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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[349]

No. 26. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine Lebens-Versicherung.
Aus den Papieren eines Berliner Advocaten.
(Schluß.)

Der Vorsitzende ertheilte dem Staatsanwalt das Wort zur Begründung der Anklage.

„Ich habe,“ begann dieser, „zuvor noch eine Frage an den zuletzt vernommenen Zeugen richten wollen.“

Man ließ den Victualienhändler eintreten.

„Haben Sie noch anderweites Geld bei dem Angeklagten bemerkt, als er bezahlte?“

Der Zeuge besann sich geraume Zeit.

„Allerdings,“ antwortete er endlich, „ich weiß aber nicht genau, was für Geld es war.“

„Beschreiben Sie es uns!“

„Es war eine große Silbermünze, ich konnte nicht unterscheiden, was es gewesen ist, ich sah nur, daß das Geldstück durchlöchert war –“

Ich hörte, wie das Geländer, das mich von dem Angeklagten trennte, unter dem krampfhaften Griff seiner Hände knackte, so fest mußte er sich daran halten, um nicht zu schwanken. Der Zeuge beschrieb das Geldstück noch näher, die Beschreibung paßte genau auf den im Besitze des Kriegsraths gewesenen durchlöcherten Kronthaler. So günstig sich die Sache im Laufe der Verhandlung gestaltet hatte, so mißlich lag sie jetzt für den Angeklagten. Dieser fühlte die Wendung seiner Lage vollkommen; er leugnete; dicke Schweißtropfen perlten von seiner Stirn auf die fieberhaft gerötheten Wangen.

„Herr Präsident,“ sprach er – hastig mit stotternder Stimme, „ich habe mein Alibi bewiesen –“

„Ihr Wirth hat allerdings eidlich erhärtet, daß Sie am Morgen nach jener Nacht Ihre Wohnung vor sieben Uhr Morgens nicht verlassen haben, aber er hat Sie erst um ein Uhr Abends, wahrscheinlich sogar noch später gesehen, und es ist daher sehr gut möglich, daß der Diebstahl um diese Zeit bereits ausgeführt war. Etwas Anderes wäre es, wenn Sie nachweisen könnten, daß Sie auch in der Zeit von zehn Uhr Abends bis zum Eintreffen in Ihrer Wohnung nicht am Orte der That gewesen sind.“

„Ich will es beweisen,“ sagte der Angeklagte, und das Wort stockte ihm in der Kehle.

„Und wie wollen Sie das beweisen?“ fragte der Präsident.

„Durch die Person, in deren Wohnung ich bis nach eilf Uhr gewesen bin –.“

„So geben Sie also zu, daß es unwahr ist, wenn Sie behauptet haben, bereits vor zehn Uhr Abends in Ihre Behausung zurückgekehrt zu sein –?“

Der Angeklagte schwieg, was ging in ihm vor? Auf seiner Stirn stand der helle Angstschweiß, seine trockenen Lippen zuckten, aber sprachen nicht.

„Nennen Sie diese Person!“ rief der Vorsitzende mit stärkerer Stimme, „oder ich schließe die Verhandlung und gebe dem Herrn Staatsanwalt das Wort.“

Der Angeklagte raffte sich zusammen. „Es ist die Frau von P.,“ sprach er kaum hörbar.

„Die Frau des verstorbenen Kriegsraths von P.? die Gattin des Bestohlenen?“ fragte der Vorsitzende erstaunt.

„Ja,“ antwortete der Angeklagte, und indem er sich zu mir neigte: „Um Gotteswillen, einen Tropfen Wasser!“

Ich winkte dem Gerichtsdiener, der das Verlangte brachte.

„Und was hatten Sie so spät in der Wohnung dieser Dame zu thun?“ fragte der Präsioent von Neuem.

„Ich habe bisweilen kleine häusliche Arbeiten dort verrichtet, Möbel aufpolirt und dergleichen.“

Der Gerichtshof trat in Berathung und beschloß, Frau von P. sofort vorzuladen und die Verhandlung so lange auszusetzen.

Nach weniger als einer Stunde wurde dem Präsidenten das Eintreffen der Zeugin gemeldet. Die Verhandlung wurde wieder aufgenommen. Die Aufmerksamkeit wandte sich der Frau von P. zu. Sie war in tiefer Trauer, welche die Blässe ihres Antlitzes noch mehr hervortreten ließ. Ich erinnerte mich nicht, jemals ein so marmorbleiches Antlitz gesehen zu haben. Als der Gerichtshof eintrat, wollte sie sich vom Stuhl erheben, auf dem sie Platz genommen hatte; sie vermochte es aber nicht.

„Wenn Sie sich angegriffen fühlen, Frau von P.,“ sprach der Präsident des Gerichtshofes zu ihr gewendet, „so wollen wir Sie nicht zum Stehen nöthigen.“ Sie hatte sich inzwischen zusammengerafft und trat an den Zeugentisch. Nachdem sie die Frage nach Namen, Stand und Alter leise, aber vernehmlich beantwortet hatte, befragte sie der Vorsitzende, ob ihr der Angeklagte bekannt sei. Sie bejahte. Ich hatte indessen genau beobachtet, daß sie den Angeklagten nicht angeblickt hatte. Es war zunächst festzustellen, ob der Angeklagte, wie er angegeben, an dem gedachten Abend bis nach eilf Uhr in der Behausung der Zeugin gewesen sei. Sie bejahte diese Frage.

„Zu welchem Behufe hatte er sich an dem gedachten Abend eingefunden?“

„Er sei,“ so lautete die Antwort, „ab und zu gekommen, um zu hören, ob irgend etwas für ihn zu thun sei, hin und wieder [350] auch, um eine Unterstützung zu erhalten oder einen Rath zu begehren. Dieses wäre der Anlaß seines letzten Besuches gewesen; er habe die Absicht gehabt, auszuwandern, dazu hätten ihm jedoch die Mittel gefehlt. Sie selbst,“ fuhr Frau von P. fort, „habe mehr den Wunsch und die Neigung, als ausreichende Mittel besessen, ihm so zu helfen, daß er vor weiterer Lebenssorge bewahrt würde.“

Alles, was Frau von P. sagte, machte den Eindruck der vollsten Wahrheit; die tiefe Bewegung, mit der sie sprach, und welche sie vergeblich zu bemeistern suchte, verstärkte diesen Eindruck noch. Das Verhältniß einer von der Welt zurückgezogenen, mildthätigen Dame zu einem etwas verwahrlosten und manchen Versuchungen ausgesetzten jungen Proletarier hatte an sich nichts Befremdliches.

„Ich wünsche noch von Ihnen zu wissen, gnädige Frau,“ nahm der Staatsanwalt das Wort, „ob der Angeklagte vielleicht durch Sie, oder mittelbar durch die Anwesenheit in Ihrem Hause, von den Verhältnissen und der häuslichen Einrichtung Ihres Gemahls in Kenntniß gesetzt wurde?“

„In keiner Weise,“ lautete die Antwort, „niemals war von der Person oder den Verhältnissen meines verstorbenen Mannes die Rede.“

„Und Sie haben keine Vermuthung darüber, daß der Angeklagte mit Ihrem verstorbenen Gemahl bekannt gewesen sei?“

„Ich bin vom Gegentheil überzeugt.“

Der Staatsanwalt wandte sich zum Angeklagten: „Weshalb sind Sie erst im letzten Augenblicke mit der Angabe hervorgetreten, daß Sie bis nach eilf Uhr in der Behausung der Frau von P. waren?“

„Ich wollte der Dame, die immer sehr gütig gegen mich war …“

Er wollte offenbar sagen, daß er ihr die Behelligung, für ihn gerichtliches Zeugniß abzulegen, habe ersparen wollen; aber er konnte den Satz nicht vollenden, er mußte schluchzen, wie ein Kind. Und Frau von P.? Wieder ging das leise Zittern durch ihren Körper, das ich bei der ersten Begegnung in der Sterbewohnung bemerkt hatte, sie legte ihre Hände auf den Rand des vor ihr stehenden Tisches, aber die zitternde Bewegung war dennoch sichtbar.

Der Vorsitzende erhob sich. „Ich werde zu Ihrer Vereidigung schreiten,“ sprach er zu Frau von P.; „sind Sie bereit, die Richtigkeit Ihrer Aussage durch einen Eid zu bekräftigen?“

„Ich bin bereit!“ antwortete sie, und schien ihre Fassung wiedergewonnen zu haben.

Noch im letzten Augenblick nahm der Staatsanwalt das Wort.

„Ich erlaube mir, den Herrn Präsidenten darauf aufmerksam zu machen, daß vergessen worden ist, der Zeugin die allgemeinen Zeugenfragen vorzulegen und sie darauf hinzuweisen, daß auch die Antworten auf diese Fragen eidlich bekräftigt werden müssen.“

„Der Herr Staatsanwalt hat vollkommen Recht, ich habe dies übersehen,“ sprach der Vorsitzende. „Frau von P., Sie haben zunächst die folgenden Generalfragen zu beantworten; die wissentlich unrichtige Beantwortung einer dieser Fragen zieht gleichfalls die Meineidsstrafen nach sich. – Sie haben mich doch verstanden?“

Frau von P. hatte der Eröffnung, die ihr gemacht wurde, mit einem so fremdartigen Ausdrucke des Gesichts zugehört, daß die Frage des Präsidenten nur zu natürlich war. Er wiederholte seine Frage. Sie schien den Kopf zum Zeichen der Bejahung zu neigen.

„Sind Sie verwandt oder verschwägert mit dem Angeklagten?“

Eine flammende Röthe zog über das todtenbleiche Antlitz – verschwand aber eben so schnell, um einer Blässe zu weichen, welche schon an die erdfahle Todtenfarbe erinnerte. Sie neigte sich nach vorn über, bewegte etliche Male schnell hintereinander die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen, blieb dann mit geöffnetem Munde stehen, und ehe noch Jemand zu ihrem Beistände herzueilen konnte, war sie mit einer zuckenden Bewegung der Hände nach ihrem Herzen hinten über gestürzt, und lag leblos am Boden.

Man hob sie sofort auf, Alles beeiferte sich, ihr beizustehen. Frau von P. wurde von zwei Frauen in ein Nebenzimmer getragen, ein Arzt herbeigerufen und die Sitzung abermals auf eine Stunde unterbrochen. Der Präsident ordnete die Zurückführung des Angeklagten an –, dieser schien kaum zu wissen, was um ihn vorging.

Nach einer Stunde begann die Verhandlung wieder. Der Angeklagte wurde herbeigeführt. Er war in einen, bejammernswerthen Zustande, zwei Gerichtsdiener mußten ihn führen, so schüttelte ihn das Fieber. Der Arzt, welcher zum Beistände der Frau von P. herbeigerufen worden war, trat ein.

„Hat sich Frau von P. so weit gefaßt,“ fragte der Präsident, „daß ihre Vereidigung nunmehr ohne Gefahr für ihre Gesundheit erfolgen kann, oder hat sie sich von ihrer Ohnmacht noch nicht hinlänglich erholt?“

„Ich bedauere, Herr Präsident, darauf antworten zu müssen,“ erwiderte der Arzt, „daß von dem Erscheinen der Frau von P. überhaupt nicht die Rede sein kann, geschweige denn von ihrer Vereidigung. Die Dame ist von einem Nervenschlage getroffen, und wird vielleicht niemals wieder des Gebrauchs der Sprache mächtig werden. Ich bitte, mich sofort zu entlassen, denn meine Anwesenheit bei der Kranken ist dringend erforderlich.“

Ohne eine weitere Frage abzuwarten, entfernte er sich nach dem Zimmer, in welches man Frau von P. getragen hatte.

„Es bleibt uns sonach nichts übrig,“ sprach der Vorsitzende, „falls nicht der Herr Staatsanwalt anderweite Anträge stellt, als die heutige Sitzung aufzuheben, und den Beschluß über die Verhandlung vorzubehalten.“

„Ich bin damit einverstanden,“ bemerkte der Staatsanwalt, „aber ich will noch eine Frage an den Angeklagten richten.“

Der Staatswalt trat zu ihm, er legte die Hand auf seine Schulter und sprach mit ernstem, eindringlichem Tone: „Ludwig, geben Sie der Wahrheit die Ehre, sagen Sie uns, in welchem näheren Verhältnisse stehen Sie zur Zeugin?“

Der unglückliche Mensch konnte die Last, die auf seinem Herzen lag und ihn zu ersticken drohte, nicht länger ertragen, mit dem Jammergeschrei des verzweifelnden Schmerzes brach er zusammen und schrie, während er von Fieberschauern geschüttelt wurde: „Meine Mutter! Meine Mutter! Ich habe sie umgebracht!“


Die Sitzung war aufgehoben und Frau von P. nach ihrer Behausung gebracht worden. Auch der Angeklagte war so bedeutend erkrankt, daß er aus dem gerichtlichen Gefängniß nach einer Krankenanstalt geschafft werden mußte.

Die Staatsanwaltschaft hielt es für ihre Pflicht, das Verhältniß zwischen dem Angeklagten und der Wittwe aufzuklären. Zwar führte Ludwig *** einen andern Familiennamen, als den der Frau von P., auch wiesen die polizeilichen Acten nach, daß derselbe der Sohn einer armen Uhrmachersfrau aus einem thüringischen Städtchen sei, – indessen diese Angaben konnten absichtlich und zur Verdunkelung der wahren Sachlage gemacht worden sein. Der mit der ganzen Untersuchung vertraute Polizeibeamte begab sich an Ort und Stelle, und es gelang ihm, vollständigen Aufschluß zu erhalten. Folgendes ist die Geschichte der Wittwe des Kriegsraths.

Louise von P. war, um eine standesmäßige Ausbildung zu erhalten, wie man sie für Töchter höherer und adeliger Beamten für nothwendig erachtet, nach einer kleinen mitteldeutschen Residenz geschickt worden, in welcher sich damals die Pensions- und Erziehungsanstalt zweier ältlichen Schwestern eines besondern Rufes erfreute. Louise hatte die Schulen ihrer Vaterstadt besucht und bei guten Anlagen mehr als gewöhnliche Kenntnisse erworben. Sie sollte sich in der höhern Anstalt noch den „feineren Schliff“ und die für unentbehrlich gehaltenen Sprachkünste aneignen. So war sie beinahe fünfzehn Jahre alt, als sie in die Pension eintrat. Von Natur zur Schwärmerei geneigt und in sich gekehrt, blieb sie im Institut gänzlich auf sich angewiesen, da die übrigen Zöglinge fast sämmtlich jünger waren, als sie, und sich schwer an das scheue, einsilbige Mädchen anschlossen, welches immer etwas „Apartes“ hatte, wodurch sich die jüngeren Genossinnen abgestoßen fühlten. Die Anstalt war nach dem herkömmlichen Maßstabe, mit dem man solche Institute zu beurtheilen pflegt, eine vorzügliche, das heißt, sie leistete alles Dasjenige, was für die Dressur äußerlicher Bildung irgend verlangt werden konnte. Alles Uebrige gehörte nicht zum Pensum der Anstalt. An die Stelle einer auf die Kräftigung und Veredelung des Gemüthslebens zielenden Einwirkung war die Begünstigung des Hanges zur Romantik getreten, welche damals Mode war. In dieser Umgebung, unter diesen Einflüssen hatte Louise fast ein Jahr lang gelebt. In den Unterrichtsstunden kam sie allen Anforderungen der Lehrerinnen pünktlich nach. Im Uebrigen wußte sie sich eine ziemlich große Freiheit zu bewahren, welche ihr selbst so weit nachgesehen wurde, daß sie Stunden lang allein in der Umgegend umherstreifen konnte. Ihre körperliche Entwicklung [351] war indessen unerwartet schnell vorgeschritten; zwar immer von zartem Gliederbau, hatte ihre Gestalt doch das volle Ebenmaß des zur Jungfrau herangereiften Kindes gewonnen. –

Um diese Zeit präsentirte sich bei den Vorsteherinnen ein mit Empfehlungen versehener Künstler, welcher ehemals ein berühmter Schauspieler gewesen war, und der jetzt Declamationen und rhetorische Vorträge in Lehranstalten und geschlossenen Gesellschaften hielt. Ludwig M… war seiner Zeit nicht nur ein begabter Künstler, sondern auch ein durch Persönlichkeit ausgezeichneter Mann gewesen. Die Leichtigkeit, mit welcher er Liebesverhältnisse knüpfte und löste, war in den künstlerischen Kreisen sprüchwörtlich geworden. Diese Zeiten waren nun vorbei. Ein chronisches Leiden des Halses hatte ihm die Bühnen verschlossen; die Stimme reichte eben nur noch zum Lesen in kleineren Räumen; die Einnahmen derartiger Productionen waren nicht bedeutend genug, um die gewohnte bequeme, fast üppige Lebensweise fortsetzen zu können; mit dem Lüstre der Theaterlampen erlosch zugleich der Lüstre der persönlichen Erscheinung. Er hatte gegenwärtig die Mitte der vierziger Jahre erreicht, aber die vollendete Kunst, mit der er sich kleidete und ajustirte, ließ ihn höchstens für einen Dreißiger halten. Eine Mischung von künstlerischer Eleganz und genialer Nachlässigkeit erhöhte die Anmuth seiner Haltung, seine Unterhaltung war, wenn auch ein wenig süßlich, dennoch lebendig, immer verbindlich und voller Galanterie gegen Damen. So trat M. in dem Institute auf, bezauberte die Vorsteherinnen, entzückte die Zöglinge und ging mit Bereitwilligkeit auf den Vorschlag ein, längere Zeit am Orte zu verweilen, und den jungen Damen des Instituts einen Lehrcursus der „Declamation und Rhetorik“ zu ertheilen. Aus den Declamationen wurden Leseabende mit vertheilten Rollen; bald legte man die Bücher bei Seite und schritt zur Action der Stücke selbst; endlich ging man zu wirklichen theatralischen Vorstellungen über, bei denen selbst die jüngere der beiden Vorsteherinnen mitzuwirken nicht verschmähte. Eine wahre Leidenschaft für theatralische Aufführungen bemächtigte sich des Städtchens, und die Theatervorstellungen im Institut, unter Leitung und Mitwirkung des berühmten M., bildeten den Gegenstand des ausschließlichen Interesses für Alt und Jung.

Louise war augenscheinlich die befähigtste von allen Zöglingen des Instituts; sie entwickelte auch das hervorragendste Talent für die Darstellung, so daß sie die bedeutendsten Rollen erhielt und am meisten mit M. in Berührung kam. Mit dem jungen Mädchen war eine große Veränderung vorgegangen. Sie, sonst so scheu und zurückhaltend, war oft einer ausgelassenen Lebendigkeit hingegeben; dann kamen wieder Stunden tiefer Niedergeschlagenheit, in denen sie sich in ihr Zimmer verschloß, das sie um keinen Preis verlassen mochte. Man entschloß sich, den Arzt zu consultiren, und dieser verbot ihr die fernere Theilnahme an den theatralischen Schaustellungen unbedingt. Sie war außer sich darüber – aber die Vorsteherinnen wagten es nicht, dem peremtorisch ausgesprochenen Willen des berühmten Arztes entgegen zu treten; fürchteten sie doch selbst, schon zu weit gegangen zu sein. Mit der Betheiligung Louisen’s hörte auch der Eifer des Dirigenten auf, die Vorstellungen erreichten ihr Ende und der Künstler verabschiedete sich.

Louise hatte bei ihrem Vater und der Stiefmutter die Erlaubniß nachgesucht und erhalten, noch ein Jahr in der Anstalt zu bleiben, theils zu ihrer weiteren Ausbildung, theils um den Vorsteherinnen im Unterrichte beizustehen und ihre Kräfte in Anwendung des Erlernten zu versuchen. In der That wendete sie sich dieser neuen Thätigkeit mit einem fast krankhaften Eifer zu, mußte aber bald davon abstehen; ihre Gesundheit begann zu leiden, die Vorsteherinnen wurden ängstlich, der Arzt schüttelte bedenklich den Kopf, empfahl Schonung und Gemüthsruhe. Eines Mittags rief man sie vergeblich zu Tisch. Man glaubte, sie habe sich eingeschlossen, und ließ sie gewähren; als es aber Abend wurde, ohne daß sie sichtbar ward, öffnete man die Thür mit Gewalt und fand das Zimmer leer. Das unheimliche Wesen ihres Zöglings hatte schon längst beängstigend auf die beiden Damen gewirkt. Sie griffen zu einem Zufluchtsmittel, welches an sich seltsam, aber für ein weibliches Gemüth in ähnlicher Lage naheliegend genug ist. Sie öffneten den Schreibtisch Louisen’s, – ihre Ahnung hatte sie nicht betrogen – da lag das Unglück mit Händen greifbar vor ihnen: eine Anzahl Liebesbriefe des Schändlichen, dem sie selbst in thörichter Verblendung ihr Haus geöffnet, dem sie das Werk des Verderbens erleichtert hatten! Und sie lasen und lasen in steigender Angst, – schüchterne Erklärungen, feurige Schwüre, dringende Bitten, Gewährung einer Zusammenkunft – immer glühender wurde die Sprache, immer vertraulicher der Ton – sie brauchten nicht weiter zu lesen – sie wußten Alles.

Und wenn sie es noch nicht gewußt hätten, der gellende Schrei hätte es ihnen gesagt, mit dem Louise, in’s Zimmer tretend, ohnmächtig zusammensank, als sie die Briefe in den Händen der Schwestern erblickte.

Was war zu thun? Wie war das Unglück zu verheimlichen, die unauslöschliche Schande von dem Institut, von der Familie des unglücklichen Mädchens abzuwenden?

Als Louise zu sich gekommen war, sprach sie mit einer Ruhe von ihrer Lage, die Entsetzen erregte.

„Das sicherste Mittel, Ihnen und den Meinigen die Schande zu ersparen, welche das Bekanntwerden meines Fehltrittes nach sich ziehen muß, ist, daß Sie mich nicht hindern zu fliehen, daß Sie mir einen hinreichenden Vorsprung lassen. Ich schwöre Ihnen, daß ich niemals wiederkehre, daß Niemand von mir hören soll wenigstens nicht als von einer Lebenden.“

Die Schwestern waren außer sich. Dies sei der sicherste Weg zu ihrem Verderben, diese Flucht wälze erst recht unauslöschliche Schande auf ihre Anstalt. Sie weinten, schluchzten, beschworen Louise, an nichts Gewaltsames zu denken, ihnen zu vertrauen. Louise hatte Mitleiden mit ihren Lehrerinnen, sie gab nach. Sie öffnete den beiden alten Mädchen ihr Herz und alle Drei weinten zusammen herzliche Thränen über die Bosheit des leichsinnigen Verführers, über das geknickte junge Lebensglück. Keine Hoffnung war Louisen geblieben, keine trostreiche Täuschung – sie wußte Alles. Sie wußte, daß sie bethört war, wie man ein junges, unerfahrenes, schwärmerisches Herz bethört, aus Laune, aus flüchtiger Lust, aus Reiz an der zuckenden Bewegung eines gebrochenen Herzens. Sie kannte ihn jetzt, der ihr das Ideal männlicher Vollkommenheit gewesen. Sie hatte seine niedrige Seele durch die gleißende Hülle hindurch erkannt. Zur nämlichen Zeit, als er ihr ewige Liebe schwor, die Flucht mit ihr vorbereitete, unterhielt er Liebeshändel mit noch einem Dutzend Anderer, die er mit den nämlichen Schwüren hinterging. Sie verachtete ihn – aber sie verabscheute sich. Sie verabscheute und verfluchte sich, sie verfluchte das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, und schwor, daß sie es niemals sehen wolle.

Sie war nicht zu beruhigen, denn sie war bei alledem eigentlich äußerlich ruhig; es war die Resignation der Verzweiflung, die aus ihr sprach. Es blieb nichts übrig, als den Arzt zu Rathe zu ziehen. Man traf die nöthige Abrede mit einer jungen Frau, welche in einem kleinen Walddorfe in einem abgelegenen Häuschen wohnte, und deren Niederkunft gleichfalls bevorstand. Zu dieser begab sich Louise, und genas hier in aller Stille eines Knaben, welcher auf den Namen der armen Uhrmachersfrau getauft wurde. Das Kind, welches sie selbst zur Welt brachte, war ein todtgeborenes; der Knabe Louisens galt für das ihre. Die Vorsteherinnen sorgten für die Bedürfnisse des Kindes reichlich, zumal der Mann der armen Frau bald darauf starb, ohne ihr etwas Mehreres als das kleine Häuschen zu hinterlassen. Louise leerte ihre Sparbüchse in die Schürze ihrer Pflegerin und versprach, sie niemals zu vergessen, wenn sie ihr Versprechen halte, dem Kinde niemals zu sagen, wer seine Mutter sei.

Ihre Absicht war, nicht in das elterliche Haus zurückzukehren, sondern im fernen Auslande eine Stelle als Lehrerin oder Erzieherin zu suchen. Wider Erwarten verweigerte der Vater seine Zustimmung, – auch die Stiefmutter war entschieden dagegen. So kehrte sie wieder in das Elternhaus zurück. Sie war angegriffen bleich, ein Zug unverwischbaren Schmerzes lag auf ihrer weißen Stirn, auf den fein gewölbten Brauen. Wer sie sah, mußte sich von der zarten, leidenden Gestalt angezogen fühlen. Selbst die Stiefmutter empfand diesen Eindruck. Es erbarmte sie des traurigen, mutterlosen jungen Geschöpfs; sie schloß sich inniger an Louise an, sie lernte sie lieben und so wurde sie, die Unglückliche, Gebeugte, der Mittelpunkt des ganzen Familienkreises, in welchem sich jeder beeiferte, dem kranken Kinde Liebe und Freundlichkeit zu erweisen.

Dieses allgemeine Entgegenkommen drückte sie nieder und that ihr zugleich wohl. Sie war von unvergleichlicher Sanftmuth, nie kam ein unfreundliches Wort über ihre Lippen; aber dieselben Lippen hatten auch das fröhliche Lachen verlernt. So lernte sie den Kriegsrath kennen. Ihr Wesen zog ihn an, fesselte ihn um so [352] mehr, je zurückhaltender sie trotz aller Milde gegen ihn war. Er war nie ein Mann von vielen modischen Worten gewesen, und glaubte, sich ihr schweigendes Dulden seiner Aufmerksamkeiten günstig deuten zu dürfen. Er wandte sich mit seinem Antrage an die Eltern, diesen konnte Niemand als Schwiegersohn erwünschter sein. Louise selbst gerieth durch den Antrag des Mannes, dessen ehrenhafte Geradheit ihr erst Achtung, dann Neigung abgezwungen hatte, in die peinvollste Bedrängniß. Konnte sie den Mann täuschen, der ihr sein ganzes Herz, seinen unbefleckten Namen entgegenbrachte? Aber was sollte sie sagen? Mit welchen Gründen sollte sie einem Antrage ausweichen, der nach der Meinung Aller ihr Lebensglück sicherte? Die Eltern, welche überzeugt waren, daß ihre Tochter an der Seite eines liebenden Gatten zu neuem Leben genesen würde, boten alle Gründe der Ueberredung auf – ihr eigenes Herz sprach nur zu laut dafür! Und Er redete selbst mit ihr. Und wie klang es so rührend, als der ernst und treu blickende Mann sie bat, Vertrauen zu ihm zu haben, als er gelobte, ihrem jungen Herzen und ihrer noch nicht befestigten Neigung kein Opfer zuzumuthen, zu dem sie sich nicht freiwillig bereit finden würde; als er davon sprach, daß, wenn noch eine liebe Erinnerung zwischen ihm und ihrem Herzen stände, er geduldig warten wolle, bis die Stunde seines Glückes geschlagen haben werde. Es war ihr, als müßte sie ihre Seele ausweinen vor Schmerz über den Jammer, den ihr thörichtes unerfahrenes Herz über ihr Leben gebracht. Er saß neben ihr, schweigend, selbst von Rührung ergriffen, nicht wagend, ihre Bewegung für sich zu nutzen. Aber er hatte ihre Hand gefaßt und hielt sie in der seinen. So saßen sie lange nebeneinander und sprachen nicht, aber eine Welt von Gefühlen zog durch Beider Herzen. Daß ein Gott in dieser Stunde das Wort des Vertrauens auf ihre Lippen gelegt hätte! daß sie dem Manne, der ihre Seele mit unbegrenzter Achtung und scheuer Liebe erfüllte, zu Füßen gesunken wäre, ihn zum Vertrauten ihres Unglückes gemacht hätte! Es sollte nicht sein. So oft sie die Lippen zu dem traurigen Bekenntnisse öffnen wollte, trat das Gespenst des Verführers vor ihre Seele, mit den maskenhaft geschminkten Wangen, dem künstlich verwilderten Haupthaar, und drohte ihr mit zornfunkelnden Augen, – und das Wort erstarrte ihr im Munde. Sie konnte das Schreckliche nicht sagen – ihm nicht sagen, und sollte sie darüber zu Grunde gehen.

Ein Brief der Uhrmachersfrau, der durch eine vertraute Freundin (die einzige, die sie besaß) eingetroffen war, ließ sie endlich nachgeben. Diese schrieb, daß sie auf dem Wege nach Amerika sei, sie wandere aus zu Verwandten, welche sich in Ohio angesiedelt hatten und nach ihr schrieben. Sie nahm Abschied für immer und dankte für alle erwiesenen Wohlthaten. Des Knaben erwähnte sie nicht, – es war ihr zum Gesetz gemacht worden, seiner niemals vor Louisen zu gedenken. Lebte er – war er gestorben? Das letztere schien das Wahrscheinliche und Louise glaubte es.

So ward sie des Kriegsraths Gattin. Ihrem Wunsche gemäß wurden sie in einer entfernten kleinen Dorfkirche getraut. Die Ehe war keine glückliche. Der Dämon des Geheimnisses, das unausgesprochen zwischen ihnen lag, trennte die Gatten von einander, ehe sie sich recht zusammengefunden hatten. Kein fröhliches Kindergesicht trat als Friedensengel zu ihnen; sie wurde immer demuthsvoller, ergebener, scheuer; er fühlte sich zurückgestoßen, sein Gefühl wurde verstimmt, das Bewußtsein, ihr durch jahrelange Hingebung kein Vertrauen, kein unbefangenes Entgegenkommen abgewonnen zu haben, lastete auf seiner Seele und entfremdete ihn dem Gedanken an eheliches Glück. Die Kluft zwischen ihnen wurde immer größer, sie gingen nur noch neben einander her, zwei gedrückte, unglückliche Menschen. Jede Gemeinschaft hatte zwischen ihnen aufgehört. Er verschloß sich in sich selbst, sie härmte sich ab und hoffte Erlösung durch den Tod. – Die einzige Bedienung in der Haushaltung des Ehepaares war ein junges Mädchen, welches die Mutter Louisens ihnen zugesandt hatte, und das in dem Hause der Schwiegereltern mit den jüngeren Geschwistern herangewachsen war. Die „blonde Marie“ – so hieß sie wegen ihrer blonden Haarflechten von seltener Schönheit – vermittelte den Verkehr zwischen den Ehegatten. Mit dem scharfen Blicke des Weibes hatte sie das Zerwürfniß zwischen den Gatten erblickt. Obgleich sie in keinem Punkte der strengsten Pflichterfüllung etwas vergab, so zeigte sie der Frau gegenüber nur die gemessene Ehrerbietung die sie der Herrin schuldete, während sie in allem, was den Herrn betraf, die theilnehmendste Sorgfalt verrieth. Es war, als trauere sie mit ihm um sein trübes Eheleben, obgleich niemals eine Sylbe über ihre Lippen kam, welche ihren innern Antheil verrieth. –

Eines Tages hatte ein bedenklich aussehender Mann den Kriegsrath zu sprechen verlangt, ohne seinen Namen nennen zu wollen. Er war eine geraume Zeit bei ihm geblieben und hatte sich dann entfernt. Der Kriegsrath hatte sich den Tag über eingeschlossen. Gegen Abend öffnete er die Thür seines Arbeitszimmers, – er brauchte nicht zu rufen, die treue Dienerin harrte schon seit Stunden mit Angst auf den Ruf des Herrn. Er war noch ernster, blasser als sonst.

„Marie,“ sprach er, „ich kann Dir vertrauen –.“ Sie ahnte ein Unheil und rang die Hände. Er schüttelte mißbilligend mit dem Kopfe – sie schwieg. „Dies Packet übergibst Du morgen meiner Frau – ich verlasse das Haus für immer. Ich beziehe eine andere Wohnung, die Sachen, die ich bezeichnet habe, werden abgeholt werden. Bleibe bei meiner Frau, sei ihr treu – ich vertraue Dir. Für Deine Zukunft werde ich sorgen.“

Er übergab ihr ein Packet Briefe, versiegelt und an Frau von P. adressirt. Das treue Geschöpf sah ihn mit dem Ausdruck ungeheuchelten Schmerzes aus den in Thränen schwimmenden blauen Augen an und konnte kein Wort sprechen.

„Marie – es muß sein!“ Weiter sagte er nichts. Er berührte leise ihr Haupt mit der Hand und ging, um nicht zurückzukehren.

Das Packet enthielt die Briefe, die Louise in der Pensions-Anstalt an den Schauspieler geschrieben hatte, es ging Alles daraus hervor. Der Kriegsrath selbst hatte nur wenige Worte hinzugefügt. Sie enthielten die Bitte, ihn als gestorben zu betrachten und ihn womöglich zu vergessen. Er verzeihe ihr, aber sie müßten fortan für einander todt sein. Das Uebrige waren Dispositionen über ihre Vermögensangelegenheit und die Sicherstellung eines ausreichenden Einkommens für die Lebenszeit.

Wie sie den letzten Schlag ertrug, war äußerlich schwer zu erkennen. Die Briefe an ihre Jugendfreundin, welche bisher den Wegweiser für ihre Geschichte bildeten, hörten in dieser Epoche auf. Nur wenige Zeilen schienen aus dieser Zeit herzurühren, ein Streifen Papier, mit unsicheren Schriftzügen die Worte enthaltend:

„Ich bin erlöst von der Verdammniß der marternden Angst und erdulde die sichere Qual der ewigen Verdammniß. Ich kann nicht mehr weinen. Ich harre auf die Nacht, der kein Morgen mehr folgt.“

Die weiteren Nachforschungen über den Verbleib der Uhrmachersfrau ergaben, daß dieselbe in der That nach Amerika ausgewandert sei, und zwar allein, ohne Begleitung eines Kindes. Ihre Absicht war es ursprünglich gewesen, den Knaben mitzunehmen; auf dringendes Zureden eines bejahrten kinderlosen Verwandten, welcher versprach, für den Knaben zu sorgen, entschloß sie sich jedoch, ihn zurückzulassen. Ludwig sollte bei seinem neuen Pflegevater die Kunstdrechsler-Profession erlernen und, wenn er seine Selbstständigkeit erreicht haben würde, nachfolgen. Der alte Mann starb jedoch schon im zweiten Jahre nach der Abreise der Uhrmachersfrau, Ludwig vollendete bei einem andern Meister seine Lehrzeit und führte seitdem das unstäte Leben eines wandernden Handwerksburschen. Wie es ihm gelungen war, seine Mutter ausfindig zu machen, konnte nicht ermittelt werden. Frau v. P. lebte in tiefster Zurückgezogenheit, die blonde Marie hatte sie bald nach der Trennung von dem Gatten verlassen, der Aufenthalt des Mädchens war unbekannt.

Nachdem diese Verhältnisse so weit aufgeklärt waren, konnte man hoffen, von dem Angeklagten ein offenes Geständniß desjenigen zu erhalten, was bis jetzt anderweit nicht ermittelt werden konnte.

Aber es schien, als sollte Alles, was mit dieser Untersuchung zusammenhing, sich auf unerwartete Weise gestalten. Wieder war es Herr Wichert, der Agent, der mich an einem frühen Morgen mit der Neuigkeit überraschte, daß Ludwig *** in der Nacht vor seiner Zurücklieferung in das Gefängniß in der Bekleidung des Krankenwärters seiner Station entsprungen sei.

Sofort erlassene Steckbriefe, die eifrigsten Nachforschungen der Polizeibehörde erwiesen sich als gänzlich fruchtlos. Der Zustand der Wittwe war ein solcher, daß die Möglichkeit, durch sie weiteres Licht in der Sache zu erhalten, gänzlich ausgeschlossen war. Sie sprach kein Wort mehr und saß den Tag über regungslos, mit gefalteten Händen in ihrem Lehnstuhl. Ihre Wärterin ging

[353]

Das Schillerhaus in Lauchstädt.


ihr nicht mehr von der Seite und pflegte sie mit rührender Hingebung. Ich hatte Gelegenheit, sie in ihrem leidenden Zustande zu sehen, und war betroffen von dem Ausdruck friedlicher Ergebung, der, fast wie ein Schimmer der Verklärung, die Züge des bleichen Antlitzes durchhaucht hatte.

So waren drei Wochen vergangen, seitdem der Angeklagte entsprungen war, als mir der Postbote eines Abends einen seltsam geformten Brief einhändigte, der mit den verschiedenartigsten Poststempeln bedeckt war. Mit Mühe waren einzelne Namen zu erkennen, darunter: Calais, Ostende, Aachen u. s. w. Eine Ahnung sagte mir, daß dieser seltsame Brief die Lösung des ganzen Räthsels bringen mußte, – und ich hatte mich nicht getäuscht.

Der Brief, ohne Datum und Unterschrift, lautete folgendermaßen:

„Wenn es Gottes Wille ist, daß dieser Brief in Ihre Hände kommt, so bitte ich sie kniefällig, meiner Bitte zu willfahren und sich meiner zu erbarmen, da sich Gott meiner erbarmt hat. Ich bin es, der Ihnen schreibt, der Ihnen und den Herren vom Gericht so viele Mühe und Noth gemacht hat. Aber Sie brauchen sich darum vor mir nicht, wie vor einem Mörder zu entsetzen, ich schwöre es Ihnen, daß ich unschuldig am Tode des Mannes bin. Ich wäre nicht entflohen, sondern hätte ruhig meine Strafe angenommen als eine gerechte Buße, aber ich wollte nicht, daß sie die Schande haben sollte, mich in der Zuchthausjacke zu sehen. Darum bin ich entsprungen und habe zu meinen anderen Schlechtigkeiten auch noch zuletzt den Diebstahl an den Kleidern des Krankenwärters begehen müssen, für alles Gute, was er mir erwiesen. Aber ich mußte es thun, es wäre sonst mein Tod und ihr Tod gewesen. Ich habe ein Unterkommen auf einem Schiffe gefunden, das nach einem fernen Lande geht. Wir sind jetzt im Canal und hoffen, daß ein Kohlenschiff nahe genug an uns herankommen wird, um diesen Brief mitnehmen zu können. Ich will nicht, daß unschuldige Menschen in Verdacht kommen sollen, und will, wie ich es vor Gott in meiner letzten Stunde verantworten kann, Alles gestehen, wie es sich wirklich und wahrhaftig zugetragen hat. Darum habe ich früher schon Alles aufgesetzt, wie es sich verhalten hat, und habe es an einen Ort niedergelegt, wo Sie es finden können, wenn Sie meinen Wunsch erfüllen. Denn wenn ich an sie denke, und wie sie für todt zusammenstürzte, so ist es mir nur immer so, als fahren mir tausend zweischneidige Messer in mein Herz, und ich möchte am liebsten meinem Leben ein Ende machen, wenn ich nicht eingesehen hätte, daß der Tod eine Wohlthat für mich ist, und ich erst suchen muß, meine Sünden abzubüßen. Das hat mir auch der Capitain unseres Schiffes gesagt, der sonst für einen harten Mann gilt, der aber als ein wahrer Freund und Bruder an mir handelt und mir Trost einspricht, wenn es mir manchmal vor Verzweiflung ganz schwarz vor den Augen wird. Dann sagt er: Muth, mein Junge, wirf Deinen Jammer über Bord für die Haifische, wir sind allesammt Sünder; thu’ von jetzt ab einen rechtschaffenen Menschen aus Dir machen, und es wird Alles gut werden. Dann ist auch noch ein junger Geistlicher an Bord, ein Schottländer, der aber in Deutschland studirt hat, der redet mir auch zu, auf Gottes Barmherzigkeit zu vertrauen, und Christum, den Mittler und Fürsprecher aller Reuigen. Ihm habe ich Alles erzählt und er hat keinen Abscheu vor mir gehabt, sondern er hat mit mir geweint und mich getröstet. Darum bitte ich Sie, daß Sie in der ersten Queerallee des Gartens hinter dem Krankenhause, unter dem dritten Birkenbaume von der Mauer an, da wo ein Herz in die Rinde eingeschnitten ist, zwischen den Wurzeln ungefähr eine Spanne tief in der Erde einen kleinen blechernen Napf herausnehmen, in welchem eine kleine Rolle enthalten ist, welche Alles aufrichtig und getreu anzeigt, wie es sich verhalten hat. Der Capitain ruft, es kommt ein Kohlenschiff nahe heran. Leben Sie wohl, vergelt es Ihnen Gott.“

Noch am nämlichen Abend begab ich mich gemeinschaftlich mit dem Staatsanwalt an den bezeichneten Ort, und fand an der angegebenen Stelle einen alten schadhaften Blechnapf, der eine ganz kleine Rolle von grauem Cattun, in der Stärke eines Daumens enthielt. Nachdem wir die mit einem Zwirnsfaden umwundene Rolle geöffnet hatten, gewahrten wir, daß dieselbe in der Ausdehnung von etlichen Spannen Breite und einem Finger Höhe mit einzelnen gedruckten Buchstaben und Sylben zu zusammenhängenden Worten beklebt war, deren Inhalt also lautete:

„Endlich ist es mir gelungen, auch eine Beschäftigung zu erhalten, und ich darf helfen, für die Knopffabrik mit Zeitungspapier Knöpfe blank zu putzen, wie die übrigen Kranken, die in der Besserung [354] sind. Ein Stückchen Futtercattun habe ich aus meiner alten Arbeitsjacke ausgeschnitten und klebe die einzelnen Worte und Buchstaben mit Brodpappe darauf. So wird es mir endlich möglich, meinem Gewissen Ruhe zu schaffen und die ganze Sache aufzusetzen, damit, wenn es mir gelingt, was ich im Sinne habe, die Wahrheit an den Tag kommt. Ich bin unschuldig an dem Tode des Kriegsrathes, so wahr mir Gott helfe. Ich habe ihn nur zwei Mal in meinem Leben gesehen; als ich ihn das dritte Mal sah, lebte er nicht mehr, wie ich nicht anders weiß. Als ich ihn das erste Mal sah, hat er mich aus einer großen Gefahr gerettet, in die ich durch meinen Leichtsinn gekommen war. Ich war mit noch zwei Cameraden im Rausch über den Zaun eines Gartens gestiegen und dort hatten wir verschiedenes Obst von den Bäumen geschüttelt und abgebrochen. Daß es ein königlicher Garten war, wußten wir nicht. Ein Wächter kam und wollte uns verhaften, wir ergriffen die Flucht, meine Cameraden entkamen, mich hielt er fest. Ich riß mich los, er war hinter mir her, da trat mir ein groß gewachsener Mann entgegen und sagte: steh’, Bursche! Ich sagte in meiner Angst: um Gotteswillen, lassen Sie mich los, ich habe nichts Schlechtes gethan, es war nur ein Uebermuth – machen Sie mich nicht unglücklich –! Wir sahen uns einen Augenblick an, und er ließ mich vorbei. Seitdem war mehr als ein halbes Jahr vergangen, da traf ich ihn in der Abenddämmerung vor dem Thore. Er erkannte mich gleich, ich ihn auch. Er blieb vor mir stehen und sagte: was treibst Du? Ich erzählte ihm, daß ich ohne Arbeit sei und am liebsten auswanderte, wenn ich die Mittel zur Ueberfahrt und zur Anschaffung guten Handwerkszeuges besäße. Er fragte, ob ich keine Eltern hätte; ich sagte nein, denn ich habe zu keinem Menschen von ihr gesprochen. Er ließ mich eine Weile neben sich hergehen. Dann sagte er: willst Du schwören, zu schweigen über das, was ich Dir sage, und zu thun, was ich Dich heiße, so will ich Dir helfen, soviel ich vermag. Ich gab ihm meine Hand darauf, Alles zu thun, wenn es nichts Schlechtes wäre. Er sagte, es sei nichts Schlechtes und ich könne es thun. Wer er war und wie er heiße, sagte er nicht. Er gab mir einen Schlüssel und sagte mir, mit dem sollte ich zwanzig Minuten nach drei Uhr Nachts das Haus in der B… Straße Nr. … aufschließen, leise zwei Treppen hoch hinaufsteigen, die unverschlossene Thür öffnen und in die rechte Vorderstube eintreten. Hier sollte ich augenblicklich das Fenster öffnen, eben so die Ofenklappe; sodann sollte ich behutsam ein Kohlenbecken, welches vor seinem Bette stehen würde, fortnehmen, ohne Asche zu verstreuen und mich mit diesem Becken eben so geräuschlos entfernen, wie ich gekommen wäre. Ich sollte ihn nicht anreden, noch weniger ihn oder irgend etwas von den Gegenständen in der Wohnung berühren. Das Kohlenbecken sollte ich sofort in das Wasser werfen und niemals wieder in das Haus zurückkehren. Eben so sollte ich auch den Schlüssel, aber an einer anderen Stelle, in’s Wasser werfen. Wenn ich dies Alles gethan haben würde, so sollte ich nach S. gehen, zu einer Person, deren Namen er mir auf einen Zettel aufschrieb, aber versiegelte, weil ich ihn erst am Orte selbst lesen sollte, und dort würde ich das Reisegeld zur Ueberfahrt bekommen.“

„Ich versprach Alles zu thun, denn ich hatte keinen Gedanken, daß es etwas Schlechtes sein könne, und er sprach so, als mußte man Alles thun, wie er sagte. Vielleicht hätte ich es aber doch nicht gethan, wenn ich nicht an sie gedacht hätte. Denn als mir mein verstorbener erster Lehrmeister sagte, daß, wenn ich mich jemals in großer Noth befinden sollte und keinen Menschen hätte, der mir mit Rath und That beistände, so sollte ich nach B. gehen, eine Frau von P. aufsuchen und ihr meinen Taufschein zeigen, da ahnte ich nichts. Als ich aber zu ihr kam und ihr meinen Taufschein gab und sie in Ohnmacht fiel, daß ich gleich glaubte, sie wäre todt, da war mir es, als wäre ich der unglücklichste Mensch unter der Sonne und ich wäre am liebsten gestorben. Denn ich merkte es wohl, aber ich sah, daß sie sich vor mir entsetzte und doch nichts dafür konnte. Als sie wieder zu sich kam, wollte ich gehen, aber sie hieß mich bleiben und sprach: „Du bist in Deinem Recht“. Ich sagte, sie möchte mir verzeihen, ich wollte ihr niemals wieder lästig fallen. Aber sie winkte mir blos mit der Hand und ich mußte gehorchen. Ich sollte ihr von meinem Leben erzählen, aber ich konnte nicht viel reden, es schnürte mir die Kehle zu. Als ich ging, befahl sie mir, nach einiger Zeit wieder zu kommen, und reichte mir zum Abschied die Hand: ich wollte ihre Hand küssen, da fiel sie vor mir nieder auf die Kniee, und legte ihre Stirn auf die Erde, und schluchzte, daß es einen Stein in der Erde erbarmen mußte. Und ich kniete auch nieder und bat sie, was ich konnte, nicht böse auf mich zu sein, und ich weinte mit ihr, und immer, wenn ich sie vom Boden aufheben wollte, wehrte sie mit der Hand und ich wagte nicht, sie zu berühren. Und zuletzt stieß es mir fast das Herz ab, ihren Jammer zu sehen und nicht zu wissen, was ich thun sollte, und ich küßte den Zipfel von ihrem Kleide und ging still davon. Ich hatte mir vorgenommen, nicht wieder zu kommen, aber es zog mich immer wieder hin, und wenn ich vor das Haus kam, so griff es mir doch wieder wie mit Krallen ins Herz, daß ich nicht den Muth hatte, hinauf zu gehen. Aber ich hatte Tag und Nacht keine Ruhe und ging wieder zu ihr, und es war immer wieder schrecklich für mich, zu sehen, wie unglücklich sie war, und wie sie sich zwang, gut gegen mich zu sein. Ich hätte mit Freuden mein Leben für sie hingegeben, aber ich sagte nichts, und sie ahnte nicht, wie mir zu Muthe war. Manchmal sah ich, wie sie ansetzte, mit mir über etwas zu reden, aber da ich merkte, daß es Sachen waren, die ihr Schmerz machten, so bat ich sie immer, mir nichts zu sagen, ich wollte weiter nichts, als daß sie nicht traurig sein sollte. Und wie ich mir Alles so überlegte, so dachte ich, es wäre das Beste, ich ginge weit fort in die Fremde und versuchte mein Glück zu machen. Denn sie lebte sehr kümmerlich und gab fast Alles an die Armen, ich hätte nichts von ihr angenommen, aber sie wollte es, und ich wußte, daß es sie kränken würde, wenn ich es ausschlüge. Wie ich nun an dem Abend den unbekannten Mann getroffen hatte, und Aussicht hatte, auswandern zu können, da trieb es mich, spät Abends noch zu ihr hinzugehen und ihr zu sagen, daß ich Aussicht hätte auszuwandern und mein Glück zu versuchen. Sie war wieder sehr traurig und verlangte zu wissen, woher ich die Mittel zur Reise nehmen wolle: ich sagte, ich wüßte es noch nicht, ich hätte Hoffnung, mit einem wohlhabenden Cameraden die Reise zusammen zu machen. Sie verlangte, daß ich noch nichts beschließen, sondern noch warten sollte. Ich hatte mir aber vorgenommen, nicht länger zu warten, weil ich hoffte, es würde so besser für sie sein. Und so ging ich nach Hause und stand nach zwei Uhr auf, um in die Wohnung des fremden Mannes zu gehen. Mein Wirth schlief so fest, daß er mich nicht weggehen und nicht wieder kommen hörte, so daß er wirklich geglaubt hat, ich wäre die ganze Nacht über zu Hause geblieben. Ich that Alles so, wie es mir der Unbekannte gesagt hatte. Als ich in die kleine Vorderstube eintrat, war ein schwerer Dunst darin, als wenn stark geheizt und die Ofenklappe zu früh zugemacht worden wäre. Mir wurde beinahe schwindlig, und ich machte schnell das Fenster und die Ofenklappe auf. Der Mann lag ruhig in seinem Bett und schlief, wenigstens rührte er sich nicht. Da kam die Versuchung über mich, ich dachte, wer weiß ob ich die Person finde, die mir das Reisegeld geben soll – und ich griff nach der Börse, die auf dem Tischchen lag, und nahm in der Hast, ohne zu zählen, eine Anzahl Geldstücke heraus. Ein silbernes Schachspiel habe ich nicht gesehen und außer dem Gelde nichts genommen, das schwöre ich vor Gott. Ich ging, wie ich gekommen war, vergaß aber das Haus wieder zuzuschließen, denn es war mir unheimlich zu Muthe. Schlüssel und Kohlenbecken warf ich an verschiedenen Stellen in’s Wasser und ging nach Hause, ohne daß mich Jemand gewahr wurde. Wie ich am andern Morgen nachsah, hatte ich den versiegelten Zettel, den mir der Fremde gegeben, verloren, und er war nicht wieder zu finden. Das wenige Geld reichte nicht einmal zur Reise nach Hamburg; einen durchlöcherten fremden Thaler habe ich gehabt, aber ich habe ihn in’s Wasser geworfen, weil ich fürchtete, daß er Verdacht auf mich lenken würde. Ich war so erschrocken, als der Name des Fremden genannt wurde, weil ich keine Ahnung davon hatte, daß es ihr Mann sein könne und ich überhaupt gar nicht wußte, daß ihr Mann lebe. Dieses ist die reine Wahrheit, mögen es alle guten und gerechten Menschen glauben. So wahr mir Gott helfe.“

So war denn endlich der Schlüssel zu diesem verworrenen Räthsel gefunden. War hiermit aber auch das Interesse des Criminalrichters an der Sache erschöpft, so blieb doch für den Psychologen Vieles unerklärt, und insbesondere war damit die geschäftliche Seite der Angelegenheit nicht erledigt. Es fragte sich noch immer: zu wessen Gunsten war die Lebensversicherung genommen? Was hatte den Kriegsrath bewogen, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen?

[355] Inzwischen war die Frist beinahe abgelaufen, innerhalb deren bei Vermeidung der Präclusion der Anspruch auf die Versicherungssumme erhoben werden mußte; es fehlten noch fünf Tage, und der Agent, welcher eben bei mir war, erwog, welche Chancen dafür sprächen, daß die Voraussagung Mr. Pirrie’s sich nicht erfüllen möchte. Da trat unerwartet und unangemeldet der Major ein.

„Haben die Herren von der Justiz gedacht,“ sagte er in halb mürrischem, halb spöttischem Tone, „daß ich alter Haudegen vor Ihrem grünen Tisch retirirt sei? Ich hatte Besseres zu thun, als dort Rede und Antwort zu stehen; – es galt, die Ehre meines verstorbenen Freundes zu retten. Gottlob, ich kann es vor aller Welt beweisen, daß er sie unbefleckt erhalten hat bis zum letzten Athemzuge.“

Der Agent wußte nicht, was er sagen sollte. Ich fragte den Major, ob er von den bisherigen Ermittelungen unterrichtet sei? Er wußte Alles.

„Und nun haben die klugen Herren Geldmänner geglaubt,“ fuhr er zum Agenten gewendet fort, „daß der arme, unglückliche Bursche, der sein ganzes Leben lang treu und lauter war wie Gold, daß er zu guter Letzt eine Komödie mit seinem Tode aufführen würde, um die Herren von der Gesellschaft um ihr Geld zu betrügen? daß auch Dieser und Jener –! doch nein – ich will mich nicht ärgern! Wissen Sie,“ sagte er, seinen Stuhl dicht an den des Agenten heranrückend, „wer der Eigenthümer der Versicherungssumme ist, wenn Ihr feiner Calcul stimmte? – Hier! Sehen Sie her! Ich, der Major von Sebald!“ Damit langte er in seine Tasche und präsentirte dem Agenten mit der einen Hand eine Testamentsausfertigung, mit der andern die Police. Inhalts des Testaments war die Versicherungssumme an den Major zahlbar. „Und hier,“ fuhr der immer eifriger werdende alte Soldat fort, „mache ich meinen Anspruch geltend passen Sie wohl auf: so! – und so! – und so!“ Und bei jedem „so!“ riß er die Police und deren Bruchstücke mitten durch und warf sie dem verblüfften Geschäftsmanne vor die Füße.

Endlich wurde er ruhiger und begann im Zusammenhange zu erzählen, das heißt, so weit er bei seiner noch immer erregten Gemüthsstimmung im Stande war, den Sachverhalt zusammenhängend vorzutragen. Folgendes war die schließliche Lösung des ganzen Geheimnisses, wie es sich aus dem umständlichen Bericht des Majors ergab.

Der Fremde, welcher dem Kriegsrath das Packet Briefe ausgehändigt hatte, war Niemand anders, als der Verführer Louisens, der ehemalige Schauspieler und Rhetor M…, gewesen. Er war im Laufe der Zeit auf der untersten Stufe der Verkommenheit angelangt und beutete seine letzten Hülfsquellen gewerbsmäßig aus: er brandschatzte alle diejenigen, von deren Hand er aus früherer Zeit Briefe discreten Inhalts besaß. Der Kriegsrath hatte ihm die Briefe Louisens für eine ansehnliche Summe abgekauft und der Elende hatte gelobt, niemals mehr lästig zu fallen. Es war voraus zu sehen, wie wenig er dies Versprechen halten würde, und er sah seinen Vortheil nur zu gut, da er sofort erkannt hatte, wie überaus peinlich der Kriegsrath in Allem war, was die Ehre seines Namens betraf. Immer von Neuem kam der wüste Mensch mit Forderungen aller Art, er drohte zuletzt mit scandalösen Enthüllungen und der Veröffentlichung seiner früheren Beziehung zur Gattin des Kriegsraths. Dieser war einem solchen Subject gegenüber wehrlos, die Hülfe der Justiz oder der Polizei mochte er nicht anrufen, denn damit hätte er zugleich seine Familienschande Preis gegeben. Die immer dringender werdende Rücksicht, für den Fall seines unerwarteten Todes die Existenz seiner Gattin sicher zu stellen und das Versprechen zu halten, das er der blonden Marie gegeben, bestimmte den Kriegsrath, sein Leben mit dem Rest seines vorhandenen Baarvermögens zu einem hohen Betrage zu versichern. Die laufenden Policenbeträge hoffte er von seiner Pension entrichten zu können, da er Willens war, sich nach einem kleinen Orte zurückzuziehen und seinen Lebensunterhalt mit der Feder zu erwerben. M… war eine Zeit lang verschwunden und der Kriegsrath hoffte für immer von ihm erlöst zu sein, – aber der Nichtswürdige hatte sich an ihm festgesogen und beschloß, ihn nicht mehr los zu lassen. Es war ihm gelungen, auszuforschen, daß die Frucht seines Umganges mit Louisen noch lebte, daß der Knabe in eine fremde Familie eingeschmuggelt worden war und sich hier am Orte aufhielt, ja, daß er eine der Polizei anrüchige Person sei und im Verdacht stehe, an einem jüngst entdeckten Verbrechen Theil genommen zu haben. Mit diesen Entdeckungen trat er aufs Neuee vor den Kriegsrath und stellte Forderungen, welche jener zu gewähren gänzlich außer Stande war. Der Gauner drohte mit dem Schlimmsten: er drohte Frau von P. in eine Criminaluntersuchung wegen Unterschiebung eines Kindes zu verwickeln, wenn man ihn nicht mit einer bedeutenden Summe abfände. Und hätte man sie ihm gegeben, er würde immer von Neuem gefordert haben, denn mit einer Art wahnsinniger Hast vergeudete er Alles in Gesellschaft gefährlicher Subjecte in wüsten Orgien. Die Kraft des Kriegsraths war gebrochen: er sah seinen mit Ehren getragenen Namen beschmutzt, in den Staub gezogen, er sah mit Fingern auf sich gewiesen, und fand keinen Ausweg als den Tod. Denn er wußte, daß der böse Feind nur durch die Aussicht auf Gewinn zur Fortsetzung seiner Schändlichkeiten bewogen wurde, die, einmal ruchbar geworden, ihm selbst verderblich werden mußten. Hatte er vom Kriegsrath nichts mehr zu hoffen, so konnte man sicher sein, daß er alle weiteren Behelligungen aufgeben würde. Daß er sich niemals an Frau von P. selbst gewendet hatte, ließ schließen, daß er diesen Weg überhaupt nicht einzuschlagen gedenke. Denn er verhandelte in allen diesen Angelegenheiten regelmäßig nicht mit den Frauen, sondern mit deren Männern oder sonstigen männlichen Angehörigen. So reifte der Entschluß in dem Kriegsrath, sein Leben freiwillig zu enden.

Seit Marie das Haus seiner Gattin auf deren Wunsch verlassen hatte, war sie nach Westphalen gezogen und hatte sich dort verheirathet. Sie, ihr Mann (ein Forstmann) und ihre Kinder hingen an dem Kriegsrath mit unbegrenzter Liebe und Verehrung; er pflegte sie in jedem Jahre zu besuchen und einige Tage in dem einsamen Försterhause, unter den blühenden Kindern zu verleben, die dem ernsthaften Herrn Vetter nicht von der Seite gingen. Hier pflegte er Kraft und Trost zu sammeln, sein vereinsamtes Leben mit Geduld zu ertragen. Der Mann Marien’s, diese selbst hatten ihn mit Thränen gebeten, nach Westphalen, in ihre Nähe oder gar zu ihnen selbst zu ziehen, sie wollten ihn auf den Händen tragen, ihm jeden Wunsch an den Augen absehen – er hatte nur traurig mit dem Kopfe geschüttelt und sie hatten ihn verstanden.

Marie kannte die ganze Geschichte seines Familienunglücks, sie hatte sie mehr mit dem Instinct eines treuen weiblichen Herzens, als durch Fragen und Antworten errathen. Als das Unerwartete geschehen war, trieb es den Major zunächst bei ihr Aufschluß zu suchen, denn er sagte sich, daß der Kriegsrath nicht freiwillig aus dem Leben geschieden sein würde, ohne ein Wort des Abschiedes an sie zu richten. Und so war es in der That. Als Marie den Major eintreten sah, wußte sie bereits, aus welchem Anlaß er kam; es war ein Jammer, bei dessen Erzählung der alte Soldat Thränen vergießen mußte, und der den Agenten und mich nicht weniger rührte. Der Kriegsrath hatte ihr geschrieben, daß sie einander nicht mehr sehen würden, er scheide, ohne das Versprechen erfüllen zu können, das er ihr gegeben. Für seine Frau sei zur Noth gesorgt; aber Marie möge sie nicht verlassen, wenn sie ihrer bedürfe; das solle sein Vermächtniß sein. Dem Major solle sie nach drei Monaten das beigefügte Kästchen übersenden und ihm, wenn er es verlange, das Nähere mittheilen. Das Kästchen enthielt das verhängnißvolle Schachspiel. Außerdem übergab sie ihm zwei Papiere: einen Recognitionsschein über ein bei der Gerichtsbehörde zu S. niedergelegtes Testament, und die Lebensversicherungspolice. Ein Schreiben des Verstorbenen, augenscheinlich am Todestage geschrieben, lautete:

„Ich scheide ohne Abschied, alter Camerad, ich weiß, Du vergibst mir und gedenkest meiner in Treuen. In meinem Testament hatte ich Dich zu meinem Erben eingesetzt, damit Du die Summe, zu welcher ich mein Leben versichert hatte, empfangest und zwischen meine unglückliche Frau und Mariens Familie vertheilest. Das ist nun eine vergebene Mühe gewesen – ich habe keinen Anspruch auf diese Summe, und Deine Mühe wird gering sein. Suche alle Nachforschungen über die Art meines Todes zu vermeiden – ich wollte ohne Lärm und Aufsehen aus dem Leben scheiden. Mein Tod kränkt Niemanden, als die in Treuen zu mir standen, und diese werden mir verzeihen.“




Ich habe zum Schlusse nur noch wenig hinzuzufügen. Der Major hatte es sich angelegen sein lassen, den Aufenthaltsort des ehemaligen Komödianten zu ermitteln. Er war zu ihm gegangen und hatte ihm zwei blank geputzte kleine Terzerole gezeigt und in [356] seiner bündigen Weise zu ihm gesprochen: „Seh’ Er sich diese kleinen Dinger an, Herr Erzhallunke, und merke Er sich, was ich Ihm auf das Ehrenwort eines alten Soldaten sage: Wagt Er es, den Namen des Kriegsraths von P., oder sonst Jemandes, der diesen Namen trägt, nur noch einmal auszusprechen, so jage ich Ihm diese beiden Kugeln so gewiß durch Seinen schurkischen Schädel, als ich noch niemals mein Wort gebrochen habe.“

Es bedurfte dieser Drohung kaum, denn die Polizei war auf den Gauner bereits aufmerksam gemacht worden, und er wurde unmittelbar darauf in ein Arbeitshaus gesteckt, in welchem er bald darauf an den Folgen der Trunksucht im besinnungslosen Zustande gestorben ist.

Die englische Lebensversicherungsgesellschaft sandte, als sie von dem wahren Sachverhalt unterrichtet war, dem Major den Betrag des von dem Kriegsrath eingezahlten Policenbetrages zurück und erbot sich zur Zahlung einer jährlichen Rente an die Wittwe. Der Major nahm das Geld zur Verwendung für die Bedürfnisse der Wittwe an, lehnte jedoch die Rente ab.

Von den Schicksalen Ludwig’s werde ich meinen Lesern noch an einem andern Orte zu berichten haben.




Das Schillerhaus auch in Lauchstädt.
(Mit Abbildung.)

Alle Stätten, wo Schiller eine Zeit lang weilte, hat man mit Eifer aufgesucht und mit liebevoller Ausführlichkeit beschrieben; man bezeichnete sie der Erinnerung der Mit- und Nachwelt und bemüht sich, sie in gutem Stande zu erhalten. So in Marbach, in Oggersheim, in Mannheim, in Gohlis bei Leipzig, in Loschwitz bei Dresden, in Bauerbach, in Volkstedt bei Rudolstadt, in Jena und in Weimar. Ein Haus nur blieb unbeachtet, obgleich unser Dichter die schönste Stunde seines Lebens darin genoß, nämlich das erste Geständniß der Liebe mit Charlotte von Lengefeld tauschte, die sein künftiges häusliches Glück begründen sollte. Daß dieses Liebesgeständniß 1789 in Lauchstädt erfolgte, als die beiden Schwestern von Lengefeld mit der Freundin Caroline von Dachröden, der künftigen Gattin Wilhelms von Humboldt, das dortige Bad gebrauchten, wissen alle, die mit dem Lebensgange Schiller’s einigermaßen bekannt sind; aber es fehlte bisher an jedem sichern Anhalte, das Haus zu ermitteln, welches damals jene drei jungen adeligen Damen als Badegäste bewohnten. In den gedruckten Briefen Lottens wird es nur zweimal erwähnt; einmal schreibt sie: „wir werden bei einem Tischler Küchler wohnen,“ und das andere Mal: „wir wollen Sie (Schiller) auch einen schönen Weg führen, der uns so lieb ist. Dicht an unserem Hause ist eine Wiese mit Bäumen, ein einsamer Weg, ganz unbesucht, denn die christliche Welt findet ihn unrein; es ist der Platz, wo Gerippe und Knochen hingeworfen werden.“

Da schrieb mir kürzlich die einzige noch lebende Tochter Schiller’s, Freifrau von Gleichen, in einem der Briefe, mit denen sie mich gelegentlich beehrt: „Sie kommen doch bisweilen nach Lauchstädt? Existirt wohl das Haus des Tischlers Küchler noch, in dem sich Lotte mit Schiller versprach? Die Mutter zeichnete es damals und eine Copie dieser kleinen Zeichnung lege ich bei, damit Sie vergleichen könnten u. s. w.“

Mit Hülfe dieser Zeichnung mußte es allerdings leicht werden, das betreffende Haus zu finden, falls dasselbe noch existirte; die Freunde aber, die suchen halfen, wanderten in den Straßen des Städtchens auf und ab, ohne ein Haus zu treffen, das mit dem skizzirten auch nur einige Aehnlichkeit hatte. Schon hieß es: „Das Haus ist gar nicht mehr vorhanden,“ aber ehe man dies für bewiesen annahm, wurde vorgeschlagen, die Häuser Lauchstädts auch noch von der Rück- oder Gartenseite zu mustern. Mit Ausdauer geschah auch dies und nun zeigte sich allerdings ein Haus, welches der Zeichnung vollkommen entsprach und dessen Garten jedenfalls ein Theil jener oben erwähnten Wiese, da dort auch der einsame Weg noch vorhanden ist.

Eine Besprechung mit dem jetzigen Besitzer, der sich nicht wenig verwunderte, daß sein kleines Haus plötzlich ein ganz besonderes Interesse erhalte, entfernte jeden Zweifel, der etwa noch hätte bestehen können; denn er wußte nicht nur, daß das Haus früher einem Tischler Küchler gehört habe und von demselben erbaut worden sei, er kannte auch den Lebenslauf jenes Mannes und die Geschichte des Hauses in späteren Jahren. Ueber der Eingangsthür lieset man selbst heute noch das Jahr der Erbauung (1782) und die Anfangsbuchstaben des Namen des Tischlers G. K.

Daß dies Haus – Nr. 108 in der Armenhausgasse – das gesuchte wirklich ist, steht nach allem dem wohl unzweifelhaft fest, und wir legen deshalb die Ansicht desselben von der Gartenseite vor, wie es jetzt aussieht, fast gänzlich unverändert wie damals, da Lotte von Lengefeld, als Schiller’s Verlobte, im Glück ihrer Liebe, zur Erinnerung eine Zeichnung davon entwarf.

Um auch zu ermitteln, ob das Zimmer, in welchem Schiller am Vormittage des 3. Augusts 1789 der Erwählten seines Herzens seine Liebe gestand und sie zugleich um ihre Hand bat, wenigstens der Haupteinrichtung nach wie damals existire, ließ ich mich von dem freundlichen bejahrten Besitzer die Treppe hinaufführen. Schon diese Treppe zeigt, daß jener Tischlermeister sein Haus für vornehme Gäste des in jener Zeit gar blühenden Bades bestimmte, wenn ihm auch seine Mittel nicht gestatteten, etwas irgendwie Großartiges zu schaffen. Noch mehr erkennt man das in dem Hauptzimmer, das zwar klein und niedrig ist, aber damals mit einer gewissen bescheidenen Eleganz ausgestattet gewesen zu sein scheint, namentlich in so weit als der Tischlermeister mit eigener Hand sie herstellen konnte. Die Wände sind nämlich vom Fußboden bis zur Decke mit Holztafeln belegt, die oben am Sims herum zierliche Holzrosetten, unten aber etwa zwei Fuß hohe Stäbchen und zwischen je vier derselben Pfeile haben. Die Rosetten oben und die Pfeilspitzen waren sonst vergoldet, die Holztafeln aber mit weißer Oelfarbe bestrichen. Das wußte der jetzige Besitzer noch, denn er erst hat den Wänden des Zimmer einen gleichmäßigen dunkelgrünen Anstrich geben lassen. An dieses Zimmer stößt, nach dem Garten zu, das kleine Schlafgemach, dessen Fenster auf die offene Galerie führt und darüber hinaus in’s Freie sieht, sonst aber auf die Wiese mit den Bäumen und Gerippen und auf den einsamen Weg sah. Wie oft mag „Lotte“ hier mit sehnender Liebe ihres entfernten Schiller’s gedacht; wie oft auf jener Gallerie gestanden und sinnend hinaus in’s Freie geschaut haben!

Schiller hatte Lotten von Lengefeld bekanntlich zum erstenmal in Rudolstadt am 6. Dcbr. 1787 flüchtig gesehen, einige Wochen darauf in Weimar sie näher kennen gelernt und den Wunsch gegen sie ausgesprochen, den Sommer 1788 in oder bei Rudolstadt zu verbringen. Lotte suchte ihm nach ihrer Rückkehr eine Wohnung in Volkstedt aus und der junge Dichter verlebte nun mehrere Monate im Umgange mit den Schwestern Lengefeld und deren Mutter. Von dem innigen Freundschaftsverhältnisse, das sich bildete, geben die erhaltenen und gedruckten Briefe ein gar schönes Bild, wie sie ahnen lassen, daß in Schillers und Lottens Herzen allmählich noch wärmere Gefühle sich entwickelten. Der briefliche Verkehr, der immer zunehmende Innigkeit und Vertraulichkeit verrieth, wurde den Winter über, als Schiller Volkstädt wieder verlassen hatte, lebhaft fortgesetzt und als die beiden Schwestern mit der kränkelnden Freundin, Caroline von Dachröden, im Sommer 1789 Lauchstädt besuchen wollten, reiseten sie über Jena, um den Dichter zu sprechen, der unterdeß Professor dort geworden war. Dabei wurde verabredet, daß Schiller die Damen in dem Bade besuchen solle, und zwar, damit der Besuch nicht auffalle, unter dem Vorwande, er reise nach Leipzig, um da mit dem Freunde Körner zusammenzutreffen.

Am 14. Juli 1789 kamen die drei Damen in Lauchstädt an und bezogen das jungfräulich weiße Zimmer im Hause des Tischlers. Schiller schrieb ihnen mehrmals, die Reise aber wurde ihm sehr schwer gemacht, weil sich ihm, wie er sagt, Jemand für dieselbe „aufgehängt“ hatte, den er nicht gerade abweisen konnte, dem er aber auch nicht sagen mochte, daß er nicht direct nach Leipzig, sondern über Lauchstädt reise. Er bemühte sich indeß mit Glück, jene ihm lästige Person los zu werden. Lotte unterdeß sehnte sich nach ihm und sprach es deutlich genug in ihren Briefen aus. „Je mehr mich die Menge Menschen und das Geräusch der sogenannten großen Welt sollte von dem Andenken unseres stillen Lebens vom [357] vorigen Sommer abziehen, je mehr fühle ich, wie viel uns Ihr Umgang gab und wie viel mir fehlt. Sie haben uns zu sehr verwöhnt.“ Sie las dabei mit Vorliebe Schiller’s Fiesco und Kabale und Liebe und freute sich, daß in dem Lauchstädter Theater bald eines dieser Stücke aufgeführt werden sollte.

Am 2. August Abends langte Schiller in Lauchstädt an und am 3. Vormittags machte er seinen Besuch bei den Damen. Die ältere Schwester Lottens, welche das Verhältniß lange durchschaut hatte, kam den Liebenden zu Hülfe. „Ein wohlthätiger Engel war mir Caroline,“ schreibt Schiller bald darauf an Lotten, „die meinem furchtsamen Geheimniß so schön entgegen kam.“ Und Caroline selbst erzählt: „Die Erklärung[WS 1] erfolgte in einem Momente des befreiten Herzens, den herbeizuführen ein guter Genius wirksam sein muß. Meine Schwester bekannte ihm ihre Liebe und versprach ihm ihre Hand. Die Zufriedenheit der guten Mutter hofften wir, obgleich die äußere Lage wohl noch Bedenken bei ihr erregen konnte. Um ihr unnöthige Sorge zu ersparen, sollte noch Alles für sie geheim bleiben. Meine Schwester fühlte die Unmöglichkeit, ohne Schiller zu leben.“ Ueber ein anderes Verhältniß, das man für sie anzuknüpfen suchte, spricht sie später selbst gegen Schiller: „Meine Hand hätte ich vielleicht hingeben können und müssen, nicht durch Zwang, sondern durch meiner Mutter Wunsch; aber nicht mein Herz voll warmer Treue zu Dir!“

Noch an demselben Tage, an welchem das entscheidende Wort in dem stillen kleinen Hause des Tischlers gesprochen worden war, reisete Schiller eilig nach Leipzig, um dem theilnehmenden Freunde Körner sein Glück zu verkünden, und kaum war er bei ihm angekommen, als er auch schon nach Lauchstädt zurückschrieb; in welch selig begeisterter Stimmung, spricht sich in jedem Wort aus. „Dieser heutige Tag,“ beginnt er, „ist der erste, wo ich mich ganz glücklich fühle. Nein! Ich habe nie gewußt, was glücklich sein ist, als heute. Welche schöne himmlische Aussicht liegt vor mir! Ich fühle, daß eine Seele in mir lebt, fähig für Alles, was schön und was gut ist. Ich habe mich selbst wiedergefunden und – Ihnen sollen alle meine Empfindungen gehören, alle Kräfte meines Wesens sollen Ihnen blühen etc.“

Und das Häuschen in Lauchstädt sollte ferner unbeachtet bleiben, in welchem unser Schiller solches Liebesglück gefunden, er, der die Liebe mit den lieblichsten deutschen Worten, mit den süßesten Lauten, die unsere Sprache kennt, mit der hinreißendsten Begeisterung, dabei in unerreichbarer Anmuth und dem reinsten Feuer besungen hat? Nein! Es wird das Ziel vieler seiner Verehrer und vieler Liebenden werden. Mögen denn Alle, die den bescheidenen Raum betreten, in welchem unser großer Dichter den Schwur der Liebe und Treue gab und empfing, den gleichen Schwur so heilig halten das ganze Leben lang, wie Schiller und Lotte es gethan, damit ihnen in der Ehe ein gleiches Glück bescheert werde, wie es jenen beschieden war.
Diezmann.





Bilder aus dem Gefängsnißleben.
Von Max Ring.
I.

In meiner Stellung als Gefängnißarzt hatte ich häufig Gelegenheit, einen Blick in das Leben und Treiben der Verbrecherwelt zu thun, da ich vielfach mit den Gefangenen in Berührung trat. Das Inquisitoriat zu G… ist ein großes Gebäude, welches weit mehr Aehnlichkeit mit einem Palaste, als mit dem Aufenthalt von Verbrechern hat. Eine Reihe von stattlichen Flügeln im gothischen Geschmack schließen mehrere freundliche Höfe ein; selbst an Gärten fehlt es nicht, wo die Bewohner zu gewissen Stunden freie Luft schöpfen dürfen. Allerdings benimmt ihnen eine dreißig Fuß hohe Mauer jede Aussicht in’s Freie und auf Flucht. Große, mit festen eisernen Schlössern versehene Thore sperren die Anstalt von der Außenwelt ab; sie öffnen sich nur für diejenigen, welche mit einer besonderen Einlaßkarte versehen sind, oder zu dem Beamtenpersonale gehören. Wir treten ungehindert herein und werden wohlthuend von der hier herrschenden Ordnung und Reinlichkeit überrascht. In einer grünen Laube, welche sich an die Wand des Gefängnisses anlehnt, finden wir zu unserer Ueberraschung ein anmuthiges Mädchen von achtzehn Jahren und mehrere fröhliche Kinder, welche sich ungestört ihren Spielen überlassen und uns mit lautem Jubeln begrüßen. Es ist dies die Familie des Gefängnißinspectors, welche sich bereits an den Anblick des hier herrschenden Elends gewöhnt hat, und von dem täglichen Schauspiele weiter nicht berührt wird. Ihr munteres Aussehen, ihr frisches Lachen bildet einen eigenthümlichen Gegensatz zu der sonstigen traurigen Umgebung. Noch schärfer tritt der Contrast hervor, wenn man bedenkt, daß kaum hundert Schritte davon der kleine Hof liegt, wo heute gerade die Zimmerleute mit dem Aufschlagen des Blutgerüstes beschäftigt sind, auf dem morgen in der Frühe der schwere Verbrecher enden wird, dessen Gesundheitszustand ich vor seinem Tode noch einmal zu prüfen habe. Die Kinder sehen ohne Bewegung den Arbeitern zu, und erhaschen mit wahrer Freude ein Stück Holz, das beim Absägen des Schaffots herabgefallen ist, und welches sie jetzt ohne Bedenken zu ihren Spielen verwenden. Das liebliche Mädchen beschäftigte sich unterdeß mit Lesen; vielleicht war es irgend ein gefühlvoller Roman, den sie in der Hand hielt, und in den sie dermaßen vertieft war, daß sie kaum meinen Gruß zu bemerken schien.

An der verschlossenen Hauptthür, vor der zwei Schildwachen mit geladenen Gewehren auf und ab gingen, fand ich bereits den dienstthuenden Gefängnißwärter, in dessen Begleitung ich die täglichen Krankenbesuche abstattete. Zunächst hatte ich die Aufgabe, die neu hinzugekommenen Gefangenen zu untersuchen. Es war ein ziemlich bedeutender Transport angelangt, von jedem Alter und aus allen Ständen, Kinder, welche frühzeitig ihre Verbrecherlaufbahn angetreten, und Greise, die mit einem Fuße bereits im Grabe standen; Leute, die ihrer Kleidung und ihrem Benehmen nach den besseren Classen der Gesellschaft angehörten, Männer und Frauen, denen der Stempel des Elends und des Lasters auf die Stirn gedrückt war. Sie warteten auf mich in einem geräumigen Saale, um nach dieser nothwendigen, ärztlichen Inspection in die verschiedenen Zellen gesperrt zu werden, welche sie bald längere bald kürzere Zeit zu bewohnen haben.

Durch eine längere Praxis glaubte ich bereits eine gewisse Uebung erlangt zu haben, um den Anfänger von dem bereits verhärteten Bösewicht zu unterscheiden; aber gern gestehe ich ein, daß ich mich selber oft in dieser Beziehung getäuscht sah. Ich habe schwere Verbrecher kennen gelernt mit dem Aussehen von wahren Biedermännern und besonders unter den Frauen wirklich unschuldige Gesichter mit sanften Zügen und höchst bestechendem Aeußeren angetroffen, die nichts desto weniger die größten Verbrechen begangen hatten. So erinnere ich mich noch heute einer Giftmischerin, die ihren Mann mit Hülfe ihres Geliebten umgebracht hatte. Man konnte sich, abgerechnet ihre von der Gefängnißluft gebleichten Wangen und ihre von Gewissensbissen und Sorgen um ihr Schicksal angegriffenen Züge, kein sanfteres und freundlicheres Wesen denken, und doch hatte diese Frau mit wahrhaft dämonischer Bosheit nicht allein ihren Gatten ermordet, sondern sogar längere Zeit den Verdacht auf mehrere schuldlose Personen ihrer Umgebung hinzulenken gewußt, und das Gericht so lange irre geführt, bis ein Zufall sie als Thäterin unwiderruflich bezeichnete und dem strafenden Arm der Gerechtigkeit überlieferte.

Obgleich ich keineswegs einen gewissen Werth der Physiognomik bestreiten will, so möchte ich doch vor Irrthümern und voreiligen Schlüssen warnen. Eine eigentliche Verbrecher-Physiognomie habe ich nur selten gefunden, und trotz meiner vielfachen Erfahrungen möchte ich ihre Existenz noch immer bezweifeln. Manche Aerzte glauben auch bei Leichenöffnungen noch besondere anatomische Veränderungen im Innern des Verbrecherkörpers und als diesem ausschließlich eigen entdeckt zu haben; dazu gehört besonders das rauhe und haarige Herz, cor villosum genannt. Dasselbe besteht in einer Rauhigkeit der Herzoberfläche, wahrscheinlich eine Folge der fortwährenden Reizung und dadurch bedingten, entzündlichen Ausschwitzung. Aber jeder Arzt wird wohl ähnliche Zustände auch bei den unschuldigsten Personen angetroffen haben, die nichts weniger als Verbrecher waren. Eben so wenig dürfte die Zergliederung des Gehirns uns einen Aufschluß geben, warum ein Mensch [358] zum Dieb und Mörder wird. Hier stehen wir an den Grenzen unserer Kunst, und wer irgend wie sich mit dem Gegenstande beschäftigt hat, der wird zu dem Resultate gewiß gelangt sein, daß nicht angeborene, physiologische Schädelbildungen und Organveränderungen, sondern äußere Verhältnisse, Jugendeindrücke, schlechtes Beispiel und Verführung die Hauptfactoren sind.

Wir kehren zu unseren Gefangenen zurück, mit deren Untersuchung ich beauftragt bin. Nebenbei werfe ich einen Blick auf die daneben liegende Liste, und wo dieselbe nicht genügenden Aufschluß gibt, erhalte ich denselben durch directe Fragen und den Bericht des Gefangenwärters. Zu meiner nicht geringen Überraschung entdeckte ich darunter einen alten Bekannten, mit dem ich als Knabe dieselbe Schule besucht hatte, obwohl wir später wenig oder gar nicht in Berührung kamen. Schon damals in seiner frühen Jugend zeigte S…k eine große Fertigkeit im Nachahmen fremder Handschriften; auch verrieth er kein gewöhnliches Zeichentalent, weshalb ihn seine nicht unbemittelten Eltern zum Kupferstecher bestimmten. Gerade seine Kunst, in der er eine gewisse Höhe erreicht hatte, sollte ihm zum Verderben ausschlagen. Durch eine leichtsinnige Heirath gerieth er in Schulden, da er bald eine zahlreiche Familie zu ernähren hatte. Die Noth stieg immer höher, zum Theil durch seine Schuld, indem er als ein leidenschaftlicher Kartenspieler seine oft nicht unbedeutenden Verdienste am Spieltisch wieder sitzen ließ. Hier machte er auch die Bekanntschaft eines bankerotten Kaufmanns, der sich an ihn hängte und nach und nach eine vollkomme Herrschaft über den mehr schwachen als verderbten Mann erhielt. Als seine Verzweiflung über wiederholte Verluste ihn keinen Ausweg erblicken ließ, alle Hülfsmittel erschöpft waren, die Seinigen zu verhungern drohten, benutzte der Versucher eine schwache Stunde, und beredete den leichtsinnigen und von Verlegenheiten aller Art gedrängten Kupferstecher zur Nachahmung ausländischer Cassenanweisuugen. Dieselben wurden von ihm so täuschend nachgemacht, daß eine geraume Zeit verging, ehe man sein Verbrechen entdeckte. Eben im Begriffe, mit seiner Familie und einer nicht unbedeutenden Summe, der Frucht seiner betrügerischen Arbeit, sich nach Amerika einzuschiffen, um dort ein neues Leben zu beginnen, wurde er von der Polizei ergriffen und in das Gefängniß abgeliefert, wo eine langjährige Zuchthausstrafe ihn erwartete. Ich erfuhr aus seinem eigenen Munde die Geschichte seiner Verführung, die allerdings von herzzerreißenden Umständen begleitet war, da ihn vorzugsweise die Noth der Seinigen und die Angst vor einigen unbezahlten Wechseln, welche sich in den Händen von unbarmherzigen Blutsaugern befanden, zum Verbrecher gemacht hatten. Nichts desto weniger war er schuldig, und der Richter durfte auf die allerdings hier vorhandenen mildernden Umstände kaum Rücksicht nehmen. Ergreifend war die Schilderung, welche er mir von seiner Lage entwarf, ehe er dem Versucher Gehör schenkte.

„Ich hatte buchstäblich,“ sagte er unter Thränen, „keinen Heller in der Tasche. Wir wohnten in einer elenden Dachkammer, und waren schon seit drei Tagen hungrig zu Bette gegangen. Am meisten jammerten mich die armen Kinder, die nach Brod schrieen, bis sie vor Erschöpfung umsanken und zu ihrem Glücke einschliefen. Ich sah mich um, ob es noch etwas zum Versetzen gebe, aber mein Handwerkszeug, selbst das letzte Hemde war bereits ins Leihhaus gewandert. Am andern Morgen sollte ich in das Schuldgefängniß wegen einiger unbezahlter Wechsel abgeholt werden, und um das Maß voll zu machen, hatte uns der Hauswirth mit der Exmission wegen rückständiger Miethe gedroht. Ich wollte mir das Leben nehmen, aber der Anblick meiner schlafenden Kinder hielt mich zurück. So saß ich dumpf brütend, als Ruhwald, so hieß der bankerotte Kaufmann, mich aufsuchte und mir den Vorschlag machte. Er kannte meine Noth und hatte nur so lange gewartet, bis ich weder aus noch ein wußte. Jetzt rückte er mit seinem höllischen Plan heraus und versprach mir unter der Bedingung, daß ich darauf einginge, zu helfen. Ich hätte unter solchen Umständen einen Pact mit dem Teufel selbst geschlossen, nur um meinen unschuldigen Kindern Brod zu verschaffen. Am nächsten Morgen schon saß ich bei der Arbeit, die ich mit Zittern bei verschlossenen Thüren fortsetzte. Ich wußte, daß ich ein Verbrechen beging, aber was sollte ich thun?“

Ich unterließ es, den Niedergedrückten durch wohlverdiente Vorwürfe noch mehr zu demüthigen, vielmehr suchte ich ihm Muth einzusprechen. Auch gelang es mir später durch meine Bemühungen, sein Loos einigermaßen zu erleichtern. Da er eine vorzüglich schöne Handschrift schrieb, so wurde er auf dem Bureau mit Abschreiben beschäftigt, und somit den gewöhnlichen schweren Handarbeiten überhoben. In seinen Mußestunden durfte er sogar seine Kunst betreiben, womit er, da er sehr geschickt und fleißig war, so viel verdiente, daß die Seinigen davon, wenn auch dürftig, leben konnten.

Im schroffsten Gegensatze zu diesem leichtsinnigen Verbrecher stand jener hartgesottene Bösewicht, welcher zunächst an die Reihe kam; eine gedrungene Gestalt mit einem kurzen, stierartigen Nacken, auf welchem ein großer struppiger Kopf saß. Das rothe gedunsene Gesicht zeigte eine widerliche Mischung von Frechheit und Bösartigkeit. Auf den ersten Anblick erkannte ich einen Habitus und alten Kunden aus der Verbrecherwelt. Er benahm sich wie Einer, der bereits im Gefängniß zu Hause ist. Ohne meine Aufforderung erst abzuwarten, zog er schnell den Rock aus, da die Untersuchung bei entblößtem Körper vorgenommen wird.

„Guten Morgen!“ rief mir der freche Mensch mit grinsendem Munde zu, wobei er eine Reihe von scharfen, spitzen Zähnen zeigte, die einem Wolfe anzugehören schienen. „Bin wieder einmal da, Herr Doctor!“

„Sind Sie gesund,“ forschte ich, ohne seine weitern Auslassungen zu beachten, „oder fehlt Ihnen etwas?“

„Freilich,“ antwortete er jetzt mit kläglicher Stimme, „bin ich krank, und deshalb wollte ich Sie bitten, mich sogleich auf die Krankenstube zu schicken.“

„Und worüber klagen Sie?“ fragte ich ihn scharf anblickend.

„Ich habe ein großes Armgeschwür, das mir schreckliche Schmerzen verursacht.“

In der That erblickte ich auch am linken Oberarme ein bedeutendes und stark entzündetes Geschwür, welches vielen und übel aussehenden Eiter absonderte. Bei dem Befühlen desselben verzog der Gefangene sein Gesicht auf das schmerzlichste, obgleich ich so sanft als möglich dabei verfuhr. Ich merkte sogleich seine Absicht, mich zu täuschen, und diese Meinung wurde noch mehr durch die eigenthümliche Form und das Aussehen des Geschwüres bestärkt. Bald zweifelte ich keinen Augenblick länger, daß dasselbe künstlich hervorgebracht sei, um damit mich irre zu führen und noch einen besonderen Nebenzweck zu verbinden. Zu diesem Behufe legen die Gefangenen häufig ein Stück brennenden Schwamm, den sie sich trotz aller Aufsicht zu verschaffen wissen, auf irgend einen Theil ihres Körpers, oder sie entfernen die Oberhaut durch Reiben mit einem rauhen Ziegelstück, das sie von der Wand abbrechen. Die so gebildete Wunde verstehen sie durch allerhand scharfe Flüssigkeiten, Salzwasser und im Nothfalle durch ihren eigenen Urin in ein Geschwür zu verwandeln, wodurch sich mancher unerfahrene Arzt täuschen läßt. Ihre Absicht dabei ist, nach der Krankenabtheilung versetzt zu werden, entweder blos deshalb, weil es dort mehr Freiheit, besseres Essen und schonendere Behandlung gibt, oder weil ihnen daran liegt, mit einem Mitschuldigen ungestört zu correspondiren, ihre Aussagen zu verabreden und gemeinschaftliche Pläne zu schmieden. Dies war auch hier der Fall; zum Glück durchschaute ich sogleich das fein ausgesonnene Stückchen und verhinderte die Ausführung durch meine bestimmte Erklärung, daß die ganze Krankheit eine künstlich gemachte sei. Es handelte sich hier, wie ich richtig vermuthete, um einen gefährlichen Einbruch mit bewaffneter Hand, wobei mein angeblicher Patient die Hauptrolle übernommen hatte.

Einer seiner Mitschuldigen lag im Krankensaal an einem wirklichen nicht unbedeutenden Leiden. Um mit diesem zusammenzukommen und denselben für den bevorstehenden Termin zu einer gleichlautenden Aussage zu veranlassen, hatte das besagte Individuum, ohne den sich selbst zugefügten Schmerz zu beachten, dies Geschwür an seinem Arme künstlich hervorgebracht. Ueberhaupt gehört das Simuliren von Krankheiten zu den gewöhnlichsten Erscheinungen im Gefängnißleben, und es ist wirklich erstaunlich, mit welcher Kenntniß der Symptome die Gefangenen dabei verfahren. Sie ahmen die verschiedensten äußeren und inneren Leiden täuschend nach, besonders Nervenkrankheiten, Krampfanfälle, und ich habe Exemplare der hinfallenden Sucht gesehen, welche durchaus der Wirklichkeit nichts nachgaben.

Man wird diese Erscheinung ganz natürlich finden, wenn man daran denkt, daß der größte Theil der Gefangenen von dem Augenblick ihrer Einsperrung an nur an ihre Befreiung denkt. All’ ihr Sinnen und Trachten ist auf diesen einzigen Punkt gerichtet, ihre ganze geistige Thätigkeit erhält dadurch eine Spannkraft und [359] Elasticität, die der freie Mensch nur selten erlangt. Der Gefangene hört das leiseste Geräusch, er gewöhnt sich im Finstern zu sehen; er erfindet eine eigene Zeichensprache, durch die er sich mit seinen Schicksalsgefährten unterhält, er denkt die verwegensten Pläne zu seiner Flucht aus, und erschrickt vor keiner Gefahr. Die furchtbarsten Schmerzen lernt er mit Leichtigkeit ertragen; seine Geduld und Ausdauer übersteigt alles Denken; die ekelhaftesten und grauenvollsten Wege halten ihn nicht ab, und selbst den Tod scheut er nicht, wenn es sich darum handelt, frei zu werden. Die Hingebung eines Märtyrers, der Muth eines Helden, der Scharfsinn eines großen Denkers wird weit öfter hinter Kerkermauern gefunden, und wer wissen will, zu welchen ungeheueren Anstrengungen und Opfern sich der Mensch zu erheben vermag, der braucht nur die Annalen der Criminalgeschichte zu durchlesen.

Doch ich kehre von diesen allgemeinen Betrachtungen zu der speciellen Anwendung zurück, indem ich die kleine Gallerie aus der Verbrecherwelt weiter vorzuführen gedenke. Unzufrieden mit meinem Bescheide und augenscheinlich niedergedrückt verschwand der angebliche Patient, um einem ehrwürdigen Greise mit grauen Haaren Platz zu machen. Mit Recht fragen wir uns verwundert bei seinem Anblick, wie dieses Patriarchenhaupt zu einer derartigen Umgebung und Gesellschaft paßt? Das Alter flößt uns unter allen Verhältnissen und selbst noch im Gefängnisse eine gewisse Achtung ein, wir sehen mit Ehrfurcht auf die silberweiße Locke und wollen oder können nicht an seine Schuld, oder gar an ein Verbrechen glauben; noch dazu, wo uns, wie hier, auch die äußeren Gesichtszüge nur Vertrauen einflößen. Höchstens dürfte der schlaue, seitwärts gerichtete Blick auffallen, womit das Auge in unbemerkten Momenten wie der Fuchs aus seiner Höhle hervorschielt, mit einer Mischung von Pfiffigkeit und Scheinheiligkeit. Dennoch haben wir es mit dem Nestor der Spitzbubenwelt zu thun, mit einem Manne, dessen Name unter den Verbrechern mit der größten Achtung genannt wird. Wir erblicken hier das Haupt einer zahlreichen Spitzbubenfamilie, deren Mitglieder die verschiedenen Zuchthäuser bevölkern helfen. Seine Lebensgeschichte besteht in einer fortlaufenden Kette von Diebstählen und Verbrechen aller Art: als Knabe von kaum zehn Jahren war er bereits ein gewandter und vielversprechender Taschendieb, als Jüngling und Mann ein gefürchteter Einbrecher und jetzt als Greis ein bekannter Diebshehler. In alle größere Untersuchungen finden wir seinen Namen verwickelt und mehr als zwei Dritttheile seines Lebens hat er im Gefängnisse zugebracht. Dieser alte Gauner ist doppelt durch seinen Einfluß und sein Beispiel gefährlich, da er für seine jüngeren Standesgenossen überall, wo er mit ihnen in Berührung kommt, förmlich den Lehrer spielt und ihnen Collegien liest über die beste Art, einen Einbruch zu vollführen, das gestohlene Gut zu verbergen und durch Leugnen, falsche Zeugen, Beweis des Alibi sich loszuschwindeln.

Für derartige Subjecte dürfte besonders die Einzelhaft in aller Strenge anzuempfehlen sein, um den Neuling auf der Verbrecherbahn vor Ansteckung zu hüten; sie sind die Pest der Zuchthäuser, und mancher Sträfling, der noch zu bessern ist, wird durch sie erst vollkommen ausgebildet. Bei einer stattgefundenen Haussuchung hat die Polizei einen bedeutenden Vorrath von gestohlenen Sachen in seiner Wohnung entdeckt, ein unterirdisches Gewölbe, das an kostbaren Gegenständen dreist mit dem ersten Magazin der Hauptstadt wetteifern konnte. Wahrscheinlich wird er diesmal sein Leben im Gefängnisse beschließen, da er bereits ein hoher Siebziger ist. Mit ihm zugleich ist der würdige Sohn dieses würdigen Vaters und sein Enkel eingezogen worden, ein hoffnungsvoller Knabe, dessen früh gereiftes Wesen den angehenden, gefährlichen Verbrecher verräth. Wir haben es hier mit einer ganzen Generation zu thun, in der das Laster sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt.

Von den Männern, deren Untersuchung jetzt beendet war, ging ich zu der Abtheilung der Frauen über. Unter diesen fiel mir zunächst ein junges, blühendes Mädchen auf mit rothen, frischen Wangen und blauen, treuherzigen Augen. Sie schien sich ihrer Lage zu schämen und hielt ein Tuch vor das Gesicht, um ihre Thränen oder vielmehr ihr Gesicht vor den Uebrigen zu verbergen. Unmöglich konnte das achtzehnjährige, so schuldlos aussehende Kind ein Verbrechen begangen haben. Auf mein Befragen erfuhr ich ihr Geschick. Liebe und Eifersucht hat sie in’s Gefängniß geführt. Sie war die Verlobte eines Tischlergesellen, der sie um ein anderes Frauenzimmer verlassen hatte. In einem Anfalle von Raserei lauerte sie dem Ungetreuen auf, als er unter ihrem Fenster vorüber ging, und goß eine Flasche mit Schwefelsäure über sein Gesicht. Die Folgen, welche sie wahrscheinlich nicht berechnet hatte, waren schrecklich, denn der Tischler verlor ein Auge, welches die brennende, ätzende Flüssigkeit sogleich zerfraß, außerdem trug er noch vielfache Verunstaltungen davon. Eine mehrjährige Zuchthausstrafe wird ihr Loos sein und sie kann sich glücklich schätzen, wenn sie eben so rein aus dem Gefängnisse kommt und sich auch dann noch die Scham bewahrt hat, die ihr jetzt zur Ehre gereicht. Einige freche Ladendiebinnen stehen daneben und lachen über die Zerknirschung der Aermsten; es sind schlechte Dirnen, welche selbst in diesem Augenblicke noch mit den männlichen Gefangenen kokettiren und wo möglich ein Verhältniß anzuknüpfen suchen, das sie nach ihrer Entlassung fortzusetzen gedenken. Selbst im Gefängnisse verleugnet sich nicht die weibliche Natur, und Liebeshändel aller Art gehören trotz der strengen Aufsicht und Sonderung der Geschlechter zu den gewöhnlichen Erscheinungen. Es ist übrigens wunderbar, mit welcher Treue und Aufopferung oft derartige Dirnen an dem Geliebten hängen; sie pflegen ihn, wenn er krank ist, besuchen ihn in der Gefangenschaft, wirken für seine Freilassung und Flucht mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln und verbergen ihn oft mit eigener Gefahr vor den Nachspürungen der Polizei. Mehr als ein heroisches Liebespaar ist mir gerade in der Verbrecherwelt aufgestoßen; ein Beweis, daß unter allen Verhältnissen das Herz und seine Gefühle gedeihen können.

Unter diesen Ladendiebinnen findet man wohl auch dann und wann Einzelne, die sich durch ihre elegante Toilette und feineres Benehmen auszeichnen, selbst Frauen und Mädchen den besseren Ständen angehörig zählen nicht gerade zu den Seltenheiten. Es ist dies ein ziemlich allgemein verbreitetes Verbrechen unter dem weiblichen Geschlecht, sogar Damen, die sich in den besten Verhältnissen befinden, machen sich oft kein Gewissen daraus, ein Stück Band, Spitzen oder Seidenstoff verschwinden zu lassen. Man sollte fast dabei an einen angeborenen Diebstrieb glauben, obwohl die verführerische Gelegenheit wohl das Meiste thut.

Aber wer ist jene schlanke, junonische Gestalt mit den edlen, bleichen, von Sorgen oder Krankheit angegriffenen Zügen, welche sich mir jetzt vorstellt? – Ihrem Aeußeren nach sollte man sie für eine Fürstin halten, welche sich zufällig in das Gefängniß und in solche Gesellschaft verirrt hat. Welches Verbrechen hat diese stolze Frau begangen, deren ganze Haltung mir unwillkürlich das größte Interesse einflößt? Die Gewohnheit, mit Verbrechern aller Art zu verkehren, hat mich noch nicht so abgestumpft, um nicht die innigste Theilnahme für diese trauernde Schönheit zu empfinden, aus deren dunkeln, großen und verweinten Augen mir ein tragisches Geschick entgegenleuchtete. Ihre Geschichte ist eben so kurz als erschütternd.

Marie N… ist die Tochter einer durch Unglück und mannigfache Schicksalsschläge heruntergekommenen, einst reichen und geachteten Familie. Sie hatte, so lange ihr Vater im Wohlstande lebte, bessere Tage gekannt und eine sorgfältige Erziehung genossen. Nach seinem Tode sah sich ihre Mutter genöthigt, durch Vermiethen von möblirten Wohnungen sich und die Ihrigen zu ernähren. Ein junger Baron, der sich bei ihr einquartierte, machte Marie’s Bekanntschaft, versprach ihr die Ehe und täuschte das leichtgläubige Herz des armen, unerfahrenen Mädchens. Sie wurde Mutter und verlangte nicht für sich, sondern nur für das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, die Erfüllung seines Versprechens und die Herstellung ihrer Ehre durch eine Heirath. Der gewissenlose Verführer wies sie unter dem Vorwande ab, daß nach den bestehenden Gesetzen die Ehe zwischen einem Adligen und einer Person aus dem niederen Bürger- oder Bauernstande nicht zulässig sei. Zu dem ersteren gehörte die Mutter Marie’s, da sie Zimmervermietherin war. Von Verzweiflung erfüllt und um ihre Schande vor der Welt und den Ihrigen zu verbergen, wurde sie zur Verbrecherin und tödtete ihr Kind. Sie verfuhr dabei mit einer Umsicht und einer seltenen Ruhe, so daß auch nicht der geringste Verdacht längere Zeit auf sie fiel. Durch einen Zufall wurde die That ruchbar und Marie eingezogen. In den späteren Verhören gestand sie offen ihr Verbrechen ein, ohne jedoch, trotz wiederholter Aufforderung, den Namen des Verführers zu nennen; dies war ihre einzige Rache. Ohne ihr Zuthun wurde derselbe später ermittelt und der Herr Baron spielte bei den öffentlichen Verhandlungen des interessanten Processes die ihm zukommende, erbärmliche Rolle. Richter, Geschworene und Publicum sahen [360] ihn als die eigentliche moralische Ursache der That an, für welche die Unglückliche mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe büßen sollte, während der verächtliche Urheber ungestraft davon kam. Bei dieser Gelegenheit erhoben sich die geachtetsten, juristischen Stimmen gegen ein Gesetz, welches wie ein Spott auf die garantirte, bürgerliche Gleichheit aller Stände klingt.

Die übrigen Gefangenen boten kein besonderes Interesse mehr dar, und da die Untersuchung bald beendet war, begab ich mich zuerst in den allgemeinen Krankensaal der Anstalt, um die daselbst liegenden Patienten in Augenschein zu nehmen. Hier herrscht, wie sich das von selbst versteht, mehr Freiheit als sonst im Gefängnisse, und trotz aller Aufsicht lassen sich nicht verschiedene Mißbräuche verhindern. Die Reconvalescenten vertreiben sich die Zeit mit Erzählungen, Karten- und Würfelspiel. In jedem Gefängnisse gibt es einen oder mehrere Erzähler, die einen gewissen Ruf besitzen. Den Stoff seiner Geschichten nimmt er meist aus alten Ritter- oder Räuberromanen, welche in jeder Leihbibliothek zu finden sind. Letztere spielen eine große Rolle in der Verbrecherwelt, und die kühnen Thaten eines Rinaldini, Schinderhannes und des bairischen Hiesel haben schon manche jugendliche Phantasie zur Nacheiferung angespornt und entflammt. Selbst Sue’s „Mysterien aus Paris“ sind bereits in unsere Gefängnisse gedrungen und erfreuen sich dort eines wo möglich noch größeren Beifalls, als bei dem Publicum der gewöhnlichen Lesewelt. Man glaubt nicht, wie nachtheilig derartige Bücher gerade auf diese Menschenclasse wirken, die sich gleichsam an solchen Romanhelden ein Beispiel nehmen und in ihnen ihr Ideal sehen. Ich selbst habe einen würdigen Mann gekannt, der mir gestand, daß er, durch derartige Schriften in seiner Jugend verlockt, sich ernstlich mit der Idee herumtrug, ein Räuber à la Rinaldini zu werden, zum Glück aber bald davon wieder zurückkam. Deshalb sollte vorzugsweise darauf hingearbeitet werden, derartige schlechte Bücher, welche noch immer von der ungebildeten Menge mit Heißhunger verschlungen werden, durch eine gesunde Volksliteratur zu ersetzen.

Nr. 2 folgt später.




Das Ende der Thaten des General Walker’s.[1]

Hospital in Granada.

Man rühmt es unserer Zeit häufig nach, sie sei im Allgemeinen der Vergangenheit an Bildung und Moral weit überlegen; leider aber kommen gar nicht selten Beispiele vor, die das Gegentheil von dieser Lobeserhebung beweisen. Ein recht schlagendes ist, ich will nicht sagen die blutbefleckte Laufbahn des Generals Walker in Central-Amerika, denn Verbrecher in größerem und kleinerem Maßstabe wird es zu allen Zeiten geben, wohl aber die Gleichgültigkeit, ja beifällige Zustimmung, mit welcher die civilisirte Welt anderthalb Jahre lang den Thaten jenes Freibeuters zugesehen hat, vor allem die Rettung desselben durch die Regierung der großen amerikanischen Union, die zu seinen Gunsten einschritt und um seinetwillen ein Kriegsschiff absandte, damit er nicht dem Galgen verfalle, den er hundert Mal verdient hatte, und die Begeisterung, mit der ihn mehr als 10,000 Menschen bei seiner glücklichen Ankunft in Neu-Orleans empfingen.

Blicken wir in die Geschichte zurück, so finden wir auf demselben Schauplatze, auf dem Walker seine Jammertragödie spielte, Vorgänge, die ein treues Vorbild derselben waren. Am 7. April 1685 überfiel Ravenneau de Lussan mit 345 Mann, Engländern und Franzosen, welche die Spanier und Indianer mit „den Fortschritten der Civilisation“ beglücken wollten, die Stadt Granada am Ufer des Nigaragua-See’s. Sie griffen die fliehenden Einwohner an, wie der alte Lussan selbst naiv erzählt, verloren nur etwa vier Mann im Kampfe, zogen dann in die Kirche, um ein Te Deum zu singen, und ließen den Spaniern sagen, wenn sie nicht Lösegeld für ihre Stadt zahlten, würde dieselbe niedergebrannt werden. Da die Spanier gar nicht darauf antworteten, sahen sich die Helden genöthigt, die Häuser der Stadt anzuzünden, „um Wort zu halten“, und dabei mordeten und schändeten sie nach Herzenslust.

Die, welche damals so handelten, waren und nannten sich selbst Freibeuter; das Gesetz hatte sie geächtet und sie übten ihre Thaten in einem Lande ohne Gesetz, das Spanien unterworfen war, mit welchem sich England und Frankreich im Kriege befand. Trotzdem wurden ihre Raub- und Mordzüge nicht etwa gepriesen, sondern laut gemißbilligt und mit dem wahren Namen genannt und die daran Betheiligten ohne Proceß als Räuber und Mörder gehangen, [361] sobald sie ehrlichen Leuten, von welcher Nation sie sein mochten, in die Hände fielen.

Vom Schlachtfelde.

Die Freibeuter und Buccanier der alten Zeit suchten Gold und Silber und sie sengten und mordeten, bis sie es fanden, dann ließen sie Te Deum singen; Walker, welcher dasselbe Granada niederbrennen ließ, wie vor ihm Lussan, überdies Rivas in Asche legte, wie der alte Flibustier Morgan Panama, raubte zwar auch alles, was er erlangen konnte, aber unter dem lügenhaften Vorgeben, dadurch die Mittel zu erhalten, um dem civilisirenden anglo-sächsischen Stamme Raum zur Ausbreitung zu schaffen und die Herrschaft der demokratischen Gleichheit zu fördern. Die Leiden, die er über Nicaragua, eines der lieblichsten tropischen Länder, brachte, sind tausendfältig grauenhafter als die, welche die Raubzüge der alten Freibeuter in ihrem Gefolge hatten. Mit vollem Rechte sagt der Correspondent eines deutschen Blattes: „der anderthalbjährige Kampf hat, gering gerechnet, 12,000 Menschenleben und Millionen an Eigenthumswerth gekostet. Wohl ist nie eine verhältnißmäßig so große Masse von Gräueln und Scheußlichkeiten auf einen so kleinen Raum und eine so kurze Zeit zusammengedrängt worden, als während des Walker’schen Regiments in Nicaragua. Die kaltblütige Grausamkeit, die er gegen seine eigenen Untergebenen und gegen seine eifrigsten Freunde unter den Eingebornen geübt hat, wäre eines Caracalla würdig gewesen; die entsetzlichen Martern, unter denen die Verwundeten und Kranken in den Lazarethen, aller Pflege baar, nicht sowohl gestorben als bei lebendigem Leibe verfault, von Maden und Würmern aufgefressen worden sind, entziehen sich jeder Beschreibung und finden nur in den Einzelnheiten der Feldzüge von 1812 entsprechende Seitenstücke.“

Ausladen von Verwundeten.

Von dem Hospital, das eine Zeit lang in Granada bestand, gibt Einer, der selbst darin gelegen und gelitten hat, eine Schilderung. Nur ein Theil davon stehe hier:

„Wenn ein am Fieber Erkrankter in das Hospital zu Granada gebracht wird, legt man ihn auf eine rohe Kuhhaut ohne Matratze oder wollene Decke, wenn er nicht etwa so glücklich ist, selbst etwas der Art zu besitzen, was freilich sehr selten vorkommt. Häufig legt man den neuen Kranken auf das Lager, von dem eben ein armer Teufel entfernt worden ist, nachdem er am gelben Fieber, an der Cholera, oder irgend einer ansteckenden Krankheit gestorben. An eine Reinigung des Lagers vorher denkt Niemand. Der Leidende darf kein Wasser trinken, weil die Aerzte sagen, es sei dasselbe Gift. Das einzige erlaubte Getränk ist „Orangenblüthenthee,“ aber keineswegs immer zu haben, so daß der Kranke vor Durst fast umkommt. Ich habe Stunden lang gelegen und gebeten, nur einen Löffel voll zu erhalten; vergebens. Die Aerzte und die Wärter waren die meiste Zeit über betrunken. Mein ganzes Frühstück bestand häufig in nichts als einer Tasse Thee, aus dem einfachen Grunde, weil es nichts Anderes gab. Zum Mittagsessen bekamen wir ein Stück Rindfleisch mit dem Wasser, in dem es gekocht worden, sonst nichts. Bisweilen erhielt das Hospital etwas Geld, um Gemüse für die Kranken zu kaufen, aber die betrunkenen Aerzte oder vielmehr Quacksalber eigneten sich dasselbe gewöhnlich zu und die Patienten bekamen nichts …

Hülflos gestorben.

Gleich nach meiner Ankunft in Granada dachte ich an Flucht, die aber schwer zu bewerkstelligen ist. Niemand, weder Bürger noch Soldat, darf die Stadt ohne einen Erlaubnißschein oder Paß verlassen; wird ein Soldat ohne denselben betroffen, so [362] gilt er als Deserteur und wird ohne Weiteres erschossen. Entgeht er Walker, so fällt er wohl den Chamorristas (der Gegenpartei) in die Hände, die ihn erschießen, weil er zu den Leuten Walkers gehörte. Entkommt er Beiden, so muß er das Land zu verlassen suchen und die Gefahren und Mühseligkeiten, die dabei zu bestehen, sind unbeschreiblich … Ich lag drei Monate im Hospitale, meist in Gesellschaft von hundert Leidensgefährten. Sie bilden die schrecklichste Zeit in meinem Leben. Viele Soldaten sterben lieber, ehe sie sich in das fürchterliche Hospital bringen lassen, und manche Kranke darin geben sich für genesen aus, um nur hinwegzukommen und irgendwo unter freiem Himmel sterben zu können … Eingeborene hat Walker gar nicht in seiner Armee. Seine Officiere sind meist betrunken. Er selbst ist fast gar nicht sichtbar. Von Lebensmitteln hat er nichts, als was geplündert wird. Als ich in die Armee eintrat, war ich ein kräftiger, gesunder Mann und wog 164 Pfund; als ich entflohen war und in Californien ankam, war ich ein Schatten meines früheren Selbst und wog noch 110 Pfd.“

Für die Verwundeten gab es ein Hospital auf der Insel Ometepe in dem See Nicaragua, weil sie so günstig gelegen, daß von allen Seiten her die Leidenden auf einem Dampfschiffe dahin befördert werden konnten. Von dem Dampfschiffe mußten die Verwundeten in ein Boot hinabgelassen werden, in dem man sie dann an’s Land setzte. „Die Leiden,“ sagt ein Augenzeuge, „welche die Verwundeten und Sterbenden ertragen mußten, während man sie von dem Verdeck des Schiffes in das Boot schaffte, waren grausenhaft, zumal sie nicht immer mit der erforderlichen Schonung und Sorgfalt behandelt wurden. Einige schrieen laut vor Schmerz, andere winselten und fluchten abwechselnd, nur wenige ertrugen was nicht zu ändern war in Schweigen. Am schlimmsten befanden sich immer die, welche von der Stadt Granada an den See hatten gehen und dann vierundzwanzig Stunden auf dem Verdeck des Schiffes, jeder Witterung ausgesetzt und ohne Nahrung liegen müssen. Drei bis vier waren meist auf der Ueberfahrt schon gestorben, blieben aber unter den anderen, den Sterbenden, liegen. Als Nahrung hatte man nichts als harten Schiffszwieback, den die Gesundesten kaum genießen konnten. Viele hatten seit mehreren Tagen nichts gegessen und mußten buchstäblich verhungern.“ Gelangte das Boot mit seiner schrecklichen Ladung endlich an die Insel, so trug man einen Verwundeten nach dem andern heraus und legte ihn zuerst am Ufer nieder. Waren alle gelandet, so trug oder führte man sie in das Dorf, in welchem sich das Hospital befand, das etwa zehn Minuten von der Küste lag und aus ungefähr 70 bis 100 Hütten aus Lehm und Rohr unter Orangen und andern herrlichen Bäumen bestand. Die Einwohner waren sämmtlich geflohen, sobald sie erfahren, daß Walker ein Hospital zu ihnen verlegen wollte, und so wurden denn die Kranken und Verwundeten in die verlassenen Häuser und Viehställe gelegt. Wie die Pflege der Unglücklichen gewesen sein mag, läßt sich nach dem Vorausgehenden leicht errathen. Sie lagen am feuchten und kalten Boden, in der Nacht ohne Licht. Einige, die ihre Glieder noch etwas regen konnten, von Durst und Hunger gequält wurden und trotz ihren Bitten und Rufen nichts erhielten, rafften sich wohl auf, um selbst etwas zu suchen. Draußen fielen sie häufig oder die Kräfte verließen sie und sie mußten sich niederlegen, wo sie sich eben befanden, so daß man bald in und neben dem Dorfe im Dunkeln nicht gehen konnte, ohne auf Todte oder Sterbende zu treten.“

An Mitteln, die Verwundeten vom Schlachtfelde wegzutragen, fehlte es ganz und gar; jeder mußte selbst dafür sorgen, wie er hinwegkomme, oder sich darein ergeben, wie er elendiglich unter freiem Himmel umkomme.

Nicht einmal odentlich begraben wurden die Todten. Meist blieben sie liegen, wo sie gestorben waren; nur wenige konnten auf Karren geladen und in eine Art Grab gelegt werden; denn die Eingebornen weigerten sich entweder hartnäckig, ein Grab graben zu helfen, oder noch häufiger, es fehlte an den nöthigen Werkzeugen, Spaten, Hacken und Schaufeln. Deshalb scharrte man meist nur eine Vertiefung von einen oder anderhalb Fuß, legte die Todten darein und streute ein wenig Erde über sie, die sie nur leicht bedeckte.

Zuletzt war Walker mit noch nicht 300 Mann – seine ganze Armee – in der Stadt Rivas eingeschlossen, welche von den Costa Ricanern belagert wurde. Sie hatten keine Lebensmittel mehr und bereits Pferde, Maulthiere, Hunde und Ratten gegessen. Da erschien, von der amerikanischen Regierung officiell abgesandt, der Capitain Davis von der Kriegsschaluppe St. Mary im Lager der Costa Ricaner und bestimmte den Befehlshaber derselben, General Mora, den Walker’schen Räubern und deren Führer freien Abzug unter der amerikanischen Flagge zu bewilligen. Nach der Capitulation sollte Walker Munition, Geschütz etc. überliefern; er gelobte dasselbe, brach aber nochmals sein Wort, indem er die Munition vernichten und die Kanonen vernageln ließ.

Trotzdem ließ man ihn ziehen. Er veröffentlichte zum Abschied einen Befehl, in dem er sagt, „seine Armee habe ein Blatt der amerikanischen Geschichte geschrieben,“ und das amerikanische Kriegsschiff brachte ihn mit den Seinen nach Neu-Orleans, wo er wie ein Triumphator, oder – da sein Unternehmen mißlungen – wie der Märtyrer einer großen heiligen Sache empfangen wurde.

Das Blatt der amerikanischen Geschichte aber, das er geschrieben, wird sein und seiner Helfershelfer Schande auf die Nachwelt bringen.




Feuer-, Licht-, Heiz- und Regenbrunnen.

So stolz auch manche Gelehrte, und ihre Wagner’s besonders, auf unsere Wissenschaft und Civilisation überhaupt sein mögen, gibt es doch erst recht für Jeden, der da wirklich wissen möchte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (und was aus ihr werden würde, wenn sie am 13. Juni dieses Jahres „untergegangen wäre“) noch manche aschgraue Räthsel und herzverbrennendes Nichtwissen. Wie demüthigend ist es z. B. für den Maschinen- und retortenstolzen Sohn dieses Jahrhunderts, der aus den Steinschichten der Erdrinde die Geschichte unseres Globus bis auf hundert Millionen Jahre zurückliest, daß wir so gar nicht durch die dünne Eierschale der Erde (sie ist mehrere geographische Meilen dick, aber in Bezug auf ihre Größe doch nicht so stark, wie eine Birn- oder Eierschale) hindurchkommen können, um uns die inwendig aufgehäuften Schätze zu Nutze zu machen. Es ist so viel Feuer darin, daß nie ein Mensch zu frieren brauchte, so viel Leuchtgas, daß wir beinahe die Sonne entbehren könnten, so viel Wasser und Fruchtbarkeit, daß kein Hälmchen und kein Bauer auf Regen zu warten nöthig hätte. Die Erde hat inwendig nota bene fast immer zu viel von diesen Schätzen und entladet sich dieses Ueberflusses, wenn’s ihr zu arg wird, nicht blos durch die Paar Dutzend Sicherheitsventile, die Vulcane, sondern verschafft sich auch auf dem revolutionärsten Wege durch Erdbeben und dergleichen Oeffnung. Die bisherigen Sicherheitsventile dieses ungeheuern Dampfkessels reichen bei starkem Feuer inwendig nicht hin. Deshalb platzt er, bald hier und da, und wogt mit der Erdrinde, wie ein offenes Meer im Sturme. Es kommt dann zu viel Feuer auf einmal heraus, und da Feuer Wasser bildet, regnet es dazu oft wahre Sündfluthen. Wenn man nun künstliche Sicherheitsventile anbrächte, könnte man die ganze Erde nach Belieben und Bedürfniß erleuchten und bewässern. Ein Franzose hat nun neuerdings allen wissenschaftlichen Ernstes solche Sicherheitsventile für „den großen Hochdruckgasometer,“ unsere Erde, vorgeschlagen, artesische Feuerquellbrunnen, um durch diese das Gas aus dem Innern für Leucht- und Heiz- und Bewässerungszwecke abzuzapfen, worauf Kohlen, Coaks, Holz und Torf und das Geld dafür und die Schmutzerei damit gespart werden würde.

Zu diesem Zweck wäre es blos nothwendig, tief genug in den Harnisch unserer großen Feuerkugel einzubohren, nicht bis in’s Feuer selbst, sondern bis zu den Gasen, die sich über demselben in einer gewissen Tiefe der Erdrinde entwickeln. Die Chinesen, welche Jeder, der sie aus eigener Anschauung schilderte, als das friedlichste, gebildetste Volk lobt, und Jeder, der sie nicht kennt, Palmerston’s und constitutioneller Taschenspielerei wegen, als Barbaren, die bombardirt, belogen und betrogen werden müssen, darzustellen sucht, die Chinesen haben’s auch hierin am Weitesten oder Tiefsten gebracht. Sie haben den tiefsten artesischen Brunnen, 1033 Metres tief, [363] gebohrt, bei Uting Kiao. Sie fanden Gas, als sie tiefer bohrten, um die ausgestorbene Salzquelle wieder zu beleben, welches sie sofort zur Verdampfung des Wassers in ihren Steinsalzgruben zu verwenden wußten.

Der Franzose hat mit seinen Feuerquellbrunnen zunächst nur Paris im Auge; doch würden sie, da man von jedem Orte der Erde nach deren Mitte zu bohren kann, bald von aller Welt in Angriff genommen werden, da sie eine unerschöpfliche Quelle von Licht, Heizung und Regen umsonst liefern würden. Mit einer Million Francs, freiwillig gesteuert, meint er, würde der Angriff gegen das revolutionäre Reich Vulcan’s und Neptun’s, der Gnomen und Salamander, ausgeführt werden können. Die Bürgerschaft von Paris könnte das Gas für einen Centime per Cubikfuß verkaufen. Das gäbe 300 Francs in der Minute oder jährlich 158,420,000 Francs. So viel Steuerkraft steckt in der Erdrinde blos für eine einzige Stadt. Das ist noch nicht Alles. Da das Heiz- und Leuchtmaterial umsonst aus der unerschöpflichen Erdrinde quillt, kann man auch die Stadt damit besprengen und es regnen lassen, so oft es nöthig erscheint. Man läßt für solche Fälle das Gas nur eben ein Weilchen in die Luft strömen, zündet es dann an mit einem elektrischen Drachen, um das Feuer als Regen niederströmen zu lassen. Jeder Verbrennungsproceß bildet Wasser. „Ein schöner Regen,“ sagte er, „vollkommen geregelt nach dem Gasometer, würde die Stadt erquicken, die Gärten waschen und erfrischen, die Promenaden reinigen und die benachbarten Felder tränken.“ Hier bricht er in eine Salve patriotischen Enthusiasmus aus über das Privilegium von Paris, nach Belieben und mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung Regen zu träufeln und Sonnenschein zu machen über Gerechte und Ungerechte und über den Strom von Fürsten und Fremden, um diese Feuer- und Wasserwerke in Augenschein zu nehmen.

Letzteres ist patriotisch und lächerlich, aber die Sache selbst und zwar für alle Menschheit ist nicht unmöglich und wird sehr wahrscheinlich über Kurz oder Lang so üblich sein, wie die früher als unmöglich verspotteten Eisenbahnen, Dampfschiffe und Gasbeleuchtungsanstalten. Als Stephenson die erste Eisenbahn in England bauen wollte, rotteten sich die Bauern unter Anführung ihres Pfarrers zusammen, um den „Unsinn“ zu verhindern; alle englischen Zeitungen spotteten über den Narren, dessen Locomotive sich doppelt so schnell, als eine Postkutsche fortbewegen wolle, selbst die Techniker des Parlaments bezeichneten den Mann als einen „Irren“ und ein Lord des Oberhauses vermaß sich sogar den ersten Eisenbahnzug mit Haut und Haaren zu fressen. Und jetzt, kaum einige 30 Jahre später? So wird es immer mit den großen Erfindungen der Völker gehen!

Manchester ist die regnerischste Stadt, weil sie immerwährend unten viele Tausend Pferdekräfte von Feuer und Dampf erzeugt und Tag und Nacht unterhält. Regenstürme sind Folgen jedes Erdbebens. Künstliche Vesuve und Aetna’s unter den Händen tüchtiger Ingenieurs würden demnach mehr Wärme und Leben spenden in den eisigsten Regionen, als die Geisers auf Island, welche den Bewohnern heißes Wasch- und Kaffeewasser liefern. Was Paris kann, wird man auch auf Grönland versuchen, um den Nordpol aufzuthauen, und überall, wo Menschen Licht, Wärme, Regen und Sonnenschein brauchen.

Die einzige Schwierigkeit ist das Bohren. Das könnten wir aber von den Chinesen lernen, falls wir uns nicht zu gebildet dazu halten. Wenigstens wär’s besser, als sie durch Lüge und Mord und Brand zu Hyänen zu machen und dann mit christlichem Ingrimm auszurufen: „Müssen wir sie nun nicht erst recht morden?“

Wir haben mit Franklin’s Erfindung dem alten Donner- und Blitzgotte Zeus seine Donnerkeile aus der Hand gewunden, so daß wir hoffen dürfen, der Erde auch noch ihre launischen Ausbrüche zu nehmen und Feuer-, Licht- und Regenquellen nach Belieben daraus zu machen. Daß Viele mit Recht noch daran zweifeln mögen, sollte uns aber in unserm Wissenschafts- und Civilisationsstolze bescheidener machen, als viele Helden unserer Zeit sind. Wir können noch lange nicht Alles, was, im Ganzen und Großen genommen, doch noch eben so leicht als klein erscheint, und wissen noch lange nicht Alles, was täglich vor unsern Augen passirt und in wissenschaftlichen Büchern unter dem Titel bekannter Thatsachen und abgemachter Hypothesen als Baugrund für wissenschaftliche Renommisterei benutzt wird.




Blätter und Blüthen.

Originale. Einer der Generale Friedrich des Großen, ein Graf von Anhalt wurde, man weiß nicht aus welchem Grunde, von Berlin nach Bartenstein in Ostpreußen versetzt. Der General, an seinem neuen Bestimmungsorte angelangt, empfand bald die drückendste Langeweile, die kleine Garnisonstadt genügte ihm auf keine Weise. Er beschloß, koste was es wolle, sich eine Zerstreuung zu suchen. Eines Tages wanderte er durch die entfernten Gassen und bemerkte an einem Eckhause einen eigenthümlich gestalteten, sogenannten Prellstein. Es hatte dieser Stein die rohen Züge einer menschlichen Gestalt. Je länger der Graf den Stein betrachtet, desto gewisser wird es ihm, daß sich damit ein erfolgreicher und langandauernder Scherz ausführen lasse. Heimlich läßt er den Stein ausgraben und ihn an eine öde Stelle außerhalb der Stadt schaffen, wo er ihn einige Fuß tief unter die Erde einscharren läßt. Nach einiger Zeit stellt er unter Zuziehung des gelehrten Pfarrers und eines Lehrers an der Stadtschule Nachgrabungen nach Alterthümern an. Der Stein wird gefunden und der Graf stellt sich ausnehmend erfreut über den Fund an, erklärt auch sogleich, dies könne nichts anderes als die Statue des heiligen Bartholomäus sein, des Schutzheiligen von Bartenstein, und man müsse eilen, die Figur auf dem Marktplatze aufzustellen. Die beiden gelehrten Herren stimmen ihm bei, und es wird an den Fürstbischof von Ermeland geschrieben, der zwei Geistliche sendet, um das kostbare Denkmal der Vorzeit auf den ihm zugesicherten Ehrenplatz zu setzen. Die Stadt gibt die Kosten her und der Tag ist festgesetzt, wo unter großem Zudrange der Bevölkerung der Umgegend der heilige Bartholomäus auf das Postament gesetzt werden soll, das auf dem Markte, neben dem Brunnen, errichtet worden. Niemand ist glücklicher als der Graf, der jetzt einen vortrefflichen Spaß hat, indem er die Stadt und die Umgegend mystificirt. Aber ein einfacher Landmann, der des Weges daher kommt, zieht einen Strich durch die Rechnung. Als dieser die Figur sieht, ruft er aus:

„Ei, das ist ja der Schweinsbartel am Eck der rothen Tanne! ich kenn’ ihn gar gut!“

Die Versammelten wurden stutzig, man forschte, man sah nach, und die ganze ergötzliche Komödie kam an den Tag. Die Folge war, daß der Graf ein stark zurechtweisendes Schreiben aus Berlin erhielt, wo es ihm verboten wurde, sich ferner mit Alterthümern zu befassen. Der vom Bauer erkannte Prellstein, der „Schweinsbartel“, ward wieder an seine bescheidene Stelle gebracht. Aber der Graf empfand von dieser Zeit an eine lebhafte Neigung, seine lieben Mitbrüder zum Besten zu haben, sei es auf diese oder auf jene Weise. Es hatte gar zu viel Erheiterung verschafft, die Geschichte mit dem Schweinsbartel. Besonders machte es ihn stolz, daß sogar der gelehrte Büsching in seiner berühmten Erdbeschreibung den heiligen Bartholomäus auf dem Markte zu Bartenstein mit aufgenommen hatte. Er kam auf den Gedanken, eine Menge andere Alterthümer unter die Erde zu schaffen, wie verrostete Schlüssel, Ringe, unbrauchbares Küchengeschirr, dem ein künstlicher Rostüberzug gegeben worden und dergl. mehr, und diese Dinge, da er sich selbst nicht getraute eine Rolle dabei zu spielen, weil die Geschichte mit dem Prellstein allzu ruchbar geworden, ließ er durch seine Helfershelfer gelegentlich ausgraben, und hatte dann seinen wohlerworbenen Spaß, wenn die Gelehrten sich über die Entdeckungen stritten und ganze Ansammlungen davon nach Greifswald und noch weiter nach Kopenhagen und Stockholm gingen. Die scharfsinnigen Untersuchungen in den gelehrten Zeitschriften, der kleine Krieg der Alterthumsfreunde, der sich unvermeidlich bei der Erklärung und Deutung der interessanten Alterthümer entspann, machte ihm und dem kleinen Kreise seiner miteingeweihten Freunde unendliches Vergnügen, bis auch hier eine unwillkommene Entwickelung dem Spiele ein Ende machte und neue unangenehme Folgen für den humoristischen Antiquitäten-Fabrikanten entstanden. Jetzt kaufte er ein ziemlich weitläufiges Grundstück und legte auf demselben einen Garten nach einem eigenthümlichen Plane an. Der Hauptbestandtheil dieses Gartens war ein sogenanntes Labyrinth, aus dessen Gängen, wenn man nicht im Besitze des Schlüssels zu diesem Räthsel sich befand, es völlig unmöglich war, sich wieder herauszufinden, wenn man sich darinnen befand. Einst besuchte den Grafen eine Gesellschaft zu Mittag. Er führte sie in’s Labyrinth. Die Unglücklichen gehen in die Falle und irren umher, ohne den Ausgang zu finden. Unterdessen läutet die Glocke zum Mittagessen. Welch’ ein Pein! Man ist hungrig, man ist müde, und – es ist nicht möglich, aus den verwünschten Baumgängen und Taxuswänden hinauszugelangen. Kaum bietet sich ein breiter Gang, der in das Freie zu führen verspricht, so schiebt sich wie durch Zauberei eine Wand vor und von Neuem beginnt der jetzt schon in wilder Hast laufende Trupp die trostlose Wanderung. Dabei läutet die Mittagsglocke wiederholt. Endlich, nach mehreren Stunden, wo Hunger und Ermüdung auf’s Höchste gestiegen, erscheint ein Diener des Grafen und führt die Irrenden hinaus. Des Grafen Vergnügen läßt sich mit nichts vergleichen. Ein anderer Theil des Gartens zeigt einen runden Platz von kühlen Baumschatten umschlossen, der zum Ruhen einladet, doch kaum hat der Ermüdete auf der Bank Platz genommen, so schießen von allen Seiten feine Wasserstrahlen auf ihn zu und durchnässen ihn bis auf die Haut. Diese Kunststückchen hatten viel Geld gekostet, doch bot die Anlage des Gartens auch harmlose und auf’s Nützliche gehende Verschönerungen, die ihren Werth behielten selbst nach dem Tode des barocken Schöpfers. Der Hang zum Seltsamen lag in der Natur dieses Mannes, nur hatte er in seinem früheren Wirkungskreise keine Nahrung gefunden und keinen Raum, sich auszubreiten; die Langeweile im kleinen Garnisonstädtchen brachte sein Talent [364] an’s Tageslicht. Der Hang, seinen Nebenmenschen zu verspotten, ihm einen Possen zu spielen und auf Kosten des Verhöhnten sich zu belustigen, liegt in der menschlichen Natur, wir sehen diesen Trieb oft bei Kindern in einem hohen Grade ausgebildet. Man sagt, daß damit gewöhnlich kein gutes Herz verbunden sein soll, und dies ist wahr, insoweit die Schadenfreude keine auf edle und hochherzige Gefühle basirte Freude ist, doch ist nicht zu leugnen, daß dieser Hang, in rechter Weise geleitet, dem Verstand und dem Urtheil eine gewisse Schärfe verleiht, die er auf anderem Wege nur unvollkommen und langsam erreichen würde. –

Wir fügen diesem Originale ein anderes bei, das freilich nichts mit jener gerügten Spottsucht zu thun hat, sondern sich lediglich auf ein seltsames Motiv, sich die Vergänglichkeit und die Genüsse des Lebens stets in frischem Anschauen zu erhalten, gründet. Richard Roos erzählte oft von einem Freunde, der Arzt und dabei ein berühmter Anatom war. Als Student verzierte der junge Mann sein Zimmer auf folgende Weise, und er hatte ebenfalls manchen Thaler daran gewendet, wie Andere sich bequeme Möbel anschaffen, sich diese seltsame Zimmerdecoration zuzueignen. An der Eingangsthür stand das Skelet einer Frau, die ihren Vater ermordet hatte, an dem Skelet hing der junge Mann seinen Rock auf, wie wir es an einem Kleiderhaken thun. Am Bette hielt ein kolossales Skelet Wache, einem ehemaligen Soldaten angehörend, der als Raubmörder hingerichtet und auf die Anatomie geschafft worden war. Ein drittes Skelet eines alten Weibes, das sich erhenkt hatte, nahm den Platz am Schreibtische ein und die leeren Fächer zwischen den Rippen dienten dazu, um Bleistift, Federmesser, Siegellackstange und eine Anzahl kleiner Papierstreifen und Couverts zum täglichen Gebrauche aufzubewahren. Oefters erhielt dieses Ungethüm auch die Schlafmütze zur Aufbewahrung und trug sie auf ihrem auf die Brust herabhängenden Schädel. Die Zuckerschale dieses Sonderlings bestand aus dem zur Hälfte gesägten Schädel einer Kindesmörderin, und dazu gehörig fungirte ein großer Beinknochen als Zuckerhammer. Das Mittelstück seiner Tabackspfeife bestand aus der Armröhre eines vergifteten Kindes, an welchem auch mehrere Knöchelchen als Tabacksräumer, Zahnstocher u. s. w. dienten. Bei dieser Umgebung und diesem Geräthe muß man sich den Zimmereigenthümer als den jovialsten Jungen unter der Sonne denken. Die Ueberschrift über seiner Zimmerthür lautete: Memento vivere! und weder der kolossale Gardist am Bette, noch die Alte mit dem Schreibeapparat im Brustkasten, noch die Portière an der Thüre verhinderten im mindesten, daß gerade in diesen Räumen an kalten Novemberabenden, wenn der Sturmwind heulte und Regen und Schnee an’s Fenster prasselte, die heiße Punschbowle dampfte und das lustige Lied, das Jugend, Liebe und Schönheit preist, von der Studentenlippe frisch in die Nacht hinaustönte. Und dieser Jüngling wurde ein tüchtiger Gelehrter in seinem Fache, und selbst das Leben genießend verhalf er Andern, mit gesundem Körper es zu genießen.




Die Leopardenjagd. Es gibt zwei verschiedene Arten von Leoparden auf Ceylon, den „Chetah“ und den „Leoparden“ oder „Panther.“ Der erstere ist kleiner und hat runde schwarze Flecke. Er wird selten länger als sieben Fuß von der Schnauze bis zum Ende des Schweifes, und wiegt selten mehr als 90 Pfund. Der Leopard wird dagegen 9–10 Fuß lang und hat schwarze Ringe; Schnauze und Läufe sind mit schwarzen Flecken gesprenkelt und sein Gewicht beträgt 120–170 Pfund.

Die Kraft des Leoparden ist außerordentlich. Ich sah während meines Aufenthaltes in Ceylon einen solchen den Nacken eines ausgewachsenen Stiers auf einen Schlag brechen. Das Volk glaubt gewöhnlich, er bewerkstellige dies durch seinen Tatzenschlag, es geschieht jedoch durch sein Gewicht und die Raschheit des Sprunges. Wenige Leoparden greifen kühn an, wie Hunde, die meisten schleichen sich sacht und unbemerkt an ihre Beute heran und entfalten ihre Muskelkraft in der concentrirten Kraft des Sprunges. Wie ein Pfeil schießen sie durch die Luft und brechen das Rückgrat ihres Opfers, indem sie sich auf dasselbe werfen und sich mit den Zähnen und Klauen an dessen Nacken klammern. Allerdings ist auch der Schlag ihrer Tatze von großer Kraft, und ein solcher genügt, den Bauch eines Stiers wie mit einem Messer aufzuschlitzen; noch gefahrvoller ist aber die Folge einer solchen Wunde, weil die Klaue ein besonderes Gift enthält, das sich aus dem steten Wühlen in faulem Fleisch erzeugt. Es ist nämlich eine bloße Fabel, daß der Leopard kein verwestes, sondern nur frisches Fleisch frißt. Das letztere ist ihm natürlich lieber, fehlt es ihm aber, so nimmt er mit Allem vorlieb, was er findet, und ich habe selbst erlebt, daß die Leiche eines Knaben von Leoparden aufgewühlt und verschlungen wurde. Sehr gern stehlen diese Raubthiere Hunde und springen auf diese selbst bei Tage, wenn sie ihre Herrn begleiten. Am häufigsten fängt man die Leoparden in Fallen, welche die Eingebornen jede Nacht aufstellen, um sich vor den Ueberfällen derselben zu schützen.

Vor einigen Jahren gelang es einmal einem Leoparden, in den Stall eines Hufschmieds zu dringen, in dem sich eine Kuh mit ihrem Kalbe befand. Die Thüren waren fest verschlossen; das hungrige Raubthier bahnte sich jedoch einen Weg durch das Dach und sprang hinab. Die Kuh war aber auf ihrer Hut und sobald sie ihren Feind unten sah, spießte sie ihn mit den Hörnern an die Wand. Es entstand ein furchtbarer Kampf, der den in einem Winkel des Stalles schlafenden Knecht aufweckte. Sobald er inne wurde, was vorging, rannte er hinaus zu dem Grobschmied. Dieser lud die einzige Pistole, welche er besaß, und begab sich nach dem Stall, wo die Kuh und der Leopard um die Wette brüllten und stampften. Der Grobschmied war kein Jäger und harrte ängstlich an der Thür, in der einen Hand eine Laterne, in der andern die Pistole. Die Kuh warf ab und zu eine dunkle Masse über ihren Kopf, stampfte darauf, wenn sie niederfiel, und bohrte sie an die Wand, wenn sie hülflos nach einem Winkel des Stalles schlich. Als der Grobschmied sah, wie sehr der Leopard durch die tapfere kleine Kuh zugerichtet war, wagte er sich vor und schoß nach ihm mit der Pistole, ergriff aber gleich darauf spornstreichs die Flucht, denn die Kuh war so verwildert, daß sie auch ihn anzugreifen drohte und ihm nachrannte. Endlich ließ sie sich indessen beruhigen, und den Qualen des Leoparden wurde ein Ende gemacht.

Als ich eines Tages mit meinen Hunden ein Elenn verfolgte, fand ich zu meiner Verwunderung an einer offenen Stelle meinen alten „Blaubart“ ganz allein, schwach und mit Blut überströmt sitzen. Er hatte fünf Wunden an seiner Kehle, die von der Tatze eines Leoparden herrührten. Aus der mühevollen Weise, mit welcher der Hund athmete, sah ich alsbald, daß seine Luftröhre verletzt war. Ich wusch seine Wunden, wußte aber wohl, daß sein Ende nahe sei. Ich durchsuchte darauf das Gebüsch einige Minuten lang, sammelte die zerstreute Meute und führte den verwundeten Hund, der immer schwerer athmete, nach meinem Zelt. Dort that ich alles Mögliche, was zur Linderung der Schmerzen des armen Thieres möglich war, aber es war wenig Hoffnung für ihn vorhanden.

Nachmittags kamen zwei Treiber, welche etwas auf zwei Stangen trugen. Ich dachte zuerst, es sei der Kopf des Elenns, das die Hunde verfolgt hatten, erfuhr aber alsbald, daß es Leopold, einer meiner besten Hunde war, den sie trugen. Auch er war von einem Leoparden angegriffen worden, und zwar in Gegenwart eines meiner Jagdgefährten. Der brave Hund hatte sich trotz seiner Wunden auf den Leoparden gestürzt und ihn in die Flucht gejagt. Am nächsten Tage verendete mein armer Leopold und nicht lange darauf auch Blaubart. Wenige Wochen darauf nahm ich jedoch Rache für sie.

Beim Verfolgen eines Elephanten erblickte ich plötzlich neunzig Schritt von mir einen prachtvollen Leoparden, der, auf Beute lauernd, mir gerade die Stirn zuwandte. Ich schlich ihm bis auf sechzig Schritt nahe. Rasch blickte er um sich, aber in demselben Augenblick, als er seine großen Augen auf uns richtete, krachte auch meine und meines Gefährten Büchse und er lag hingestreckt auf dem Rücken. Die Schüsse hatten Kopf und Blatt getroffen, er war aber noch nicht völlig todt, und ich erwürgte ihn darauf mit meinem Halstuch, um sein schönes Fell nicht weiter zu verletzen. Das war ein herrliches Racheopfer für meine Hunde.

Als mein Freund einmal einen Leoparden mit seinen Hunden verfolgte, flüchtete[WS 2] dieser auf einen Baumast. Zufällig lagen aber eine Menge Steine in der Nähe, und sämmtliche Jäger begannen darauf den Leoparden zu bombardiren. Nachdem ihn ein scharfer Wurf an den Kopf getroffen, sprang er hinab mitten in die Meute, die unten auf ihn lauerte und ihn alsbald so fest packte, daß dem Leoparden mit dem Hirschfänger der Genickfang gegeben werden konnte. Das war das einzige Beispiel dieser Art, welches sich während meiner achtjährigen Anwesenheit auf Ceylon ereignete.


An unsere Leser!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal unserer Zeitschrift und beginnt mit Nr. 27. das dritte Quartal. Wir bitten, die Bestellungen auf dieses dritte Quartal sofort nach Empfang dieser Nummer bei den betreffenden Buchhandlungen und Postämtern aufzugeben, damit die regelmäßige Zusendung nicht unterbrochen wird.

Die Gartenlaube – welche jetzt in einer Auflage von 60,000 Exemplaren gedruckt wird – erscheint trotz der erhöhten Papierpreise ganz in derselben Weise fort wie bisher, nur dürfen wir – bei den mit jedem Monat wachsenden Kräften – unsern Lesern eine noch glänzendere illustrative Ausstattung und durchgängig gediegene Textbeiträge versprechen. Daß wir nie mehr versprechen, als wir halten können, glauben wir bewiesen zu haben, und die einzig dastehende Höhe der Auflage unseres Organs spricht dafür, daß unsere Bestrebungen, Unterhaltung und Belehrung in gleich ansprechender Weise zu verschmelzen, vom Publicum anerkannt werden.

Für den unterhaltenden und schildernden Theil unseres Blattes liegen bereits vortreffliche Beiträge unserer permanenten Mitarbeiter Temme (Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder), Ludwig Storch, Max Ring, Heinr. Beta in London vor; Professor Bock – so vielen unserer Leser der treue Rather und Helfer in Gesundheitssachen –, Professor Richter in Dresden, Dr. Hirzel in Leipzig, Professor Roßmäßler und viele andere Männer der Wissenschaft werden auch fernerhin durch ihre belehrenden und instructiven Artikel die interessantesten und wichtigsten Fragen der Naturwissenschaft dem allgemeinen Verständniß zu vermitteln und so der Zeitschrift den gediegenen Werth zu erhalten wissen, der sie für alle Zeiten neu und lesbar macht. Für die bis jetzt in unserm Organ noch wenig berührten Zustände Frankreichs, und namentlich der Hauptstadt Paris haben wir in den neuesten Tagen in den bekannten Schriftstellern Szarvady und Ludw. Kalisch geistreiche und unterrichtete Mitarbeiter gewonnen.

Schließlich haben wir noch zu erwähnen, daß in einer der nächsten Nummern eine bildliche Darstellung der
Unglückskatastrophe im Hauensteiner Tunnel

durch fünf schönausgeführte 12 Zoll hohe und 8 Zoll breite Abbildungen, an Ort und Stelle vom Historienmaler Jenny in Solothurn mit portraitähnlicher Treue aufgenommen, zum Abdruck kommen wird. Herr Jenny war bei Auffindung, Wiederbelebungsversuchen, Secirung und Begräbniß der Unglücklichen selbst gegenwärtig und ist also mehr als jeder Andere im Stande, ein durchaus getreues Bild dieses furchtbaren Unglückes zu liefern. Die Schilderung – nach officiellen Berichten des Gerichts in Oelsen und eigener Anschauung – ist einer gewandten Feder in Solothurn anvertraut – Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen auf unsere Zeitschrift an.

Leipzig, Ende Juni 1857.
Redaction und Verlagshandlung.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Erkärung
  2. Vorlage: flüchtetete