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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine dunkle Vergangenheit.
Novelle von Bernd von Guseck.


I.

Es war ein unfreundlicher Herbstabend. Der Wind strich rauh und feucht über die Stoppeln, wo eine Schafheerde, weidend und von dem Hunde zusammengehalten, ihrem langen Hirten heimwärts folgte, der den Strickstrumpf schon eingesteckt und den Pelz, welchen er frühzeitig hervorgeholt, um den hagern Leib geschlagen hatte. Die Berge lagen in grauen Nebel verhüllt, welcher auch die spitzen Schieferthürme der nahen Stadt kaum noch unterscheiden ließ. Dorthin ging aber der Weg des Schäfers nicht, sondern nach einer Gruppe von stattlichen Gebäuden, welche ein umfangreiches Gehöft bildeten, das in einer Senkung, durch sanft aufsteigende Hügel gegen die Nord- und Ostwinde geschützt, lag. Es war ein ehemaliges Kloster, jetzt eine landesherrliche Domäne, deren geräumiges und bequemes Wohnhaus mit den hellen Fenstern, in denen soeben die rothen Lichter der untergehenden Sonne brannten, keinem Menschen mehr die frühe Bestimmung der Stätte ahnen ließ. Nur auf der Höhe, welche das Gehöft überragte, stand noch eine viereckige graue Warte aus unverwüstlichen Quadern gefügt, der Rest der alten Burg, deren Besitzer einst das Kloster gestiftet und beschirmt hatten.

Die Sonne war untergegangen; ferne Abendglocken mischten ihre feierlichen Klänge mit den leisern und unregelmäßigen des Heerdengeläuts, sonst war Alles still auf der Flur, selbst der Wind eine Zeit lang verstummt, als wolle er die Andacht nicht stören. Der Schäfer hatte den Hut abgenommen und sprach sein kurzes Abendgebet mechanisch, ohne sich viel dabei zu denken, vor ihm saß der Hund und sah ihn mit gespitzten Ohren an. Als der hagere Mann sich darauf die grauen Haare mit dem runden Kamme zurückgekämmt und den Hut wieder aufgesetzt hatte, sprang der Hund auf einmal zur Seite und fing mit eingezogenen Schweife an zu knurren. Von der Ebereschen-Allee, deren rothe Beerentrauben jetzt den einzigen Schmuck der farblosen Gegend bildeten, kam ein Reiter querfeldein gesprengt, gerade auf die Schafheerde zu, welche aufgescheucht eiligst in einen gedrängten Knäuel zusammenlief.

Der Schäfer sah zornig dem Reiter entgegen, den der Hund jetzt mit Gebell anfiel; der Alte ließ seinen Pelz auseinander fahren und stützte sich auf seinen langen, mit Eisen beschlagenen Hirtenstab, er war in seinem Recht und, wenn auch ein Schäfer, denen man sonst wegen ihres Umganges mit der sanftmüthigen Kreatur eine gewisse Weichheit, ja Feigheit vorwirft, gehörte er doch zu den echten Söhnen der hiesigen Landschaft, die ein gar hartes und trotziges Geschlecht sind.

„Ruft Euern Hund an!“ rief der Fremde, dessen Pferd vor dem Köter, der ihn hitzig mit gesträubtem Haar umtobte, schon ein Paar gefährliche Seitensprünge gemacht hatte.

„Der Hund thut seine Schuldigkeit,“ versetzte der Schäfer, ohne sich zu rühren.

„So schieße ich die Bestie nieder!“ rief der Fremde und riß, wie der Alte trotz der eingebrochenen Dämmerung deutlich sah, ein Pistol aus der Sattelholster. Ihm klopfte das Herz, denn er liebte den „Lustig“ wie seinen Sohn, aber er konnte es nicht über sich gewinnen, der Gewalt, die ihn bedrohte, nachzugeben. Zum Glück besann sich aber der Fremde eines Bessern, denn er hatte sein Pferd schon gezügelt und vollkommen wieder in seiner Gewalt, ein paar kräftige Spornstöße trieben das scheuende Thier mit Sätzen an dem ausweichenden Hunde vorüber gerade auf den Hirten zu, als wolle er seine Rache gegen diesen kehren und ihn niederreiten. Der Alte mochte wohl auch so etwas denken, denn er hielt dem Reiter seinen langen Stock wie einen gefällten Speer entgegen, aber von seinem Platze wich er darum keinen Fuß breit.

„Du bist ein muthiger Kerl, auf meine Ehre!“ rief der Fremde, indem er laut lachend sein Pferd dicht vor dem Schäfer so heftig parirte, daß es fast mit den Hacken auf die Erde stieß. Der alte Schäfer war ein Verächter der edlen Reitkunst und hätte dem steigenden Roß am liebsten Eins mit seinem Hakenstocke auf die Nase versetzt. „Schade, daß Ihr hier hinter den Schafen herlauft, Ihr müßtet Soldat werden!“ fuhr der Fremde fort.

„Das bin ich schon gewesen und habe Pulver gerochen vor’m Feinde,“ versetzte der Schäfer, von der Rede des jungen Menschen ganz und gar in Harnisch gejagt. Was! Er, der schon die Muskete nach Paris und wieder zurückgeschleppt, ihm wurde gesagt, daß er noch Soldat werden sollte, jetzt, wo er das unbärtige Volk im „Polrocke“, wie er die neue Waffenkleidung nannte, nicht einmal für richtige Soldaten ansah?

„Allen Respekt!“ erwiederte der Fremde und ließ wieder sein helles Gelächter hören, an welchem ihn eben der Schäfer für einen jungen Menschen erkannt hatte. „Seid Ihr von Sanct Pancraz?“

„Ja,“ lautete die Antwort.

„Ist der neue Oberamtmann angekommen?“

„Vor drei Tagen,“ sagte der Schäfer.

„Was ist es für ein Mann?“ fragte der Fremde rasch.

„Ja, was soll ich – ? Ein Oberamtmann ist er –“ und was der Schäfer noch in seinen unrasirten Bart, der erst morgen, [524] wie alle Sonntage, fallen sollte, brummend hinzufügte, verstand der Reiter nicht.

„Bleibt er nun hier? Kann man ihn sprechen?“

„Weiß ich nicht! Frau und Tochter hat er mitgebracht und zwei haushohe Wagen mit Schränken und Stühlen, er wird also wohl vor die Erst da bleiben.“

„Ich muß Euch noch etwas fragen, Schäfer. Ihr seid ein alter Soldat und die wechseln den Herrn nicht, wie man einen abgetragenen Handschuh auszieht und fortwirft. Wo ist der Oberamtmann Stargau geblieben?“

Der Schäfer hob den Kopf und sah zu dem Fremden, desse Züge er nicht mehr erkennen konnte, eine Weile schweigend empor. „Wer sind Sie denn?“ fragte er dann.

„Ich bin der Lieutenant von Dießbach.“

„Lieutenant?“ entgegnete der Schäfer mißtrauisch; denn der Fremde trug bürgerliche Kleidung. „Von Dießbach? Etwa von der Rinkenburg?“

„Ja wohl. Ihr werdet meine Mutter doch wohl kennen.“

„O ja!“ versetzte der Schäfer trocken.

„Nun, wo ist Stargau?“

„Mir hat er’s nicht gesagt,“ war die eben nicht freundliche Antwort.

„Ihr seid aber doch zu umkameradschaftlich, Alter!“ rief Dießbach. „Das Wetter ist kalt und schnürt Euch vielleicht die Kehle zu – kann ein Achtgroschenstück sie etwa lösen?“

„Ich danke, Herr Lieutenant. Was ich nicht verdiene, nehme ich nicht.“

Der Offizier steckte das Geldstück wieder ein und schien einen Moment unschlüssig, was er thun solle, denn er wandte sein Pferd zweimal nach verschiedenen Richtungen. „Wie heißt Euer neuer Pachter?“ fragte er dann.

„Sie meinen den Herrn Oberamtmann? Siebling!“

„Und Ihr?“

„Ich?“ entgegnete der Schäfer verwundert. „Ich heiße Klupsch.“

„Glupsch doch wohl!“ rief der Offizier lachen. „Ich habe nie einen passendern Namen gehört!“

Der Schäfer, der schon oft mit dieser nahliegenden Verdrehung seines Namens spaßhaft geschraubt worden war, weil „glupsch“ hier zu Lande etwas verteufelt Arges bezeichnet, lachte nun auch und sagte:

„Glupsch bin ich auch, wenn man mich nicht ungeschoren läßt.“

„Das sehe ich!“ erwiederte der Offizier. „Guten Abend!“

Dießbach trabte durch die wachsende Dunkelheit den Bergen zu. Die Rinkenburg, wie das Besitzthum seiner Familie hieß, lag auf einem der bewaldeten Vorhügel des Gebirges, etwa noch zwei Stunden Weges entfernt, bei hellem Wetter war sie noch um diese Stunde des Tages von weit her zu erkennen, denn das Schloß leuchtete mit seinem weißen Abputz weit über das Land. Heut aber, wo die Sonne nur kurze Momente die Wolkendecke zu durchbrechen vermocht hatte, heut war von der Rinkenburg nichts zu sehen. Indessen hatte Dießbach deshalb keine Besorgnisse, denn er glaubte nun in der Gegend vollkommen orientirt zu sein. Er ritt deshalb mit langen Zügeln im scharfen Trabe durch die ziemlich ebene Feldstrecke, welche noch zwischen ihm und den Bergen lag, und überließ es seinem Pferde, sich den Weg zu suchen. Ein Paar Mal schien es unschlüssig, der Reiter half ihm dann mit den Sporen nach. Jetzt scheute es sich wieder vor einem großen Stein, wie es schien, der einen Kreuzweg bezeichnete. Dießbach zog, ein wenig aus dem Sitz gekommen, die Zügel an und lenkte es rechts, während das Thier sich widersetzte und durchaus den Weg links nehmen wollte.

„O nein, beste Kitty!“ sagte der Reiter. „Sie werden die Gewogenheit haben –“

Er spornte sie in die Richtung, welche nach der Rinkenburg führen mußte, aber so nah er sich dem Ziele schon glaubte, mußte er sich, als er eine halbe Stunde flott weggetrabt war, zu seiner nicht geringen Beschämung gestehen, daß Miß Kitty doch wohl am Kreuzwege Recht gehabt.

„Ein Skandal wäre es,“ sagte er für sich, „wenn ein Husar sich nicht einmal in seiner eignen Heimath zurechtfinden könnte!“

Dort ragten endlich die Berge! Viktoria! Finster hob sich in geringer Entfernung von ihm eine dunkle Masse zum Himmel, gegen welchen sich ihr scharfer Rand deutlich abzeichnete. Wenn er nicht in die Berge hinein, sondern längs derselben hinritt, mußte er ja nach Hause kommen, es war nur die kleine Frage zu entscheiden: rechts oder links?

Herr Guido von Dießbach hielt seine schöne Kitty, das unvergleichliche Halbblut, einen Moment an, und befragte zunächst die goldene Repetiruhr, welche er im vergangenen Jahre als Page bei der Aufwartung einer fremden, überaus freigebigen Prinzessin als Geschenk erhalten hatte. Sie ging in dreizehn Steinen und trug innerhalb eingravirt seinen Namen nebst dem der erlauchten Geberin. Man kann sich denken, wie stolz der Besitzer darauf war und wie oft sie ihr feines Stimmchen hören lassen mußte! Heut verkündigte sie schon ein Viertel nach neun Uhr.

„Vor zehn Uhr bin ich zu Hause!“ sagte Dießbach. „En avant!“ Und ohne sich länger zu bedenken, wandte er sein Pferd wieder rechts. „Sie werden entschuldigen, Dame der Schönheit, wenn ich Ihnen zum Schluß noch einen kleinen Galopp gebe!“ sagte er, und sprengte das feurige Thier an, da nun längs der Bergmasse dahin brauste. Dießbach hatte sich vorgenommen, dieselbe stets neben sich zu lassen, aber unmerklich hatten sich auch hinter ihm Höhen zusammengeschoben, bald ragten auch landwärts Hügel und Berghänge, der Weg fing an, sich zu heben, und ehe der Reiter sich’s versah, befand er sich in einem ansteigenden, immer enger werdenden Thale. Er hatte die Schwelle des Gebirgs, ohne es zu wissen, längst überschritten, und war seinem Banne verfallen.

„Also eine Entdeckungsreise!“ sagte er, als er sich dieser Ueberzeugung nicht länger verschließen konnte. „Hat auch ihr Interesse! Wie viel Uhr haben wir jetzt?“

Das Geschenk der Prinzessin repetirte Zehn. „Fatal! Was werden sie auf der Rinkenburg über das Ausbleiben denken? Kuno besonders!“

Er war nun bei dem immer steiler werdenden Bergpfade genöthigt, Schritt zu reiten. Auch das Thal verengte sich immer mehr, endlich gabelte es sich, wie der lichte Himmelstreif, der über seinen schwarzen Wänden lag, deutlich wahrnehmen ließ, weiter oben in zwei rechtwinklig auseinanderspringende Schluchten. Diesmal wählte der Reiter die Linke, denn zur Rechten hörte er ein brausendes Wasser, und wenn er sich nicht täuschte, sogar das Tosen eines Wasserfalles. Die Schlucht, auf deren schroffer Sohle das Pferd nun keuchend emporstrebte, war zum Glück nur kurz und führte zu einer Hochebne, auf der freilich kein Pfad mehr zu erkennen war, selbst für Kitty’s scharfe Sinne, welche mit gesenktem Kopfe schnarchend danach zu spüren schien. Aber eine dämmernde Helle fing an sich zu verbreiten, und zu seiner Freude erblickte Guido nach einiger Zeit den Mond, dessen scharfe Sichel durch eine Tannengruppe schimmerte, welche sich auf der ersten Stufe einer neuen Höhenmasse zu seiner Rechten erhob. Das zweifelhafte Licht, das über der Berghalde zitterte und jeder Klippe, jedem Baume phantastische Formen gab, ließ jedoch nirgends auch nur die Spur eines Weges finden, und so sank denn nach und nach mit der guten Laune auch der gute Muth des jungen Soldaten.

Endlos erschien ihm die Hochflor. Jetzt erreichte er ihren jenseitigen Rand, dort senkten sich wieder Gründe hinab, es blieb ihm keine Wahl, als sich auf gut Glück in deren Labyrinth zu vertiefen. Wie lange er seit der letzten Anfrage bei seiner Uhr geritten war, konnte er zu seinem vermehrten Verdrusse nicht mehr ermitteln, denn sie war stehen geblieben. Ach, und er war jetzt so müde! Sehnsüchtig dachte er an sein weiches Bett –

„Land!“ rief er plötzlich so laut, daß Kitty unter ihm zusammenfuhr. Dort in der Tiefe schimmerte Licht.



II.

Ein gefährlicher Ritt war es noch, den der Verirrte zu bestehen hatte, und er konnte Gott danken, daß er nicht unterwegs den Hals brach. Indessen war die Steile nun glücklich überwunden und auch die Besorgniß, daß ihn nur ein Irrlicht necke und verrätherisch wieder verschwinden werde, hatte sich als grundlos gezeigt. Er befand sich in einem sehr engen und wie der ungewisse Mondschein, der ziemlich senkrecht hineinfiel, vermuthen ließ, gewiß höchst romantischen Thale, aus dessen Hintergrunde ihm das Licht, das er von Oben gesehen hatte, noch immer mit einem stetigen Strahle entgegen blinke. Näher kommend, erkannte er ein Gebäude mit scharfen, wunderlich gezackten Firsten, in welchem ein [525] einziges Fenster, wie es schien, in einem Erker erleuchtet war. Um Mitternacht oder vielleicht noch später! ES konnte aber auch schon Tagesanbruch nahe sein, wer wußte das? Uebrigens sah das Fenster keineswegs gastlich aus, sondern kam dem Reiter, der offenbar der Romantik verfallen war, eher wie ein roth entzündetes Auge vor, das ihm böse entgegen blickte. Ein Hifthorn jetzt, wie die irrenden Ritter vor Alters geführt, um sich dem Thorwart, der offenbar in jenem Kloset über der Pforte wachte, anzukündigen! Aber dem Husaren stand nur seine, noch sehr jugendliche Stimme zu Gebot, mit welcher er sich denn, so laut er konnte, bemerklich zu machen suchte. Es gelang ihm über Erwarten, denn alsbald öffnete sich das Erkerfenster, und ein Kopf mit abenteuerlicher Haube sah heraus.

„Wer ist da?“ fragte eine rauhe Stimme, welche nicht unterscheiden ließ, ob sie einem Manne oder einer Frau gehörte.

„Wo finde ich den Weg nach der Rinkenburg?“ gab Dießbach die Gegenfrage.

„Nach der Rinkenburg?“ wiederholte die rauhe Stimme mit unverkennbarer Verwunderung, und erst nach einigem Besinnen setzte sie hinzu. „Wie kommen Sie denn hierher?“

„Ja, guter Mann, da fragen Sie mich zuviel. Ich bin kreuz und quer zu meinem Vergnügen in den Bergen umhergeritten, bis mein guter Stern mich zu Ihnen führte. Wollen Sie mir etwas Heu für mein Pferd geben, es ist sehr angegriffen.“

„Hier ist keine Herberge!“ antwortete die Stimme kurz.

„Das sehe ich, liebster Mann, aber man weiset keinem anständigen Menschen die Thür, wenn er nur um eine halbe Stunde Quartier bittet.“

„Die Rinkenburg ist über vier Stunden von hier und den Weg finden Sie nicht, klang die wenig tröstliche Auskunft, immer in dem gleichen unfreundlichen Tone. „Reiten Sie in Gottes Namen nur wieder hin, wo Sie hergekommen und und nehmen Sie sich dann einen Boten.“

„Hinreiten, wo ich hergekommen bin? Das werde ich bleiben lassen!“ rief Dießbach lachend. „Habe ich denn heute mit lauter Stierköpfen zu thun? Der Schäfer von Sanct Pankraz ist wohl Ihr cousain germain, liebster Mann?“

„Ich bin kein Mann!“ sagte die Stimme mürrisch.

„Wahrhaftig? O, dann verzeihen Sie, mein Fräulein, eine Bitte. Wenn die Rinkenburg vier Stunden von hier und der Weg für mich nicht zu finden ist, so haben Sie Mitleid mit mir, zarte Seele, und gewähren mir und meinem armen Rößlein eine Streu.“

Statt aller Antwort zog sich der Kopf mit der abenteuerlichen Haube zurück, schloß das Fenster und gleich darauf erlosch auch das Licht. Jetzt wallte das jugendliche Blut des auf so schnöde Weise Abgefertigten im raschen Uebergange zum Zorn auf und er rief laut zu dem Fenster empor.

„Ich schieße Ihnen eine Kugel in die Stube, so wahr ich ein Dießbach bin, wenn Sie mir nicht augenblicklich öffnen!“

Die Drohung schien zu wirken. Das Fenster wurde wieder geöffnet und das unbestimmte Wesen fragte mit merklich verändertem Tone. „Ein Dießbach?“

„Ja, Madame, wenn Sie wirklich weiblichen Geschlechts sind, ich bin ein Dießbach!“

„Und – von der Rinkenburg?“ fragte sie betroffen weiter.

„Dort bin ich zu Hause, erwiederte er. „Nehmen Sie jetzt Raison an?“

„Junker – Kuno?“

„Guido!“ berichtigte er. Sie kennen unsere Genealogie, wie es scheint. Also kapituliren Sie, holde Jungfrau, ziehen Sie die weiße Fahne aus, überreichen mir die Schlüssel, nicht zu Ihrem Herzen, sondern zur Zitadelle und lassen mich einrücken.“ Seine gute Laune war wieder erwacht, hatte aber keine Zuhörerin mehr, denn die Frau war vom Fenster zurückgetreten und eilte jetzt, ihm wirklich die Thüre zu öffnen. Sie trug eine Blendlaterne in der Hand, deren Schein sie voll auf sein Gesicht fallen ließ; er konnte einen halb unterdrückten Laut der Ueberraschung hören, während er vom Pferde stieg.

„Wahrhaftig! Junker Guido!“ sagte die Frau mit einem ganz eignen Tone, der sich in einen heftigen Husten auflöste. Sie winkte mit der Hand, näher zu treten.

„Aber – ist denn kein Mensch da, mir das Pferd abzunehmen?“ fragte er.

„Geben Sie her – Junker Guido! Ich will schon Alles besorgen –“ hustete die Frau und streckte die Hand nach dem Zügel aus.

„O nein, von schönen Händen bedient zu werden, ist Miß Kitty nicht gewöhnt, ich bin Soldat, gute Frau. Zeigen Sie mir nur den Stall und schaffen Futter.“ – Sie ging mit der Laterne voraus, er führte das Pferd durch den hallenden Thorweg, auf einen kleinen, von allen Seiten eingeschlossenen Hof, wo ihm die Alte eine Thüre öffnete.

„Hier, Junker Guido!“

„Sagen Sie mir, Verehrteste, Sie sprechen meinen Namen so geläufig aus, als ob ich ein alter Bekannter von Ihnen wäre – auch meinen Bruder kennen Sie, wie kommen Sie dazu?“ Er nahm dabei die Laterne auf, welche die Frau niedergestellt hatte, und ließ ihren Schein auf das Gesicht fallen, das bis jetzt im Schatten geblieben war, Fast hätte er aber die ganze Laterne fallen lassen, denn eine solche Häßlichkeit glaubte er in seinem ganzen Leben noch nicht erblickt zu haben.

„Lassen Sie nur, Sie kennen mich doch nicht,“ sagte die Frau. Er führte Kitty in den Stall, wo eine ziemlich dumpfige Luft herrschte, Krippe und Raufe zwar vorhanden, aber zum Anbinden kein Mittel zu sehen war. Der junge Herr, wir müssen es gestehen, wußte sich nicht recht zu helfen, und konnte daher nur verdrießlich nach einer Halfter fragen, worauf die alte Frau resolut zugriff, die Kinnkette so geschickt aushakte und das Hauptgestell abstreifte, als sei sie selbst einst Husar gewesen – vielleicht verkappt, wie mehrere deutsche Mädchen in den Befreiungskriegen. Dann nahm sie einen alten Strick, den sie in der Ecke gefunden, warf das eine Ende dem edlen Rosse, – empörende Behandlung! – um den Hals und band es mit dem andern durch einen tüchtigen Knoten an der Krippe fest.

„So, Junker Guido! Die Steigbügel noch heraufziehen, daß es nicht hinein schlägt und sich einen Fuß brechen kann – so ! Nun werde ich schon für Alles sorgen, Futter und Absatteln, wenn es etwas abgekühlt ist. Kommen Sie nur, ich will Sie erst zur Ruhe bringen.“

„Aber, Beste, Sie müssen die Campagne mitgemacht haben!“ sagte Guido, während er der Voranschreitenden folgte. „Gestehen Sie, bei welchem Regiment?“

Die Alte lachte, und wie sie überhaupt, seit sie den Gast bei Namen kannte, ihr ganzes Wesen gegen ihn verändert, ja, so weit ihre Stimme dessen fähig war, einen zärtlichen Ton gegen ihn angenommen hatte, ließ sie sich jetzt sogar auf einen Scherz ein. „Ja wohl habe ich Campagne gemacht, ich bin Fourier gewesen, habe immer gute Quartiere besorgt. – Hier, Junker Guido, haben Sie ein hübsches kleines Stübchen – dort steht auch ein Bett, in dem lange Niemand geschlafen hat, überziehen kann ich es nicht, ein Soldat fragt wohl nichts darnach. Aber erst hole ich Ihnen etwas zu essen und ein Licht, ich setze Ihnen einstweilen die Laterne her.“ Sie entfernte sich schnell, und Guido nahm die Laterne, um sich im Zimmer, das ihm am Ende eines schmalen Corridors angewiesen worden war, umzusehen. Es bot wenig Bemerkenswerthes, hatte nur ein Fenster, von Außen durch einen Laden verschlossen, an Möbeln war es karg ausgestattet, in der Ecke stand ein alter Tisch mit einer Art von Aufsatz, dessen Fournirung vielfach abgesprungen war, ein miserabler Spiegel hing schief an der langen Wand, an welcher auch das Bett und vor ihm ein kleiner Tisch stand; die Wände waren mit geschmacklosen Papiertapeten, auf denen viel grüne Bäume gemalt, bekleidet. Für die paar Nachtstunden gab es aber doch ein passables Unterkommen. Eben kehrte auch die Frau zurück, sie brachte Brot, Butter, Käse und ein dünnes Talglicht auf einem verblindeten Schiebeleuchter von Messing.

„Etwas Besseres kann ich Ihnen nicht vorsetzen, Junker Guido,“ sagte sie mit jenem Anfluge von Zärtlichkeit, vor welchem ihn unwillkürlich ein Frösteln überfiel, denn wohlbewandert, wie er in der Literatur war, mußte er an Abenteuer der Rolandsknappen in Musäus Volksmährchen denken. „Aber in der Campagne nimmt man vorlieb und eine Campagne haben Sie ja gestern gemacht. Hihi!“

„Wie heißt diese verzauberte Burg?“ fragte Guido.

Die Alte gab nicht gleich Antwort.

„Ich meine, wenn es Ihnen verständlicher ist, wie dies Haus oder was es vorstellt, heißt?“

[526] „Hier? Das Haus hat keinen besondern Namen,“ erwiederte die Frau.

„Es gehört Ihnen? Darf ich bitten, da ich Ihnen vorgestellt bin, mich auch mit Ihrem Namen zu beehren?“

Sie besann sich wiederum.

„Haben Sie Ihren Namen vergessen?“ rief Guido lachend.

„Beinahe!“ erwiederte sie, und lachte auch, bis der Husten sie abermals überfiel. „Ich heiße Meier’n.“

„Und dies Thal?“

„Das – das hat auch keinen Namen,“ versicherte die Alte.

„Aber, jede Klippe, jede Schlucht hat doch im Harz ihren Namen und was für romantische giebt’s! Wie soll man Euch denn finden?“

„Finden?“ wiederholte die Alte und stieß einen Zischlaut durch die Zähne. „Uns braucht Niemand zu finden.“

Sie stand ihm nicht weiter Rede, und Guido setzte sich auf das Bett, denn einen Stuhl gab es im ganzen Zimmer nicht, schnitt sich mit einigem Mißtrauen ein Butterbrot und aß dann, von dem Wohlgeschmack überrascht, mit wachsendem Appetite, wobei er sich Vorwürfe machte, daß er nicht noch einmal nach seinem Pferde sah.

Er war aber zu müde, und warf sich bald in das Bett, nachdem er das Licht ausgeblasen hatte, das auch noch seinen verwöhnten feinen Sinn beleidigte. „Aber das Bett ist famos!“ dachte er im Einschlafen.


III.

Der sternhellen Nacht war ein klarer Morgen gefolgt. Längst brannten die grauen, verwitterten Felskuppen, welche in das Thal herniederschauten, im goldnen Feuer der Sonne , die Tannen, welche die schroffen Hänge und deren Fuß bekleideten, rauschten vom Morgenwinde; der Ruf der Vögel klang fern und nah, und immer heller wurde es in dem dunklen Kesselgrunde, wo das einsame Haus mit seinem geschlossenen Viereck von Gebäuden lag, das den verirrten Reiter aufgenommen hatte. Er schlief noch fest, die alte Frau hatte schon wiederholt und zuletzt mit unverhehltem Verdrusse nach seinem Fensterladen gespäht, der sich gar nicht öffnen wollte. Endlich konnte sie nicht länger warten, sie ging und weckte den Langschläfer.

„Junker Guido! Es ist schon sehr spät,“ sagte sie, indem sie das Fenster aufstieß, durch welches das volle Tageslicht hereinströmte.

„Ich bin munter. Ihr Bett ist famos, Frau Müller oder wie Sie heißen.“

„Wenn Sie noch zum Mittag zu Hause sein wollen, ist es die höchste Zeit. Ich bringe Ihnen hier eine Tasse Kaffee und werde unterdessen satteln.“

„Satteln?“ rief er lachend. „Verstehen Sie das auch? Gut dann! Bringen Sie Ihren Mocca, und satteln Sie, der Bote ist doch auch bestellt?“

Sie bejahte es.

Der junge Mann stand auf, sobald sie sich entfernt hatte, er fand allerdings den Kaffee von höchst verdächtigem Geschmack, hielt sich aber dafür an die vortreffliche Sahne. Während des Frühstücks trat er nochmals an das offene Fenster, dessen pittoreske Aussicht ihn schon vorher angezogen hatte. Es lag so, daß man das ganze Thal seiner Länge nach, bis zur nächsten Krümmung überschauen konnte. Der Charakter desselben war ein durchaus düsterer; schwarze Tannen bekleideten die steilen Wände, nur hier und da erhob sich eine Buche mit majestätischer Krone zwischen den spitzigen Nadelhäuptern und gab ihrer dunklen Monotonie eine lichte Unterbrechung. Die Bäume waren aufgewachsen, wo sie Erdreich gefunden, ihre Wurzeln ankerten tief im Felskerne, der an vielen Stellen in seltsam geformten Klippen vorsprang und hoch über dem Walde nackte, verwitterte Scheitel emporgetrieben hatte, auf denen wild über einander gehäuft, mächtige Trümmer lagen, vor Jahrtausenden vielleicht schon zusammengestürzt.

Guido hatte das Fenster geöffnet und sich hinausgebogen, um auch die nächste Umgebung des Hauses in Augenschein zu nehmen. Unten trat eben aus einer kleinen Pforte, welche nach dieser Seite hinausführte, die Frau. Er wollte ihr eine Bemerkung hinabrufen, aber die Rede stockte ihm bei den ersten Worten, denn zu ihm sah nicht das runzelvolle Gesicht der Alten emport, sondern ein blühendes, liebliches Mädchenantlitz, das einen erschrockenen Blick aus wunderschönen blauen Augen zu ihm empor warf und gleich darauf verschwand. Dem jungen Manne schoß ein warmer Strahl durch das Herz.

„Das ia ja ganz famos!“ rief er. „Hütet der alte Drache einen solchen Schatz? Deshalb wollte sie mich nicht aufnehmen, deshalb drängt sie mich fast bei nachtschlafender Zeit wieder in den Sattel. O nein, beste Dame! Ich bleibe hier! singt Cortez. Wenigstens so lange, bis ich die nähere Bekanntschaft dieser reizenden Thalblume gemacht habe. Es wäre ja empörend, wenn so viel Schönheit in der wilden Einsamkeit unbewundert blühen und verblühen sollte!“

Als die Alte kurz darauf ganz heitern Angesichts mit der Meldung erschien, daß Kittel, wie sie den Vollblutnamen entwürdigte, gesattelt sei, fragte Dießbach ohne Weiteres nach dem hübschen Mädchen, das er so eben gesehen.

Die kleinen grauen Augen der Alten, welche mit dem Ausdrucke jener überfließenden Zärtlichkeit, vor welcher ihm gestern die Rolandsknappen eingefallen waren, auf ihm geruht, verfinsterten sich flugs und nahmen ihren stechenden Blick wieder an. „Das ist meine Tochter,“ sagte die Alte, und es klang trotzig, als wolle sie fragen, was er sich darum zu kümmern habe.

„Ihre Tochter? Ihre eigene Tochter?“ rief er verwundert. „Ja, mein Herr Lieutenant, zu dienen: meine eigene Tochter.“

„Eine staunenswerthe Aehnlichkeit! Sie sind zu beneiden um ein so liebenswürdiges Kind, und umgekehrt auch, Ihr Töchterchen um eine solche Mama.“

„Wollen Sie nun reiten, Herr Lieutenant?“ entgegnete die Frau, und vor ihren Blicken, die wie feurige Schlangen aus den tiefliegenden, roth umränderten Augenhöhlen züngelten, überlief den jungen Helden unwillkürlich ein Grauen, das ihm den Humor erstickte. „Ihre Mama wird sich Sorgen machen um Sie.“

„O, die macht sich keine Sorgen. Wissen Sie, beste Madame Schulz, ich habe mich anders besonnen. Aus der Rinkenburg habe ich durchaus nichts zu versäumen, und diese Gebirgsparthie ist so wildromantisch, daß es eine wahre Sünde wäre, sie nicht näher kennen zu lernen.“

„Was zu sehen ist, haben Sie dort aus dem Fenster gesehen,“ versetzte die Alte mit finsterer Stirn.

„Ueberlassen Sie das mir, Sie dürfen meinetwillen keine Umstände machen, ich esse mit Ihnen und Ihrem Töchterchen.“

„Meine Tochter ist fortgegangen und kommt nicht wieder,“ sagte die Alte mit einem höhnischen Zucken der schmalen Lippen, das ihren scharfen weißen Eckzahn enthüllte.

„Zum Mittagessen doch?“ rief Guido.

„Heute und Morgen nicht, vielleicht in vielen Tagen nicht – wer weiß, ob überhaupt!“

„Und Sie sagen das mit einer Art von Freude, Sie Rabenmutter?“ rief Guido, von dieser Nachricht in seinem Drange nach der schöner Bergnatur merklich abgekühlt.

„Wollen der Herr Lieutenant nicht lieber nach Hause reiten? Ihr Kittel steht einmal fix und fertig und Ihre Frau Mama ängstigt sich doch – um Sie ganz gewiß!“

„Woher wissen Sie das?“ entgegnete Guido überrascht, denn es schien ihm eine Anspielung auf die Vorliebe zu sein, die er bei der Mutter vor dem ältern Bruder genoß.

„Ich denke mir’s so,“ erwiederte die Alte mit einer Rückkehr zur Freundlichkeit. „Sie sind das Nesthäkchen, das Jüngste.“

„Nun, ehrwürdige Rathgeberin, ich gehorche Ihnen. Haben Sie einen Boten für mich?“

„Er hält Ihr Pferd im Hofe.“

„Wenn Sie eine menschenfreundliche Gesinnung hätten, so würden Sie mir Ihr Töchterchen als Ariadne zur holden Führerin aus diesem Labyrinthe gegeben haben.“

Die Alte erwiederte nichts auf die leichtfertige Rede, sondern schritt voraus nach dem Hofe, wo Guido seine Kitty gesattelt und gezäumt, stehen sah, von einem kleinen Bauerbuben gehalten, dem ein breitschultriger Mann eine Pelzmütze auf den Kopf stülpte. Die Erscheinung desselben überraschte den jungen Offizier, er hatte die beiden Frauen, Mutter und Tochter, für die alleinigen Bewohnner dieses einsamen Hauses gehalten.

(Fortsetzung folgt.)
[527]

Fürst und Künstler.

„Kaulbach – Kaulbach – rufen Sie doch Ihren Hund weg!“

„Ah, Majestät – entschuldigen – – Sultan, zurück!“

Ein großer, zottiger Neufundländer verläßt träge seinen Ruheplatz, und herein tritt eine lange, hagere, etwas vorgebeugte Gestalt mit einem geistreichen Kopfe, in dem trotz seiner Jahre noch jene Frische und Lebendigkeit zu lesen ist, die Allen, aber auch nur Denen eigen ist, die sich ungeachtet des Alters, der Erlebnisse und Schicksalsstürme, eine gewisse Energie der Seele mit Phantasie und Empfänglichkeit zu erhalten wissen.

Dies ist König Ludwig, der nicht allein von Baiern, sondern von der ganzen Welt als Kunst-Mäcen anerkannt und verehrt wird, und der seine Residenz München aus einer schlichten, fast unbekannten Stadt zu einem ächten Sitze der Musen erhob.

Die glänzendsten Talente, ja selbst Genies können zu Grunde gehen, steht ihnen nicht ein Mann zur Seite, der die Gelegenheit giebt, zu schaffen. Dies oft gethan zu haben, hat König Ludwig das große Verdienst und es wäre sehr die Frage, hätte ihn nicht ein so tüchtiger Kunsteifer beseelt, ob Namen wie Cornelius, Kaulbach, Schnorr, Schwanthaler, Klenze und Rottmann so groß in der Kunstgeschichte dastünden. Wir lesen mit Achtung und Bewunderung den schönen Zug aus dem Leben des französischen Königs, Franz des Ersten, wie er Leonardo da Vinci den Pinsel aufhob, als er der Hand des greisen Meisters entfiel. Es war ein Tribut, den irdische Macht und Herrlichkeit geistiger Größe brachte. Wie reich mag Ludwig’s Leben an vielen solcher Begebenheiten sein, der mit seinen Künstlern selten als Fürst spricht, [528] und sorgfältig Alles, was an die Majestät streifen könnte, in den Hintergrund treten läßt, um, wenn er ein Atelier besucht oder unter seinen Schützlingen ist, ein zwangloses Gespräch führen zu können.

Wer von Münchens Künstlern gedenkt nicht mit inniger Freude jener Besuche des Königs in dem „Stubenrell“, der kleinen niedern Künstlerkneipe, die allerdings schon berühmtere Gäste sah, als mancher Prachtsalon?

„Guten Abend, Majestät!“ rief’s da fröhlich von Mund zu Munde, und im schönsten gothischen Pokale, der immer mit gewisser Feierlichkeit vom Tabernakel herabgenommen wurde, trank der Fürst seinen Lieblingen zu, wie ein Freund dem Freunde. – Wer erinnert sich nicht seiner Bonhomie, mit der er den kecken Gruß: „Guten Tag, Vetter,“ eines jungen Künstlers aufnahm, der bei einem Festzuge, als Kaiser Maximilian, seinen König mit dieser Vertraulichkeit zu begrüßen wagte, die doch, wie bekannt, nur unter wirklichen Monarchen üblich ist? Oder wie elektrisch wirkte nicht seine humoristische Aeußerung, als ebenfalls bei einem Künstlerfeste König Max und Königin Marie sich entfernt hatten; „Kinder,“ rief er da zu den Umstehenden, „jetzt sind wir unter uns, jetzt ist der Hof weg!!!“

König Ludwig entsagte im Jahre der Bewegung dem Throne, weil, wie er sich schlicht und ehrlich genug ausdrückte, seine Ansichten mit denen der bewegten Zeiten nicht in Einklang zu bringen wären. Sein innerer Reichthum ließ ihn keinen Augenblick im Zweifel sein, ob er sich auch dann noch glücklich fühlen könne, nachdem er die erste Würde im Staate mit der zweiten tauschte; im Gegentheil schien er, als ein wahrer Philosoph sich leichter und freier gehen zu lassen, nachdem er sich der Bürde des Regierens entledigt. Unbekümmert alles politischen Getriebes, lebt er noch um Eins so heiter der Kunst und den Künstlern, von denen er auch jetzt nicht läßt, so wenig ihm noch Staatsmittel zur Seite stehen.

Kaulbach’s Atelier steht auf einem einsamen Platze, wild umwachsen von Flieder- und Haselbüschen. Das Häuschen ist so schmucklos als möglich gehalten, bis auf einen gemalten Pfau, der rechts am Eingang prangt. Früher stolzirten zwei lebende Exemplare auf dem Platze umher; wie es scheint, hat der Künstler für diesen graziösen Vogel eine besondere Vorliebe.

Wir sehen den König Ludwig die Werkstätte des Künstlers betreten.

„Nicht stören lassen,“ klopft der König dem Meister auf die Schulter, der eben an seinem großen Gemälde (es war im Jahre siebenundvierzig), „die Zerstörung Jerusalems“ beschäftigt ist.

„Bitte, Majestät,“ entgegnet Kaulbach in seinem gewöhnlichen Ernste, und malt ruhig weiter, nachdem er seinem Besuch einen Stuhl angeboten hat.

Während dessen betrachtet der König mit aller Liebe und Aufmerksamkeit eines Kenners das bald vollendete Werk, tritt bald vor, bald zurück, ist jedoch in seinen Bemerkungen oder Urtheilen sehr behutsam. Jedes seiner Worte zeugt dabei von einem tiefen Eingehen in die Auffassung des Künstlers, in den Vortrag, Arrangement und Behandlung. Und es wäre für manchen Besucher eines Ateliers lehrreich, dürfte er hier sehen und hören, wie sich ein gebildeter Laie einem großen Künstler gegenüber gerirt.

Indem der König dies oder jenes nach der Wand zugekehrte Bild umwendet, und so geräuschlos wie möglich die Runde im Atelier macht, haben wir Zeit, Kaulbach, den Schöpfer der „Hunnenschlacht“, der „Zerstörung von Jerusalem“, des „Thurmbaues von Babel“, des „Reineke Fuchs“, näher in’s Auge zu fassen, der in seinem weiten Talare vor der riesigen Staffelei steht, und eben den Kopf des Ahasver retouchirt, den Rachedämonen geißelnd vor sich hertreiben. Kaulbach’s Antlitz trägt die Blässe des tiefen Denkers, des anhaltend schaffenden Geistes. Die Stirn ist edel gewölbt, die Nase ziemlich scharf gebogen, das Auge tiefliegend und nicht selten durchdringend. Seine Gestalt möchten wir mit der Schiller’s vergleichen, wie überhaupt die Wesenheit Kaulbach’s mit der des großen Todten eine gewisse Verwandtschaft haben mag. Sein ewiger Schaffenstrieb läßt ihn in sich gekehrt und verschlossen erscheinen, dabei ist ihm zuweilen eine gewisse Schroffheit eigen, die wohl aus dem allgemeinen Künstlerleiden, der Hypochondrie, ihren Nahrungsstoff zieht. Sobald er arbeitet, und er arbeitet fast immer, ist ihm jede Berührung mit der Außenwelt sichtlich unangenehm, und nur in einer rechten Musestunde kann man ihn lächeln und heiter sehen. Von einem Hange zur Ironie, ja zum Sarkasmus, ist Kaulbach nicht frei, und dieser Charakterzug (Fehler wollen wir es nicht nennen) mag es wohl besonders sein, der ihm manchen Gegner zugezogen hat. Allerdings kann ein Künstler, der die mit attischem Salze gewürzten Zeichnungen zu „Reineke Fuchs“ entwarf, unmöglich ganz harmloser Natur sein, wie wir auch in manchem andern seiner größern oder umfangreicheren Werke satyrische Züge entdecken, welche unleugbar auf seine Charakterrichtung, wenigstens auf einen Theil derselben schließen lassen. Indessen glauben wir, ein Mann wie Kaulbach dürfe in seinen Werken sich erlauben, was einem minder großen Geiste unstatthaft ist, und sehen wir uns unter den alten Meistern die größesten an, so werden wir bei ihnen, wollen wir unparteiisch sein, genug Stellen finden, wo ihnen der Schalk mehr als in den Nacken geschlagen hat. Bei diesen wird es übersehen, oder die Pietät verbietet es zu sehen. Wäre es nicht vernünftig, lebenden Meistern von dieser oft übertriebenen Pietät auch ein Scherflein zukommen zu lassen?

Das deutsche Publikum wird sich noch des scharfen Angriffs erinnern, den Kaulbach (betreffs seiner Friese für die neue Pinakothek) von einem Kunstgenossen erlitt. Man wollte finden, Kaulbach habe darin einige der Künstler, die König Ludwig zur Ausführung seiner Ideen nach München berief, nicht auf das Schmeichelhafteste behandelt.

Gut. – Aber hat ein Kaulbach so wenig Verdienst um die Kunst, oder trägt er einen so unberühmten Namen, daß man ihm in diesem Falle die schuldige Pietät verweigern dürfte, die gewiß dazu geschwiegen hätte, wenn ein Meister einmal irrte? Aber es ist schlimm, und doch ist es so, viele unserer Landsleute ertragen weit eher die plumpeste, sogenannte biedere Derbheit, als einen feinen Witz oder eine beißende Bemerkung. Beide sind unserm Künstler eigen, und aus beiden allein scheint uns leider die große Zahl seiner Gegner zu entspringen, so ungerecht, so unkünstlerisch dieses Verfahren auch sein mag. – König Ludwig soll, als er von diesem Federkriege hörte, gelächelt haben – gelächelt, – wie ein Mann, der Künstlerlaunen zu beurtheilen weiß. Am Allerwenigsten gab er jenen Gallsüchtigen Gehör, die in ihrer Entrüstung so weit gingen, ihn unterthänigst zu bitten, die entsetzlichen Friese vernichten, oder statt ihrer andere anbringen zu lassen. Erinnert diese Scene nicht an die im „Urbild des Tartuffe,“ worin Advokaten, Mediziner und Akademiker den Polizeiminister beschwören, Herrn Molière auf die Finger zu klopfen, weil er es wagte, sie dem Spottgelächter von Paris Preis zu geben? Molière aber entgegnet in seiner berühmten Vertheidigung: „Nicht eine Person, sondern nur eine Gattung wollte ich schildern.“

Und – gestehen wir es uns am Ende ehrlich: von Vielen, die damals nach München berufen wurden, gab es doch auch einige, die nicht auserwählt waren. Den Zopf, und die damit meist Hand in Hand gehende Mittelmäßigkeit wollte Kaulbach ein wenig züchtigen, aber gewiß kam es ihm nie in den Sinn, die Erhabenheit jener Kunst-Epoche (die dem Friese zum Vorwurf dient) lächerlich zu machen. Möge dies Urtheil der Mit- und Nachwelt gerechter und liebevoller über den großen Künstler lauten, als das mancher seiner Kunstgenossen, mögen kleinliche Anfeindungen, sie entspringen aus Mißverständniß, falscher Auffassung der Thatsachen oder – Neid – sein arbeitsvolles Leben nicht ferner vergällen. Betrachten wir Alle vielmehr den rastlos Strebenden mit Achtung und Bewunderung, die jeder Vorurtheilslose empfinden muß, blickt er auf die Werke des Künstlers, die Jahrhunderte überdauern werden. Es mag wohl einige große Maler geben, die ihm an dem, was man Genies nennt, zur Seite stehen oder selbst überragen – aber an Produktivität, an tief-ernstem Studium übertrifft ihn kein Zeitgenosse, und der Künstler, welcher zwei so seltene Eigenschaften besitzt, darf schon deshalb auf den Rang eines Genies Anspruch machen, vor dem wir uns beugen müssen, ohne seine etwaigen Schwächen nebenher kleinlich zu bekritteln. Vor Allem bleibt es aber immerhin eine mißliche Sache, wenn ein Künstler den andern Angesichts der Menge auf solche Weise vor die Schranken fordert. Die Kunstgeschichte ist, unsers Wissens, wenig reich an solchen Fällen – sie möge auch für die Zukunft arm darin bleiben.

Wir wollen weder von König Ludwig, von Kaulbach, noch von München scheiden, ohne zuvor einigen der wackersten Künstler zu gedenken, die in dieser Kunst-Metropole ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben.

[529] Max von Schwind nimmt wohl unter ihnen die hervorragendste Stellung ein. Neben geistvoller Conception, correkter Zeichnung und vollendeter Grazie in seinen weiblichen Figuren und Köpfen, durchweht fast alle seine Compositionen eine Frische und Anmuth, wie sie der romantischen Schule nur zum Muster dienen darf. Ein kecker, beinahe übersprudelnder Humor begleitet den Meister gar oft bei seinen Entwürfen, wobei ihn sein glückliches Naturell, ein kerngesunder Sinn, gar herrlich unterstützt. Schwind ist ein unbedingter Anhänger der altdeutschen Schule, was so recht aus seiner bekannten Aquarell-Zeichnung, „Ritter Kurt’s Brautfahrt“ in die Augen fällt. Franzosen und Belgier existiren für ihn nicht, denn vom Colorit hält er wenig, worin gerade jene Meister sind. Einem Künstler, wie ihm, ist wohl diese kleine Grille zu verzeihen, der seinem Ruhme abermals durch die Fresken in der Wartburg einen Denkstein setzen wird.

Buonaventura Genelli, ein, wenn wir uns den Ausdruck erlauben dürfen, michelangelo’scher Charakter, ist dem größeren Publikum weit weniger bekannt, als es wünschenswerth wäre. Der einfache Contour genügt ihm, seinen tiefsinnigen Gedanken Gestaltung zu geben. Seine Figuren sind meist nackt, selbst die Gewandung ist ihm ein überflüssiger Tand. „Das Leben eines Wüstlings,“ eine cyklische Composition, ist eines seiner bedeutendsten Werke. Genelli’s ganzes Wesen athmet Mark und Kraft, sein großes Vorbild, Michel Angelo, leuchtet aus allen seinen Compositionen, ohne daß sie deshalb ihre Selbstständigkeit verlieren. Er lebte lange in Rom, und die Classicität der ewigen Stadt scheint unvertilgbare Eindrücke auf seinen Charakter, ja, auf seine Erscheinung zurückgelassen zu haben. Würfe er eine „Toga“ über, der ächteste Römer des alten Roms stände vor uns, ein Brutus vom Scheitel bis zur Sohle.

Peter von Heß, der Schlachtenmaler, zählt zu den glorreichsten Namen der Gegenwart. Sein „Uebergang über die Beresina“ ist ein Werk der staunenswerthesten Erfindungsgabe, der kühnsten Phantasie. Hunderte von Detail-Scenen sind in diesem Bilde zu einem harmonischen, ergreifenden Ganzen zusammengefaßt, und das Genie, wie der Fleiß des Künstlers reichen in diesem Werke einander gleichmäßig die Hand. Schade, daß Peter von Heß, wie manchem münchener Künstler, eine etwas kalte, trockne Farbe eigen ist, welche die Total-Wirkung in seinen Gemälden hier und da beeinträchtigt.

Unter den Genre-Malern nimmt Flüggen unstreitig die erste Stellung ein. Charakteristische Auffassung, psychologisches Eingehen bis in die kleinsten Details geben seinen Schöpfungen einen Reiz, der unwiderstehlich fesselt. Oft mit erschütternder Wahrheit führt er uns durch seine Gemälde in die verschiedensten Conflicte des menschlichen Lebens ein, und zwingt uns, dem Künstler wie dem Denker, gleiche Bewunderung zu zollen. Dabei ist seine Farbe kräftig, ohne manierirt zu sein, sein Vortrag kühn, ohne in Flüchtigkeit auszuarten. Diesem Künstler wurde jüngst die Ehre zu Theil, den Tod Friedrich August von Sachsen in einem Bilde darzustellen, und wir sind, ohne das Werk gesehen zu haben, im Voraus überzeugt, daß er diese schwierige Aufgabe würdig gelöst hat.

In Kiener, dem Badenser, erkennen wir in der That die leichtere, harmlosere Schwabennatur. Die Stoffe, die er zu seinen Compositionen wählt, berühren weniger innere Seelen-Zustände, er schildert mehr Situationen. Seine vaterländischen Bauernscenen sind eben so wahr wie humoristisch, und er, wie Flüggen und Louis Schön bilden ein würdiges Genre-Malertriumvirat Münchens.

München ist auch reich an trefflichen Landschaftern, und Namen wie Zimmermann, Morgenstern, Zwenganen haben bei allen Kennern einen schönen Klang, und ihre Schöpfungen tragen in Styl und Ausführung den Stempel der Großartigkeit. Der knapp zugemessene Raum unsers Blattes erlaubt uns nicht, alle die künstlerischen Namen aufzuführen, die einer Erwähnung verdienen, wir hoffen aber in einem spätern Artikel nochmals auf dieses Thema zurückzukommen.

H. K. 




Haut- und Haar-Krankheiten.

I. Hühner-, Elster- oder Krähenauge, Leichdorn.

Wo Dich der Schuh drückt, da merkst Du bald ein Hühnerauge. Denn nur länger anhaltender Druck und Reibung erzeugt diese keilförmige Verdickung der hornartigen Oberhaut, besonders da, wo die Haut dicht und ohne Fettunterlage über einem Knochenvorsprunge liegt. Deshalb hat das Hühnerauge aber auch seinen Hauptsitz auf dem Rücken der Zehen, besonders an der kleinen Zehe und über dem zweiten Zehengelenke, sowie am Ballen der großen Zehe. Doch trifft man dasselbe nicht selten auch zwischen den Zehen und auf der Fußsohle, ja bei Damen, die sich fest schnüren, sogar am obern Rande der Hüfte, und auf dem Kniee bei Solchen, die viel knieen. So wie nun Druck diesen Hornkeil der Haut erzeugte, so verschwindet derselbe ganz von selbst, wenn der Druck, durch den er entstand, aufgehoben wird. Seinen Namen „Hühner-, Elster- oder Krähenauge“ verdankt er seinem dunklem und dichtern-Mittelpunkte, welcher der Pupille eines Vogelauges nicht unähnlich ist. Als Wetterprophet steht aber das Hühnerauge deshalb bei Manchen in Ansehen, weil es durch sein Wehethun schlechtes Wetter verkünden soll. Diese Erscheinung läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß die das Hühnerauge bildende hygroscopische (Wasser aus der Luft anziehende) Oberhaut bei sehr feuchter Luft anschwillt und dann die benachbarten Empfindungsnerven der Haut stärker drückt.

Um den Bau des Hühnerauges genauer kennen zu lernen, muß man sich an die Struktur der Haut und besonders der Oberhaut erinnern (s. Gartenlaube Jahrg. II. Nr. 44). Die äußere Haut wird nämlich aus drei übereinander liegenden Hautschichten zusammengesetzt, von denen die oberste die Oberhaut oder Epidermis, die mittlere die Lederhaut und die unterste die Fetthaut heißt. Die Oberhaut, welche überall die freie Oberfläche der Lederhaut mit ihren Vertiefungen und Erhabenheiten überk1eidet und ganz gefäß- und nervenlos (also unempfindlich und unentzündlich) ist, besteht aus zwei, ziemlich scharf von einander getrennten Schichten, von denen die unterste, jüngste, unmittelbar an die Lederhaut (von deren Blutgefäßen sie erzeugt wird) stößt und Schleimschicht genannt wird, während die obere und ältere den Namen der Hornschicht hat. Die erstere, welche der Hauptsitz der Hautfarbe (des Teint) ist, besteht nur aus kleinen, mit Flüssigkeit prall gefüllten, rundlichen oder länglichen, nach der Hornschicht zu platt und eckig werdenden, kern- und farbehaltigen Bläschen (Epidermiszellen); die letztere wird aus Schichten vier-, fünf- und sechseckiger Horn-Plättchen zusammengesetzt, welche allmälig durch das Plattwerden und Verhornen der Epidermiszellen entstanden sind. Die obersten, ältesten Plättchen der Hornschicht stoßen sich fortwährend los und die unteren jüngeren Plättchen und Zellen rücken immerfort nach, bis auch sie sich endlich an der Hautoberfläche abschuppen.

Das Hühnerauge besteht nur aus Schichten von Hornplättchen der Oberhaut, die aber in größerer Menge fester und dichter, sowie schräg und sogar senkrecht oder auch zwiebelschalenartig (concentrisch) an einer kleinen umschriebenen Stelle neben und um einander herum gelagert sind, während ihre Lagerung in gesunder Oberhaut doch eine horizontale ist. Es läßt sich demnach das Hühnerauge als eine aus harten Hornschüppchen zusammengesetzte Verdickung der Oberhaut bezeichnen, deren Form sich gewöhnlich der keilförmigen oder halbkugligen nähert. In ihrem Mittelpunkte bilden die dichter zusammengedrängten, schräg- oder concentrisch gelagerten Schüppchen eine Art von länglichen, weißlichen und dunklern Kern, dessen oberes und unteres Ende (oder die Wurzel des Hühnerauges) sich etwas zuspitzt; letzteres ragt durch die Schleimschicht der Oberhaut bis in die Lederhaut hinein, wo es einen Eindruck veranlaßt, und durch diesen Druck sogar eine Entartung der Haut (Entzündung mit kleinen Blutaustretungen, Verdickung oder Abmagerung der Lederhaut, Schwund der Haut-Wärzchen und Drüschen) hervorrufen kann. Unter alten Hühneraugen entwickelt sich manchmal auch ein kleines Säckchen (Schleimbeutel), welches sich leicht entzündet und vereitert, wobei dann das Hühnerauge abgestoßen wird. An den Leichdornen zwischen den Zehen sind die Hornschüppchen durch den Schweiß etwas aufgeweicht und weißlich, weniger durchscheinend. – Die Bildung des Hühnerauges geht so vor sich, [530] daß an der gedrückten und gereizten Stelle ein vermehrter Blutzufluß stattfindet, wodurch die Lederhaut zur reichlichen Bildung von Epidermiszellen und Hornplättchen veranlaßt wird. Dieses letzteren thürmen sich auf und scheinen hauptsächlich dadurch die Entstehung des Kernes des Hühnerauges zu vermitteln, daß sie sich im Innern oder im Umkreise eines Schweißkanales anlagern. Die weiße und dunklere Färbung des Kernes hängt wohl von der Art der Lagerung der Hornschüppchen und die dadurch bedingte Lichtbrechung ab, denn ganz feine Schichten des Kernes sind hornartig durchscheinend. Im Kern selbst finden sich zuweilen kleine Klümpchen eingetrockneten Blutes. Bei sehr tiefer Einsenkung der Hühneraugenwurzel in die Lederhaut kann durch heftigern Druck oder Stoß leicht Entzündung und Vereiterung der unter dem Hühnerauge liegenden Haut erzeugt werden.

Fig. 1. Zehe mit einem Hühnerauge; a) mittlerer Theil oder Kern desselben
Fig. 2. Eine längs durchschnittene Zehe mit einem Hünhnerauge in natürlicher Größe.
 a) Mittlerer Theil (Kern) des Leichdorns und b) Seitentheile desselben.
Fig. 3. Ein senkrecht durchschnittenes Hautstück mit einem Hühnerauge, unter dem sich ein
 kleines Säckchen (Schleimbeutel) befindet. a) Kern. b) Schleimbeutel.
Fig. 4. Eine 20malige Vergrößerung eines senkrecht durchschnittenen Hühnerauges.
 a) Kern aus schräg gelagerten Hornschüppchen. b) Seitentheile. c) Oberfläche
 der Lederhaut mit Hautwärzchen. d) Lederhaut. e) Vertiefung in
 der Lederhaut mit Wurzel des Hühnerauges.

Zur Heilung der Hühneraugen ist vor allen Dingen die Aufhebung des Druckes und der Reibung auf der Stelle, wo das Hühnerauge sitzt, nöthig. Deshalb bestelle man bei seinem Schuhmacher, wenn man denselben nicht ganz entlassen will, anders geformte und bequemere Leisten zu einbälligem Schuhwerke. Uebrigens kann man sich auch damit helfen, daß man mittels Schwamm, Leinewand oder Pflaster den Druck vom Hühnerauge abhält, oder daß man nach Entfernung desselben die ganze Zehe mit schmalen Heftpflasterstreifen ziemlich fest umwickelt. Zur Abhaltung des Druckes vom Hühnerauge bettet man dasselbe in eine Vertiefung oder Oeffnung, die man in Wund- oder Feuerschwamm, oder in mit Heftpflaster bestrichene und mehrfach über einander gelegte Leinewand- oder in bepflasterte Lederstückchen geschnitten hat. Gegen Hühneraugen auf der Fußsohle trage man Filzsohlen, die in einem Ausschnitte das Hühnerauge aufnehmen. – Zur Entfernung der Hühneraugen wendet man warme Fußbäder oder irgend ein Pflaster an, um die Hornmasse derselben zu erweichen, worauf sie mit einem stumpfen Instrumente oder dem Nagel herausgehoben werden. Das Ausschneiden der Hühneraugen mit einem scharfen Messer überlasse man nur geschickten Operateuren, da man selbst sehr leicht zu tief schneiden und dadurch ein böses, sogar gefährliches Fußleiden veranlassen kann. Denn bei der Hühneraugenoperation ist der glückliche Erfolg von der Ausschälung der tiefsten trichterförmigen Einsenkung des Kernes in die Lederhaut abhängig. Das Abfeilen der Hühneraugen ist nur von geringem und bald vorübergehendem Vortheil.
(Bock.) 




Besuch in einer englischen Kohlen- und Eisenstadt.

Wales im Allgemeinen. – Ansicht von Merthyr-Tydvil. – Was die Stadt producirt. – Schwarze Trostlosigkeit der Stadt und Umgegend. – Kein Baum, kein Gras. – Der Schmelzungsprozeß. – Der Werth des Bodens und der Werth der Menschen. – Die Rebekka-Tumulte in Wales.

Im Allgemeinen kennt man in Europa, einschließlich England, Wales nur als den Titel, welchen der Erstgeborne jedes englischen Staatsoberhauptes mit auf die Welt bringt, „Prinz von Wales.“ Und doch ist dieses im äußersten Westen von England zwischen großartige, reiche Felsennatur zusammengedrängte, gleichsam vorsündfluthliche Volk in seiner Natur, seiner Geschichte, Poesie, Kultur und gegenwärtigen Industrie mit seinen stammverwandten schottischen Hochländern und den Bretagnern in Frankreich eins der interessantesten für fast alle möglichen Ansprüche. Historiker, Alterthumsforscher, Poeten, Geologen, Landschafts- und Genremaler, Verehrer des Tragischen, Schrecklichen, Heroischen in der Geschichte, Sammler von Legenden und Sagen, Schieferdecker und Kinder, die auf Schiefertafeln rechnen lernen, Eisen-Verständige, Interessenten für die besten Steinkohlen der Erde oder den besten Flanell, Gewerbtreibende aller Art, Schifffahrt und Handel – Jeder findet hier reichen Stoff für seine besondere Sphäre. Die Engländer haben erst ganz neuerdings angefangen, Wales als diesen Schatz zu entdecken. Sie reisen zuweilen schon nach Wales statt auf den Continent. Und wie zwei Deutsche herüber geholt werden mußten, [1] um die Engländer zu lehren, wie man den ungeheuren Mineralreichthum von Wales bergmännisch behandeln müsse, sind es auch jetzt besonders zwei Germanen [2], welche es zuerst wissenschaftlich wagten, in den geheimnißvollen, tiefen, poesiereichen Sprachschatz dieser Ueberbleibsel der alten Briten hinabzusteigen. Wales ist das Land des Unterirdischen, Vorsündfluthlichen, des Eisens, der Kohlen und von Gebirgsformationen vor Erschaffung der Erde, des Romantischen und der Legende, geschichtlicher Monumente vorchristlicher Zeit, der alten Römer, der eingebornen Briten, das letzte Land der Barden, welche den Ruhm großer Helden sangen, wie einst die Homer’s bei den alten Griechen, bis sie wehklagend den tragischen Tod ihres letzten Heroen Llewellyn gedichtet und gespielt hatten. Dann sprangen die Saiten ihrer Harfen und sie wurden stumm vor dem Eroberer, der sie tief in die Bergwerke und hoch in die Schluchten von Schieferfelsen und in hoch aufflackernde, nie erkaltende Eisenöfen sandte, um Geld aus ihnen zu machen.




Durch das Paradies der Obst- und Viehzucht, immerwährend durch blühende Wiesenwellen und Obstgärten, durch die Windungen des duftigen Thales Stroud, wo uns von allen Seiten herrliche Landhäuser aus saftigem Grün entgegenlachen, jagt uns der Dampf zu schnell nach Gloucester (gesprochen: Gloster) mit seiner berühmten Kathedrale und den Klöstern, die ganz so geblieben sind, wie sie waren, als die Reformation die Mönche heraustrieb. Für zwei Schillinge Entree bekamen wir auch das furchtbare unterirdische Gewölbe der Kirche zu sehen, in welchem wenigstens zwanzig Fuder Schädel, Knochen und Rippen ehemaliger Menschen, die der Todtengräber im Kirchhofe ringsum ausgräbt, um den durch Rang und Vermögen sich so sorgfältig abscheidenden Engländer für neue brüderliche Verwesung Platz zu machen, ganz ohne Berücksichtigung ihrer ehemaligen Unterschiede aufgehäuft sind. – Von Gloucester [531] aus brachte uns die Landkutsche durch eine Reihe blühender Landschaftsbilder und Städte an dem Silberband von Wales und Hereford, dem Flusse Wye (Uei) herunter – durch das malerischste Labyrinth von Thal und Hügel und Felsen und Landhäusern und feinstem Ackerbau und Industrie – durch lauter lachende, thätige, lustige, blühende Civilisation plötzlich vor ein Thal unter uns, das dem aus dem Paradiese von Hereford kommenden Auge unsäglich furchtbar und haarsträubend erschien. Ein unentwirrbares Gewinde von Rauch und Asche und verbrannten Gebirgen, als hätte hier eine ungeheure Feuersbrunst jede Spur grünen Lebens gemordet und das Ganze mit schwarzen Schlacken und Ruß dicht belegt, damit nie wieder etwas wachsen solle. Wir standen eben vor dem Thale Toff, aus welchem sich in dickem Qualme, der Himmel und Erde in ein ewiges Chaos zusammen zu mischen scheint, die neue Hauptstadt der Eisen-Industrie von Süd-Wales erhebt, Merthyr-Tydvil.

Die Stadt ist in England beinahe sprüchwörtlich geworden in ihrer ewig rauchenden und brennenden Erhabenheit, und jeder setzt hinzu, daß man im Finstern zu ihr herunter fahren müsse, um sich den Genuß der Erhabenheit des Schrecklichen zu verschaffen. So warteten wir denn die Dunkelheit ab, um zu sehen, wie mit dem verlöschenden, öden Tageslicht in dem Chaos schwarzen Qualmes glühende Feuersäulen immer goldener und phantastischer sich zwischen Himmel und Erde aufstellten, hier groß und hell und nahe, dort sich verlierend in immer fernere, geisterhafte Gestalten von Rauch, Licht und Hitze. Je näher wir kamen, durch entsetzliche Gebirge von Schlacken, desto blendender öffneten sich hier und da die Rachen der Oefen, die wie Vulkane mit dämonischer Leidenschaft Feuer und Flamme speien, ohne sich jemals Ruhe zu gönnen.

Die Erstürmer Sebastopols.
Pelissier. Bosquet.

Merthyr-Tydvil, 1831 noch mit 22,000 Einwohnern, arbeitet jetzt mit seinen 54,000 Menschen fast nur mit Ausschluß von Greisen und Kindern in den Eisenschmelzwerken von fünf Compagnien. Die einzige Dowley-Compagnie nährt allein zwölf Tausend Menschen (mit Einschluß der Weiber und Kinder) und zahlt wöchentlich über 3000 Pfund (über zwanzig Tausend Thaler) Lohn. Aus ihren neunzehn Oefen fließen jährlich 87,000 bis 90,000 Tonnen (1,080,000 Centner) Eisen. Das Cyfarthfa-Etablissement hat dreizehn, Pen-y-Darren acht, und das Plymouth-Etablissment ebenfalls acht Oefen. Das Hirwain-Etablissement mit vier Oefen liegt etwas weit ab. Weiter unten am reißenden, schwarzen Taff-Flusse, an welchem sich Merthyr-Tydvil ausdehnt, blasen unaufhörlich zwölf Oefen am Tage Rauch- und des Nachts Feuersäulen gegen den unsichtbaren Himmel. Die ganze Landstrecke nach dem Bristol-Kanal hinunter, etwa zehn deutsche Meilen breit, ist in Hügel und Thal mit Flüssen zerschnitten und ausgefüllt mit riesigen Eisenschmelzwerken. Wir würden sie nennen, wenn die Worte nicht so furchtbar Welsch aussähen. Wer kann solche Namen „Pant-y-glo in Ebbw-Vach“ behalten? Wir beschränken uns deshalb auf Merthyr-Tydvil, deren Werke und Bewohner blos dicht beisammen sind, was die andern zerstreut durch das ganze Eisen- und Kohlenlabyrith dieser Grafschaft Glamorgan. Als Stadt architektonisch genommen, ist Merthyr-Tydvil fürcherlich. Oede, dick eingeräucherte Häuserreihen strecken sich lang, und in den Nebenstraßen laufen Gebirge von Dünghügeln dazwischen hin, in denen hier und da schmutzige Kinder traurige Versuche machen, zu spielen. Alles, was man ansieht, Alles, was man anfaßt, jeder Athemzug ist dichter Kohlenruß. Wie eine schwerfällige Masse Druckerschwärze läuft der Fluß Taff[WS 1] hindurch und schwärzt noch bei seiner Mündung in’s Meer fünf Meilen weiter unten das Wasser weit in seine Wogen hinein. Ringsum nichts als Gebirge von Schlacken, schwarz, trostlos, vielleicht erst nach Jahrtausenden einer Vegetation fähig, wenn die Kunst diese aufgehäuften Eisenleichen nicht mit befruchtender Erde bedeckt. Aber Erde, wo soll diese hier herkommen? Alles unter den Füßen ist Eisen und Kohle, bedeckt mit Asche, Rauch und Schmutz. Und was in weiterer Ferne noch [532] fähig ist, einsame Ziegen zu nähren, wird mit zunehmender Geschwindigkeit unter neue Schlackengebirge begraben. Man denke, daß Dowlais-Oefen allein täglich 17 bis 1800 Tonnen Kohlen verzehren, und 560,000 Tonnen Kohlen und 80,000 Tonnen Eisen jährlich eine kleine sächsische Schweiz von Schlacken zurücklassen, während sie selbst Eisen auf Eisen fortwährend auf der Eisenbahn hinunterrollen nach Cardiff, wo fertige und im Bau begriffenen Schiffe sich stets beeilen, Eisen und Wales-Kohlen nach aller Welt zu vertreiben. In dem Reiche der Dowlais-Werke, wohin uns eine öde Doppelhäuserreihe, beinahe eine halbe deutsche Meile lang, führte, unterrichtete uns einer der (englischen) Werkführer, daß von Pontypool im Osten Merthyr-Tydvils, bis nach Swansea am Meere, einer Strecke von mindestens zehn deutschen Meilen, ein ununterbrochenes Lager von Kohlen und Eisen (in Schichten über einander abwechselnd) bis elf Tausend Fuß tief – beinahe eine deutsche Meile – liege. Sir H. de la Beche habe das Lager geologisch untersucht und diese Tiefe herausgefunden. Freilich, setzte er zugleich auch auseinander, daß die Lager von einer Tiefe, mehr als 350 Fuß, nicht mehr mit Profit ausgebeutet werden könnten, und die tieferen Schätze daher vorläufig ohne Werth seien, bis Maschinenkraft und wissenschaftlichere Behandlung der Minen das Losbrechen und Heraufwinden erleichtert haben würden.

Hernach machte er uns mit dem Schmelzungsprozeß eines der achtzehn Oefen bekannt. Jeder schmilzt täglich im Durchschnitt Tausend Centner Roheisen aus dem Eisenstein, der ununterbrochen abwechselnd mit Kohlen und Kalkstein von oben aus Karren in den glühenden Schlund hinein gestürzt wird. Wie diese Leute sich daran gewöhnt haben, immerwährend dicht an diesen Schlund hinzufahren, und dann aus kalter Luft immer wieder neue Massen zu holen, bleibt mir unbegreiflich. Wir konnten’s in einer Entfernung von funfzehn Schritt kaum aushalten. Die weißglühend aus dem Schlunde emporzischende Feuersäule ist draußen in der Nacht auf zehn englische Meilen weit zu sehen. Und hier karren Menschen von Fleisch und Blut ununterbrochen Tag und Nacht, Woche und Sonntag Eisen und Kohlen in den Schlund hinein. Der Ofen, 40 bis 50 Fuß hoch, gleicht einer viereckigen Pyramide (die in Schottland sind rund) und ist aus Stein- und Thonmassen gemauert und geknetet. Im Ganzen ist der Proceß der Eisenproduktion nicht unbekannt, in seinen verschiedenen Stadien aber doch ein gutes Stück Wissenschaft.

Wir unsrerseits begnügen uns zu bemerken, daß hier eine besondere Dampfmaschine damit beschäftigt ist, die Luft, welche in den Ofen getrieben werden soll, vorher bis zu einem sehr hohen Grade zu heizen. Mit dieser glühenden Luft zwingt man das Eisen natürlich viel gewaltiger, aus den weißglühenden Schlacken herauszuschmelzen. – Wenn die metallische Substanz des Eisens sich von seinen steinigen Bestandtheilen getrennt und unten im Ofen sich als eine goldene Suppe gesammelt hat, kommt Abends der Proceß des Zapfens, dessen wilde Erhabenheit weder Worte noch Pinsel zeichnen können. Ein schwarzer Cyclop attachirt den großen Thurm des Ofens unten mit einer großen Eisenstange, nachdem vor demselben verschiedene Kanäle in feinen Sand gezogen sind. Nach dem letzten Stoße bricht der dicke goldene Strom hervor und füllt schnell alle Kanäle, die nur mit dämonischem Lichte und Höllenglut die ungeheuern dunkeln Räume erleuchten und den umher eilenden Menschen ein geisterhaftes Ansehen geben. Wie nun die in den Sandkanälen sich bildenden „pigs“ („Schweine“ = Roheisenstückchen) in dem Fegefeuer eines andern Ofens verfeinert und in eine Art von Kuchen verwandelt (Kohlensäure und Sauerstoff freies Eisen), dann von riesigen Dampfhammerwerken in Stücke zerschlagen und diese gepuddlet, d. h. in Stabeisen verwandelt werden, das schildert wohl einmal eine andere Feder, die genau mit dieser Praxis Bescheid weiß. Ich erinnere mich nur mit Schauder der „Puddler,“ welche die flüssigen Eisenmassen in großen Kesseln umrührten, bis sie sich in feurige, feste Klumpen verwandelten, die von ungeheuern Zangen gepackt auf dem eisernen Boden hingeschleppt und riesigen Kneipzangen in die Zähne geworfen wurden, welche alle fremdartigen Bestandtheile vollends aus- und die runden Klumpen in viereckige Stücke preßten. Die Stücke wurden zuletzt unter schweren Walzen in Stangeneisen à zwölf Fuß lang und drei Zoll dick zurecht gerollt und geschnitten. Das Schauspiel im Ganzen gehört gewiß zu dem Dämonischsten, was man auf Erden haben kann. Diese schweigsamen, dunkeln Menschenmassen, umbraus’t von ungeheuern Maschinen und umflossen und besprüht von dem flüssigen Golde des Eisens – und das Alles in so furchtbarer Größe, Menge, Masse, Lebensgefahr, Ordnung und Bemeisterung der intensivsten Natur- und Maschinenkräfte – läßt unverwischbare, glühende Eindrücke zurück.

Doch nun hinaus, hinaus, hinaus in Licht und Luft und Grünes! Die Menschen sehen hier alle so verräuchert aus, wie die ganze Stadt. Und kein weibliches Gesicht unter seinem spitzzulaufenden Männerhute bringt uns die Schönheit menschlicher Gestalt in Erinnerung. Alle sehen grob, stumpf und massiv aus. Die Meisten arbeiten ja in den Eisenwerken mit, karren sogar Tag und Nacht Eisenstein mit oben in die unersättlichen Schmelzöfen. Und Kinder von zehn bis zwölf Jahren helfen Eisen- und Kalkstein calciniren, andere Kinder Schlacken wegschaffen und Thon kneten. Aber die englischen Meister dieser Welschen sind zufrieden mit ihrem Gewinn aus ihnen, ohne den Verlust, den die Menschen erleiden, auf Rechnung zu bringen. Gingen doch auf dem einzigen Glamorganshire-Kanal von Merthyr-Tydvil nach Cardiff hinunter, im vorigen Jahre zehn Millionen Centner Kohlen und drei Millionen Centner Eisen, ohne die Massen, die mit der Eisenbahn und auf andern Flüssen und Kanälen von Süd-Wales in den Bristol-Kanal hinuntersteigen.

Der Werth des Bodens um Merthyr-Tydvil ist durch Eisen und Kohlen so bedeutend gestiegen, daß ein Grundstück, welches unter Karl II. für 27 Pfund verkauft wurde, jetzt tausend Pfund jährlich Rente bringt; aber der Werth der Menschen ist gefallen. Man hat ihnen die Natur genommen und dafür Industrie gegeben, wo allerdings Jeder im Durchschnitt wöchentlich ein Pfund verdienen, aber sich kaum anders des Lebens freuen kann, als sich Sonnabends in der Nacht zu betrinken. Die Welschen haben wiederholt Versuche gemacht, ihre Sprache, Nationalität, Sitten und Gebräuche vor der Uebermacht anglo-sächsischer Industrie zu retten, aber vergebens. Ihre Cymreygyddion-Gesellschaften, die sich durch ganz Wales gebildet und ihren Mittelpunkt in Abergavenny haben, um jährliche Preise für den besten Aufsatz in der Sprache von Wales, die beste Ode, das beste Spiel auf der alten gälischen Bardenharfe u. s. w. zu vertheilen, können den Untergang und das Aufgehen in das große, zähe, praktische Mischvolk der Anglo-Sachsen wohl verzögern, aber nicht abwenden. – Es gab schon edlere, gebildetere Völker, die gleichwohl in all ihrer nationalen Besonderheit und Herrlichkeit untergingen, um mit verklärtem Leibe als menschliche Kulturträger wieder aufzuerstehen.

Ich erwähnte vorhin Eisenbahn und Kanal und bemerke nur noch, daß alle die vielen Schluchten und Thäler, welche in den Bristol-Kanal hinunterlaufen, von den Schmelzwerken aus mit Eisenbahnen, Kanälen oder natürlichen Flüssen versehen sind. Zwischen den Thälern lagern und thürmen sich in endloser Verwirrung Hügel, Berge und Gebirge, die nach unten, wenn der Wind vom Meere her weht, in klaren Umrissen sich abmarken, hier und weiter unten mit etwas Grün, Ziegen und Schafen geschmückt, nach oben kahl und baumlos, blos von der Sage und Geschichte blutig gezeichnet. Diese Berge wimmeln von Erinnerungen an Kämpfe und Schlachten zwischen alten gälischen Häuptern und späterer, Jahrhunderte lang andauernder Freiheitskämpfe gegen die alten Sachsen, Normannen und den daraus hervorgewachsenen Engländern.

Als wir uns endlich, nachdem wir noch der alten römischen Hauptstadt von Wales, Kaerleon, einen Besuch abgestattet hatten, durch Gebirg und Thal und manche Schlagbäume von Landstraßen wieder zu menschlichen Wohnungen und in ein erfrischendes Kaffeehaus hindurchgewunden hatten, erzählte uns der englisch sprechende Wirth unendliche Massen von Sagen, die seit Jahrhunderten in diesen Thälern und auf diesen Bergen wohnen. Ich will nur seine Schilderung der Rebekka-Tumulte von Süd-Wales kurz anführen.

Die eingedrungenen Engländer hatten überall Schlagbäume mit Zollhäusern aufgeschlagen, um auf diese bequeme Weise den unterjochten Celten möglichst viel Geld abzunehmen. Im Jahre 1839 wurden neue Schlagbäume gebaut und die Wegezölle erhöht, besonders in den beiden südwestlichsten Grafschaften Caermarthen und Pembroke. Eines Abends versammelt sich Volk um einen neuen Schlagbaum und reißt plötzlich den ganzen Apparat nieder. Der Magistrat der Stadt verweigert den Schaden zu heilen und giebt dadurch der Schlagbaumunzufriedenheit so viel Feuer, daß sie in ganz Süd-Wales zu einer [533] langen, organisirten, religiösen Revolution der „Rebekkaiten“ wird, die das nächtliche Werk ihrer Aexte, Sägen und Beile und ihren weiblichen Anzug auf die Stelle im ersten Buch Mosis gründeten: „Und sie segneten Rebekka und sagte zu ihr: Du bist unsere Schwester, sei Du die Mutter von Tausenden von Millionen und laß Deinen Saamen besitzen das Thor Derer, die Dich hassen,“ „Thor“ = Schlagbaum. „Die Dich hassen,“ = Engländer, „Rebekka,“ = Mutter der Welschen. So war die Revolution biblisch begründet. Die Rebekkaiten amüsirten sich später noch unter Mitwirkung einer englischen „Miß Cromwell,“ vier Jahre lang mit Zerstörung und Wiederzerstörung von Schlagbäumen auf die consequenteste Weise und ganz systematisch. Die Bewohner eines Dorfes wählten sich Abends in geheimer Versammlung von Knechten und Burschen eine „Rebekka,“ welche nun General gegen einen bestimmten Schlagbaum ward. Gegen Mitternacht kamen die in weibliche Kleidung versteckten Verschwornen von verschiedenen Seiten gegen den Feind angerückt, hieben, sägten und hackten ihn auseinander und zogen dann ruhig wieder ab. Am folgenden Morgen erschien Jeder wieder bei seiner gewöhnlichen[WS 2] Arbeit und es war nichts herauszubringen, weil sich Alle im Stillen über die so gebahnte Wegefreiheit freuten und Keiner den Andern verrieth. Im Jahr 1843 war es so arg geworden, daß die Regierung nicht blos eine Menge Soldaten schickte, sondern auch das ganze Schlagbaumsystem unter bessere Verwaltung stellen und die Abgaben erniedrigen ließ. Es wäre ihr auch dann noch schwer geworden, wenn jetzt der ganze bessere Theil der Bevölkerung sie nicht unterstützt hätte. Eine Menge Diebe und Einbrecher hatten nämlich unter der Firma „Rebekkaiten“ zu Rauben und zu plündern angefangen und den alten biblischen Rebekkaismus in gründlichen Mißcredit gebracht.

Im Ganzen scheinen die Welschen noch sehr revolutionär zu sein. Die Chartisten von 1848 fanden unter ihnen die eifrigsten Anhänger und wenn, wie es scheint, das „strike“-Fieber auch unter ihnen sich ausbreitet, muß die dämonische Industrie in eine größere Krise fallen, als in der Baumwollen-Grafschaft von Lancashire im Norden von Wales.




Aus den letzten Tagen von Sebastopol.

In den türkischen Städten ziehen Sänger des Krieges und besondeers der Belagerung von Sebastopol umher, die ganz genau an die alten Rhapsodea erinnern, aus deren epischen Liedern mit der Zeit die beiden großen homerischen Epen Griechenlands, die Ilias und Odyssee, zusammenwuchsen. Freilich wird die Ilias dieses Krieges ganz anders ausfallen und klingen, als die der Belagerung von Troja, die damit endet, daß der griechische Hauptheld den trojanischen Hector um die Stadt herumtreibt und hernach todt um die Mauern herumschleppt. Damals kämpften sie, ursprünglich um eine schöne, entführte Frau, Person gegen Person, Heros gegen Heros, die, wenn sie sich begegneten, erst gegenseitig tapfere und noble Reden hielten und die Gründe auseinander setzten, warum Einer dem Andern den Schädel zu zerspalten und den Bauch aufzuschlitzen gedenke. Wenn dann der Eine sterbend zusammenbrach, wußte er doch wenigstens, warum und durch wessen Heldenhand er zum Ende seiner heroischen Laufbahn kam. Diesmal galt es die schönsten Parthien zweier Welttheile, in welchen die Schönheit auch entführt, entwürdigt und versclavt seufzt und Taback und Kaffee dazu genießt, nicht Held gegen Held, nicht Schwert und Schild gegen Schild und Schwert, sondern Tausende von blinden, feigen Kanonenungeheuern gegen Tausende dito, ein zwar wissenschaftliches, aber nur um so unmenschlicheres Wüthen von unsichtbaren Menschenmassen gegen eben so unsichtbare Haufen und Reihen von persönlich entwerthetem Menschenfleisch.

Sebastopol ist gefallen und hat unter seinen furchtbaren Trümmer Hunderttausende von Menschen begraben, ein entsetzlicher Preis für Mauern und Steine. Und wenn es damit wenigstens nur wirklich erkauft und bezahlt wäre! Die Rechnung kommt aber erst nach, die Rechnung, die wer macht? Wer bezahlt? Seht den fallenden Türken im Bilde. Er ist symbolisch für die ganze Türkei. Blickt in das türkische Lager: da sitzen sie auf ihren nackten, oder mit Lumpen umwickelten Beinen und flicken die auseinanderfallenden Hadern, womit sie ihre abgemagerten Glieder decken, zum zehnten Male, und die Flicken bröckeln ihnen unter den Händen auseinander, denn Riß mit Riß, Loch mit Loch ausbessern, ist fast eben so schlimm, als das Flickwerk der Diplomatie, welche immer eine Blöße durch die andere decken will. Monate lang haben diese türkischen Trnppen keinen Bissen Fleisch gesehen. Und als ihnen neulich die Franzosen 1000 Ochsen schenkten, war auch kein Fleisch dabei. Nichts als Haut und Knochen, übrig geblieben von der Rinderpest, aus welcher sie mit Zurücklassung vieler Tausende eben nur mit dem Leben davon gekommen waren. Liegen doch unweit des kleinasiatischen Lagers gegen 2000 Rinderleichname unbegraben ziemlich dicht bei einander, statt des stärkenden Fleisches Tod und Verderben in das Lager sendend. Und seht, wie sie in Grauen und Abscheu erbleichen, diese zerlumpten, abgehungerten, gläubigen Türken, wenn man sie aus ihrem Schmutze, ihrem Elende herausschält und ihnen guten Sold, gute Kleider, gutes Essen und Trinken bietet, sie in englische Uniformen und das Kreuz-Lederzeug steckt, ihnen den Fez des Glaubens abreißt und einen glänzenden Czako ausf ihr gesenktes Haupt stülpt!? Mit Gewalt, mit Prügel und Fußtritten werden sie aus ihrem gläubigen Elende herausgeschlagen, und unter Zucht und Commando der „Giaurs“ (den türkischen Contingent der Engländer) gezwungen. Namentlich betrachten sie das Kreuz-Lederzeug als die tödtlichste Schmach und glauben damit aus der Religion ihrer Väter in die „der ungläubigen Hunde" hineingetrieben zu sein.

So werden die letzten knöchernen, schwankenden Reste der türkischen Wehrkraft von den Rettern der Türkei vollends aufgelöst und Omer Pascha, der letzte, einzige Halt derselben, zieht irrend umher zwischen Konstantinopel, der Krim und Kleinasien, gehänselt, betrogen, ausgebeutet, entmannt, damit er ja durchaus nicht etwa wenigstens eine Kleinigkeit von der Türkei rette. Die Retter wollen ja Alles haben. Das wäre auch, unmenschlich und als En - gros - Händler der Geschichte gesprochen, ganz gut, denn Rußlands tödtende Hand darf nicht auf einem der schönsten Länder Europa’s liegen, wenn man nur von vorn herein sich nicht gegenseitig den Pelz voll gelogen und immer gesagt hätte: Auf Ehre, wir thun’s blos der Ehre, der Civilisation wegen. Haben wollen wir gar nichts dafür. Die Sache war ehrlich die: Krank ist der Mann, und da er nicht rasch genug ohne Arzt stirbt, wollen wir ihn ärztlich behandeln und uns in seine Kleider theilen. Statt nun aber mit dem Sterbenden ein ehrliches Testament zu machen, oder ehrlich um die Hinterlassenschaft zu spielen, schleppt man Hunderttausende von Menschen aus ihren produktiven, civilen Sphären und Millionen auf Millionen von Geldern zusammen, um statt der Würfel oder eines Gerichtshofes (für welchen die Erben doch Gesetze genug gemacht haben), den entscheiden und gewinnen zu lassen, der am Meisten verlor; barbarisirt man ganz Europa und belügt sich gegenseitig, daß sich alle Balken des europäischen Gleichgewichts biegen, ruinirt man die Hinterlassenschaft, sich und Andere und vergeudet zehnmal mehr Menschenblut, als der große Bettel werth ist, das Menschenblut blos im national-ökonomischen Sinne nach Arbeits-Kapital berechnet.

Die „Ehre,“ den Malakoff gestürmt und so wirklich in die unüberwindliche Festung eingebrochen zu sein, gebührt wesentlich den Franzosen. Es kann uns hier nicht einfallen, die Großthaten vom 8. und 9. September schildern zu wollen. Wir geben blos Eindrücke aus dem Ereigniß und auch diese nur in annähernden Bezeichnungen, da das rechte Wort für die Sache, wie sie war und ist, erst gefunden werden wird.

Am 5. September fingen die Franzosen ihren achten an und zwar, wie es scheint, ganz auf eigene, d. h. Pelissier’s Hand. Der heiter aufgehenden Sonne qualmte und donneerte eine wüthende Kanonade entgegen, welche das spiegelblanke Meer, auf welchem die Schiffe wie darauf „gemalt,“ ruhten, rippte und runzelte. Die Vorstädte Sebastopols lagen in Trümmern und mißgestaltet emporragenden Ruinen, eben der Kern derselben glänzte noch in der Morgensonne und trat immer wieder stolz aus den Pulverdampfwolken hervor, die ein sanfter Südostwind über ihre Terrassen hintrieb. [534] Hinter einer neuen Verschanzung der Franzosen schwärmt es wie Bienen. Die Kanonen sind dem Feinde noch unsichtbar und ganz verschleiert. Plötzlich springt der Erdwallschleier in drei gewaltigen Strahlen in die Luft, breitet sich oben aus und fängt in prächtigen Farbenspielen die Sonnenstrahlen auf, bis unter zitterndem Dröhnen der Erde die Staub- und Erdmassen weit und breit prasselnd niederregnen. Man hatte die Deckung der neuen Schanzen in die Luft gesprengt und damit zugleich das Zeichen zu der großen Total-Kanonade gegeben. Sofort zuckt von einem Ende bis zum andern ein Feuerstrom, überwölbt sich mit dicken Dampfwolken und brüllt und blitzt und donnert fort in einer so furchtbaren Ausdauer und Leidenschaft, daß der Feind zunächst ganz vom Schreck gelähmt zu sein schien. Durch die Dampfwolken hindurch sah man Mauern und Häuser splittern und stürzen. Erst nachdem sich die erste Hitze der Franzosen gekühlt hatte und die 200 Kanonen größten Kalibers einer Abkühlung bedurften, benutzten die Russen den Moment, das Feuer zu erwiedern. Von den hereinregnenden Kanonen und zerplatzenden Bomben derselben auf’s Neue gereizt, beginnen die Franzosen ihr zweihundertknatteriges Erdbeben mit neuer Leidenschaft und fuhren damit fort bis Abends sieben Uhr. Von jetzt an zogen in unzähligen feurigen Bogen glühende Bomben aus allen Positionen der Alliirten und pfiffen dazu in furchtbar eintöniger Musik. Sie platzten größtentheils pünktlich unter den dunkeln Feinden, deren hundertacher Tod jedesmal blitzartig illuminirt ward, so daß man sehen konnte, wie die leuchtenden Drachen, nach allen Seiten Tod speiend, sich donnernd auflös’ten. Dabei illuminirte eine brennende Fregatte im Hafen von Sebastopol das furchtbarste Donnern und Blitzen fast die ganze Nacht. Jeder Blitz beleuchtete einen zehn- und zwanzigfachen [535] Tod, noch öfter entsetzliche Verstümmelungen hinter allen Verschanzungen. Ein englischer Matrose, der im größten Jubel über das brennende russische Schiff auf einen Erdwall stieg, kam erst mit der Hälfte seines Kopfes herunter, dann stürzte er hinterher. Als ihn zwei Mann aus dem Wege schaffen wollten, fiel eine Bombe zwischen sie und zersprengte die drei Mann, den Todten und die beiden Träger, in so viel Stücke, daß sie gar nicht wieder zusammen zu finden waren.

Aus dem Kampf in der Krim.


Solche und ähnliche „Erlebnisse“ könnte man aus diesen Tagen und Nächten beinahe in beliebiger Menge aufzählen; doch erwähnt nur dieses oder jenes Privatschreiben Fälle der Art, aus welchen der Schreiber glücklich davon kam. Im Uebrigen verschwindet dieser massenhafte Tod mit den entsetzlichsten Verstümmelungen unerwähnt und unbekannt in großen Höhlen, die rasch und beiläufig mit ganzen, halben und Viertelsleichen, und einzelnen Beinen, Armen, Kinnladen, Eingeweiden, Hinter- und Vorderköpfen gefüllt und dann mit Erde überkarrt werden. Bei solchen Gelegenheiten wird der Todtengräber zuweilen auch plötzlich mit begraben, wie z. B. in der Nacht vom 7. zum 8. hinter einer englischen Schanze, hinter welcher es ruhig war, so daß man ganz geschäftsmäßig ein großes Grab füllte. Als zwei Lebendige einen Todten[WS 3] hineinwarfen, stürzte einer der Ersteren hinterher und blieb liegen. Eine Kugel war ihm durch’s Herz gedrungen. Jetzt stieg ein Lebendiger hinunter:

„Dick, bist Du wirklich todt?“ Dabei schüttelte er ihn, und da Dick keine Antwort gab, rief der Lebendige hinauf: „All right!“ (Alles in Ordnung!) kletterte hinauf und fuhr fort, über „Dick“ und die übrigen Leichen neuen Proviant für das Grab aufzuschütten.

Noch eine andere Episode wird aus einer französischen Schanze berichtet: [536] Ein Soldat ist nach achtstündigem Dienste so müde, daß er von einem fallenden Kameraden mit umgeworfen, neben dem Todten und mehreren andern noch warmen Gefallenen liegen bleibt, da ihm die „Wärme“ wohlthat. Er schläft in diesem „warmen Bette“ ein und fort, bis er, von einem schweren Erdenkloß getroffen, aufwacht. Er sieht sich um, bemerkt, daß er mitten unter Leichen liegt, über die eben Erde gekarrt wird. „Halt, meine Herren,“ ruft er, „laßt mich noch erst mal heraus, noch ist meine Zeit nicht um!“

Der achte war durch die allgemeinste, zerstörendste Kanonade vom 5., 6. und 7. September vorbereitet worden. Während dieser Zeit bot die Umgegend Sebastopols ein Schauspiel, wie es die Erde noch nie gesehen. Für das Dämonische, Entsetzliche dieser Scenze sucht man vergebens nach Wort und Bild. Die natürlichen und künstlichen Berge und Hügelwellen, wie die Stadt selbst mit ihren ungeheuern Außenwerken, schienen leblos und ausgestorben. Man sah keinen Menschen, nichts Lebendiges. Alle Berge und Schluchten und Wälle zitterten unter dicken, schweren Pulverdampfwolken, aus denen ununterbrochen hin und her Feuerbüschel zuckten und die schwerste, felsigste Erde nicht zur Ruhe kommen ließen. Es war, als wenn Legionen unsichtbarer, unterirdischer Dämonen mit feuerspeienden Kratern und Erdbeben aus dem Innern der Tiefe wütheten. Da oft hier und da eine lichte Stelle das Auge etwas von Sebastopol erkennen ließ, sah man es zerrissener, durchlöcherter, zerklüfteter. An hohen Häusern und Kirchen hatten Kugeln Löcher gerissen, daß man den Himmel von der andern Seite hindurch blicken sah.

So war der französische Sturm vom 8. vorbereitet worden. Er begann um zwölf Uhr Mittags und dauerte gerade – eine Stunde. Um ein Uhr hatten die Franzosen den Malakoff und damit zugleich Entrée zum ganzen südlichen Theile der Stadt und zum Hafen. Details und Privatnachrichten fehlen, während wir diese Zeilen in London schreiben (den 24. September Abends), noch gänzlich. Was wir also noch mittheilen könnten, müßte sich auf Nachrichten beschränken, wie sie in den Zeitungen zu finden sind, die wir nicht abschreiben mögen.

So wäre denn die russische Flotte, so wäre das Lieblings- und Riesenwerk eines halben Jahrhunderts endlich doch von den Alliirten um einen Preis, der den Werth Sebastopols und der russischen Flotte noch bei Weitem übersteigt, erkauft worden. Den frühern Preis haben sie bezahlt und dafür Leichen und Trümmer bekommen, allerdings mit ungeheuern Schätzen von Waffen, Pulver, Eisen, Kanonen u. s. w., aber was lassen sie dafür unter der Erde und unter den Wogen des schwarzen Meeres zurück? Wir sprechen nicht von den Tausenden niedergeschmetterter Jünglinge und Männer aus zwei Erdtheilen, den noch mehr Tausenden, die an englischer Aristokratie und Mißverwaltung starben, noch mehr am Halbwollen und Halbnichtkönnen, nicht von den todtgeschlagenen und verwüsteten Geldmillionen; wir erinnern blos an die jämmerlich todtgequälten und durch Heuchelei vergifteten, im schwarzen und baltischen Meere ersäuften Hoffnungen und Illusionen der „westlichen Civilisation“, an die abgescheuerte unächte Vergoldung des englischen Löwen, der auf Commando des gallischen Hahnes niederknieen, anbeten, apportiren und andere Kunststücke[WS 4] gelernt hat, so daß Einige behaupten wollen, er gehöre gar nicht zu dem Löwengeschlecht, sondern zu einer ganz andern heraldischen Raubthiergattung. Diese zoologische Entdeckung wird sehr wichtig werden, wenn der abgescheuerte, geschundene und dressirte englische Pseudo-Löwe bei der Abrechnung und Vertheilung der Erbschaft auf den „Löwenantheil“ wird Anspruch machen wollen!

Es bleibt uns nur noch übrig, das Bild, welches wir in die Mitte dieser Betrachtung der letzten Tage von Sebastopol gestellt haben, einzureihen. Zunächst bemerken wir, daß es diese Tage nicht speciell illustiren, sondern diesen ganzen Kampf überhaupt charakterisiren will, zu welchem Zwecke das französische Original auch componirt ward. Als solches Charakterbild ist es jedenfalls ein Meisterstück, das unsern Lesern gewiß willkommen sein wird. Es ist dramatisch lebendig, wahr und treu in den Physiognomien und dem Kostüm und enthüllt, auch eine höhere Wahrheit dieses Kampfes, den dahinsinkenden Türken, die wilde Bravour der Franzosen als Mittel- und Brennpunkt, den Engländer hinten- und nebenan. Der verschwimmende Hintergrund rechts erklärt sich durch die gefallenen Türken im Vordergrunde. Auch die im verschwimmenden Hintergrunde sind eine Beute des Todes. Der Fall Sebastopols ist noch lange nicht der Fall Rußlands, wohl aber das Ende der Türkei. Uebrigens wird Jeder leicht den künstlerischen Werth des Bildes zu finden und zu würdigen wissen, ohne symbolischen Inhalt hinein zu legen. Wir hatten denn auch wesentlich nur die Absicht, ein wirklich gutes Bild dieses Kampfes zu bieten jund brauchen uns deshalb wohl nicht erst noch gegen den Verdacht zu verwahren, als wollten wir in sonst üblicher Weise unsere Leser als ungezogene Kinder behandeln und sie mit zusammengestohlnen Bilderbogen unterhalten oder wenigstens zu artigen Käufern machen.

Eine der schlimmsten barbarischen Folgen des Krieges ist die bis zum Blödsinn getriebene Wuth französischer und besonders englischer Blätter, ihre Leser mit immer neuen Abbildungen aller möglichen Kriegsscenen zu füttern, mit Schlachtenbildern, die fabrikmäßig aus stereotypen Figuren zusammengehackt werden. Wie der Souffleurkasten von jeder Bühne, bildet in der Regel ein vom bäumenden Pferde fallender Soldat die Hauptfigur solcher Schlachtenmaler. Außerdem scheinen sie einige Modelle für Berge, Häuser, Felsen und Figuren zu haben. Diese werden alle acht Tage frisch gemischt, und in vorgeschobene Positionen eingeholzt, dann abgedruckt und mit neuen Unterschriften aus den neuesten Zeitungsnachrichten versehen. So füllt man die Bogen stets wieder mit neuer Barbarei und verwildert den Geschmack und die Bildung der Leser in Grund und Boden. Deutschland läßt sich dabei einen noch ärgeren Fehler zu Schulden kommen, den, daß es trotz seiner Neutralität die Engländern und Franzosen sinnlos weggestohlnen Nachklatsche geduldig hinnimmt und sich obendrein noch allerhand Charlatanismus und Humbug mit in den Pelz binden läßt. Wo bleibt da die rege Kunst und Wissenschaft mit ihren Entdeckungen und Schätzen?




Aus dem Tagebuche eines sächsischen Auswanderers.

Eine Nacht auf dem Mississippi.

Unsere Wanderung in den Vereinigten Staaten scheint an Begebnissen reich werden zu wollen, welche die Seele mit Grauen erfüllen. Ich erzählte bereits von manchen Abenteuern schauerlicher Art in Wald und Prairie, aber auch eine Fahrt auf dem „Vater der Gewässer,“ dem riesigen Mississippi, auf dessen breitem Rücken wir schon oftmals in kleinen und großen Fahrzeugen hinauf- und hinunterwärts geschwommen, sollte uns Erlebnisse bringen, die sich unverlöschlich in unsere Erinnerung festprägten.

Nachdem wir unsere Wanderungen bis weit hinunter am Mississippi ausgedehnt hatten, bestiegen wir ein Dampfschiff, um nach … hinaufzufahren. Eine Nacht und zwei Tage waren ganz angenehm vergangen; die zweite Nacht kam, und nachdem wir uns auf dem Verdecke des puffenden, zischenden, plätschernden Dampfungethüms ziemlich lange aufgehalten und an der Herrlichkeit der Wunder der Nacht uns erfreut hatten, schlich Einer nach dem Andern hinweg, um sich zum Schlafen niederzulegen. Ich bin nun ein wahrer Virtuose im Schlafen, denn ich versinke in den festesten Schlummer, sobald ich mich auf das Lager strecke und – wache erst mit dem nächsten Morgen wieder. Diesmal wachte ich gegen alle Gewohnheit etwa um zwei Uhr nach Mitternacht auf, und ich konnte mich auch nicht wieder in den Schlaf finden, was ich auch vornahm. Verdrießlich legte ich mich bald auf die rechte, bald auf die linke Seite. Endlich schien ich die erforderliche Schlaflage wiedergefunden zu haben und die Besinnung begann mir zu schwinden, als das Schiff leicht an das Ufer oder an eine Bank anstieß, wie ich deutlich fühlte; ich hörte sogar, da das Holz bekanntlich ein guter Schallleiter ist, ein Rauschen, als quelle gurgelnd Wasser herein. „wir sind wahrscheinlich auf einen der vielen [537] Bäume gestoßen, die auf dem Mississippi schwimmen,“ dachte ich bei mir; da aber der Stoß, wie ich gefühlt hatte, ein ziemlich unbedeutender gewesen war, so beschwichtigte ich die Besorgniß wieder, welche durch das unheimliche Wasserrauschen in mir rege gemacht worden war, drückte die Augen zu und suchte den nochmals verscheuchten Schlaf wiederzufinden.

Kaum hatte ich aber in diesem Vorsatze eine Minute gelegen, als ich hastige Tritte, mit aller Gewalt an die Kajütenthüren schlagen und dabei im Tone des graußigsten Entsetzens laut schreien hörte: „Auf, auf! Wir sinken!“ Die Passagiere sprangen von den Betten und rissen die Thüren auf, damit wenigstens ein Schimmer von Licht aus dem sogenannten Salon zu ihren finstern Lagerstätten eindringe. Dann wurde alles unheimlich still; Niemand sprach ein Wort, es war ja keine Zeit mit nutzlosen Reden zu verlieren; es galt zu handeln, sich zu rühren; so raffte denn ein Jeder von Kleidungsstücken und von seiner übrigen Habe in der Hast zusammen, was er zunächst erfassen konnte und stürzte damit fort – aber wohin? – das bedrohete Leben zu retten.

Ich für meinen Theil schüttelte den Freund neben mir sehr unsanft aus dem Schlafe, der ihm wohl recht liebe Bilder vorgaukelte, denn er wollte sich durchaus nicht entschließen, sich zu ermuntern und aufzustehen. Ich mußte Gewalt brauchen, packte den Freund krampfhaft mit beiden Fäusten, riß ihn so vom Lager auf und schrie ihm zu, während er über die unsanfte Störung zu schimpfen beginnen wollte: „Komm, komm! Das Boot sinkt!“ Dann nahm ich meine Habseligkeiten und stürzte hinweg, fort auf das Verdeck, ohne mich um irgend Jemand zu kümmern, nicht einmal – Gott verzeihe mir die Sünde, wenn es eine ist, – um den Freund. Als ich oben auf dem Deck erschien, sah ich ein zweites Dampfschiff dicht neben dem unserigen, das sich bereits sehr merklich nach der Seite zu neigen anfing. Irgend Einer der Passagiere – in der Dunkelheit und der entsetzlichen Verwirrung konnte ich nicht erkennen, wer er war – hielt sich da in verzweifelnder Angst an mich, wie ein Ertrinkender nach jedem Strohhalme greift. In Augenblicken, in denen es im fürchterlichsten Ernste an’s Leben geht, sind Complimente nicht angewendet, so wird sich denn Niemand wundern oder mich verdammen, wenn ich gestehen, daß ich dem sich Anklammernden, welchen ich vergeblich abzuschütteln versucht hatte, aus Nothwehr einen tüchtigen Fauststoß an die Magengrube versetzte. Dies machte mich frei. Den Abgeschüttelten sah ich taumeln – was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Rasch warf ich meine Habseligkeiten hinüber nach dem andern Schiffe, dann sprang ich selbst nach. Gott sei Dank, – ich war gerettet und mein Freund gelangte gleich hinter mir ebenfalls glücklich zu mir.

Es mochte etwa halb vier Uhr sein. Der Himmel hatte sich in der Nacht umwölkt, es regnete fein in der Morgenkühle und noch war es ganz finster! Nur die Schiffslaternen verbreiteten ein schwaches Licht. Es gelang endlich, ein paar Breter von dem fremden Dampfschiffe auf unser sinkendes hinüber zu legen, und auf diesem Wege wurden noch mehrere Passagiere, selbst einiges Gepäck gerettet. Die größte Noth hatte die Mannschaft, die Leute zurückzuhalten, die auf das untergehende Schiff zurückkehren und so viel als möglich von ihrem Gepäck holen wollten, wobei sie, wie leicht begreiflich, nicht nur ihr eigenes Leben wagten, sondern auch das der Andern gefährdeten, weil sie dieselben hinderten, rechtzeitig auf das Schiff zu kommen.

Ich stand auf dem Verdeck und sah hinüber und hinunter auf den sinkenden Dampfer, den eben ein Dutzend Fackeln, die eilig angezündet worden waren, mit grellem Lichte beleuchteten, als er mit donnerähnlichem Krachen zerborst und in tausend Stücke zersplitterte. Achtzig Stück Rinder, die an den Hörnern festgebunden waren, befanden sich darauf, und es war ein schauerlicher Anblick, als diese riesigen Thiere unter einander wimmelnd vergebens sich anstrengten, aus dem nassen Grabe sich zu retten. Es überläuft mich kalt noch in diesem Augenblicke, da ich davon schreibe.

Wer aber war gerettet? Niemand wußte es, und leider muß ich es sagen, Niemand kümmerte sich darum. Die Mannschaft des Dampfers arbeitete mit aller Kraft, Alle zu retten; sie verdient diese Anerkennung, die Gleichgiltigkeit derer aber, welche dem Tode entrissen worden, war in der That wahrhaft grauenvoll. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen fühlten, gingen sie an den – Schenktisch, um auf den Schrecken zu trinken; sie brannten die Cigarren an und trieben Späße, schon als das Boot noch nicht ganz gesunken und das Schicksal nicht der Hälfte ihrer Gefährten ermittelt war. Und doch hatten sie ein Schauspiel vor sich, das allein hätte hinreichen sollen, das härteste Herz zu erweichen und den Leichtsinnigsten zu ernstem Nachdenken zu bringen.

Mitten unter den Uebrigen stand ein Mann mit stierem Blicke, um dessen Füße sich zwei halbnackte Kinder klammerten. Vor einer Stunde war er ein kräftiger, glücklicher Mann, der Gatte einer jungen, schönen und liebenswürdigen Frau, der Vater von fünf Kindern gewesen; – jetzt hatte er die Frau, drei seiner Kinder und den – Verstand verloren. Keine Thräne netzte seine Augen, keine Spur von Trauer und Kummer lag in seinen Zügen; obgleich zwei Kinder, Pfänder der Liebe der Frau, die nicht mehr war, schluchzend und jammernd an seinen Knieen hingen, er achtete nicht auf sie, er sah sie nicht; sie suchten nach einem tröstenden Vaterblicke und sahen nur das stiere Auge eines Blödsinnigen. Sie weinten laut – nach der fehlenden Mutter oder über des Vaters ihnen unbegreifliches Wesen? Er hörte ihren Jammer nicht, er sah nicht die Thränen der vor Angst und Frost zitternden Kleinen, regungslos stand er da, aber statt daß sein Anblick den innigsten Dank für die eigne Rettung und das tiefste Mitleid mit den so maßlos Unglücklichen in den Amerikanern hätte wecken sollen, rauchten, tranken und lachten sie, als wenn sie eben aus einem Theater gekommen wären. Größere Herzlosigkeit läßt sich unmöglich denken, auch glaube ich nicht, daß sie anderswo in der Welt, als unter Amerikanern vorkommen kann.

Die Ursache unseres Unglücks war ein Zusammenstoß der beiden einander begegnenden Dampfer. Zum Glück gelangte der abwärts fahrende genau neben den sinkenden, so daß er uns aufnehmen konnte; wäre er nicht in diese Stellung gekommen, wer weiß, ob irgend Jemand von uns am Leben geblieben. So weit ich es beurtheilen konnte, waren alle Passagiere erster Klasse gerettet. Man wundere sich nicht, daß ich von einer ersten Klasse in Amerika spreche, denn obgleich es in diesem Lande sogenannter Gleichheit eigentlich keinen Klassenunterschied giebt, so werden doch unsre armen Landsleute, die Einwanderer, als Deckpassagiere aufgenommen und da der Frachtertrag die Hauptsache ist, so weist und treibt man sie unter Kisten, Kasten und Ballen, drängt und packt sie da zusammen. Es bleibt ihnen bei einem Unfall buchstäblich kein Raum und Weg zum Entkommen; sie müssen erwarten, unter Fässern und Ballen erdrückt zu werden. Auf unserem Dampfer kamen in dieser Weise etwa funfzehn Personen elend um’s Leben. Eine Frau aus Baiern nur arbeitete sich in Verzweiflung unter den Ballen hervor und rettete wirklich ihr Leben, nachdem sie in dem eingedrungenen Wasser fast ertrunken und von den wild umher zerrenden Rindern halb zertreten war. Sie lebte, ja, aber alle ihre Verwandte und Freunde, alle ihre Habe hatte sie verloren und allein, eine Bettlerin, stand sie in dem fremden Lande, dessen Sprache sie nicht einmal verstand.

Und nun der Gegensatz! Auf unserm Schiffe befand sich auch ein Sclavenhändler mit einem Dutzend Neger. Er hatte für seine werthvolle Menschenwaare einen ganz guten Platz erhalten, und so konnte er alle seine Schwarzen retten, während die deutschen Auswanderer in dem finstern Schiffsraume sterben mußten – ertrinken, ersticken, erquetscht werden, wer weiß es?

Sobald das geborstene Schiff vollständig gesunken war, dampften wir auf dem andern weiter, ohne noch mehr Zeit damit zu verlieren, vielleicht etwas von der Ladung zu retten. Mir persönlich war es schlecht genug bei dem Unfalle ergangen, obgleich ich für meine Rettung aufrichtig dankbar war und es noch bin. Ich erzählte, daß ich meine Habseligkeiten gleich im Anfange nach dem andern Schiffe hinüber warf; ich hatte sie aber in den Raum zwischen den beiden Dampfern geworfen, und so war Alles unrettbar verloren, dabei alle meine Briefe und Papiere, alles mit Ausnahme dessen, was ich auf dem Leibe trug, mein Anzug und meine Büchse, so wie die Uhr, einiges Geld und mein Notizbuch. Der Freund war glücklicher gewesen und hatte Alles gerettet.

Am Nachmittag begegneten wir einem Dampfer, der den Fluß hinauffuhr; auf diesen begaben wir uns, um unsere Reise nach dem so gewaltsam gestörten Plane fortzusetzen. Da, wo wir verunglückt waren, bemerkten wir noch einige Stücke des Wracks und neben dem Ufer lagen, schwammen Hunderte von Fässern mit Schweinefleisch, welche einen Haupttheil der Ladung ausgemacht hatten. Die Ansiedler aus der Nähe hatten sich bereits eingefunden [538] und fielen wie Raben über das Anschwimmende her, um soviel als möglich davon zu retten, d. h. zu stehlen. Ich wendete mit Ingrimm die Augen von dieser neuen Scene ab, welche das Amerikanerthum charakterisirt, und fuhr unserm fernen Ziel entmuthiget und verstimmt entgegen.

Von dem Schicksale unserer Gefährten in jener grauenvollen Nacht habe ich nie wieder etwas gehört. Was mag aus der armen Baierin, aus dem Mann mit den beiden Kindern geworden sein!


Blätter und Blüthen.

General Bosquet, dessen Portrait wir heute geben, ist kein Freund des jetzigen Kaiserthums. Als die Revolution von 1848 ausbrach, war der General einer der ersten Oberoffiziere, die sich bestimmt für die Republik aussprachen. Als Ludwig Napoleon Frankreich das „Ja“ oder „Nein“ vorlegte, stimmte General Bosquet mit seiner ganzen Division „Nein“. Das war muthig und gab ihm einen Namen in der ganzen Armee. Für den Augenblick jedoch verminderte es die Chancen seiner Laufbahn, er ward in Disponibilität versetzt und war zu eben so tiefer Zurückziehung verwiesen, wie Cavaignac. Als die Expedition nach dem Osten entschieden war, dachte man, er werde entfernt bleiben. Aber General Canrobert stellte dem Kaiser vor, daß sein Freund Bosquet ein bewunderungswürdiger Soldat, wenn auch ein schlechter Politiker sei, und daß seine Opposition gegen die neue Dynastie mit seinem Votum geendet habe. Der Kaiser verlieh edelherig eine Division an Bosquet. Die Armee freute sich, und seit dem Beginn des Krieges hat er sich unaufhörlich ausgezeichnet. Er war es, der bei der Landung der Franzosen in Gallipolis das Staunen der Engländer über sein Organisations-Genie erregte, die mißvergnügten Türken maßregelte, durch Verbreitung seiner Zuaven über die Gegend ein Kommissariat improvisirte, Straßen anlegte, benannte, für ihre Reinigung sorgte, Postämter, Cafés, Restaurants herstellte u. s. w. An der Alma und bei Inkerman, wie beim letzten Sturm, wollte es sein Stern, daß er das entscheidende Gewicht in die Schale warf. Bei Alma überflügelte er zuerst am äußersten rechten Flügel die Russen und erschütterte sie; bei Inkerman kam er den Engländern mit 6000 Mann zu Hülfe und warf die Russen. Dem unglücklichen Sturm auf den Malakoff am 18. Juni war er fremd, da er zwei Tage zuvor von Pelissier an die Tschernaja entfernt worden war; das Mißlingen schrieben die Soldaten nachher gerade diesem Umstande zu. Wie dem auch sei, seine Lorbeeren blieben hierdurch unversehrt. Am 8. September hat er mit Mac Mahon, dem französischen General von irischer Abkunft, den Malakoff erstürmt, und sein Name wird in der Geschichte Frankreichs als erster in diesen Sieg verflochten bleiben.




Canrobert. Ein Freund, der kürzlich in Paris war und Gelegenheit hatte, den frühern Generalissimus der orientalischen Armee zu sprechen, schreibt uns:

Er hat kein ansprechendes Aeußere, ist ein kleiner Mann, der wie ein Korporal aussieht und auch die Manieren eines solchen hat, trotzdem aber in dem Salon vor geistreichen Damen den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bildet. Canrobert äußerte über die Ausfälle der Russen, welche vom militärischen Gesichtspunkte doch sehr lästig und hindernd für den Fortschritt der Belagerungsarbeiten genannt werden mußten. „Die Russen haben uns keinen größern Gefallen thun können. Ohne diese steten Angriffe, die unsere Truppen in Thätigkeit halten und sie durch kleine Erfolge auffrischten, wären sie in der Erschlaffung langer Thatlosigkeit moralisch ganz untergegangen und die Expedition würde uns vor ganz Europa zu Schanden gemacht haben.“ – Die Richtigkeit dieser Bemerkung wird man gewiß zugeben.




Ludwig Tieck, als er in Karlsruhe war, wünschte den rheinischen Hausfreund, den bekannten allemannischen Dichter Hebel kennen zu lernen.

Wer Hebel recht kennen lernen wollte, that am Besten, ihn im Wirthshause aufzusuchen, wo er bürgerlich bei Bier und Pfeife Abends zu sitzen pflegte. Er fand den schlichten, kindlichen Mann wieder, den er aus den Gedichten kannte. In der Unterhaltung kam man auf die Anekdoten des „Rheinischen Hausfreundes.“ In zutraulichem Tone fragte Tieck: „Aber, lieber Mensch, warum schreiben Sie denn nicht mehr solche hübsche Sachen?“ Mit naiv trocknem Tone anwortete Hebel: „Jo, i wees nischt mehr.“




Blumen-Gerüche. Man schätzt und liebt Blumen nach Gestalt, Färbung und Geruch. Letzterer ist jedenfalls ihre schönste, ätherischste, lieblichste Tugend. Was ist ihr Geruch? Ihre Seele, die sie für uns aushauchen? Die Naturwissenschaft ist nicht so poetisch und weis’t gewöhnlich als Quelle des Geruchs ein ätherisches, flüchtiges Oel nach, das sich künstlich verdichten und mischen und in wohlriechenden Wassern und Spirituosen die kostbarsten Namen geben läßt. Manche Blumengerüche sind freilich so geisterhaft, daß sie sich bis jetzt auf keine Weise einfangen lassen. Hier ist wohl die Vermuthung gestattet, daß die Gerüche von Blumen und Gerüchen überhaupt nicht wesentlich durch wirkliche Ausdünstung flüchtiger Oele entstehen, sonst müßte doch z. B. ein Gran Moschus, der ein ganzes Jahr lang geduftet und somit viele Millionen materieller Theilchen verloren hätte, auf einer empfindlichen Waage etwas leichter befunden werden; aber ein Gran bleibt auch nach zehn Jahren ein Gran. Somit erscheint es nicht gewagt, zu vermuthen, daß Blumen und starkriechende Substanzen überhaupt dadurch Gerüche verbreiten, daß sie chemische Processe in der umgebenden Luft anregen, wodurch sich aus der Substanz der Luft selbst organische Atome bilden, welche wir riechen.

Man unterscheidet dauernde, flüchtige und wechselnde (periodische) Blumengerüche. Erstere rühren von Substanzen her, die in dem Gewebe des Stammes, des Holzes, der Rinde concentrirt eingeschlossen sind. Insofern ist vielleicht keine einzige vegetabilische Substanz gänzlich ohne Geruch, nur daß er in vielen Fällen für unsere Nasen, die zum Theil „starken Tobak“ verlangen, zu fein ist. Jede Art Holz hat ihren eigenthümlichen, dauernden Geruch, der durch Reibung oder Erhitzung auch bei sonst geruchlosen Hölzern riechbar wird. Unter den wohlriechenden Hölzern werden besonders Rosenholz von Teneriffa, Ceder- und Sandal-Holz geschätzt. Letzteres giebt den Wohnungen der Reichen im östlichen Asien den dauerndsten, lieblichen Geruch der Vornehmheit, da ihre daraus gefertigten Meubles die Zimmer ununterbrochen parfumiren. Aus leichterem Holze (Cassia-, Cinnamon etc.) verfliegt der Duft bald, nachdem es geschnitten ist.

Flüchtige Gerüche athmen aus Blättern und Blumen, deren Organe nach allen Seiten offen, stets empfangen und ausgeben, doch nicht immer in gleicher Fülle. Während drückender Hitze des Mittags duften die meisten Blumen am Schwächsten. Senkt sich die Sonne und erlaubt den Ausdünstungen als Thau niederzusteigen, füllt sich der Blumengarten am Reichsten mit dem seelenhaften Aroma seiner zarten Kinder. Die Gerüche sammeln sich während der Nacht, um der aufgehenden Sonne in aller Frische des Morgens entgegenzufliegen. Auch deshalb ist der goldene Morgen im Garten so schön, nicht blos, weil wir ausgeschlafen haben, obgleich auch dies natürlich nicht zu verachten ist. Der Sommerregen hat eine ähnliche Wirkung, wie die Nacht. Man vermuthet als Grund dieses Steigens und Fallens der Gerüche, daß die direkten Sonnenstrahlen zu viel Säfte verdampfen, und daher die Fabrikation der ätherischen Oele in den Blumen schwächen, Abend und Nacht aber wieder mehr Atome und Feuchtigkeit als Rostoff für die Eau de Cologne-Fabriken in den Blumenkelchen gewähren. Freilich Licht und Wärme ist auch nothwendig dazu, so daß unter langem Regen und langer Bewölkung die Gerüche abnehmen oder ganz erschöpft werden. Wechselnde, periodische Gerüche steigen blos zu gewissen Zeiten aus manchen Blumen und Pflanzen, z. B. vielen Orchideen, die am Tage ganz geruchlos, des Nachts manchmal bis zur Unerträglichkeit duften. Die Cacalia septentrionalis duftet blos in dem direkten Sonnenstrahl. Ein bloser Papierschirm tödtet sofort ihre Fähigkeit des Duftens. Eine Art Cereus schießt alle halbe Stunden ihre kleinen mit Aroma geladenen Kanonen ab, mit einem lebhafteren Feuer während des Aufblühens. Die Werkstätten und Fabrikationsweise der Gerüche in den Blumen sind, meines Wissens, noch unbekannt. Man hat noch keine besondern Organe dafür gefunden. Diese poetische Industrie der blumen ist so fein, daß sie sich selbst noch unter den mächtigsten Gläsern als unsichtbar versteckt. Einige Botaniker haben angefangen, bestimmte Beziehungen zwischen Geruch und Farbe zu entdecken. Weiße Blumen riechen in der Regel am Stärksten und Angenehmsten, gelbe und braune am Schlechtesten u. s. w. Doch ist dieses Gebiet der Botanik ein noch sehr offenes, das erst erwartet, mit Forschung und Wissenschaft gefüllt zu werden.




Zahl der Trunkenbolde in England. Die Verhandlungen im englischen Parlament über die Bierbill haben einen seltsamen Umstand zu Tage gefördert. Durchschnittlich kommt in England je ein Betrunkener auf dreißigtausend Menschen. Im Laufe des vorigen Jahres nun wurden zwei Parlamentsmitglieder, im Jahr 1853 sogar drei und 1852 eines wegen Trunkenheit verhaftet, also etwa zwei in einem Jahre. Unter den sechshundertfunfzig Gesetzgebern Englands kommen demzufolge verhältnißmäßig beinahe so viel Betrunkene vor, als unter der Bevölkerung des Landes überhaupt.


Zur Notiz.

Auf die vielen an uns gerichteten Anfragen, betreffs des Jahrgangs 1854 der Gartenlaube, diene hiermit die Mittheilung, daß nunmehr der Druck der

Zweiten Auflage

vollendet ist und sowohl complette Exemplare wie einzelne Quartale und Nummern durch alle Buchhandlungen und Postämter wieder bezogen werden können.

Leipzig, den 1. October 1855.
Die Verlagshandlung. 

  1. Thomas Thurland und Daniel Hoffsteller unter Königin Elisabeth zu Ende des 16ten Jahrhunderts. Schon Heinrich VI. hatte im Jahre 1452 drei deutsche Bergleute zu demselben Zweck verschrieben.
  2. Dr. Siegfried in London, aus Dessau und Herr Zeus. Letzterer hat die erste vollständige Grammatik der celtischen Sprachen unlängst vollendet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Toff
  2. Vorlage: gewöhnlicher
  3. Vorlage: Toden
  4. Vorlage: Künststücke