Die Gartenlaube (1856)/Heft 28
(Fortsetzung.)
Die Bestürzung, die sich Elise’s über diese Unhöflichkeit ihres Mannes bemächtigte, wich nach einigen Augenblicken einer gerechten Entrüstung. Sie trat zu dem Fenster. Als sie gesehen, daß Wilhelmine den Wagen bestiegen hatte, legte sie Hut und Mantel wieder ab. Elise erschien jetzt in einem einfachen Kleide von grauer Seide, das ihre jugendlichen, reizenden Körperformen im hellsten Lichte zeigte. Mit bedauernden Blicken betrachtete sie ihren Mann, der, die rechte Hand in die Brustöffnung der Weste gesteckt, auf und abging. Die Blässe seines Gesichts ward durch den schwarzen Bart, der es gleichsam einrahmte, gehoben; seine Augen glüheten in einem düstern Feuer. Es ließ sich nicht verkennen, daß ihn etwas Ungewöhnliches aufgeregt hatte, denn heute überschritt der gebildete Mann zum ersten Male die Grenzen des Anstandes.
„Bernhard,“ begann die junge Frau mit bewegter Stimme, „Du hast Wilhelminen die Thür gezeigt. Ich habe seit einiger Zeit schon Deine Abneigung gegen sie bemerkt; aber ich war weit entfernt zu glauben, daß Du sie ihr auf diese Weise zu erkennen geben würdest, eine Weise, die mich nicht minder kränken muß, als meine Freundin.“
„Dich kränken?“ fragte Bernhard bitter, indem er stehen blieb und seine Frau mit durchbohrenden Blicken ansah. „Das ist wunderbar! Eine Frau fühlt sich gekränkt, wenn der Mann ihre Ehre und seine eigene zu wahren sucht!“
„Was ist das? Was ist das?“ fuhr Elise auf.
„Es sind die Worte Deines Mannes, der ein Recht hat, Dich an Deine Pflicht zu mahnen; der ein Recht hat, so zu handeln, wenn Du gewissenlos genug bist, jede Rücksicht zu vergessen, die Dir Sitte und Anstand auferlegen. Welch’ ein Glück, daß ich zeitig mein Haus betrat! Wie würde man lächeln und die Achseln zucken, wenn man sich diesen Abend in das Ohr flüsterte: Madame Rudolphi hat sich heute mit Frau von Beck in der Gemäldegalerie gezeigt. Elise, ich verbiete Dir jeden Umgang mit Frau von Beck.“
Die junge Frau zuckte zusammen; das Wort „verbieten“ beleidigte ihren Stolz. Aber noch verlor sie die ruhige Würde nicht, die sie seit dem Beginne der Scene beobachtet hatte.
„Du bist mein Mann,“ sagte sie mit bewegter Stimme; „aber ich bin auch Deine Frau, und als solche habe ich meine Rechte. Von diesen Rechten nehme ich vorzüglich das in Anspruch, daß Du mich achtest. Es ist eine Erniedrigung für jede Frau, wenn der Mann sie mit unbegründeter Eifersucht verfolgt. Lächele nur, Bernhard, Dein Benehmen gegen mich wird ausschließlich von der Eifersucht geleitet – ich scheue mich nicht, es heute auszusprechen, da Du mich auch der letzten Freundin beraubt hast, die mir seit einem Jahre geblieben ist. Ich habe bisher geschwiegen, weil ich in Wilhelminens Umgange Alles fand, was ich wünschte, und weil ich Dir durch mein eingezogenes Leben beweisen wollte, daß Du einen unwürdigen Verdacht gegen Deine Frau hegst. Aber Alles hat seine Grenzen, und so auch meine Geduld.“
„Auch Deine Geduld?“ rief Bernhard höhnend.
„Ja, denn ich habe es ertragen, daß man mich belächelte und bemitleidete – vielleicht auch, daß man mich für schuldig erachtet hat, indem ich mich Deinen seltsamen Anordnungen fügte. Jetzt vermag ich es nicht mehr,“ rief sie mit imponirender Hoheit; „und willst Du, daß ich nicht zu eklatanten Schritten meine Zuflucht nehme, so gieb mir die Freiheit des Handelns, zu der mich meine Stellung und mein Betragen berechtigen. Wilhelmine ist schwer beleidigt; ich eile ihr nach, um ihr zu sagen – –“
„Du wirst bleiben, Elise; wenn Du mich gehört hast, überlasse ich Deinem Urtheile, ob mein Benehmen von der Eifersucht oder von der Ehre dictirt ist.“
Bernhard führte seine Frau zu dem Sopha, und ließ sich dann neben ihr nieder.
„Herr von Beck,“ begann er, „ist mir von jeher eine räthselhafte Person gewesen; ich glaube es mehr als einmal gegen Dich ausgesprochen zu haben. Dein freundschaftliches Verhältniß zu Wilhelminen bestimmte mich, im Stillen Erkundigungen über ihn einzuziehen, und diesen Morgen ist es mir gelungen, Näheres zu erfahren.“
„Was hast Du erfahren?“ fragte Elise, deren Neugierde erwachte.
„Daß Herr Emil von Beck ein Glücksritter, ein Spieler von Profession, ein Roué ist, der von seinen Verbindungen mit reichen Leuten lebt. Die bleiche, interessante Wilhelmine, die überall Sympathien erweckt, ist seine getreue Helferin; sie unterhält zarte Freundschaftsverbindungen mit den Frauen, und vielleicht auch mit den Männern, die kurzsichtig genug sind, in die ihnen gelegte Schlinge zu gehen.“
„Bernhard, Bernhard,“ rief die junge Frau entsetzt, „kannst Du so abscheuliche Dinge glauben?“
„Ich zweifle nicht einen Augenblick daran!“
„Aber ich, ich, die Freundin Wilhelminens! Der Verbreiter [366] dieser Gerüchte ist ein ehrloser Verleumder, ein Elender, der verdient, daß man ihn zur Rechenschaft zieht.“
„O, diese glühende Vertheidigung!“ rief Bernhard bitter. „Mir scheint, der schmachtende Herr von Beck hat ein günstiges Terrain für seine Manipulationen gefunden.“
Elise erhob sich.
„Bernhard,“ sagte sie mit bebenden Lippen, „diese letzte Kränkung kann ich Dir nicht verzeihen, denn sie greift das einzige Gut an, das ich Dir mitgebracht habe. Ich war arm, als Du mich kennen und lieben lerntest, und darum hielt ich Deine Liebe für wahr und aufrichtig. Du botest mir Deine Hand an – ich zögerte nicht, sie zu empfangen, weil ich Dich liebte und weil ich meine Ehre eben so hoch anschlug, als Dein Vermögen. Die Gattin eines reichen, geachteten Mannes zu werden, hielt ich mich für würdig, und daß ich fähig sei, Dein Glück vollständig zu machen, hast Du mir mehr als tausendmal gesagt –“
„O gewiß, Elise,“ unterbrach sie der junge Mann, „von Dir hängt mein ganzes Glück, aber auch mein Unglück ab. Du bist mein Stolz, und ich sehe mich gern von Andern beneidet; aber sobald ich aufhören muß, stolz auf Dich zu sein, sobald man mich mitleidig belächelt, bin ich unglücklich. Und dieser Zeitpunkt, Elise, droht jetzt einzutreten, wenn er nicht schon eingetreten ist. Mein Gott, was fordere ich denn von Dir? Fällt es Dir denn so schwer, der Ruhe Deines Mannes, der Dich anbetet, ein Opfer zu bringen? Steht Dir Frau von Beck höher, als Dein Mann? Findest Du keine Befriedigung mehr in seiner Liebe? Was hast Du mir auf alle diese Fragen zu antworten?“
Die junge Frau ergriff liebreich die Hand ihres Mannes.
„Bernhard,“ sagte sie in einem milden Tone, „als Antwort richte ich eine Frage an Dich: was würdest Du sagen, wenn ich von Dir forderte, daß Du Deinen Umgang mit den Männern einstellen solltest, die im Besitze schöner Frauen sind? Wenn ich Dir z. B. jetzt sagte: meine Ehre erfordert es, daß Du Herrn W. nicht mehr empfängst, der mit einer schönen, aber koketten Frau verheirathet ist? Läge in dieser Forderung nicht ein Mißtrauen, das Dich verletzen muß? Ich achte Dich zu hoch, mein lieber Freund, um auch nur den Gedanken zu fassen, daß Du mich je hintergehen könntest. Und diese Achtung fordere ich auch von Dir. Es giebt keine wahre und beglückende Liebe, die sich nicht auf Achtung und gegenseitiges Vertrauen gründet. Wilhelmine liebt ihren Gatten eben so zärtlich, als ich Dich liebe, und er betet sie an, wie eine Heilige, die sich herabläßt, ihn glücklich zu machen – was für eine traurige Figur würde ich spielen, wollte ich zwischen diese Liebe treten! Bernhard, lerne besser von mir denken und erniedrige mich nicht durch ein verletzendes Mißtrauen.“
Bernhard fühlte sich fast besiegt durch diese, mit einer unbeschreiblichen Innigkeit gesprochenen Worte; aber das Mißtrauen hatte einmal Wurzel gefaßt, und er konnte es nicht verbannen. Ihm schien selbst, als ob Elise alle ihre Reize zu Hülfe nahm, um seinen Verdacht einzuschläfern.
„Den Mittheilungen gegenüber, die man mir über Herrn von Beck gemacht hat, kann ich Deine Gründe nicht gelten lassen!“ murmelte er, die Blicke von der reizenden Frau abwendend. „Ein Mann in meiner Stellung muß auch der öffentlichen Meinung Rechnung tragen. Elise, zeige durch Deine Willfährigkeit, daß man Dich unschuldig verleumdet hat!“
„Verleumdet!“ flüsterte sie, bestürzt über die kalte Ruhe ihres Mannes. „Wohlan, ich werde es beweisen,“ fügte sie würdevoll hinzu; „aber nur durch Mittel, die nach meiner Ansicht dazu geeignet sind!“
Sie verließ den Saal, ohne ihren Mann zu grüßen.
Bernhard sah einige Augenblicke unverwandt auf die Thür, durch die sie verschwunden war. Einen solchen Widerstand hatte er nicht erwartet. Seine Pulse klopften fieberhaft, seine Augen glüheten, seine Lippen zitterten.
„So wäre denn der Kampf eröffnet!“ murmelte er. „Meine Frau ist eine Schönheit, aber eine stolze, herzlose, kokette Schönheit, die vernichtet, statt zu entzücken. Sie kennt die Macht ihrer Reize, sie weiß, wie sie mich gefesselt hält; aber auch ich setze ihr Stolz entgegen, und werde die Fesseln zu brechen suchen. Wer mir das vor drei Jahren gesagt hätte, selbst vor einem Jahre noch, als diese Syrene weinend an meinem Krankenbette saß! Die Frauen lügen alle, alle; ihre Empfindungen sind erheuchelt, und ihre Thränen, ihr Lächeln, ihr Schmerz und ihre Freude Maske! Die Lüge ist das Fundament ihrer Sprache, und die Wahrheit bildet nur eine Ausnahme. Die Tugend üben sie nur aus Laune oder Berechnung. Und einer solchen Syrene habe ich meine Ehre anvertraut! Ah, wir werden ja sehen, wer Sieger bleibt!“
Zitternd verließ er den Saal. Kaum hatte er sein Zimmer betreten, als man ihm Herrn von Beck anmeldete. Ueberrascht sah er den Diener an.
„Herr von Beck?“ fragte er.
„Herr von Beck!“ wiederholte der Diener.
„Man weise ihn ab!“
Der Diener wollte sich entfernen.
„Josef!“ rief der Herr.
Josef kam gehorsam zurück.
„Unter welchem Vorwande willst Du den Besuch abweisen?“ fragte Bernhard.
„Ich werde angeben, daß Sie nicht zu Hause seien.“
„Nein, nein!“
„Oder daß Sie unpäßlich sind –“
Bernhard ging unschlüssig im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen und sagte:
„Laß Herrn von Beck eintreten!“
Josef entfernte sich.
„Es ist besser, daß ich ihn empfange,“ flüsterte Bernhard vor sich hin. „Ohne Zweifel hat ihm seine Frau meine Aeußerungen mitgetheilt – es wäre feig, wollte ich mich verleugnen lassen. Wollen sehen, wie der gute Mann sich benimmt. Was hält mich ab, ihm die Wahrheit in das Gesicht zu sagen? Doch nein, ich muß vorsichtig sein, da mir noch Beweise fehlen. Ein solcher Roué verwickelt mich in einen Criminalproceß, und die Processe sind mir in tiefster Seele verhaßt.“
In diesem Augenblicke öffnete Josef die Thür, und ein junger, höchst elegant gekleideter Mann trat ein.
„Störe ich?“ fragte er lächelnd, indem er dem Herrn vom Hause die Hand reichte.
Bernhard war überrascht, ein so ruhiges, freundliches Gesicht zu sehen. Statt zu antworten, gab er dem Diener Befehl, sich zu entfernen.
Der Herr von Beck, der Zankapfel der beiden Gatten, war ein junger Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren. Seine Manieren waren gewandt und aristokratisch wie sein Aeußeres. Bleicher Teint, blaue Augen, dunkeles Haar und ein schwarzer Schnurrbart machten seinen Kopf modern, interessant. Seine Toilette war untadelhaft, reich und nach dem neuesten Geschmacke. Bernhard erfaßte alle diese Eigenschaften, die den Besitzer bei den Frauen gefährlich machten, mit dem scharfen Blicke der Eifersucht. Und dieser Mann war Wilhelminens Gatte, von dem man sich Mancherlei in’s Ohr flüsterte.
„Was giebt mir die Ehre Ihres Besuchs?“ fragte Bernhard.
Der junge Elegant war erstaunt über den kalten, höflichen Ton, er schien ihn selbst in Verlegenheit zu setzen. Doch nur wie ein Blitz zuckte dieser Ausdruck über sein Gesicht, das im nächsten Momente zwar die Freundlichkeit verloren, aber dafür einen ruhigen Ernst gewonnen hatte.
„Mein Besuch, mein Herr, hat einen seltsamen, aber dabei sehr wichtigen Grund. Die Absicht, eine delikate Angelegenheit delikat zu behandeln, gebe ich jetzt auf, da Ihr Empfang nicht der Stimmung entspricht, in der ich Sie anzutreffen voraussetzte. Ich wende mich jetzt an den Mann von Stande, von Charakter, von – Ehre!“
„Er weiß bereits Alles; ich werde bei dem Manne fortfahren, wie ich bei der Frau begonnen habe!“ dachte Bernhard. „Sie sehen mich bereit,“ antwortete er laut, „Ihnen als Mann von Charakter und von Ehre – dieses Wort betonte er – entgegenzutreten.“
Beide Männer setzten sich.
„Mein Herr,“ begann der Gast, „wir lernten uns vor einem Jahre in Karlsbad kennen. Für uns Männer blieb diese Bekanntschaft eine jener flüchtigen Anknüpfungen, wie man sie häufig in den Bädern macht.“
[367] „Nichts mehr!“ antwortete Bernhard, indem er sich höflich verbeugte.
„Anfangs bedauerte ich diesen Umstand,“ fuhr Herr von Beck ruhig fort. „Und jetzt?“
„Jetzt segne ich ihn, denn er hilft mir die wichtigste Angelegenheit meines Lebens mit Ihnen ordnen.“
„Mit mir? Ich wüßte nicht, in welcher Beziehung ich zu der wichtigsten Angelegenheit Ihres Lebens stehen könnte, ich, der ich mich nie um Ihre Verhältnisse gekümmert habe.“ Ich muß auf meiner Huth sein, dachte Bernhard, während Herr von Beck ruhig lächelnd vor sich hinsah; [368] Als der Herr von Beck seine Wohnung betrat, eilte er in das Zimmer seiner Gattin. Es war leer.
„Wo ist meine Frau?“ fragte er das Kammermädchen.
„Die gnädige Frau läßt Ihnen sagen, daß sie einige kleine Einkäufe macht und in einer Stunde zurückgekehrt sein wird.“
„Jetzt? Jetzt?“ fragte der junge Mann überrascht.
„So eben ist ein Brief für den gnädigen Herrn angekommen.“
„Gieb!“
Hastig erbrach er das Couvert, das das Postzeichen „Karlsbad“ trug. Der Brief war von dem Arzte, der Wilhelminen dort behandelt hatte. Der zärtliche Ehemann sandte jeden Monat einen Brief über den Zustand seiner Frau ein. Jetzt empfing er die Antwort auf den letzten Brief. In fieberhafter Angst verschlang er die Zeilen. Dann sank er wie vernichtet auf einen Sessel.
„Großer Gott,“ flüsterte er, „das habe ich mir gedacht! Meine arme, arme Wilhelmine leidet an einem unheilbaren Uebel! Nur die zärtlichste Sorge kann sie mir noch einige Jahre erhalten! Sie darf es nicht wissen, und darum werde ich auch keinen hiesigen Arzt annehmen – sie darf nicht einmal ahnen, daß sie krank sei, denn das Bewußtsein der Krankheit vermehrt ihr Leiden. Während des Winters sollen die Vorschriften des Doctor G. befolgt werden, der den Zustand meiner armen Frau kennt, und mit dem Beginne des Frühlings gehen wir wieder in das Bad. Durch die Veränderung des Aufenthaltsortes lösen sich alle Verhältnisse, die mir lästig sind. Rudolphi ist ein Mann von Ehre, auf den ich mich verlassen kann, er wird mich in meinem Bemühen unterstützen. O, wäre doch der Winter erst vorüber!“
Sinnend verblieb er auf seinem Platze. Der Eintritt Wilhelminens schreckte ihn empor. In demselben Augenblicke sah er das Couvert auf dem Tische liegen. Bestürzt bemächtigte er sich des Papiers und verbarg es in seiner Tasche. Dabei entfiel dem armen Manne der eigentliche Brief, den er bisher, ohne daß er es wußte, in der Hand gehalten hatte. Er würde vielleicht den Irrthum gewahrt haben, wenn ihn das heute besonders bleiche Aussehen und die trüben Augen der jungen Frau nicht mit dem tiefsten Schmerze erfüllt und seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätten. Das Bemühen, seinen Seelenzustand geheim zu halten, vermehrte das Schwierige seiner Lage. Er eilte der Gattin entgegen, küßte sie, und schloß sie innig an seine Brust.
Wilhelmine hatte die Folgen der Zerstreuung ihres Mannes bemerkt. Das Papier hinter dem Stuhle war ihr nicht entgangen. Das hastige Verbergen des Couverts hatte zwar nicht ihren Argwohn erweckt, denn ihre aufrichtige Liebe ließ keinen Verdacht aufkeimen; wohl aber ihre Neugierde, und die Neugierde flüsterte: warum hat Dein Mann ein Geheimniß vor Dir? Es wird sich bald zeigen, warum ihr an der Beantwortung dieser Frage doppelt gelegen sein mußte. Sie beschloß, sich des Papieres zu bemächtigen.
„Verzeihung, Cäsar, daß ich auf mich warten ließ!“ sagte sie bittend, indem sie ihm ihre kleine Hand reichte.
„Du weißt, mein Kind, daß ich nicht in Sorgen bin, wenn ich den Grund Deiner Entfernung kenne.“
Cäsar nahm seiner Frau zuvorkommend den Mantel ab. Dann band er ihr die Schleife des Hutes auf, und legte ihn auf die Toilette. Jetzt zeigte sich Wilhelminens zarte, edle Gestalt. Ihr elastischer Körper war zwar schmächtig, aber man konnte ihn nicht mager nennen. Und dabei standen die einzelnen Theile in dem reinsten Einklange. Hände und Füße waren klein wie die eines Kindes. Das hellblonde, starke Haar bildete über der schönen, weißen Stirn einen glänzenden Wellenscheitel. Das mattweiße ovale Gesicht war madonnenartig; es verrieth eine wunderbare Milde und Sanftmuth. Das große blaue Auge drückte eine leichte Melancholie aus. Wie ihre ganze Erscheinung, war auch jede ihrer Bewegungen aristokratisch. Die junge Frau mochte vielleicht zweiundzwanzig Jahre zählen. Sie war völlig dazu geschaffen, die schwärmerische Liebe eines von Natur sentimentalen Mannes zu erregen.
„Es ist hier kalt,“ sagte sie, indem sie sich an Cäsar’s Arm hing; „führe mich in Dein Zimmer, das geheizt ist, weil wir dort essen wollen.“
Der zärtlich besorgte Gatte kam der Aufforderung nach.
Man verließ das Zimmer; der Brief war gesichert. Nach Tische fand Wilhelmine Gelegenheit, einen Augenblick in ihr Zimmer zurückzukehren. Sie ergriff das Papier und las folgende Zeilen:„Nach Ihrem letzten Berichte unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß sich in Ihrer Gattin eine Krankheit ausgebildet hat, die um so Besorgniß erregender ist, da die Wissenschaft kein wirksames Mittel dagegen kennt. Ein regelmäßiges, ruhiges Leben, Heiterkeit des Gemüths und Verminderung aller Aufregungen machen das Fortschreiten des Uebels langsam, und wenn nicht ein unerwarteter Zufall hinzutritt, läßt sich das Leben Ihrer Gattin auf Jahre fristen. Ich empfehle Ihnen die größte Aufmerksamkeit und erinnere Sie wiederholt an die Diätregeln, die ich Ihnen bereits früher aufgestellt habe. Tragen Sie Sorge, daß die Kranke nie ihren Zustand erfahre. Von einer Badekur im nächsten Jahre läßt sich eine gute Wirkung hoffen. Unterlassen Sie nicht, Ihrer Gattin alle Freuden und Zerstreuungen zu bieten, die den von mir ausgestellten Regeln nicht entgegen sind.
Karlsbad. | Doctor G. |
„Das ist seltsam!“ flüsterte Wilhelmine bestürzt. „Ich fühle mich wohl, und hier spricht man von einer gefährlichen Krankheit. Nun erkläre ich mir so Manches, das mir in dem Betragen Cäsar’s bisher dunkel geblieben. Er leidet meinetwegen, er leidet ohne Ursache! Was berechtigt ihn und den Arzt dazu, mich für krank zu halten? Ich habe nie geklagt, habe nie einer ärztlichen Behandlung bedurft. O mein armer Cäsar, in diesem Wahne darf ich Dich nicht länger lassen!“
Sie wollte sogleich eine Verständigung herbeiführen, wollte ihm den glücklichen Zufall mittheilen, der ihr das unglückselige Geheimniß entdeckt hatte; aber die zärtliche Sorgfalt für den geliebten Mann hielt sie wieder davon ab.
„Nein,“ dachte sie, „ich muß einen andern Weg wählen. Wenn er weiß, daß ich meinen vermeintlichen Zustand kenne, wird er sich mit neuen Sorgen plagen. Ich muß ihn auf eine andere Weise von dieser Sorgenlast befreien, damit er nicht wähnt, ich stelle mich stärker als ich bin, um ihn zu beruhigen. Cäsar darf nur dann erst erfahren, daß ich diesen Brief gelesen, wenn ich ihn von seinem Irrthume zurückgebracht habe.“
Sie verbarg den Brief in der Tasche ihres Kleides, und ging zu Cäsar zurück, der sinnend auf dem Sopha saß.
Wir dampften von Leipzig nach dem Süden. Im dunkeln schwermüthigen Voigtlande sahen wir zur Linken südöstlich die Berge des Erzgebirges, zur Rechten nordwestlich die des Frankenwaldes (östlichen Theil des Thüringerwaldes) und vor uns südlich die Häupter des Fichtelgebirges. An manchen Stellen konnte man die Höhenzüge wahrnehmen, durch welche diese drei Gebirge verbunden sind. Beim Anblick des Fichtelgebirges wurde mir romantisch zu Sinne; die poetische Ader in meinem Herzen pulsirte. Im Schooße jenes kleinen deutschen Gebirges wurde ja jener wunderbare Hohepriester des ächt deutschen Herzenskultus geboren, der gleich einem morgenländischen Magus mit dem Zauberstabe der Poesie, dem Taktirstocke der süßesten zartesten Musik, die uns berauscht und im Rausche uns zwingt vor wollüstigem Seelenschmerz zugleich zu weinen und zu lachen, mit jenem Stabe, der Odin’s Zauberstab und Thor’s Hammer zugleich ist, alle gefühlvollen deutschen Herzen zwingt ihm zu folgen und mit ihm zu lachen, mit ihm zu weinen, mit ihm zu lieben. Deutschland, Europa, die Welt, die Neuzeit und das Alterthum haben keinen zweiten Dichter von dieser Seelentiefe und Eigenthümlichkeit wie Johann Paul Friedrich Richter aus Wunsiedel im Fichtelgebirge.
[369]Schade daß dieser außerordentlich, ja einzig begabte Mann so viel Orientalisches im Geiste hatte, so daß er mich immer an altpersische Dichter wie Hafis und Firdusi erinnert! Er, dessen seelisches Leben gleichsam der Grundtypus des deutschen Gemüths ist, konnte nicht die ächt deutsche, dem deutschen Volksgeiste allein angemessene Form finden, und das allein ist der Grund, weshalb er nicht in allen Herzen seines Volkes lebt, nicht Aller deutscher Seelen kostbarstes Eigenthum ist, dessen keiner würdiger ist als er, ja daß sogar viele sogenannte Gebildete vor seinen poetischen Schöpfungen zurückschrecken und der erhabenste und tiefste deutsche Dichter ihnen stets fremd bleibt.
Sie wissen, lieber Freund, daß unser gemeinschaftlicher Freund Theobald, mein treuer und theurer Reisegefährte, so ganz und gar ein Mann der Gegenwart und der Zukunft ist, daß er vor lauter heißem und heiligem Interesse an Kunst und Industrie, Handel und Gewerbe, an den praktischen das Volkswohl fördernden Naturwissenschaften [370] und an Allem was die Welt von heute bewegt, drängt, stößt und weiter schiebt, wenig an die Vergangenheit und an gestorbne Dichter denken kann. Er läßt das Alles gelten, sieht es auch gern, wenn Andre sich damit beschäftigen; er selbst hört aber höchstens eine halbe Stunde nach Tische zu, wenn man ihm mit solchen Dingen kommt, und auch dann mag er stets lieber von lebenden Dichtern hören, als von todten. Er ist eben ein Lebemann. Ich schwieg deshalb in Hof, wo wir uns aufhielten, von meinem Dichter und hörte Theobald’s Bericht von Hofs modern-industrieller Wichtigkeit mit größerm Interesse an, als er gethan haben würde, wenn ich ihm von Richter’s (ich nenne den großen deutschen Dichter lieber mit seinem deutschen Namen, als mit dem französirenden „Jean Paul“, den er noch dazu dem guten Jean Jacques nachgeahmt hat) in Hof verlebten Jugendjahren erzählt hätte. Und doch kam mir die komische ächt deutsche Geschichte nicht aus dem Kopfe, wie der junge Dichter als etwas anrüchiger Candidat Richter von der ganzen hofer Welt wie ein Paria, oder besser, wie ein Schinderknecht behandelt wird, weil er – keinen Zopf und keine Halsbinde trägt, und sich endlich genöthigt sieht, um nur zu menschlicher Gesellschaft zugelassen zu werden, wonach sein Herz so gewaltig dürstete, einen steifen Zopf an- und eine Halsbinde umzubinden, welchen heroischen Entschluß er in einem allerliebsten Bulletin bekannt machte. Auf der Weiterfahrt nach Bayreuth warf ich meine Augen noch oft in der Gegend umher, bald links nach den Fichtelbergen, aus welchen die dunkle Saale herausströmt, bald rechts an der Saale hinab; denn diese Gegend ist ein durch Richter heilig gewordenes Land. In Schwarzenbach an der Saale und in dem Dorfe Jodiz verlebte er seine arme Jugend, die er mit den brennendsten Farben der Poesie ausgeschmückt, und diese und die andern kleinen Orte, in welchen er als Kind, Jüngling und junger Mann lebte und verkehrte, wie Zedwiz, Töpen, das Bad Steben etc. bilden die Staffage und Lokalitäten seiner meisten Romane. Nie hat ein Dichter sich selbst, seine Freunde und Bekannte, wie seine Wohnorte inniger in seine Schöpfungen verwebt und getreuer geschildert, als er. Vor allen aber war ihm Bayreuth die heilige Sonnenstadt seiner Sehnsucht, und ich werde später zeigen, mit welchen glühenden nur ihm eigenthümlichen Tinten er die reizende Fürstenstadt mit ihren benachbarten herrlichen Lustschlössern Fantaisie und Eremitage gemalt hat. Und nach Bayreuth eilten wir, wo hinab er als Jüngling von seinen Bergen so oft gepilgert, in dessen sonniger Thalmulde er sich stets ein kleines Landgut als höchstes Lebensziel gewünscht, und in welchem er die letzten zweiundzwanzig Jahre seines Lebens gewohnt, wo er seine Laufbahn beschlossen, auf dessen Friedhof sein irdisch Theil gebettet ist, auf dessen schönstem Platze sich seine meisterhafte Erzstatue, eine Pietätsstiftung des Königs Ludwig von Bayern, erhebt, seine milden genialen Züge in die ferne Nachwelt hinüberzutragen. Haben doch Dichter schon die Stadt nach ihm „die sonnige Jean Paulsstadt“ benannt.
Als der Zug auf dem Bahnhof in Bayreuth hielt, glaubten wir in dem ganz nahen großartigen, im modernsten Style erbauten prächtigen Massivgebäude das Bahnhofsgebäude bewundern zu dürfen; Freund Edmund, der uns jubelnd empfing, belehrte uns aber, daß dieses imposante, die ganze Umgegend weithin beherrschende Haus die neue Aktien-Baumwollenspinnerei sei, von welchem tüchtigen industriellen Unternehmen mir Theobald schon unterwegs gesprochen. Dieser begrüßte denn auch das Haus mit einem wahren Freudenschrei. „Heil den deutschen Städten“, rief er begeistert, „die an ihre Bahnhöfe solche prächtige Stätten des deutschen Kunstfleißes bauen! sie werden ein Wort in der Zukunft mit zu reden haben. Ich lasse Dir gern Deine liebenswürdige Markgräfin von Bayreuth, die als Lieblingsschwester Friedrich’s des Großen auch einen großen Theil seines Geistes besessen haben mag, ich lasse Dir Deinen bewunderten und geliebten Jean Paul, den unsterblichen Stern Bayreuths; sie haben ihre Berechtigung gehabt, sie haben ihre Lebensaufgabe gelöst. Was mich betrifft, so kann ich mich nicht viel mit den Dingen einlassen, die hinter uns liegen. Dieses herrliche Haus vor mir ist ein Tempel meines Kultus.“
Wir besuchten denn auf seinen Betrieb das ausgezeichnete noch ganz junge Etablissement, welches schon so gute Früchte trägt, zuerst, und Theobald wird Ihnen ein Bild der Spinnerei und einen Bericht über ihre Entstehung, und ihre junge Wirksamkeit für die Gartenlaube schicken. – „Ich wünsche nichts mehr“, bemerkte Edmund fein zu Theobald gewandt, „als daß unsre gute Stadt Bayreuth durch noch viele solcher Unternehmungen berühmt und reich werde. Einstweilen müssen wir uns indeß an das halten, was wir wirklich haben. Und da ist denn Bayreuth wirklich eine berühmte Stadt, eine Stadt des deutschen Geistes, der deutschen Poesie, wenn auch nicht ganz wie Weimar, aber wahrlich nicht viel weniger. Denn unser Richter wog in der Wagschale des Geistes wahrlich nicht geringer als Goethe und Schiller. Was wir aber voraus haben, ist eben die holde geistreiche Markgräfin, die Schöpferin dieses neuen Bayreuth, das allen Besuchern so wohlthuend imponirt, der Fee, welche sich das wunderliebliche Zauberschloß Eremitage geschaffen, der schalkhaften, geistvollen, natürlichen und süßberedten Verfasserin der unvergleichlichen Memoiren, einer der wichtigsten Erkenntnißquellen der Geschichte und der Sitten des vorigen Jahrhunderts. Bayreuth ist durch Geist berühmt geworden; feiern wir den Geist und die Geister, die es berühmt gemacht! Insofern wir Bayreuth mit Recht eine Stadt und Statt des Geistes nennen dürfen,“ fuhr Edmund weiter fort, „wird es merkwürdiger Weise gewissermaßen von drei hier existirenden Frauenbildern und was damit in Verbindung steht, repräsentirt, das erste ist das der geistreichen Markgräfin Friederike Sophie Wilhelmine von Bayreuth, ältesten Tochter des Königs Friedrich Wilhelm I. von Preußen und Gemahlin des Markgrafen Friedrich; das zweite ist ein Geist an sich, das Bild der berühmten „weißen Frau“, des deutsch-fürstlichen, vorzüglich brandenburgischen (königl. preußischen Familiengespenstes); das dritte endlich das Portrait der witzigen und geistbegabten Freundin des großen Dichtergeistes, dessen Namen mit dem der Stadt Bayreuth auf ewig verwebt ist, der Frau Rollwenzel, der Wirthin in dem kleinen Wirthshause, eine halbe Stunde östlich von der Stadt. Jean Paul hatte in diesem Hause bekanntlich ein Zimmer, in welchem er oft zu arbeiten pflegte, und welches wir besuchen werden. Dort unterhielt er sich oft und gern mit der aufgeweckten Wirthsfrau; ihr natürliches Urtheil über Menschenwelt und Natur blieb nicht ohne Einfluß auf die Darstellungen des Dichters in seinen spätern Werken, und er selbst hat ihr den Kranz der Unsterblichkeit um die Schläfe gewunden. Da habt Ihr denn den berühmt machenden Geist Bayreuths nach drei Richtungen hin.“
„Allerliebst!“ rief ich aus. „Das ist ja eine köstliche Galanterie an die ganze Frauenwelt Bayreuths, die hoffentlich noch heute einen großen Schatz an Geist besitzt, und eine achtungswerthe Concession an das Frauenthum überhaupt.“
„Die ich mir auch gefallen lasse!“ sagte Theobald lächelnd. –
In der Vorstadt „St. Georgen-Stadt“, sonst „St. Georgenstadt am See“ genannt, eine Viertelstunde nordöstlich über Bayreuth am Brandenberg, jetzt Hohe Warte, gelegen und von 1701 bis 1708 erbaut, steht das allerliebste markgräfliche Lustschloß, das brandenburger Schloß genannt, dessen Hauptlogis massiv, dessen beide Flügel von Holz erbaut sind, beides, Schloß und Stadt, eine Schöpfung des Markgrafen Georg Wilhelm und seiner Gemahlin Sophie. Das Hauptgebäude ist jetzt Militärhospital, der südliche Flügel seit 1836 ein Waisenhaus (Leers’sche Stift). Im Saale dieses Flügels hängen vier vortreffliche lebensgroße Oelbilder, der Markgraf Friedrich von Brandenburg-Bayreuth, ohnehin letzter Fürst dieses Stammes, gest. 1763, seine beiden Gemahlinnen und seine Tochter, sein einziges Kind. Die erste Gemahlin war das älteste Kind des Königs; Friedrich Wilhelm I. von Preußen, und sie ist die berühmte Markgräfin von Bayreuth, die Lieblingsschwester Friedrich’s des Großen; die zweite Gemahlin war eine Nichte der ersten, Tochter ihrer jüngeren Schwester Charlotte und des Herzogs Karl von Braunschweig-Bevern; die Tochter endlich (von der ersten Gemahlin) war Elisabeth Friederike Sophie, die erste und unglückliche Gemahlin des bekannten Zöglings Friedrich’s des Großen, des Herzogs Karl Eugen von Würtemberg, des prachtliebenden Verschwenders, genialen Fürsten und Feindes der Dichter Schubert und Schiller. Wir haben es hier nur mit dem Bilde der ersten Gemahlin des Markgrafen Friedrich zu thun, von welchem wir eine treue und schöne Abbildung in der Gartenlaube geben. Ich habe stundenlang vor diesem herrlichen Bilde gestanden und mich in die feinen Züge, [371] die edle Kopfform, die hohe Stirn, vor Allem aber in das große, tiefe, geistvolle Auge versenkt, in welchem man auf den ersten Blick das Auge des großen Friedrich erkennt, wie denn überhaupt das holde Köpfchen unverkennbar die Züge Friedrich’s in’s jugendlich Weibliche übersetzt trägt. Ja, das ist sie, die geistreiche, witzige, köstliche Verfasserin der unvergleichlichen Memoiren, die eine der wichtigsten Quellen für die Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts sind und uns in den profanen Blicken Lebender streng verschlossene häusliche Leben berühmter Fürsten vergönnt, die mit kecker Hand und lachenden Zügen den mysteriösen heiligen Schleier vom Isisbilde der Zeit entfernt und uns die Bewohner des Olymp in menschlicher Blöße zeigt. Wer hätte diese Memoiren gelesen und die Verfasserin nicht lieb gewonnen, die mit so liebenswürdiger Grazie gegen menschliche und besonders fürstliche Schwächen zu Felde zieht, wie ihr großer Bruder gegen fürstliche Herren?
Das Oelbild der Markgräfin hat Kunstwerth und ist die Schöpfung eines Meisters; denn es ist eins von den Bildern, von welchen man auf den ersten Blick die Ueberzeugung hat, daß sie sehr ähnlich sind, selbst wenn man das Original nicht kennt. Einer Stelle in ihren Memoiren zufolge, wo sie des Ablebens ihres Schooßhündchens, eines Bolognesers, erwähnt, der sich auf dem Bilde befindet, ist die Fürstin in ihrem fünf- oder sechsundzwanzigsten Jahre gemalt und zwar in der Tracht einer Eremitin, die sie während ihres Aufenthalts auf der Eremitage fast niemals ablegte. Auf dieses Alter deuten auch die jugendlichen Züge. Dieses wie die andern drei Bilder glänzen noch in voller Farbenfrische. Der Blick von ihrem Portrait auf das ihres Gemahls giebt das Resultat der Regierungsgeschichte dieses Markgrafen. Es ist das Bild eines gutmüthigen, beschränkten Herrn, der seine geistreiche, geliebte Gattin schalten und walten läßt.
Doch fassen wir die fürstliche Schriftstellerin näher in’s Auge! –
Durch das entschiedene politische Uebergewicht, welches Frankreich seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts behauptete, geschah es, daß sich die Blicke der deutschen Fürsten von da ab bis zur Mitte des achtzehnten der Hauptstadt Frankreichs und seinem Königsthrone zuwandten, woher die Machtsprüche nicht nur in Staatsangelegenheiten, sondern auch in Sachen des Geschmacks und der Bildung erschallten. Von den zahlreichen Höfen verbreitete sich die Vorliebe für Produktionen des französischen Geistes, namentlich seitdem dieselben nicht mehr den Charakter der Regierung Ludwig’s XIV. trugen, in die tiefern Regionen und wirkte vortheilhaft und anregend auf die Geistesentwickelung der deutschen Nation. Auf diese Weise machten gewissermaßen die geistigen Vertreter des französischen Volkes an Deutschland wieder gut, was ihre Herrscher einst verbrochen; diese hatten nach Kräften an der Zerstückelung und politischen Lähmung des unglücklichen Landes gearbeitet; jene trugen, indem sie unsern Geist erweckten und unsern Geschmack läuterten, mittelbar dazu bei, eine neue Glanzperiode unserer Nationalliteratur zu veranlassen, und hiermit die geistige Einheit der Nation anzubahnen. Freilich hatten weder die französischen Autoren, die meist nur nach Ruhm und Geld strebten, noch ihre deutschen fürstlichen Gönner, die blos ihr Vergnügen in der Beschäftigung mit den importirten schönen Wissenschaften suchten, eine Ahnung von solchem Erfolge ihres Wesens und Treibens; ja sie blickten sogar mit Verachtung auf die freilich noch unbehülflichen Regungen der kindlichen deutschen Muse, und schauderten vor der Rauheit der kräftigen, ungefügen deutschen Sprache. Der Hauptvermittler zwischen den beiden Nachbarvölkern ist bekanntlich Friedrich der Große, der seiner Bildung nach französisch, doch in Wesen und Charakter ein vollkommen deutscher Mann war. Neben ihm glänzt als eine würdige Vertreterin jenes wunderbaren Geschmackes und Strebens seine Lieblingsschwester die Markgräfin von Bayreuth. Schon der Umstand allein, daß Friedrich ihren Geist dem seinen am Verwandtesten unter seinen Geschwistern fühlte, und sie so zärtlich liebte, daß die Nachricht von ihrem Tode, 1758, ihn niederschmetterte, würde unser Interesse für sie rege machen, allein selbst abgesehen von den Beziehungen zu ihrem großen Bruder erweckt die Person dieser Fürstin durch ihre Jugendschicksale und durch ihr späteres geistiges Leben und Treiben unsere volle Theilnahme.
Ihre Gesichtszüge, das große feurige Auge, die hohe Stirn, der feine Mund verrathen einen kühnen, selbstständigen Geist, einen dem Geiste Friedrich’s innig verwandten, seiner würdigen. Den Ruhm, den sie auch heutiges Tages noch genießt, verdankt sie ihrer Autobiographie. Leider ist dieses durch Schärfe der Charakteristik, welche freilich oft zu bitterer Satire wird, und durch genaue Darstellung geheimer Intriguen, die damals die deutschen Höfe in Bewegung setzten, ausgezeichnete, und beachtenswerthe Buch an einigen Stellen lückenhaft, ja am Ende verstümmelt. Doch ist in jüngster Zeit von Berlin aus von einer wichtigen Stimme die Versicherung gegeben worden, daß die Memoiren der Markgräfin sich vollständig im königl. geheimen Archive befänden, so daß man wohl die Hoffnung hegen darf, sie werden einst an’s Tageslicht treten, wie sie die Verfasserin geschrieben hat. Indem wir uns vorbehalten, noch einmal auf diesen Hofspiegel zurückzukommen, geben wir hauptsächlich nach diesem Buche selbst die merkwürdigsten Daten aus dem vielbewegten Leben der berühmten Markgräfin.
Die Fürstin, am 3. Juli 1709 in Berlin geboren, war das älteste lebende Kind des nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm’s I., der bei der Geburt dieser Tochter, sowie der zwei folgenden Prinzen, noch Kronprinz war, und Sophiens Dorotheens, einer hannöverischen Prinzessin, Tochter des nachmaligen Königs Georg’s I. von Großbritannien. Die Taufe der Prinzessin, welche die Namen Friederike Sophie Wilhelmine erhielt, war äußerst glänzend, da drei Könige, welche alle drei den Namen Friedrich führten und deren jeder sich zu einer andern Religion bekannte, und eine Königin bei derselben zugegen waren. Zwei dieser gekrönten Häupter waren die Könige von Dänemark und Polen, welche bei ihrem fürstlichen Bruder von Preußen zum Besuche waren, um einen Allianztraktat gegen Karl XII. abzuschließen. Die kühnsten Hoffnungen auf Glanz und Krone wurden für den Täufling laut; ja ein Edelmann hatte den thörichten Einfall, ihn mit dem Kindlein Jesu zu vergleichen, dem auch drei Könige huldigend genaht. Diese Abgeschmacktheit wurde von dem entzückten Großvater mit einem Geschenke von tausend Dukaten bezahlt. Alle diese schönen Hoffnungen und Wünsche sollten nicht erfüllt werden. Im Gegentheile gestalteten sich die Jugendschicksale der Prinzessin sehr rauh, ihr späteres Leben war durch eine besonders hohe Stellung in der Welt nicht ausgezeichnet. Ihre Leidensperiode begann schon mit ihrem dritten Jahre, indem sie von einer Hofmeisterin unmenschlich gepeinigt wurde. Freilich entstand ihr auch in diesem Jahre durch die Geburt des Kronprinzen Friedrich eine unerschöpfliche Quelle von Liebe und Freude, die nur selten und auf kurze Zeit getrübt wurde. Die Charaktere der Glieder der königlichen Familie sowie ihrer Vertrauten waren ganz geeignet, Conflikte herbeizuführen.
Der Vater, anfangs 1713 König, klug, von einfachen Sitten, ökonomisch, ja geizig, dabei hitzig und leidenschaftlich, Andern immer mehr vertrauend als seiner Gemahlin und seinen Kindern; die Mutter stolz und hochfahrend, im höchsten Maße eitel auf die ihrem Hause zugefallene britische Krone, zur Intrigue geneigt, selbst vor dem Unrecht nicht zurückbebend, die Herzen ihrer Kinder dem Vater zu entfremden. Die Günstlinge des Königs waren Herr von Grumbkow, nachmals Feldmarschall, und der Fürst von Anhalt, die alle Mittel und Künste anwandten, ohne selbst das Familienglück ihres königlichen Herrn unangetastet zu lassen, um sich seine Gunst und sein Vertrauen zu erhalten. Ein Heirathsprojekt bezüglich der Prinzessin, welches die beiden Günstlinge machten, legte den Grund zu nachhaltiger Uneinigkeit in der königlichen Familie. Der Kronprinz Friedrich war ein schwächliches Kind, an dessen Fortleben alle zweifelten; im Falle seines Ablebens hatte, da noch kein zweiter Prinz geboren war, der Markgraf von Schwedt, der aus einem Seitenzweige der Herrscherfamilie stammte und zugleich ein Neffe des Fürsten von Anhalt war, die nächste Anwartschaft auf den Thron. Um die Allodialgüter, welche Kunkellehen waren, nicht aus der Familie kommen zu lassen, sollte die Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine, nach dem Plane Grumbkow’s und Anhalt’s mit diesem Prinzen vermählt werden. Die Königin widersetzte sich der Ausführung dieses Vorhabens, für welches man ihren Gemahl bereits gewonnen hatte, mit aller Entschiedenheit, wenn auch nicht mit großem Erfolge; sie brachte dafür ein anderes Projekt auf’s Tapet, nach welchem der Sohn ihres Bruders Georg, derzeit Prinzen von Wales (nachmals König Georg II. von Großbritannien), der Herzog von Gloucester die Hand ihrer Tochter erhalten sollte. Sie hoffte, durch diese Vereinigung ihren eigenen Einfluß auf den König zu verstärken, den seiner Günstlinge und Rauch- und Zechgenossen aufzuheben. Grumbkow und Anhalt setzten indessen ihre Intriguen fort, trotzdem ihre [372] Aussichten für den Markgrafen von Schwedt durch die Geburt eines zweiten königlichen Prinzen vollständig vernichtet waren. Bei einem Besuche, den der König und die Königin von Preußen in Hannover, im Jahre 1717 machten, war sogar eine Doppelheirath zwischen dem Kronprinzen Friedrich und der Prinzessin Amalie, und dem Herzoge von Gloucester und der Prinzessin Wilhelmine verabredet worden. Das ganze Bestreben der Günstlinge ging dahin, das gute Einverständniß zwischen den königlichen Familien von Preußen und England zu stören, was ihnen bei dem argwöhnischen und leidenschaftlichen Charakter Friedrich Wilhelm’s früher oder später gelingen mußte.
Die arme kleine Prinzessin Wilhelmine, wegen deren Verheirathung schon so viele Unterhandlungen gepflogen worden waren, hatte indessen viel von der Grausamkeit ihrer Hofmeisterin Leti zu leiden, welche das zehnjährige Kind alltäglich mit Faustschlägen und Ohrfeigen traktirte, ohne daß die Mißhandelte den Muth gehabt hätte, ihre Peinigerin anzuklagen. Ein hitziges Fieber, welches die kleine Dulderin an den Rand des Grabes brachte, befreite sie auf kurze Zeit von der nichtswürdigen Erzieherin, deren Rolle überhaupt nicht mehr lange währte. Sie ging an den englischen Hof, von wo aus sie nach Berlin empfohlen worden war, um von der Ferne aus noch ihrem ehemaligen Zöglinge durch gemeine Verleumdungen zu schaden. Die Unterhandlungen über die Verbindung der beiderseitigen königlichen Kinder kamen durch einen Besuch, welchen die Königin von Preußen ihrem Vater Georg I. in Hannover machte sowie durch dessen Gegenbesuch in neuen Gang. Die arme Prinzessin hatte viel auszustehen, da sie ihrer Mutter nicht entzückt genug von der Ehre schien, ihren Vetter heirathen zu dürfen, und da ihr die Verleumdungen ihrer ehemaligen Hofmeisterin Leti, sie sei ausgewachsen, allerhand unangenehme Untersuchungen und peinlichen Toilettenzwang zuzogen. Doch schon im folgenden Jahre, 1724, brach Uneinigkeit zwischen den beiden verwandten Höfen aus, veranlaßt durch die Liebhaberei des Königs, große, starke Leute als Soldaten zu haben, die ihn verleitet hatte, einige hannöverische Unterthanen durch seine Werber wegfangen zu lassen. Neue Unterhandlungen, welche die Königin persönlich mit ihrem Vater in Hannover führte, hatten keinen Erfolg; ihr Gemahl nahm dies mit großem Unwillen auf. Die Königin, erbittert über die Verzögerung ihrer Pläne von Seiten ihrer Verwandten und über die Vorwürfe ihres Gemahls, ließ der unschuldigen Tochter ihren Zorn entgelten, welche sie wie den Kronprinzen in strengster Abhängigkeit von sich zu halten suchte.
Für alle diese Quälereien bot das häusliche Leben der königlichen Familie wenig Ersatz. Soldaten und Sparsamkeit waren die Parole an der karg besetzten Tafel. Anzüglichkeiten, die der Hausvater den Seinen sagte, bildeten die Würze der täglichen Unterhaltungen. Die Abende und Nächte verbrachte der König in seiner Rauchgesellschaft, wo er gewöhnlich bis vier Uhr Morgens blieb; seine Familie mußte seine Rückkehr erwarten. Die Königin vertrieb sich die Zeit mit Kartenspielen; die Prinzessinnen blieben allein; die älteste las und studirte in beständiger Angst, vom strengen Vater überrascht zu werden, welcher Strickstrumpf und Nähzeug für die einem Frauenzimmer einzig angemessenen Thätigkeitsobjekte hielt, und dem Beschäftigung mit Musik und der nicht unumgänglich nöthigen Wissenschaft ein Gräuel war. Die Machinationen der Königin, ihre Kinder dem Vater zu entfremden, fingen an ihre bedenklichen Folgen zu äußern; der Kronprinz, damals vierzehn Jahre alt, war in höchster Ungnade und der König that Aeußerungen, welche Alle mit bangen Befürchtungen für das Schicksal des geistvollen und liebenswürdigen Knaben erfüllten, der sich seinem Vater nur widersetzte, weil seine Mutter ihn zu diesem Benehmen nöthigte. Noch verzog sich der Sturm; der König versöhnte sich mit seinem Sohne, aber bei seinem krankhaften Gemüthszustande mögen die Keime zu jener Abneigung, die so tragische Folgen hatten, zu tief gewurzelt sein, um nicht später wieder zu wuchern.
1. Das Pflanzensystem. (Fortsetzung.)
Am Schluß meiner ersten Vorlesung sagte ich, daß die Farrenkräuter, welche wir bei der Betrachtung der Sporen-Pflanzen unerledigt lassen mußten, ein großes und namentlich auch geschichtliches Interesse haben. Auf deutschem Boden, der gegenwärtig wenig über 50 Arten sehr sparsam vertheilt trägt, bildeten sie vor Millionen Jahren einen wesentlichen, ja der Anzahl nach den wesentlichsten Theil jener Pflanzenwelt, deren Ueberreste uns die Steinkohle und in dieser den mächtigsten Hebel der Industrie vererbten. Damals waren die deutschen Farrenkräuter ansehnliche Bäume, wie jetzt deren nur noch wenige in den Tropenländern vorkommen; aber damals waren es auch auf dem ganzen Erdenrund überall beinahe dieselben Arten, welche die zierlichen, aber leider noch von keinem Vogelgesang belebten Farrenwälder bildeten, wie man dies mit Bestimmtheit aus den wohlerhaltenen Abdrücken vorweltlicher Farrenkräuter zwischen den Steinkohlenflötzen nachweisen kann. Dies scheint deutlich dafür zu sprechen, daß in jenen längst vergangenen Erdzeiten die Zonenunterschiede noch nicht bestanden.
Nachdem man seit einigen Jahrzehnten die Gruppen des Pflanzenreichs schärfer und bestimmter von einander sondern gelernt hat, ist auch das Gebiet der Farrenkräuter jetzt enger begrenzt als früher, indem man einige Gruppen davon trennt, die wir nachher auch kennen lernen werden. Durch diese schärfere Auffassung bilden jetzt die Farrenkräuter eine eben so bestimmt und übereinstimmend charakterisirte, als schöne Pflanzengruppe. Wenn man in die unendlich lange Reihe der Pflanzenformen, welche jemals gelebt haben und noch leben, eine geschichtliche Folge und einen gestaltlichen Plan legen will, wozu sich der nach Ordnung und Einheit verlangende Sinn so leicht veranlaßt sieht, so kann man die Farrenkräuter gewissermaßen Vorstudien zu der Welt der höheren oder Blüthenpflanzen nennen, mit alleiniger Beschränkung auf das Blatt. Das Blatt, bei den höhern Gewächsen der Geltung nach als zweites Glied tief unter der Blüthe stehend, ist bei den echten Farrenkräutern Alleinherrscher. Vom schlichten Weidenblatt bis zu dem hundertfältig zusammengesetzten Doldenblatt giebt es wenigstens kaum eine wichtige Blattform in dem weiten Bereiche der Blüthenpflanzen, welche nicht von irgend einer Farrenkrautart nachgeahmt, oder richtiger, da sie entschieden älterer Abstammung als die Blüthenpflanzen sind, diesen vorgemacht wäre. Da aber bei den Farrenkräutern das Blatt, und zwar auf seiner Rückseite, in eigenthümlicher Weise die Früchte trägt, also nicht Blatt im Sinne der Blüthenpflanzen ist, so nennt es der Pflanzenkundige mit einer besonderen Benennung Wedel. Unsere Figur 14 zeigt uns (natürlich sehr verkleinert) den unterirdischen Stamm des in Deutschland gemeinen Wurmfarrens, Aspidium filix mas, mit einem doppelt gefiederten Wedel und zwei noch spiral zusammengerollten jungen Wedeln. Diese spirale Zusammenrollung des jungen Farrenwedels ist ein ausnahmsloses Entwickelungsgesetz der Farrenkräuter, welches uns aus der Abtheilung der Blüthenpflanzen vom Vergißmeinnicht bekannt ist, dessen Blüthenähren sich ebenfalls allmälig aufrollen. An Fig. f' sehen wir ein Stückchen des Wedels (an Fig. 14 ist es durch eine Lücke bezeichnet) und zwar von der unteren Seite. Die zu beiden Seiten der kleinen Mittelrippe der Wedelfiederchen stehenden kleinen Kreise deuten die sogenannten Fruchthäufchen an, deren eins, und zwar ein reifes, in Fig. h'' vergrößert dargestellt ist. Oben auf liegt das sogenannte Schleierchen, eine nierenförmige, im Mittelpunkte durch ein Stielchen befestigte Haut, unter welcher sich die kleinen Kapseln, gemeinsam aus einem Mittelpunkte entspringend, entwickelt haben. Eine solche Kapsel oder Sporangie (Fig. h.'''[WS 1]) ist eine kaum punktgroße, sehr zarthäutige gestielte Kugel, über deren Wölbung sich ein Ring dickwandiger [373] Zellen zieht. Dieser scheint das Aufreißen der reifen Kapsel zu befördern, indem er eine Neigung hat, sich zu strecken. (S. die Figur unter der noch geschlossenen Kapsel). Dadurch werden die kleinen, als echte Sporen (sp.''') aus einer einzigen Zelle bestehenden, Samenkörnchen ausgestreut, deren jede Kapsel ungefähr 30 enthält, so daß demnach die Fruchtbarkeit der Farrenkräuter ganz außerordentlich ist; denn nach einer mäßigen Schätzung enthält ein großer Wedel des Wurmfarrens gegen 15,000,000 Sporen in etwa 500,000 Kapseln in 12,000 Fruchthäufchen. Die unendlich kleinen Sporen bilden ein braunschwarzes Pulver von außerordentlicher Feinheit.
In diesen geschilderten Verhältnissen stimmen alle Farrenkräuter im Wesentlichen überein und je einfacher wir dieselben finden, desto sinnreicher, um mich hier dieses Ausdruckes zu bedienen, müssen die Mittel sein, in diese so übereinstimmend organisirte artenreiche Pflanzengruppe Abwechselung zu bringen. Nächst den Gestalten des Wedels liegen diese Mittel vornehmlich in der Anordnung und Gruppirung der Fruchthäufchen auf der Rückseite des Wedels. Bald mit bald ohne Schleierchen versehen sitzen die Fruchthäufchen, bald regellos über die ganze Unterseite des Wedels verbreitet, bald am Saume desselben, oder längs der Seiten- oder der Mittelrippen, als runde Häufchen, oder als lange Streifen etc. Oft sind nur einzelne Wedel fruchtbar und diese sind dann den unfruchtbaren entweder gleich oder mehr oder weniger verschieden gestaltet. Nur wenige echte Farrenkräuter haben bei auch sonst etwas abweichender Gestalt ringlose Kapseln.
Unsre sämmtlichen europäischen Farrenkräuter haben einen unterirdischen, kriechenden, wurzelähnlichen Stamm, während z. B. die schöne Dicksonia antarctica auf Vandiemensland einen gegen 40 Fuß hohen Stamm hat. Dennoch tragen, namentlich in unsern deutschen Gebirgswaldungen die Farrenkräuter, welche wie kleine stammlose Palmenkronen im Schatten der Bäume stehen, nicht wenig zum landschaftlichen Charakter bei und mit den Farrenkräutern fehlt einem Gebirgswalde ein wesentlicher Schmuck.
Zu diesem Schmucke trägt aber auch die jetzt von den echten Farrenkräutern abgetrennte Ordnung der Schachtelhalme oder Equiseteen bei, an welche uns Fig. 15 erinnert, denn bekannt sind uns Allen die aus einzelnen hohlen Gliedern zusammengefügten Stengel oder Halme dieser eigenthümlichen Gewächse. Der gemeine Schachtelhalm, dessen sich der Tischler zum Glätten des Holzes bedient, und das Scheuer- oder Kannenkraut, womit das Zinn der Küche blank geputzt wird und von denen wir hier einen unfruchtbaren Stengel verkleinert, und in natürlicher Größe die Spitze eines fruchtbaren sehen, sind allgemein bekannte Beispiele. Jedes einzelne Glied des oft ästigen Stengels umfaßt an seiner Spitze mit einer vielspaltigen, meist schwarzbraun gefärbten, kronenähnlichen Scheide die Basis des nächstfolgenden und das Endglied trägt an seiner Spitze ein tannenzapfenähnliches Gebilde, welches in höchst eigenthümlicher Weise die Sporen biegt. Um die Axe dieses Gebildes, welches wir kaum mit einem Gebilde einer Blüthenpflanze vergleichen können, finden sich sechseckige Täfelchen auf einem Stiele sitzend, kleinen sechseckigen Säulentischchen ähnlich, eingefügt, welche auf ihrer Unterseite 6 kleine Säcke tragen (Fig. s'')[2], ähnlich den Säcken eines Billards. Klopfen wir einen eben in voller Entwickelung stehenden Fruchtkolben, wie wir dies Gebilde nennen wollen, auf der Hand aus, so entleert er ein reichliches gelbgrünes, überaus feines Pulver, dessen winzige Körnchen einige Minuten lang auf der Haut herumhüpfen. Es sind die Sporen, um welche 2 feine Bänder gewunden sind, welche auseinander schnellen und dadurch das Tanzen der Sporen hervorbringen (siehe die Doppelfigur sp.'''). Die auch durch k''' bezeichneten drei Figuren unter den Stengeln stellen die drei ersten Entwickelungszustände einer keimenden Spore des Schachtelhalmes dar.
Als Duwok läßt das Scheuerkraut seine geringen Dienste, die es als solches leistet, in der Landwirthschaft bitter entgelten, indem dieser hier und da im nördlichen Deutschland große Feldflächen mit seinen unausrottbaren Wurzelstöcken durchsticht und für Anbau beinahe unbrauchbar macht.
Wenn wir die Bärlapppflanzen, Lykopodiaceen, eine zweite den ächten Farren zunächst stehende Ordnung der Sporenpflanzen, auch nicht alle kennen, so kennt doch Jedermann [374] wenigstens das schwefelgelbe Pulver, welches wir den Säuglingen in die wunden Hautstellen streuen, und was den Knaben, durch eine Lichtflamme geblasen, Gewalt über den Blitz giebt. Fig. 16 zeigt uns einen etwas verkleinerten Zweig der Lieferantin dieses Pulvers, des gemeinen Bärlapp, Lycopodium clavatum. Sie errathen, daß die Sporen dieses Pulver bilden. An einer Zweigspitze erhebt sich ein oben gabelig getheiltes Stämmchen, auf welchem 2 walzenrunde schuppige Fruchtkolben stehen, deren breite in eine lange Spitze ausgezogene Schuppen eine fast nierenähnlich aussehende in einem Querspalt aufspringende Kapsel decken (k''), in welcher die gerundet dreieckigen Sporen, mit einer netzgrubigen Schale bekleidet, (sp''') enthalten sind. Fast alle Bärlapp-Gewächse haben im ganzen Bau viel Aehnlichkeit mit recht großen Moosen, in deren Gesellschaft sie auch am Boden unserer Gebirgswälder wachsen.
Einst waren auch sie, eben so wie auch die Schachtelhalme, in der Zeit vor der Steinkohlenbildung ansehnliche Bäume, welche wahrscheinlich mehr als die echten Farrenkräuter zur Bildung der Steinkohlen beitrugen. Man findet in den Schieferthonschichten der Steinkohlenformation bis auf die zierliche Oberfläche der Rinde wohlerhaltene Abdrücke von mächtigen Stämmen, die artenreiche Gattung Lepidodendron bildend, welche man nach den noch daran haftenden Blättern und Fruchtständen mit Sicherheit für Bärlapp-Gewächse halten darf.
Diese drei Gruppen, die echten Farrenkräuter, die Schachtelhalme und die Bärlappgewächse, mit einer dritten, die wir übergehen, die sogenannten Rhizokarpeen oder Wasserfarren, bilden zusammen eine höhere Abtheilung der Sporen-Pflanzen, die man Gefäß-Sporenpflanzen nennt, weil ihr Inneres nicht wie bei den Flechten, Algen, Pilzen und Moosen, blos aus Zellen, sondern aus Zellen und Gefäßen zusammengesetzt ist.
Indem wir uns nun zu den Samen- oder Blüthenpflanzen wenden, treten wir aus einer schlichteren Formenwelt, in der allein die Moose und Farrenkräuter (in deren älterer umfassender Auffassung) eine höhere Entwicklung zeigten, in das bunteste Allerlei einer höher organisirten Welt. Wir erinnern uns noch an den schlichten Bau der meist blos einzelligen Sporen und ein Vergleich mit einer Bohne, Erbse oder Mandel macht es uns sofort klar, wie viel vollkommener und zusammengesetzter der Bau dieser Samen ist.
Fassen wir aber vorher den Bau einer Blüthe in deren vollkommenster Ausprägung in’s Auge, wie sie den meisten Blüthenpflanzen zukommt (F. 17). Die Figur stellt eine auseinandergelegte Blüthe dar. Wir unterscheiden daran (mit ein, zwei, drei, vier Sternchen bezeichnet) 4 Kreise von verschieden gebildeten Theilen: den äußersten Kreis der Kelchblätter (*) den Kelch bildend; den nächstfolgenden der Blumen- oder Kronenblätter (**) zusammen die Blumenkrone oder kurz Krone bildend; den Kreis der Staubgefäße (***), an denen wir den Staubfaden und den Staubbeutel, Anthere, mit dem Blüthenstaub, Pollen, unterscheiden, und den innersten Kreis, den der Pistille (****), an denen wir, wie bei den meisten Blüthenpflanzen, z. B. an einer Lilie (F. 22), den Fruchtknoten, den Griffel oder den Staubweg und die Narbe (an der Spitze) unterscheiden können. Alle diese vier verschiedenen Organe, welche der Zahl und Gestaltung nach in dem großen Reiche der Blüthenpflanzen bekanntlich die größte Manchfaltigkeit zeigen, sind als Blattgebilde zu betrachten, denn nicht nur, daß auch die Staubgefäße und Pistille sehr oft in ihrem Bau ihre Abstammung von Blättern verrathen, beweist auch der Umstand diese Verwandtschaft, daß bei sogenannten gefüllten Blumen diese Füllung auf Kosten der sich in Blumenblätter verwandelnden Staubgefäße und Pistille stattfindet. Eine gefüllte Levkoyblüthe zeigt dies sofort. Man nennt daher beide in einer streng wissenschaftlichen Ausdrucksweise Staubblätter und Fruchtblätter. Daß dann aus letzteren die Frucht und in dieser der Same entsteht, ist bekannt, und zwar ist die Frucht nur dann eine echte Frucht, wenn sie sich blos aus den Pistillen gebildet hat (z. B. die Kirsche); im andern Falle nennt man die Früchte Scheinfrüchte, wie z. B. bei dem Apfel, wo mit den 5 Pistillen der sogenannte Blüthenboden mitsammt dem Kelche sich zur Frucht umgestaltet hat.
Bei der bekannten großen Verschiedenartigkeit in der Ausbildung der Blüthen, – man denke an die schlichten Grasblüthen und an die Mohnblume oder Nelke – ist der Same ein viel zuverlässigeres Unterscheidungsmerkmal für die höhere Halbschied des Gewächsreichs, die wir auch deshalb fortan nur Samenpflanzen nennen wollen.
Legen wir eine Bohne (Fig. 18. a.) einige Zeit in Wasser, bis ihre weiße, braungelbe, blauschwarze oder gefleckte Samenschale aufgequollen und runzelig geworden ist, so können wir diese dann leicht entfernen und das Innere zerfällt leicht in zwei nur an einem Punkte (bei den Sternchen an Fig. 18. b) zusammenhängende gleiche Hälften. An der Verbindungsstelle erkennen wir, zwischen den beiden großen Hälften des Samens eingepreßt, den Keimling oder Embryo (Fig. 18. b.), aus welchem nach der Keimung sich die junge Pflanze entwickelt (Fig. 18. c.). Der Keimling zeigt sich zusammengesetzt aus dem sogenannten Federchen, aus welchem der oberirdische Stamm, der Stengel, hervorgeht, und dem Würzelchen, welches zu dem abwärtssteigenden Stamm, der Wurzel, wird (Fig. 18. b, und an c siehe f. u. w.). An der Bohne drückt sich auch äußerlich das Würzelchen, im gemeinen Leben vorzugsweise der Keim genannt, deutlich ab (Fig. 18. a.). Die beiden großen innern Hälften der Bohne, an der Erbse zwei vollkommene Halbkugeln, nennt man die Samenlappen oder Kotyledonen, und die große Mehrzahl der Samenpflanzen, deren Same stets zwei solche Samenlappen hat, nennt man deshalb zweisamenlappige Pflanzen, Dikotyledoneen. Anders ist es bei den Gräsern, den Zwiebelgewächsen und vielen andern Pflanzen. Wir betrachten daher neben der Bohne ein Weizenkorn (Fig. 19. a.), an welchem wir zunächst unten eine fast rautenförmige runzelige Stelle finden. Unter ihr finden wir auf einem Längsschnitt (Fig. 19. b.) den Keimling, der beim Keimen ebenfalls nach oben das Federchen und nach unten das Würzelchen sich entwickeln läßt (Fig. 19. c., f. w.). Der große, weiße Körper, der übrigens das Weizenkorn ausfüllt (b), ist jedoch nicht ein Samenlappen, sondern der mehlreiche Eiweißkörper. Der Samenlappen, deren wir hier allerdings blos einen haben, ist das äußerste blattartige Organ, welches an Fig. 19. c. das junge Pflänzchen umschließt. Pflanzen mit solchen Samen heißen Einsamenlappige, Monokotyledoneen.
Dies ist der Bau des echten Samens, an dem wir also den stets vorgebildeten Keimling leicht als das Wesentliche und zugleich auch erkennen, wie maßgebend der Unterschied ist, worauf die beiden großen Abtheilungen des Gewächsreichs, die Sporen- und die Samenpflanzen, gegründet sind. Wie die übrigen Theile dem sich entwickelnden Pflänzchen dienen, und wie vorher mit Hülfe des Blüthenstandes und der Pistille der Same entstanden ist, das werden wir später erfahren, wenn wir das Leben der Pflanze betrachten. Aufgabe unserer nächsten Unterhaltung ist es, die weitere Eintheilung der Samenpflanzen kennen zu lernen.
Land und Leute.
(Fortsetzung.)
Wie die Rühler Finken und die herrschaftlichen Jäger fingen. – Geschickte Steinwerfer. – Auf der Tränk- und Feldlock. – Was die Rühler Alles glauben. – Der Bieresel. – Vergrabene Schätze.
Wenn im Frühjahr die Schneelager in den Bergen zum größern Theil weggethaut, und die Finken wieder in’s Land gekommen waren, zur magern Fastenzeit, da kochten die Rühler zum Feierabend Vogelleim und schnitten die kleinen Ruthen, die mit dem klebrigen Leim beschmiert, in der Leimscheide Platz fanden, flochten Gärnchen und übten den Dußpfeifer, und so ausgerüstet gingen sie auf die lustige „Fastenlock“, eins ihrer liebsten Vergnügen, wobei die tollsten Possen getrieben wurden. Im Spätsommer dagegen begaben sie sich auf die „Tränk-“ oder „Feldlock.“ In der Fastenlock wurde zumeist das Gärnchen zum Fang der Vögel angewandt; [375] in der Feldlock die Leimruthe. Im Herbste, wenn die Finken zogen, stellten sie ihnen Schneißen. Der „Fastenfink“ war der mehr geschätzte, und am blauen Schnabel erkenntlich. – Wie sie aus der Esse oder vom Schraubstock kamen, diese ungeberdigen Natursöhne, rußig und luftig, so gingen sie auf und davon mit ihrem Dußpfeifer auf dem Rücken, mit dem Gärnchen, der Leimscheide, der Mehlwürmerschachtel, dem scharfen Schnitzer, Käse und Brot und der vollen Schnapsflasche im Querchsack, mit dem langen Blasrohr in der Hand und „ein paar Pfennigen“ in der Tasche, und brachen unaufhaltsam in die noch kahlen Laubwälder durch Schnee und Wasser, lustig und guter Dinge, voll Schnurren und Schelmereien, ein ungewaschenes, ungezogenes Völkchen, dessen Narretheiding und starke Faust überall gefürchtet, wurde. Früh, eh’ noch der Tag graute, zogen sie die Dornsengasse im steilen Grund hinaus und tranken in den „Hüscherchen“ (Häuschen), zwei Pirschhäusern auf dem Gebirgsrücken mit Gastwirthschaft, die jetzt verschwunden sind und nur der Stelle, wo sie gestanden, ihre Namen hinterlassen haben, den Frühstücksbranntwein, dann weiter auf der rauhen Höhe des Gebirgsjochs über die Schwarzgraben-Halde hin, den „Kissel“ hinab, über den „Streifling“ hin, immer bergab dem Werrathale zu. War dieses durchschnitten, so ging’s den Langenberg hinauf, und der Pfad am Abhang desselben brachte die Vogelfänger in die schönen Buchen- und Eichenwälder in der Nähe des Dorfes Urnshausen. Da lagerten sie sich in einen Graben, verzehrten ihr „Käs und Brot“ und ihren Schnaps. Dabei horchten sie mit geübtem Ohre auf den Schlag der nahen Finken und stellten dann Gärnchen und Leimruthen und den „Dußpfeifer“ auf den besten Schläger aus, der den beliebten „urnshäuser Scharfen“ schlug. Der Leimruthenstock war schon zugerichtet, ein mäßiger Stab mit eingeschnittenen Kimmen, in welche der untere trockene Theil der Leimruthen eingeklemmt wurde. Daran wurden Mehlwürmchen als Lockspeise befestigt und der Dußpfeifer dicht daneben gestellt. Der Fink in den Bäumen, dem die Jagd galt, duldete in seinem Umkreise keinen andern Schläger. Sobald nun der Dußpfeifer zu schlagen begann, lustig und schmetternd, „Keil auf Keil“, wie der Kunstausdruck lautet, d. h. in einer Minute zwei bis drei Mal, gleichsam herausfordernd und verhöhnend, so erboste sich der „Sitzfink“, sträubte die Kuppe und flog nach der Stelle, wo der Dußpfeifer schlug, um ihn auszubeißen. In der Hitze gerieth er dann auf den Leimruthenstock oder ließ sich von den Würmchen anlocken und ward gefangen. Oder er ging in’s Gärnchen, das über ihm zusammenschlug, sobald er den Mehlwurm mit dem Schnabel faßte.
Es war auch nichts Seltenes, daß die rühler Vogelfänger auf ihren Waldfahrten mit den herrschaftlichen Jägern und Kreisern Händel bekamen, und sie gaben durch allerlei Unfertigkeiten, Neckereien, Sticheleien, Hänseleien, „Atzeleien“ und sonstigen Unfug meist die erste Veranlassung dazu. Auf solche Fälle bestens vorbereitet, befanden sich in ihren Händen außer den harten Blasröhren, frisch abgeschnittene tüchtige Knittel, in ihren Hosen- und Jackentaschen nicht nur Sand, Hammerschlag und Essenstaub, sondern auch der scharfe Schnitzer, in ihren Leimscheiden überflüssiger Vogelleim. Kam’s zur Prügelei – und es kam oft dazu, denn sie reizten und ärgerten die Leute, bis auch die Sanftmüthigsten wild und zornig wurden – so keilten sie mit den Fäusten, Blasrohren und Knitteln auf die Gegner los, rangen sie mit studirten Griffen und Kraftwendungen nieder, warfen ihnen den staubigen Inhalt ihrer Taschen in die Augen, klebten sie ihnen mit Vogelleim zu und salbten ihnen Haare und Kleider damit, so daß sie Alles, was sich ihnen feindlich entgegenstellte, in die Flucht schlugen und aus jedem Kampfe siegreich hervorgingen, da sie im äußersten Falle sogar von dem gefährlichen Schnitzer als Waffe Gebrauch machten. Wieherndes Hohngelächter und der brüllende Gesang grober Spottlieber verfolgten dann wohl mit einem Steinhagel den nicht selten blutig geschlagenen flüchtigen Feind. Die Sieger aber gingen mit ihrem Fang fröhlich von dannen.
Außer den wuchtigen Schlägen, welche ihre unnahbaren Fäuste versetzten, verfehlte der geschickte Steinwurf ihrer Hand fast nie das Ziel. Sie trafen mit dem Steine den Vogel im Fluge und in der Spitze der höchsten Bäume; der Wurf holte die Taube vom Dache herab. Ein ihm nachgeschleuderter Stein machte denn auch in der Regel ein Loch in den Kopf des fliehenden Mannes. Wer einmal mit ihnen auf so empfindliche Weise zusammengerathen war, mied sie entweder ganz, oder suchte sich auf guten Fuß mit ihnen zu setzen. Es half auch nichts, wenn man sie mit Uebermacht angriff; denn in diesem Falle liefen die baarbeinigen Gesellen schneller als das Reh und stoben nach allen Seiten; und wer so weit gegangen wäre, ihnen eine Kugel aus dem Feuerrohre nachzuschicken, dessen Leben wäre sicher ihrer unbändigen Rachsucht verfallen gewesen. Denn wie überhaupt trotz aller Mühe erst ihrer katholischen und dann ihrer protestantischen Seelsorger ein mächtiges Stück Heidenthum in diesen Bergkindern hängen geblieben war, so hielten sie in’s Besondere eine gewisse Blutrache nicht nur für erlaubt, sondern sogar für Pflicht. – Die Jäger aber, die sie ruhig in den Wäldern gewähren ließen, oder sich wohl gar mit ihnen befreundeten, fanden bald ein kurzweiliges Ergötzen an den drolligen, wunderlichen Käuzen, und wenn sie mit ihnen fraternisiern, so gewannen sie gute lustige Freunde an ihnen, die durch Possen und Schwänke, launige Erzählungen und Aufschneidereien den Nachmittag im Walde und den Abend im Wirthshause wegscherzten, daß kein Mensch wußte, wie die Zeit verstrichen war. Mancher Jäger und Waldläufer sah ihnen also lieber hinter einem Baume oder einem Busche versteckt, zu, wie sich die schnurrigen Menschen im Walde einrichteten, wie sie rannten, um einen von der Leimruthe abgerissenen Vogel einzufangen, wie sie die hohen, glattschaftigen Bäume gleich wilden Katzen erkletterten, um ein Finken-, Drossel-, Amsel-, Rothkehlchen- oder Plattenmönchsnest auszunehmen, wie sie mit dem Stein, der Blasrohrkugel oder dem kurzen Knittel den Vogel trafen und dazwischen ihre läppischen Streiche trieben. Oder er setzte sich zu ihnen, ließ sich wohl dies und das gefallen und gab ihnen wieder Waare daran. Hatten sich die Rühler und die Jäger und Kreiser einmal befreundet, so wurden die erstern ganz gemüthliche Spaßvögel, schenkten neue Taschenmesser und aßen und tranken mit ihnen, bei welcher Gelegenheit sie mit ihren klassischen Zähnen die Schinken und Würste der Förster und reichen Bauern auf bewundernswürdige Weise vertilgten, und eine wahre Sündfluth von Bier austranken. So geschah es denn wohl, daß aus den erst bösen Feinden die besten Freunde wurden, bei welchen man Messer für die eigene Haushaltung und für die der Verwandten und Bekannten bestellte, was wieder manchen Geschäftsgang der Rühler in diese Gegend veranlaßte, und aus dem Vogelfänger wurde ein Handelsmann, er wußte kaum wie, der mit seinem Kalbfellranzen voll Messer auszog und mit schönem Gelde heimkehrte. Wohin solch ein schnurriger Messerhändler kam, da wurde er gern gesehen und noch lieber gehört, und in Familien und Wirthshäusern versammelte sich schnell ein großer Zuhörerkreis, um seine possirlichen Geschichten und Schwanke zu belachen.
Auf der „Tränk- und Feldlock“ ging’s der Jahreszeit wegen noch munterer und lustiger zu; denn sie fiel Ende August, wenn die Ernte der Feldfrüchte vorüber war. Da wurden die Leimruthen an kleinen Quellgerinnen („Vogeltränken“) oder auf dem Felde aufgestellt. Die „Feldbäumchen“ mit den in die Kimmen eingeklemmten Rüthchen wurden schon zu Hause eingerichtet und konnten auf jeden beliebigen Platz aufgestellt werden. Man besteckte aber auch im Felde oder in Zäunen stehende Bäume mit Leimruthen. Die Vogelfänger lagen faullenzend und Possen treibend in einem schattigen Hinterhalt und ließen ihren Dußpfeifer die Finken herbeilocken, oder sie suchten in Feld und Wald heilsame Kräuter, mit deren Eigenschaften sie wohl bekannt waren, oder sie schossen mit den Blasröhren wilde Tauben und andere Waldvögel, aus welchen sie sich schmackhafte Mahlzeiten bereiteten. Auch war es nichts Ungewöhnliches, daß sie bei solchen Gelegenheiten einen Hasen in aufgestellter Schlinge fingen, dem sie mit dem Schnitzer den Genickfang gaben, oder in den klaren Waldbächen Forellen mit der bloßen Hand fingen, worin sie eine bewundernswürdige Geschicklichkeit besaßen. Ja, es kam wohl auch vor, daß der Eine und der Andere mit dem Dußpfeifer und dem Blasrohre in frühester Morgenstunde eine gute Jagdflinte in das Feld und den Wald trug, und während der Lockvogel die Finken herbeirief, einen Rehbock auf das Fell brannte.
Die hohen schön gesonnten Berge mit den prächtigen Laubholzwäldern, die lieblichen Thäler und Gründe mit den springenden Quellen und dem grünen Rasenteppich waren allerdings der Lieblingsaufenthalt dieser kernigen Naturmenschen, aber die hohen Reize ihres Gebirges kamen ihnen dabei keineswegs zum Bewußtsein; sie schwelgten nicht in poetischen Gefühlen, welche die sie umgebende Natur in ihnen wachrief. Vielmehr waren sie ursprünglich [376] und unmittelbar mit dieser Natur eins, wie der Hirsch und der Vogel, der Baum und die Quelle. Ihr Glück, hier zu leben und diese Berge zu durchstreifen, war kein Gefühl in ihnen, das sie mit Seelenwollust oder Raffinerie durchzukosten vermocht hätten; es war eine Nothwendigkeit, eine Lebensbedingung, wie Essen und Schlafen, und je unfähiger sie waren, es zu objectiviren und Reflexionen darüber anzustellen, desto rücksichtsloser gaben sie sich ihm hin und gingen ganz in ihm auf. Das zeigte sich recht an dem Umstande, daß sie gar nicht außer ihren Bergen zu leben vermochten. Sie wurden krank und elend, wenn sie sich draußen in der Welt länger aufhielten, als einige Wochen, die ihr Kleinhandel erforderte, und lebten wieder auf, wenn sie in ihre Bergluft zurückkehrten. Das ganze Jahr über, von ihrer Kindheit an bis in’s hohe Alter durchstreiften sie diese Wälder bergauf und bergab, und lebten höchst genügsam dabei. Sie kannten im stundenweiten Umkreise jeden Grund, jede Quelle, jeden Fels, und die reizenden Sagen, die Reste einer großartigen Naturreligion, die an diesen Oertlichkeiten haften geblieben und mit der Seele des Volkes gleichsam verwachsen waren, bewahrten sie treu als geistiges Erbtheil der Väter, das sie ihren Kindern überlieferten. Der Aberglaube, dieser wunderbare Centimane, das uralte Kind des Heidenthums, saß hier als mächtiger Beherrscher der Geister unbeirrt auf seinem tausendjährigen Throne.
Was glaubten diese Menschen nicht Alles! Aber das war doch eigentlich gar kein Glauben; denn der Glaube bedingt doch seinen Gegensatz, den Zweifel, wie das Licht den Schatten. Von einer Möglichkeit des Zweifelns konnte bei jenen Naturmenschen gar keine Rede sein. Alle diese Ueberlieferungen standen in ihnen unerschütterlich fest; der Aberglaube war ganz mit ihnen verwachsen und ein integrirender Theil ihres geistigen Wesens. Da wuchs die Wünschelruthe, und ihr Zaubersegen, d. h. der mysteriöse Spruch, mit welchen, sie gebrochen werden mußte, pflanzte sich von Mund zu Mund. Ebenso der Diebssegen, womit man Diebe fest machte. Da gab es eine Zauberformel, womit man Heckegeld machen konnte und eine andere, wodurch diese unheimliche Kraft wieder aufgehoben wurde. Da gab es Hexen und Hexenmeister, die Läuse machen, den Kühen die Milch versiechen lassen, die Kinder krank machen konnten, und dann gab es wieder Geheimkünste, die Läuse zu versprechen, das Geld im Kasten und in der Tasche durch Zauber vor Dieben zu schützen, das Vieh vor Hexenmacht zu sichern, versetzte Schätze zu heben, sich unsichtbar zu machen und tausend andere solche Dinge. Auf den Bergen wuchsen Kräuter und Sträuche, die zu Zauber und Gegenzauber unentbehrlich waren, z. B. das Elferhirtenholz (viburnum opulus flore roseum), welches jetzt als Zierstrauch in den Gärten steht, dem die alten Rühler eine höchst wunderbare Kraft beilegten.
Auch gegen jede Krankheit und Leibesbeschwerde stand ein Heilkraut in den Bergen, oft nur an ganz bestimmten Orten und war nur an gewissen Tagen, zuweilen sogar nur an bestimmten Stunden zu pflücken. Eben so standen an vielen bekannten Orten zu gewissen Stunden des Jahres Schätze zu Tag, und wer da ein schneeweißes Tüchlein darauf warf, konnte sie gewinnen. Gar viele Menschen aus der frühern Zeit sollten solche Schätze (meist silberne Schüsseln und Kannen) gesehen haben, aber stets waren sie verhindert worden, sie sich zuzueignen. In gleicher Weise gab es viele Stellen im Orte selbst und in den Bergen und Gründen, wo es spukte. Das nationalste von den umwandelnden Gespenstern („Wannerdenger“, d. i. Wanderdinger, Wanderwesen genannt, wie denn „wanner“, wandern der rühler Ausdruck für gespenstisch umgehen ist), war der „Bieresel“, ein gespenstisches Ungethüm in Gestalt eines Esels, das sich den Männern aufhockte, die nach Mitternacht etwas aufgeregt aus den Bierschenken heimkehrten, und das sie unter großer Anstrengung eine Strecke lang, meist bis an ihre Hausthür, tragen mußten. Thiere mit drei Beinen, Pferde ohne Köpfe, ein Reiter mit dem Kopf unter dem Arme, hatten ihre bestimmten Plätze. Es ist immer der wilde Jäger mit seinem Gefolge, es ist der seiner Götterherrlichkeit entkleidete und zum Gespenst herabgewürdigte Wotan. Die „gläserne Kutsche“ spielte eine vorzügliche Rolle in den Volkserzählungen der Rühler, die mit hohen spukenden Herrschaften (heidnische Götter) befrachtet, mit Geisterpferden bespannt, an steilen Abhängen rasch und geräuschlos dahin fuhr. Es ist der uralte Götterwagen der Frau Holda (Freya), der hohen Göttin, in welchem sie ihren Umzug durch das Land hielt. Das „wüthende Heer“ (verderbt aus Wuotans Heer, obgleich Wuotan hinwiederum von „Wuth“ abgeleitet ist) braus’te in den zwölf Nächten durch die Berge und Thäler, und der „feurige Mann“ wanderte auf den Grenzen der Grundstücke und suchte vergebens die Stelle, wo er den im Leben verrückten Grenzstein wieder hinsetzen könnte. Weiße Jungfrauen mit Schlüsselbunden traten aus Felsen heraus und luden zum Eintritt ein; Mönche gingen auf einsamen Waldwiesen um; Kroaten und Panduren aus dem dreißigjährigen Kriege spukten an allen Orten und Enden. Wer sich im Walde verirrte, war über „Irrkraut“ gegangen, und geschah es öfter an demselben Berge, so kam dieser wohl gar in Verruf, und Jedermann mied die bezeichnete Gegend so viel als möglich. Die Irrlichter waren Hexen und böse Geister, und die Sternschnuppen Höllenbraten oder der Teufel selbst, der da kam, um seinen Bräuten, den Hexen, Töpfe voll Rahm zu bringen, damit sie fette Kuchen backen konnten. Niemand wagte aber, ihn mit seinem eigentlichen Namen zu nennen; er hieß der „bös’ Vahl“ (verderbt aus Volland), der „bös’ Ritt“ (Ritter, Junker); seine Großmutter: „die beste Kötsche“ und die „Biizmuß.“ – Wackelte ein Stein im Keller, so lag darunter ein Schatz, versteht sich mit Zaubersegen versetzt, und die Familie delibrirte Jahre lang, wie er zu heben sein möchte, zog wohl auch erfahrene Nachbarn und Freunde zur Berathung, befragte weise Männer und machte allerlei vergebliche Versuche.
Gegen Krankheiten, besonders örtliche Schmerzen, war außer den Wunderkräutern der Berge das mysteriöse Versprechen sehr gebräuchlich. Wurde es schlimmer, so suchte man die Hülfe eines Wunderdoktors oder weisen Mannes. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatte der Hirt Hans Heß als solcher einen hochberühmten Namen; gegen Ende desselben nahm der viel besprochene „Vörwerts-Häns“ in Thal seine Stelle ein.
John Arthur Roebuck.
Grade vor einem Jahre blickte ganz England und alles politische Publikum der Erde mit der größten Aufregung nur auf zwei Zeitereignisse, auf den „Kriegsschauplatz“ und auf den „roebuck’schen Antrag“. An einem heißen Juli-Abende erhob sich im Unterhause ein kleiner, kranker, verrunzelter, alter Mann mit spärlichem, sandigen Haar auf seinem gebeugten Haupte über einem blassen, galligen Gesichte, durch ein Leben fruchtlosen Kampfes verwüstet und zur Greisenschwäche abgedörrt durch eine lange Krankheit – der „wohlbekannte Senator“ – der alte, scharfe Radicale Mr. Roebuck. Mit schwacher, kränklicher, aber harscher Stimme stellte er seinen Antrag, der so lange gedroht hatte wie ein Gewitter in heißen, schwülen, verschmachtenden Tagen und so oft wieder „verschoben“ worden war, sein Tadelsvotum gegen das Ministerium Palmerston, unter dessen erbweiser Fürsorge die englische Armee auf der Krim verhungert, erfroren, durch dessen „Mißverwaltung“ England im Innern vor aller Welt seines Heiligenscheins, unter dem es für die „Civilisation“ gegen „Barbarei“ zu kämpfen vorgegeben, beraubt und von den „Sehenden“ bereits mitten in der Lüge und dem Verrath ertappt worden war.
Er schleuderte Blitze und donnerte, der alte berühmte Jupiter des parlamentarischen Radicalismus, er blickte Dolche aus seinen stechenden Augen, er redete zweischneidige Henkerschwerter von Thatsachen gegen das Ministerium; aber der Himmel blieb verschlossen über England. Es regnete nicht und Palmerston blieb König von Großbritannien. „Die Ministeranklage“, durch welche nach Burke’s Behauptung „England groß ward“, ist längst abgeschafft. [377] „Die Zeiten der Ministeranklage (und der Größe Englands) sind vorüber“, sagt schon R. Peel. Das Schlimmste, was dem Ministerio Palmerston von den Donnerern Roebuck, Layard, Bulwer Lytton, D’Israeli (denn diese brachten auch „Todesurtheile“ gegen das Ministerium ein) für die nachgewiesenen massenhaftesten Kriminal-Verbrechen hätte passiren können, war eine lächelnde Abgabe der Staatsruder an privilegirte Kollegen und Freunde, wie auf den Sturz des aberdeen’schen Ministeriums durch Roebuck ja auch dieselben Herren und Mißverwalter sich erhoben, nur daß die beiden Wechsel-Ministerial-Herren nach Dickens einmal unter dem Namen „Lord Dudle“ das andermal unter der Firma „Lord Nudle“ auftraten. Wenn England nicht parlamentarisch gedudelt wird, geschieht’s blos deshalb, weil die „feindlichen Brüder“ es während der Zeit auch einmal nudeln wollen.
Aber Roebuck siegte doch! Freilich er zwang die parlamentarischen Herren, ihm einen großen Gerichtshof zur speciellen Untersuchung der englischen Krim-Kriminalistik zu bewilligen. Da saß der alte, gebrochene Held Wochen lang alle Tage vor dem Angesichts der Oeffentlichkeit und des preß-, rede- und versammlungsfreien Volks und verhörte Generäle, Herzöge und Autoritäten und Zeugen höchsten Ranges und stellte durch ein zwanzigfoliobändiges Protokoll fest, daß die Ermordung der englischen Armee und der alten nationalen Glorie Großbritanniens wirklich das Werk der englischen Regierer und Befehlshaber gewesen, das Werk „schmutziger Vögel, die ihr eigenes Nest verunreinigen.“ Es entstand also die Frage, die damals in besonderen Broschüren besprochen ward: „Wen sollen wir hängen?“ Die Antwort lief darauf hinaus: Das System müssen wir hängen, das englische Regierungs- und Verwaltungssystem und allenfalls noch Den und Jenen, der schon todt ist und dem man daher beliebig viel Schuld auf den Grabhügel packen kann. Aber das System ist keine Person und eignet sich deshalb auch nicht zum Hängen. Außerdem ist das System, an welchem die englische Armee starb, die einzige Lebensquelle aller respectablen Familien von hoher Geburt und dicker Kasse. Das System müssen wir also auch leben lassen, denn daran sterben ja blos Leute, die nie eigentlich „geboren“ wurden. Und was liegt an denen? Was liegt überhaupt an Englands Größe im Allgemeinen? Kümmerten sich die römischen Kaiser und ihre Hofleute um Roms Größe und Wohlfahrt? Dachten gar nicht daran, und doch lebte das römische Weltreich noch 7 Jahrhunderte, nachdem es zu sterben angefangen. – „Après nous le déluge“, denken die privilegirten Klassen. Die Sündfluth wird erst nach uns kommen. So lange wir leben, hält auch das liebe heilige römische Reich Großbritanniens noch zusammen. Und wer wird sich um ungelegte Eier der Zukunft bekümmern?
Alle roebuck’schen, layard’schen Verwaltungs-Reform-Blitze und Donner verzuckten und verhalten spurlos und die Schleußen des Himmels blieben verschlossen. Von den Reformen, welche die Regierung selbst bei Parlamentseröffnungen anzukündigen pflegt, werden in der Regel drei zurückgezogen, zwei verworfen und die drei übrigen in der „Gesetzfabrik“ so zugerichtet, daß aus Ruthen Skorpione werden. Die reformatorischen Anträge von Parlamentsmitgliedern selbst fallen regelmäßig durch oder werden mit Amendements angenommen, die nichts von der Reform übrig lassen. Und so wird der Leichengeruch immer stärker und Lord Burleigh’s Prophezeiung: „England wird nie fallen, wenn nicht durch sein Parlament,“ naht immer hörbarer, wie die Schritte des steinernen Gastes im Don Juan, um die gloriosen Friedensfeuerwerke vom 29. Mai als Höllenfeuerregen der Verdammniß zu wiederholen.
Roebuck, der durchgefallene Held der Geschichte, ist und bleibt dadurch eine Persönlichkeit, an deren Namen sich einst der bedeutendste Wendepunkt in der Geschichte des Verfalles Englands anschließen wird. Der Mann verdient näher angesehen zu werden. Aber wie sein Bild verständlich machen? Da steht er kahl ohne Vorder- und Hintergrund, ohne welchen er ein Räthsel bleibt. Die parlamentarischen Umgebungen, die sein Bild erst verständlich machen, sind aber so verwickelt und verworren, daß wir an der Möglichkeit verzweifeln, dieselben nur in groben Strichen anbringen und treffen zu können. Wir müssen uns damit trösten, daß das innere Leben des Parlaments nach und nach aus verschiedenen Bildern und Skizzen, die wir bringen werden, sich zu einem Ganzen und einer wahrheitsgetreuen Gliederung im Kopfe des aufmerksamen Lesers fügen und finden mögen.
Roebuck als Person und parlamentarische Größe läßt sich in folgenden biographischen Daten anschaulicher machen. Geboren 1801 zu Madras im englischen Indien, wo sein Vater Arzt war (wie sein Großvater, Kollege und Freund des berühmten James Watt, in Birmingham), als Knabe nach Kanada versetzt und dort erzogen, kam er erst 1824 nach England und zum eigentlichen Studium, und zwar der Rechte in dem „innern Temple“, wo das alte anglosächsische Recht gegen die parlamentarische Gesetzfabrikation noch einigen Schutz findet. Im Jahre 1832 ward er zur „Barre gerufen“ d. h. in die juristische Praxis eingeführt. Aber er war nicht berufen, für die Rechte Einzelner advokatisch zu streiten, sondern für die Gerechtigkeit gegen Alle. Zunächst rief ihn ein Ehrenamt aus seiner Privatthätigkeit zur öffentlichen. Das Parlament von Unter-Kanada bedurfte in seinem Streite mit dem Mutterlande eines Agenten in England. Es wählte dazu Roebuck, der in Kanada aufgewachsen, das Vertrauen auf seine Person und Talente dort zurückgelassen. Zugleich gab ihm die Aufregung in England, welche durch die betrügerische Reform-Bill Lord John Russel’s beschwichtigt ward (1832) Gelegenheit, seinen brennenden Eifer für das Wohl aller Klassen in energischen Reden und Flugschriften zu zeigen. Der junge Radikale ward dafür von den Wählern der Stadt Bath in’s Unterhaus des Parlaments berufen. Bald nach Eröffnung desselben 1833, als der Agitator O’Connell an den knorrigen, verworrenen Wurzeln der englischen Constitution rüttelte und die Thronrede „brutal und blutig“ nannte, stürzte sich auch der junge Roebuck mit wüthendem Eifer gegen die Person des damaligen Secretairs von Irland, dem er vorwarf, die Flamme der Unzufriedenheit, welche in O’Connell aufloderte, geschürt und genährt zu haben. Der aristokratisch-vornehme Secretair erwiederte ihm mit kaltem, verächtlichen Lächeln. „Ich verstehe [378] den Sinn dieses Lächelns“ fuhr Roebuck auf; „denn wenn es etwas giebt, wodurch sich die oligarchische Aristokratie empörender und erniedrigender vor allen andern Menschen auszeichnet, als durch ihre übrigen Vorzüge, so ist es deren allezeit bereites höhnisches Lächeln über die humanen und ehrlichen Meinungen und Gefühle unserer allgemein menschlichen Bedürfnisse und Ansprüche, die ihnen zu Ohren kommen.“ – Sie haben seitdem immer fortgelächelt und gehöhnt, Palmerston selbst über die Haufen Leichen, die ihnen auf der Krim geopfert worden waren, und über den roebuck’schen Antrag und über die roebuck’sche Krim-Untersuchungs-Folianten und sie lächeln immer noch, und Roebuck hat sich mit seinem Ernste und seiner Ehrlichkeit aufgerieben, wie sich von Cicero an sieben Jahrhunderte lang alle ehrlichen Naturen aufrieben, um das untergehende Rom zu retten, wie sich seitdem in jedem Volke, das die Mahnungen der Geschichte vornehm weghöhnt, die bessern Geister aufreiben und aufopfern, um in den dahinsterbenden von der Geschichte abfaulenden Massen noch die edele Substanz der Menschennatur zu vertreten. –
Roebuck konnte es bei allem Eifer und Ernste nie zu einer dauernden Macht gegen die mächtigere „Erbweisheit“ bringen. Allerdings hat der von ihm schon 1835 begonnene Kampf gegen Stempelsteuer der Zeitungen und mancher andere Kampf mit Sieg geendet, aber zu einer gründlichen Reform fehlte es ihm stets an Stimmen so sehr, daß er jetzt eigentlich als Vertreter des Radicalismus ganz allein steht oder vielmehr körperlich und geistig vollends zusammenbricht. (Wir werden später bei Skizzirung der parlamentarischen Parteien nachweisen, daß die Radikalen in England durchaus nichts Revolutionäres wollen und überhaupt mit den Radicalen in Deutschland nichts gemein haben.)
Im Jahre 1835 suchte er als Eigenthümer und Redacteur eines Journals: „Pamphlets für’s Volk“ zu wirken. Er ging tüchtig in’s Zeug und griff alles Faule und Feile rücksichtslos an, namentlich auch die faule, feile Presse. Drei Redacteure derselben forderten ihn. Zwei Forderungen wurden friedlich beseitigt, aber die dritte vom Redakteur des „Morning Chronicle“ endete nur, nachdem jeder zwei Kugeln abgeschossen, von denen keine traf.
Er sprach und schrieb phrasen- und gnadenlos, ohne Grazie, ohne Schonung, namentlich gegen die Whigs, die er als entschiedene Verräther an Volk und Land enthüllte. Aber die Whigs waren mächtig, so daß sie 1837 seine Wiederwahl in Bath zu verhindern im Stande waren. Vier Jahre später sahen die Wähler von Bath ein, daß sie sich hatten „bewhiggen“ lassen und wählten ihn wieder. Sein Feuer loderte wieder auf, besonders bitter persönlich gegen einen Neuaristokraten, der ihn deshalb forderte. Diesmal (1844) schoß er nicht, sondern las die Herausforderung dem Unterhause als eine Jugendthorheit seines Gegners vor, womit die Sache abgemacht war.
Seine Kämpfe nahmen verschiedene Zustände und Personen für ihr Object, besonders den pfiffigen, falschen Renegaten D’Israeli, der sich aber damit begnügte, Thatsachen durch spitze Phrasen und persönliche Aufziehungen zu bekämpfen. Im Jahre 1847 von den Wählern von Bath wieder verworfen, ward er 1850 von Sheffield gewählt. Der radicale Roebuck hatte jetzt nichts Eiligeres zu thun, als in einem Mißverständnisse über die auswärtige Politik Palmerston’s denselben vor einem Tadelsvotum in der griechischen Frage zu retten. Gar manche noch gescheidtere Köpfe als Roebuck hielten und halten Palmerston „für keinen russischen, keinen österreichischen, sondern für einen englischen Minister“, mit welcher verkündeten Neuigkeit Lord John Russel noch vor wenigen Jahren Beifallsstürme im ganzen Lande hervorrief, als wäre es das merkwürdigste, erfreulichste Wunder, daß Palmerston doch am Ende wirklich englischer Minister sei.
Daß Roebuck im Uebrigen kein Freund Palmerston’s und der Whigs war, bewies er bald durch seine „Geschichte der Whig-Partei“, worin er deren politische, gesteigerte Macht hauptsächlich der russel’schen Schein-Reformbill von 1832 zuschrieb. Diese Bill verschaffte den Kapitals- und Landes-Oligarchen nur mehr Wahlflecke, um sich dort mit schlechtem Bier und beizendem Tabak und Einkauf von Stimmen in die feste Burg der Privilegien, das Parlament, einzuschwindeln. – Einen andern Hauptbeweis seiner litterarischen Fähigkeit lieferte Roebuck in der „Geschichte der Kolonien Englands“, welche für die beste ihrer Art gehalten wird. Er schrieb diese Werke, nachdem er sich wegen Krankheit aus dem Parlament zurückgezogen hatte. Sein Vorsatz, sich von seinen bisherigen parlamentarischen, aufreibenden Kämpfen fern zu halten, zerstob aber in alle Winde, als die heimtückische, landesmörderische Krim-Expedition die ganzen britischen Inseln mit Entsetzen und Trauerflor überzog. Obgleich krank und gebrochen, sprang er auf und stürzte das Coalitions-Ministerium Aberdeen. Aber es bildete sich aus dem alten ein neues, wie das in England so parlamentarische, unantastbare Sitte ist, so daß die regierenden Familien fortwährend das Kunststück machen, welches ein Bauer seinem Sohne auf der Universität rieth. Er schickte ihm seinen alten Rock mit den Worten: Hier, lieber Gottfried, schicke ich Dir meinen alten Rock. Laß Dir einen neuen daraus machen.“ Roebuck nahm zwar den alten, ungenähten Rock vor und klopfte den dicksten Schmutz heraus d. h. er zwang das unter Palmerston’s Firma wieder auftretende Aberdeen-Ministerium, seine in Heuchelei und Verrath entschiedensten Mitglieder auszustoßen, aber sie und ihre Tanten, welche England eigentlich parlamentarisch am Leitseil ziehen, blieben doch Palmerston’s Freunde und Palmerston, was er der auswärtigen Politik funfzig Jahre lang gewesen.
Roebuck’s energische, aber durch Einsamkeit und Mangel an Gesundheit und Stimmen (die ja constitutionell doch Alles sind) geschwächte Thätigkeit und Rede zur parlamentarischen Reinigung Englands sind verschollen, wie er selbst bald vollends zusammenbrechen wird. Palmerston und Parlament triumphiren. Der politische und historische Untergang Großbritanniens, als einer Hauptmacht unter den fünf Großmächten hat definitiv nach Außen begonnen, nachdem er im Innern längst parlamentarisch vorbereitet war. Dies geht nicht mit Dampf, sondern langsam und gründlich, wie Rom, wie Griechenland, wie Holland und Spanien u. s. w. Jahrhunderte brauchten, um von ihren „Höhen und Ausdehnungen“, auf denen die Sonne nicht unterging, so tief zu sinken und so eng zusammenzukriechen, daß es auch der Gesinnungstüchtige und, constitutionell Vertrauungsvolle, der parlamentarisch Gläubige, capiren mag.
England, das Land, wird nicht untergehen, wenn nicht geologisch Vulcan oder Neptun es unter Wasser setzen. Aber die bisherige historische, parlamentarische, englisch-nationale Herrlichkeit, die Macaulay so zauberisch und whiggistisch trügerisch zu schildern weiß, daß jeder brave Deutsche an sie glaubt, ist an der Grenze ihres Witzes angekommen.
Wie der Tod aus dem Parlamente quillt, wo die ehrlichsten, standhaftesten, mäßigsten und populärsten Reformer, wie Roebuck, und noch viel Bescheidenere vornehm niedergelächelt und todt geschwindelt werden, das wird in folgenden Thatsachen und Lebensbildern zur Anschauung gebracht werden.
Eine der auffallendsten und interessantesten Erscheinungen, welche uns die Chemie lehrt, ist, daß ein und derselbe Körper mit ganz verschiedenen Eigenschaften erscheinen kann und daß es auf künstliche Weise möglich ist, ihn aus einem Zustande in einen andern überzuführen. Die Ursache dieser Erscheinung beruht in einer Aenderung der gegenseitigen Lage der kleinsten Theilchen oder sogenannten Atome der Körper. Besonders merkwürdig ist diese Erscheinung bei den einfachen, nicht weiter in andere Stoffe zerlegbaren Körpern, den Elementen oder Grundstoffen der Natur.
Der Kohlenstoff ist ein solches Element. Er erscheint uns in der Holzkohle, oder im verbrannten Zucker als völlig undurchsichtige schwarze Masse, läßt sich leicht pulvern, ist ziemlich leicht entzündlich und verbrennt rasch unter lebhaftem Glühen. In einem dichteren Zustande finden wir den Kohlenstoff in der Natur hin und wieder als Graphit; er ist in dieser Form grau, [379] fettig, glänzend, auch undurchsichtig, sehr weich und giebt auf Papier einen grauen Strich (Bleistift); er läßt sich nur schwierig entzünden und verbrennt langsam. In noch dichterem Zustande erscheint uns der Kohlenstoff als Diamant. Die Eigenschaften dieses geschätztesten Edelsteins sind allgemein bekannt. Seine Durchsichtigkeit, sein Glanz, sein wundervolles Farbenspiel und Feuer, seine große Härte (er ist der härteste Naturkörper) und Dauerhaftigkeit, geben ihm in den Augen der Menschen den hohen Werth und doch ist der Diamant durchaus nichts Anderes, als die gemeine schwarze Kohle; er läßt sich nur in den höchsten Hitzegraden entzünden und verbrennt dann wie die Kohle zu Kohlensäure. Wird er in einem verschlossenen Raume sehr stark erhitzt, so wandelt er sich sogar in schwarze Kohle um.
Auch der Sauerstoff besteht in mehreren Zuständen, in einem weniger verbindungsfähigen, in welchem er einen Hauptbestandtheil der Luft bildet und in einem viel verbindungsfähigeren, in welchem er Ozon genannt wird und entsteht, wenn man das Wasser durch Electricität zersetzt. Der gewöhnliche Sauerstoff wirkt z. B. nicht auf das Silber ein; dasselbe bleibt blank und glänzend in reiner Luft. Der ozonisirte Sauerstoff dagegen verbindet sich sogleich mit dem Silber. Auch Wasserstoff, Schwefel, Chlor und viele andere Elemente lassen sich mit so verschiedenen Eigenschaften bereiten.
Das interessanteste und für das tägliche Leben, für das Wohlbefinden der Menschheit besonders wichtige Beispiel dieser Art liefert uns aber der Phosphor. Dieser ist, wie er gewöhnlich in den Handel gebracht wird, ein in mehrfacher Hinsicht gefährlicher Körper. Er ist wachsgelb, so weich, daß er sich mit dem Messer zerschneiden läßt, schmilzt schon unter heißem Wasser, verbreitet an der Luft weiße Dämpfe und einen höchst unangenehmen knoblauchähnlichen Geruch; im Finstern leuchtet er lebhaft und zeichnet sich durch seine außerordentlich leichte Entzündbarkeit aus. Schon bei geringer Reibung oder beim Behalten in der warmen Hand, selbst beim Liegen an der Luft kann er sich entzünden und verbrennt dann mit weißer Flamme. Man muß ihn daher fortwährend unter Wasser aufbewahren. Innerlich genossen oder auf wunde Stellen gebracht wirkt er als rasch und sehr schmerzhaft tödtendes Gift. Selbst die Dämpfe, die er beim Liegen an der Luft fortwährend verbreitet, wirken sehr nachtheilig auf die Gesundheit der Menschen und Thiere. Dennoch hat der Phosphor eine ausgedehnte Anwendung zur Bereitung der ganz unentbehrlich gewordenen Phosphor-Streichhölzchen gefunden. Die Gefährlichkeit dieser Hölzchen ist durch die zahllosen durch dieselben verursachten Feuersbrünste genügend erwiesen und auch der Giftigkeit des in ihnen enthaltenen Phosphors sind schon viele Menschenleben zum Opfer gefallen. Allein der Gebrauch dieser übelriechenden unheilvollen Feuererzeuger wird jetzt, wie sicher zu erwarten ist, in wenig Jahren vollständig aufhören. Schon vor mehreren Jahren hat nämlich Prof. Schrötter in Wien den Phosphor in ziemlicher Quantität in einem Zustande bereitet, in welchem er nur noch nützliche, aber keine gefährlichen und schädlichen Eigenschaften besitzt. Solcher Phosphor wird amorpher, rother oder schwarzer Phosphor genannt und entsteht aus dem gewöhnlichen Phosphor, wenn man diesen bei abgehaltener Luft in verschlossenen Räumen längere Zeit auf 250 Wärmegrade erhitzt. Der amorphe Phosphor steht zu dem gewöhnlichen Phosphor in einem ähnlichen Verhältnisse, wie der schwarze Kohlenstoff zum Diamant. Der amorphe Phosphor ist ein scharlachrothes bis carmoisinrothes, zuweilen sogar dunkelbraunes bis schwarzes Pulver, von geringerer Dichtigkeit als der gewöhnliche Phosphor; er wird beim Erwärmen violett; geht in höherer Temperatur wieder in gewöhnlichen Phosphor über, ist in den Flüssigkeiten (z. B. in Schwefelkohlenstoff), in welchen sich der gewöhnliche Phosphor leicht auflöst, unauflöslich; entzündet sich viel schwieriger und nie von selbst, brennt nicht so lebhaft und leuchtet selbst wenn er gerieben wird nicht im Finstern; dagegen läßt er sich mit verschiedenen andern Körpern, mit chlorsaurem Kali, mit Braunstein und Mennige zu entzündbareren Mischungen vermengen. Er bleibt an der Luft ganz unverändert und kann in Fässern, Kisten oder am Besten in Blechbüchsen ohne Gefahr verpackt und bei jeder Temperatur, ohne daß man Wasser darauf gießt, in alle Länder verschickt werden. Innerlich kann er in großen Dosen ohne Schaden genossen werden.
Der Gedanke lag nicht fern und wurde auch sogleich von Schrötter ausgesprochen, daß solcher amorpher oder ungefährlicher Phosphor zur Fabrikation der Streich-Zündhölzchen, anstatt des gewöhnlichen benutzt werden möge; doch anfangs stellten sich der Fabrication desselben in großen Massen solche Hindernisse entgegen, daß an eine so massenhafte Anwendung nicht zu denken war. Dank den Bemühungen vieler praktischer Chemiker sind jedoch jetzt alle diese Hindernisse so vollständig besiegt, daß der amorphe Phosphor kaum noch theurer als der gewöhnliche ist und überall entstehen Fabriken, welche denselben zur Streichhölzchen-Bereitung verwenden. Die so fabricirten Hölzchen werden im Handel gewöhnlich Anti-Phosphor-Streichhölzchen oder Anti-Phosphor-Reibzünder genannt, sind vollkommen geruch- und gefahrlos und daher der allgemeinsten Verwendung werth.Die Hölzchen selbst sind an der einen Seite zunächst mit etwas Terpentinharz getränkt und an der Spitze mit einer aus Schwefel, Grauspießglanzerz (Schwefelantimon), chlorsaurem Kali und etwas Leim oder Gummi bestehenden Masse bedeckt. Auf die Schachteln selbst ist aber ein Papier aufgeklebt, welches mit einer dünnen Lage, einer Mischung von Braunstein, etwas Mennige und amorphem Phosphor bestrichen ist. Nur wenn man die Hölzchen rasch über dieses Papier streicht, findet eine Entzündung statt; sonst lassen sie sich an keinem anderen Körper entzünden. Dadurch ist natürlich jede Gefahr der Selbstentzündlichkeit total beseitigt und auch die Masse auf der Schachtel, welche sehr lange brauchbar bleibt, ist nicht gefährlich. Zur Zeit sind diese Anti-Phosphorstreichhölzchen, als etwas Neues, noch zu theuer; da jedoch ihre Fabrikation mit keinen größern Kosten verbunden ist, als die der gewöhnlichen, so werden sie jedenfalls in kurzer Zeit billiger werden. Es ist von großer Wichtigkeit, daß diese ungefährlichen Hölzchen eine rasche Aufnahme finden und die bisherigen gefahrvollen Fabrikate in möglichst kurzer Zeit verdrängen. Es würde daher im Interesse der Fabrikanten dieser Hölzchen liegen, dieselben billiger und in größeren Parthien zu verkaufen und zugleich größere viereckige Stücke oder längere Streifen von dem Papier, an welchem die Hölzer gerieben werden müssen, einzeln in den Handel zu bringen, damit man sich dieselben an passenden Orten z. B. in der Küche, an der Wand befestigen kann. Der Gebrauch der Hölzchen im Haushalte würde dadurch bequemer.
Griechische Bauerfrauen. Ein Franzose, der sich während des orientalischen Krieges viel in Griechenland herumtrieb, schildert eine Bauerfrau unweit Athen so: Im Vordergründe einer kahlen Gebirgsgegend bemerkten wir eine junge Frau, groß, herrlich gewachsen und von eben so graziöser, als majestätischer Haltung. Ihre blauen Augen blickten auf uns mit ruhiger Neugier, eben so ruhig und vague, wie die Augen der alten Statuen, die seit 20 Jahrhunderten auf das tumultuarische Leben um sie herschauen, ohne ihre göttliche Ruhe und jugendliche Schönheit zu verlieren. Ihr Gesicht, ein feines Oval, schien in der glänzenden Blässe des Marmor reiner, ruhiger in Linien und Formen, als die Velleda von Maindron. Zwei lange Locken wallten kunstlos an ihren Wangen herab und machten das ovale Gesicht noch länger und träumerischer. Hände und Füße, ganz nackend, waren durch so delicate Gelenke gegliedert, daß die feinste, schönste Herzogin sie beneiden würde. Ihre Taille, ungefesselt durch Schnürleib, zeigte eben so subtile Grazie als frische, quellende Kraft. Das ganze Wesen war die herrlichste Blume der Schönheit, die durch die reichste Kleidung nur verloren haben würde. Zwar fehlte es auch ihr nicht an reichem äußerlichen Schmuck, aber wie wundervoll war er zu Gestalt und Teint berechnet. Die Kostüme in Griechenland sind ein endloses Gemisch aller Zeiten und Zonen. Nur die baumwollenen Unter- und Hosenröcke der Männer können als neugriechisch-charakteristisch gelten. Die Verschiedenheit und Kaprice der Gewandung ist aber nirgend größer, als bei griechischen Frauen und Mädchen. Mit allem berühmten Schönheits-, Farben- und Formensinn kleidet sich jede Griechin genau so, wie es ihrer Gestalt, Form, Farbe und Individualität am geschmackvollsten paßt. Jede ist eine Künstlerin mit einem Meisterstücke in ihrer Kleidung. Die junge Frau hatte über ihren lieblichen Kopf ein roth-gelbes seidenes Tuch gezogen, dessen Zipfel nachlässig, aber malerisch auf die Schultern herabhingen. Das lange, weiße Hemde, welches unter den Kleidern hervor noch die halben Waden bedeckte, war mit rothen und schwarzen schmalen Bändern bestickt, um [380] Hals und Aermel wie die Muster einer etruskischen Vase. Ein kurzer Rock mit langen, schmalen Streifen deckte Hüften, Oberkörper und Busen, ohne letztern einzuzwängen. Eine schwarze Schärpe schlang sich um die Taille. Schürze und ein längeres Unterkleid waren lustig und heiter gestickt. Haar, Hände und Hals glänzten im Schimmer kleiner Geldmünzen, Ringe und Perlen. Unter dem Busen trug sie zwei kleine, silberne Platten, wie Schilder mit eingetriebenen Figuren, alte Erbstücke. Ihr Mann, etwa 5 Jahre älter. d. h. 23, erschien schlank ohne dünn zu sein, groß ohne übermäßige Länge, mit dem feinsten Profil, beinahe knabenartig, obwohl mit einigem Flaum auf den Oberlippen. Auch er würde schön gewesen sein, wäre nicht das lange, schwarze Haar gar zu banditenmäßig auf den Schultern herumgeschlagen. Er trug eine Jacke und Fustanella, Sandalen, wollene Gamaschen, statt der prosaischen Strümpfe, eine Schärpe, von seiner Frau hübsch gestickt, einen Taillengürtel und einen Dolch mit Horngriff darin, eine unschuldige Volksbewaffnung, wie sie trotz aller Unfreiheit noch unangetastet geblieben, die nur gefährlich wird, wenn Räuber, die in Griechenland sehr Mode sind, sich gar zu unanständig aufdrängen. – Die Schönheit Griechenlands ist noch nicht gestorben, aber ihr Leben zwischen den Intriguen der europäischen Diplomatie und ihrem eigenen Schofer bedarf anderer Pflege, um zu gedeihen.
Ein Erquickungsapparat. Unter den mancherlei Annehmlichkeiten, mit denen Wissenschaft und Technik in neuerer Zeit unser häusliches Leben beschenkt haben, sind die künstlich bereiteten kohlensäurehaltigen Wässer gewiß eine der schätzenswerthesten. Sie bilden nicht nur ein angenehm erfrischendes, ganz unschädliches Getränk, sondern äußern in manchen Fällen selbst heilsame Wirkungen, und es fehlt nicht an Beispielen, daß lediglich durch fortgesetzten Gebrauch des kohlensauren Wassers eine zerrüttete Verdauung völlig wiederhergestellt wurde. Füllt man seinen Apparat statt des Wassers mit leichtem Wein, oder setzt dem Wasser eine der jetzt überall käuflichen Fruchtessenzen zu, so erhält man obendrein sehr wohlschmeckende Luxusgetränke, die bei manchen Gelegenheiten den echten und unechten Champagner ganz wohl vertreten können.
Der Gebrauch und die Selbstbereitung des kohlensauren Wassers, obwohl schon ziemlich verbreitet, könnte doch noch viel allgemeiner werden, wenn nicht die Herstellungskosten immer noch etwas zu hoch wären; denn nicht nur der Apparat will angeschafft sein, sondern auch die jetzt gebräuchliche Füllung erheischt noch so manchen Groschen. In dieser letztern Beziehung ist nun aber eine bedeutende Ersparniß nicht nur möglich, sondern auch ganz wohl ausführbar, wie gleich gezeigt werden soll.
Die jetzige Füllung besteht aus doppeltkohlensaurem Natron, einem ganz wohlfeilen, und Weinsäure, einem beträchtlich theuren Stoffe, denn das Pfund kostet mindestens einen Thaler. Das Natron ist der Inhaber der gewünschten Kohlensäure, die Weinsäure, indem sie sich mit dem Natron verbindet, treibt dieselbe aus. Nun wird aber die Kohlensäure durch jede andre Säure aus ihren Verbindungen ausgetrieben, warum hat man gerade die Weinsäure für diesen Zweck gewählt? Ohne Zweifel weil man glaubte, zur Entwickelung der Kohlensäure eine trockene (krystallinische) Säure in Anwendung bringen zu müssen, wie es denn in der That gefährlich sein würde, das Natron ohne weiteres mit einer der von Natur flüssigen Säuren in Berührung zu setzen. Die Entwickelung der Kohlensäure würde in solchem Falle in so stürmischer Weise vor sich gehen, daß kein Apparat stark genug wäre dem zu widerstehen, während bei Anwendung einer krystallinischen Säure die allmälige Entwickelung dadurch gesichert ist, daß die Theilchen desselben nur in dem Maße auf das Natron wirken können, wie sie selbst nach und nach im Wasser flüssig werden. Von diesem Gesichtspunkte aus ist die Wahl der Weinsäure gerechtfertigt, denn die wenigen andern Säuren, welche in Krystallform vorkommen, wie Citronen-, Phosphor-, Kleesäure sind noch theurer.
Nach dieser Darlegung nun soll gezeigt werden, wie dennoch eine der wohlfeilsten Säuren, die Schwefelsäure, auf ganz gefahrlose Weise zur Entwickelung der Kohlensäure benutzt und der Kostenpunkt dadurch so günstig gestellt werden kann, daß die einmalige Füllung eines Apparates kaum auf ein paar Pfennige zu stehen kommt. Die zu verwendende Schwefelsäure (englische) muß zunächst entsprechend verdünnt werden, und zwar im Verhältniß von 5 Maß Wasser auf 1 Maß Säure. Das Wasser bringt man in ein irdenes Gefäß und setzt die Säure nach und nach in kleinen Portionen zu, wobei man mit einem Glas- oder Holzstäbchen fleißig umrührt. Ist die Flüssigkeit erkaltet, so hebt man sie in Flaschen zum Gebrauch auf.
Um den Apparat in Thätigkeit zu setzen, füllt man zunächst die untere Abtheilung desselben zur Hälfte mit der verdünnten Säure, und bringt dann unter folgenden nothwendigen Vorsichtsmaßregeln die dem Apparat angemessene Portion Natron hinein. Dieses Salz darf nämlich aus dem schon erwähnten Grunde nicht in freie Berührung mit der Säure kommen, sondern muß vorher in eine oder nach Erforderniß zwei etwa fingerlange papierne Hülsen eingeschlossen werden. Man wickelt zu dem Ende ein entsprechend geschnittenes Stück Schreib- oder festes Briefpapier um das Ende eines fingerdicken Stockes derart, daß es zweimal herumgeht und unten ein wenig hervorsteht. Das vorstehende Ende bricht man, wie der Kaufmann die Düte, sauber ein, so daß ein guter Verschluß hergestellt wird, schüttet dann das Natron in die Hülse, legt sie in die Säure und schließt den Apparat. Den oberen Theil der Hülse, welcher über die Säure herausragt, könnte man ganz offen lassen; man knickt ihn jedoch lieber auch ein wenig ein, des besseren Zusammenhaltes halber. Da die Sättigung des Wassers mit der Kohlensäure bei dieser Einrichtung merklich langsamer geht als in der gewöhnlichen Weise, so hat man zwar hinsichtlich der Zeit hierauf Rücksicht zu nehmen, doch liegt hierin auch zugleich die Gewähr völliger Gefahrlosigkeit.
Alfred Meißner, in seinen soeben erschienenen Erinnerungen an Heinrich Heine, erzählt: „Der Homöopath Dr. R… trat zuweilen bei Heine vor. Mit diesem Manne war der Dichter auf eine eigenthümliche Art bekannt geworden. Auf einer Reise aus dem Süden waren Heine und seine Frau vor Jahren in Lyon mit dem Violinisten Ernst zusammengekommen, den Beide schon von Paris her genau kannten. Da Heine morgen nach Paris abgehen soll, bittet der Virtuose den Dichter, ihm ein Geschenk an seinen dortigen Arzt mitzunehmen, eine der colossalen lyoner Würste, die zierlich in Staniol eingewickelt, für eine feine Delikatesse gelten. Heine übernimmt den Auftrag. Dazumal flog man noch nicht auf der Eisenbahn in wenig Stunden von Lyon nach Paris; die Reise im Postwagen dauerte lang und Frau Mathilde ward hungrig. Was war natürlicher, als daß man ein kleines Stück von der Wurst schneidet, die so schwer unterzubringen war und nun das ganze Coupé durchduftet? Madame Heine kostet eine Schnitte und findet sie vortrefflich, Heine thut desgleichen und ist ebenso sehr davon entzückt. Die Reise dauert noch einen Tag, die Wurst verringert sich mehr und mehr und als die Gatten Paris erreichen, trifft es sich, daß nur ein ganz kleiner Rest von dem gewaltigen Ungethüm übriggeblieben. Jetzt erst fühlt es Heine, wie schnöde er sich seines Auftrages entledigt. Was thut er? Er schneidet mit einem Rasirmesser eine völlig durchsichtige Scheibe herunter und sendet sie unter Brief-Couvert an den Doctor. „Herr!“ schreibt er in einem beiliegenden Billet, „durch Ihre Forschungen ist nunmehr ganz festgestellt, daß Milliontheile die größten Wirkungen äußern. Empfangen Sie hier den millionsten Theil eines lyoner Salami, den mir Herr Ernst für Sie übergab. Er wird bei Ihnen, falls die Homöopathie irgendwie eine Wahrheit ist, die Wirkung thun, wie ein ganzer.“
Das letzte Zusammensein mit Heine beschreibt Meißner sehr ergreifend:
Mein letzter Gang war, die Rue de Milan hinan, zu Heinrich Heine. Ich fand ihn aufrecht im Bette sitzend, beschäftigt, die lyrischen Gedichte des Romancero zu ordnen.
„Ich weiß, weshalb Sie kommen,“ sagte er. „Sie kommen, Abschied zu nehmen, lassen Sie ihn kurz sein; jeder Abschied erschüttert jetzt meine Nerven. Wie werde ich allein sein, wenn Sie fort sind!“
„Wir werden uns wiedersehen,“ sagte ich.
„Ich glaube kaum,“ erwiederte er. „Diese Vorrede des Todes hat nun schon zu lange gedauert. Sie kann nicht ewig währen, und mehrere Bände stark werden. Plötzlich, mitten in der spannendsten Periode wird mein Leben abbrechen, wie manches schöne Capitel in meinen Büchern. Leben Sie wohl! ich könnte Ihnen beinahe zürnen, daß Sie mich aus der gespensterhaften Ruhe gestört haben, in der ich liege, und in der ich meistens von der kommenden Stunde nur das weiß, daß ihrer vierundzwanzig einen Tag geben. Doch nein, seien Sie gedankt für die Stunden, welche Sie an meinem Bette zugebracht haben, seien Sie innig gedankt! Ich werde nun wieder recht einsam sein.“
Ich sah ihn an. Thränen standen in seinen Augen. Thränen in Heine’s Augen – in den Augen des Mannes, den die Welt so oft als herzlos gescholten! Ich konnte nicht widerstehen, unbezwingbare Rührung ergriff mich – – – – – – – Ewig unvergeßlich steht dieser Augenblick vor meiner Seele. Ich faßte seine Hand und drückte sie fest.
„Möge das endlose Sterbelied des Schwans der Rue d’Amsterdam Sie nicht zuletzt gelangweilt haben!“ flüsterte der Kranke und wandte sich ab.
Ich ging und wie die Bilder einer Phantasmagorie flogen die Menschen und Häuser an meinen aufgeregten Sinnen vorüber. –
Eine Stunde später saß ich in der Ecke des Eisenbahnwagens.
Meyer, der Gründer und Besitzer des weltbekannten bibliographischen Instituts in Hildburghausen, ist gestorben, in kaum vollendetem 60sten Lebensjahre. Mit ihm ist einer der genialsten Köpfe unserer Zeit schlafen gegangen. Wir mögen nicht Alles billigen, was er im Laufe seines vielbewegten Lebens gethan, aber wer sein Schaffen und Wirken mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt, wer seine unermüdliche Thätigkeit gekannt, seine Anstrengungen in der Nähe gesehen, überhaupt seine schöpferische, gewaltige Natur in der langen Reihe von Jahren seines Wirkens beobachtet hat, der muß mit Achtung von den Talenten und der Energie eines Mannes erfüllt werden, der nichts dem Glücke oder dem Zufalle, sondern Alles sich selbst und seiner eisernen Arbeitskraft zu danken hat. Er ist der Schöpfer der billigen Literatur in Deutschland, war einer der frischesten, immer schlagfertigsten Schriftsteller, ein tüchtiger Kunstkenner, in allen Sätteln der Wissenschaften gerecht, schuf Bergwerke, Maschinenanstalten und große, industrielle Etablissements so leicht, wie er die glänzenden Artikel seines Universums auf das Papier warf, und war bei alledem ein Charakter, der sich und seiner Ueberzeugung durch sein ganzes Leben treu blieb. Die vielen Leser seiner Schriften, noch mehr aber sein engeres Vaterland, dem er unendlich durch seine Thätigkeit genützt, werden ihn nie vergessen.
Alle Einsendungen von Manuskripten, Büchern etc. etc. für die Redaktion der Gartenlaube sind stets an die unterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren.
Leipzig.Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: k.'''