Kohlenschacht in der nächsten Nummer.)




Zur Berichtigung.

Bei einem Theil der Auflage der Nummer 33 sind in dem Artikel: „Ein hochherziger Mann aus dem Volke“ einige Druckfehler stehen geblieben, die wir zu berichtigen bitten:

Seite 457. Spalte 1. Zeile 14 lies statt: den kranken Beethoven „Sie“; Zeile 17 statt: Beethoven „Sie“; Zeile 18 statt: kann „können“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Schacht heißt richtig „Hoffnung-Schacht“.
  2. Der Schacht heißt richtig „Vertrauen-Schacht“.
  3. Der Schacht heißt richtig „Himmelsfürst-Schacht“.