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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[507]

No. 39. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Der gestohlene Brautschatz.
Eine Criminalgeschichte aus guter alter Zeit.
Vom Verfasser der schwarzen Mare
(Schluß.)


„Schon gut. Ich schenke Ihnen für heute das Weitere. Ich weiß es schon von Graumann, und Sie haben Recht, ich brauche es von Ihnen nicht noch einmal zu hören.“

Auf einen Wink führte Schmidt Vier den Kellerwirth ab und Ludwig Liedke ein. Der alte Dieb war nicht trotzig geworden; er sah beinahe gerührt aus.

„Nun, Lude, armer Kerl? Erst vorgestern vom Zuchthause zurück, und schon wieder reif! Und diemal zeitlebens, denn es liegt ein großer Diebstahl vor. Und jene beiden ehrlichen Männer werfen Alles auf Dich, Alles, auf Dich allein, und waschen sich selbst rein. Du dauerst mich, alter Bursche.“

Das freundliche Mitleid des Polizeiraths traf so voll als möglich in das weiche Herz des Diebes, das zu schwach war sowohl zum vollen Leugnen als zum vollen Bekenntnisse der Wahrheit.

„Herr Polizeirath,“ rief er unter Thränen, „an dem Diebstahl bin ich unschuldig. Ich habe nichts angerührt, von dem Gelde gar nichts. Ich schwöre es Ihnen.“

Der Beamte unterbrach ihn.

„Ein Wort, Lude, ehe Du weiter sprichst. Wir kennen einander. Du weißt, daß ich nicht eher aufhöre, bis Du nachgegeben hast, und ich weiß, daß Du keinen zu harten Kopf hast und nachgeben wirst.“

„Ich habe ein weiches Herz, Herr Polizeirath,“ betheuerte der Dieb.

„Also wollen wir Einer den Andern nicht lange quälen.“

„Ich will Ihnen ein offenes Geständniß ablegen.“

„Das ist brav von Dir.“

„Gestern Abend vor Dunkelwerden schlenderte ich draußen vor dem halle’schen Thore. Ich wollte mir die neue Anstalt für Verbesserung jugendlicher Verbrecher ansehen. Ach, Herr Polizeirath, wie hat es die Jugend Berlins doch jetzt gut, gegen die Zeit, als ich noch jung war. Im Sommer kann sie vor das brandenburger Thor in den Thiergarten gehen und stehlen, und im Winter geht sie vor das halle’sche Thor in das neue schöne Haus, um sich bequem hinterm warmen Ofen bessern zu lassen. Wie ich da nun so herumging, sehe ich auf der andern Seite einen alten Bekannten herumschleichen, dessen ich mich nicht vermuthet hatte. Er erkannte mich und kam auf mich zu.“

„Und wie hieß dieser alte Bekannte?“

Der Dieb zögerte mit der Antwort.

„Nun?“

„Seinen Namen meinen Sie, Herr Polizeirath?“

„Du bist wirklich ein recht braver Kerl, Lude, daß es Dir schwer wird, Deinen Freund zu verrathen. Denn, nicht wahr, der hat den Diebstahl gemacht, und Du hast nur von ihm die gestohlenen Sachen angenommen? Aber ich kann Dir nicht helfen den Namen muß ich wissen.“

Der alte Dieb trotzte in seinem vorigen Harren.

„Indeß, braver Lude, vorläufig wie Du willst. Ohne den Namen bleibt natürlich Alles auf Dir allein sitzen. Die beiden Andern haben sich schon rein gemacht.“

„Herr Polizeirath,“ antwortete der Dieb, noch immer zögernd, „Sie kennen ihn doch nicht. Er war vor Ihrer Zeit hier.“

„Ich kenne alle berliner Diebe seit fünfzig Jahren.“

Der Dieb ergab sich in das Unvermeidliche.

„Auch den Fritz Jure?“

„Sein Vater war Portier im auswärtigen Ministerium.“

„Weiß Gott, Sie kennen ihn.“

„Er ist also entsprungen? Er hatte zwölf Jahre Festung, und kaum erst die Hälfte verbüßt.“

„So ist es wahrhaftig. Er kam direkt von der Festung. Noch in seiner Soldatenjacke. Er bat mich, mich seiner anzunehmen. Ich verschaffte ihm eine andere Jacke.“

„Gestohlen?“

„Es ist ja noch nicht angezeigt, Herr Polizeirath,“ antwortete listig der alte Dieb.

„Fahre fort.“

„Dann ging ich mit ihm in einen Keller in der Markgrafenstraße. Er war ausgehungert und verdurstet. Wie er nun gestärkt war, da zog gerade dem Keller gegenüber ein Offizier ein. Der Fritz, der seine Augen überall hat – meine Augen sind schon alt, Herr Polizeirath – meinte, da wäre wohl etwas zu machen. Ich mußte in dem Keller bleiben und er ging fort. Nach einer Weile kam er wieder und brachte mir die Sachen. Nun wissen Sie alles, Herr Polizeirath.“

„Schön, lieber Lude. Und wozu brachte er Dir die Sachen?“

„Um sie für ihn zu verkaufen.“

„Und das Geld?“

„Welches Geld?“

„Das Du nicht angerührt hast?“

„Habe ich davon gesprochen?“

„Ich denke.“

[508] „Ja, ja, er zeigte mir Geld.“

„Wie viel!“

Der Dieb besann sich.

„Zwölftausend Thaler,“ sagte er entschlossen. „Zwölftausend Thaler in Kassenanweisungen.“

„Teufel. Und Du hast nichts davon angerührt?“

„Keinen Pfennig.“

„Wo blieb das Geld?“

„Der Jure behielt es.“

„Und speiste Dich mit den Kleidern da ab, wofür Du lumpige fünf Thaler erhalten hast?“

Der Dieb wurde verlegen. Einerseits wollte er durch die Wahrheit sich nicht bloßgeben; andererseits empörte sich seine Diebsehre, als von einem Genossen geprellt dazustehen. Er schwieg.

„Die Wahrheit, Liedke,“ drängte der Polizeirath; „Du weißt, daß ich Mittel habe, sie zu erlangen. Wer hat das Geld?“

„Der Jure, Herr Polizeirath, bei Gott.“

„Wo ist der Jure jetzt?“

„Das weiß ich nicht.“

„Du willst also allein der Sündenbock bleiben? Höre, Bursch, habe ich in einer Stunde nicht den Jure, so gebe ich mir keine Mühe mehr, ihn zu bekommen; dann, Du kennst selbst die Gesetze und das Kriminalgericht, dann hast Du, und zwar Du allein, den Diebstahl von zwölftausend Thalern gemacht, und Du bist reif für die Zeit Deines Lebens.“

Noch einmal kämpfte der Dieb mit sich. Dann sagte er:

„Er hat mich zum Judenfriedhof bestellt.“

„Auf wann?“

„Auf neun Uhr.“

„Was solltest Du dort?“

„Er wollte mit mir theilen.“

„Das Geld?“

„Ich denke es.“

Der Polizeirath wandte sich an den Gensd’arm Schmidt Vier.

„Der Judenkirchhof liegt hoch, Schmidt.“

Der Gensd’arm errieth bei dem ersten Worte die Gedanken seines Vorgesetzten.

„Der Spitzbube kann alle Wege dahin übersehen,“ erwiederte er.

„Uebernehmen Sie es, ihn zu fangen! Ich muß zu dem Orte des Diebstahls.“

„Es wird schon gelingen.“

„Machen Sie Ihre Sache gut. Wo habt Ihr gestohlen?“ wandte sich der Polizeirath an den Dieb.

„Ich, Herr Polizeirath?“

„Nun dann der Jure?“

„Markgrafenstraße zweiundneunzig.“

„Alle vorwärts!“

Der Polizeirath nahm eine Droschke und fuhr nach der Markgrafenstraße Nummer zweiundneunzig. In der Hausthür lehnte der Bursch des Offiziers und sonnte sich.

„Ist der Lieutenant noch zu Hause?“

„Er schläft noch.“

Der Herr von Maxenstern schlief in der That noch. Träume seines nahen Glückes hielten ihn auf dem Lager im Alkoven gefesselt. Der Polizeirath weckte ihn.

„Herr Lieutenant, Sie sind gestern Abend bestohlen.“

„Was, ich?“

„Um Ihre sämmtlichen Uniformstücke und –“

„Und?“

„Und um zwölftausend Thaler.“

Der Offizier sprang aus dem Bette, sprang an den Schreibsecretär, schloß ihn auf, und fand ihn leer.

Er fiel zurück auf einen Stuhl.




IV.

Der Gensd’arm Schmidt Vier hatte ein sehr einfaches Mittel zur Anwendung gebracht, den als einen der verwegensten und gefährlichsten Diebe bei der Polizei zu Berlin noch immer im lebendigen Andenken Fritz Jure zu fangen. Vier seiner Kameraden mußten in bürgerlicher Kleidung den Judenkirchhof in angemessener Entfernung umgeben. Er selbst warf sich in die Livree eines Droschkenkutschers, instruirte den Lude Liedke unter Vorzeigung seiner Säbelklinge, setzte dann den Dieb in die Droschke und sich auf den Bock, und fuhr so mit ihm zum Judenkirchhofe. Vor diesem hielt die Droschke. Liedke stieg aus und ging auf den Kirchhof, während sein Kutscher in der gewöhnlichen langsamen und schläfrigen Weise der berliner Droschkenkutscher umkehrte, und dann, fluchend, daß ihm etwas an dem Lederwerk gerissen sei, anhielt. Alles das war so unverdächtig, daß Fritz Jure sich hinter einem Leichenstein erhob und arglos auf seinen Gefährten zuging. Gleich darauf war er gefangen.

Allein es wurde kein Pfennig Geld bei ihm gefunden. Nur im Grase hinter dem Leichensteine entdeckten die, auf das Sorgfältigste suchenden Gensd’armen einen Kassenschein von fünfundzwanzig Thalern. Wahrscheinlich hatte es der Antheil Liedke’s von den gestohlenen zwölftausend Thalern sein sollen. Jure wollte nichts davon wissen.

Jure und Liedke wurden an das Criminalgericht abgeliefert und zur Criminaluntersuchung gezogen. Liedke gestand schon im ersten Verhöre Alles ein, auch vollständig seine eigene Mitschuld. Um so erheblicher, überzeugender wurde dadurch der Beweis gegen Jure. Gleichwohl blieb dieser bei einem festen, hartnäckigen und konsequenten Leugnen. Er wollte den Liedke nicht kennen, er wollte in der Markgrafenstraße nicht gewesen sein, er wollte noch weniger etwas von dem Diebstahle wissen. In dem Keller war es dunkel gewesen und er hatte nicht gesprochen; der Wirth konnte ihn daher nicht mit Bestimmtheit, nur sehr ungewiß wiedererkennen. Der Droschkenkutscher, der ihn zum Windmühlenberge gefahren hatte, konnte sich seiner gar nicht erinnern. Von den beiden Dienstmägden im Hause Markgrafenstraße Nummer 92 wollte sich die eine gleichfalls nur dunkel, die andere gar nicht auf ihn besinnen. Er war ein hübscher junger Mensch, ein Gefangener und ein verwegener Dieb. Die letztere Eigenschaft erweckte die weibliche Furcht, die beiden ersten regten das weibliche Interesse an. Auf dem Judenkirchhof war er zufällig gewesen; hatte Liedke vorher gesagt, daß sie sich dort treffen würden, so war das eine durch den Zufalle unterstützte freche Lüge. Von dem Fünfundzwanzigthalerschein wußte er nichts; es kam ihm dabei zu Statten, daß in dem gestohlenen Packet kein solcher Schein sich befunden hatte. Die Bezüchtigungen Liedke’s hatten ihren Grund einfach darin, daß Liedke doch Jemanden haben müsse, auf den er die Schuld wälzen könne, und nun ihn, der einmal als Dieb bekannt sei, und dessen Entweichung aus der Festung er durch einen Zufall erfahren haben werde, genommen habe.

Ein solches beharrliches und konsequentes Leugnen, den dringendsten Beweisgründen gegenüber, war in der guten alten Zeit des Kriminalprozesses die fast allgemeine Sitte aller Verbrecher, die nur einigermaßen die Gesetze kannten, und diese kannte, wer nur einmal in Untersuchung gewesen war. Unter den berliner Dieben war sie gäng und gäbe. Sie hatte ihren guten Grund. Die „ordentliche“ Strafe des Verbrechens konnte nur verhängt werden, wenn ein „voller“ Beweis da war, und dieser war nur da, wenn ein vollständiges Bekenntniß abgelegt war, oder wenn zwei unverdächtige Zeugen aus eigener Mitwissenschaft und übereinstimmend die Verübung der That selbst bezeugt hatten. Bei jedem andern, dem sogenannten künstlichen oder Indicien-Beweise konnte höchstens auf eine gelindere „außerordentliche“ Strafe erkannt werden. Und dies auch dann nur, wenn mindestens mehrere „nahe Indicien zusammentrafen“ und zugleich der Angeschuldigte bereits schlecht beleumundet war. Außerdem, wenn nicht mindestens ein „halber Beweis“ vorlag, erfolgte vorläufige oder gänzliche Freisprechung. Dabei konnte ein „nahes“ Indicium wiederum nur durch die eigene und übereinstimmende Wahrnehmung zweier unverdächtiger Zeugen hergestellt werden.

Für den Verbrecher war es danach ein Hasardspiel, ob sein Richter die gegen ihn vorliegenden Indicien als jenen „halben“ Beweis begründend annehmen werde oder nicht. Wie hätte er das Spiel nicht wagen sollen, bei dem er nie verlieren, immer nur gewinnen konnte? Dazu kam die natürliche Lust an dem geistigen Kampfe mit seinen Inquirenten.

Freilich war auch diese Lust an dem Kampfe eine gegenseitige. Der Inquirent hatte sie ebensowohl wie der Inquisit. Auf beiden Seiten gleiches Aufbieten von Scharfsinn und List, aber auch von Hinterlist. Daher denn auch die mancherlei Inquirentenkünste.

Doch wurden Scharfsinn, List und Kunst manchmal auch durch materielle Gewalt ersetzt, weniger bei den Civil als bei den [509] Militäruntersuchungsgerichten. Der Prozeß gegen Jure sollte einen Beweis davon liefern.

Jure war zuerst an das Kriminalgericht zu Berlin abgeliefert worden. Es ermittelte sich jedoch, daß er noch Soldat war; er hatte der Strafcompagnie der Festung angehört, aus der er entsprungen war. Er wurde daher den Militärgerichten, und zwar dem Garnisonauditorate zu Berlin übergeben. Die Untersuchung gegen Liedke blieb bei dem Kriminalgerichte. Wurden gemeinsame Verhöre erforderlich, so wurden sie von einer „gemischten Commission“ geführt.

Der Diebstahl an dem Lieutenant von Maxenstern hatte in Berlin Aufsehen erregt, besonders in der höheren Gesellschaft, theils um seiner Beträchtlichkeit, theils um der bekannt gewordenen eigenthümlichen Verhältnisse des Bestohlenen willen. Aller Amtsverschwiegenheit zum Trotze wurde daher auch die Lage der Untersuchung und die Strafe der gegen Jure vorhandenen Beweise bekannt. Am meisten Interesse erregte dabei natürlich der Umstand, daß das gestohlene Geld nicht zu ermitteln war. Alle Welt, die nicht eben preußisch- (oder auch gemeinrechtlich-) juristisch war, war im höchsten Grade entrüstet darüber, daß gegen den frech leugnenden und nach ihrer Ansicht überführten Verbrecher kein Mittel der Gewalt angewendet wurde, ihn zur Herausgabe des gestohlenen Geldes zu zwingen. Am Meisten empört waren die Offiziere und die Damen. Der Inquirent des Auditoriats, und wenn er sich auf das Gesetz berief, wurde mit den bittersten Vorwürfen überhäuft. Man sprach sogar davon, das Gesetz müsse abgeändert, mindestens müsse für den gegenwärtigen Fall eine Cabinetsordre erlassen werden. Allein die Richter wollten das Gesetz nicht verletzen, und der Justizminister wollte die Cabinetsordre nicht extrahiren. Jure aber blieb fest.

Gleichwohl bekam die Sache bald eine andere Wendung. Der Commandant der Festung, aus welcher Jure entsprungen war, reklamirte diesen für seine Gerichtsbarkeit, um gegen ihn die Untersuchung wegen des gewaltsamen Ausbruchs aus der Festung, und deshalb, um der „Connexität“ der Sache willen, zugleich wegen des in Berlin begangenen Diebstahls führen zu lassen. Jure wurde an ihn abgeliefert.

Nach der preußischen Militärgerichtsverfassung ist der betreffende Militäroberbefehlshaber zugleich der Militärgerichtsherr. Der Auditeur ist sein Gerichtshalter. In den Festungen ist der Militärgerichtsherr der Festungscommandant, sein Gerichtshalter der Festungsgarnisonauditeur.

Der Festungscommandant, welchem Jure zurückgeliefert wurde, war ein alter Soldat, aber auch nur ein alter Soldat, der einen anderen als einen militärischen Gesichtskreis nicht hatte. Der Soldat ging ihm daher über Alles; freilich war ihm eigentlich der Offizier nur Soldat. Dabei war er ein streng rechtlicher Mann, den jedes Unrecht empörte; freilich in seiner Weise, die allerdings einige Aehnlichkeit hatte mit der Art und Weise, wie manchmal der alte Fritz mit seinem Krückenstock in die Gerechtigkeit hineingeschlagen hatte.

Begreiflich interessirte ihn nach allem diesen die Untersuchung gegen Jure in hohem Grade. Dazu kam, daß der Vater der Verlobten des Lieutenants von Maxenstern sein Freund gewesen war.

Er las selbst, und sehr genau, die Untersuchungsakten, die ihm mit dem Inquisiten von Berlin überschickt waren.

Dann ließ er „seinen“ Auditeur zu sich kommen, der ihm ein Mittelding zwischen Offizier und Nichtoffizier war.

„Auditeurchen, der Jure ist da.“

„Ich habe es erfahren, Herr General.“

„Ich habe seine Akten gelesen.“

Der Auditeur verbeugte sich schweigend.

„Der Mensch hat einen Offizier bestohlen.“

„Ich weiß es, Herr General.“

„Um zwölftausend Thaler!“

„Ich weiß es, Herr General.“

„Der Lieutenant von Maxenstern ist ein sehr braver Offizier.“

Der Auditeur verbeugte sich wieder schweigend.

„Seine Braut ist die Tochter eines meiner bravsten Freunde.“

Wieder eine Verbeugung des Auditeurs.

„Die zwölftausend Thaler sind noch nicht wieder da.“

„Ich habe es gehört, Herr General.“

„Auditeurchen, ich verlasse mich auf Sie.“

Der Auditeur verstand die Worte.

„Ich werde thun, was in meinen Kräften steht, und –“

„Brav, Auditeurchen.“

„Und was die Gesetze gestatten.“

„Versteht sich.“

Der Auditeur ging, nahm die Akten mit, las sie sorgfältig durch, inquirirte mit Fritz Jure, bekam aber nicht mehr von ihm heraus als seine Collegen in Berlin.

Schon am folgenden Tage mußte er dem Conmmandanten über das Resultat seines Inquirirens rapportiren.

„Nun, Auditeurchen?“

Der Auditeur zuckte die Achseln.

„Er hat nicht bekannt?“

„Nein, Herr General.“

„Auch nicht, wo er das Geld gelassen hat?“

„Keine Silbe.“

„Haben Sie ihm schon Hiebe geben lassen?“

„Nein, Herr General.“

„Was? Noch keine Hiebe? Warum das nicht?“

„Weil das Gesetz es nicht gestattet.“

„Das Gesetz? Das Gesetz?“

„Der Herr General wissen, daß ich das Gesetz nicht übertrete, und ich weiß, daß der Herr General das nicht wollen.“

„Richtig. Gegen das Gesetz darf man nicht. Was sagt das Gesetz?“

„Es verbietet jede Gewaltmaßregel zur Erlangung eines Geständnisses.“

„Jede? Ohne Ausnahme?“

„Nur gegen halsstarrige und verschlagene Verbrecher, welche frech lügen oder gänzlich schweigen, soll körperliche Züchtigung stattfinden. Aber nur der Herr General können sie verfügen.“.

„Ich verfüge sie, Auditeurchen. Jetzt gleich, auf der Stelle. Lassen Sie ihm achtzig geben, sofort.“

„Herr General –“

„Was?“

„Der Mensch schweigt nicht gänzlich.“

„Aber er lügt. Er will von dem Gelde nichts wissen, was er gestohlen hat.“

„Daß er es gestohlen hat, muß ihm noch bewiesen werden. Erst dann kann von einer Lüge die Rede sein.“

„Auditeurchen, Auditeurchen, Sie sind ein ehrlicher Mann, aber sind Sie hier nicht zu spitzfindig?“

„Das Gesetz kann gar nicht anders verstanden werden.“

„Das muß ich selbst sehen. Das Gesetzbuch steht da hinten auf dem Bücherbret. Langen Sie es mir einmal her.“

Der Auditeur holte das Gesetzbuch, schlug darin die betreffende Stelle auf und überreichte es dem General.

Dieser las sehr eifrig und nachdenklich.

„Dumme Gesetze,“ sagte er. „Recht einfältige Gesetze. Für die Spitzbuben gemacht, gegen die ehrlichen Leute. Der Lieutenant muß doch wieder zu seinem Gelde kommen!“ Er studirte in dem Buche weiter. Auf einmal fuhr er triumphirend in die Höhe. „Auditeurchen,“ rief er, halb vorwurfsvoll, halb freudig. „Muß ich besser die Gesetze kennen als Sie? Da steht es ja. Hören Sie zu: „„Vorzüglich soll eine solche Züchtigung alsdann stattfinden, wenn der Angeschuldigte bei einem gegen ihn ausgemittelten Verbrechen, welches er nicht allein ausgeübt haben kann, die Angabe der Mitschuldigen verweigert, oder wenn der Räuber oder Dieb nicht anzeigen will, wo sich die entwendeten Sachen befinden oder wenn er durch falsche Angaben darüber den Richter täuscht. Den letzten Fall haben wir hier, Auditeurchen. Der Mensch ist ein Dieb, nicht wahr, Auditeurchen?

„Noch nicht überführt, Herr General.“

„Das Geld ist entwendet. Leugnen Sie das auch?“

„Nein, es steht fest durch die eidliche Angabe des Bestohlenen.“

„Der Mensch will nicht anzeigen, wo es sich befindet. Geben Sie auch das zu?“

„Es ist so.“

„Also! Achtzig, Auditeurchen! Lassen Sie ihm auf der Stelle achtzig Hiebe geben.“

„Herr General – “

„Fehlt noch etwas?“

„Die Hauptsache. Das Gesetz setzt auch hier den vollen Beweis voraus, daß der Leugnende wirklich gestohlen habe, daß er der Dieb sei. Der Dieb, der nicht anzeigen will, soll gezüchtigt [510] werden. Ein Dieb ist nur, wer bereits vollständig des Diebstahls überführt ist.“

Der General sah wieder in das Gesetzbuch. Er wurde still.

„Dumme Gesetze das. Recht dumme Gesetze!“

Auf einmal wurde er wieder lebhaft. Er schien plötzlich einen durch die Finsterniß hell leuchtenden Gedanken gefaßt zu haben.

„Auditeurchen!“

„Herr General?“

„Der Mensch hat gestohlen, zweifeln Sie daran?“

„Ich für meine Person bezweifle es nicht.“

„Er hat einen armen Offizier bestohlen.“

Der Auditeur verbeugte sich wieder schweigend.

„Er hat ihm sein ganzes Vermögen gestohlen.“

Der Auditeur verbeugte sich.

„Der Offizier muß wieder zu dem Seinigen kommen.“

Der General sah bei jedem seiner Sätze fragend den Auditeur an, dem daher auch diesmal nur übrigblieb, sich schweigend zu verbeugen.

„Der Mensch kann als überführter Dieb nach den Gesetzen nicht betrachtet werden.“

„Nein, Herr General.“

„Auch nicht als frecher Lügner.“

„So ist es, Herr General.“

„Nach den Gesetzen kann ich ihn daher auch als Gerichtsherr nicht züchtigen lassen.“

„Nein, Herr General.“

„Aber er ist hier aus der Festung ausgebrochen.“

„Ja, Herr General.“

„Das ist gegen die militärische Ordnung der Festung.“

„Allerdings, Herr General.“

„Ueber die militärische Ordnung in der Festung habe ich zu wachen, nicht als Gerichtsherr, sondern als Festungscommandant.“

„Zu Befehl, Herr General.“

„Atso auch nicht nach den dummen Gesetzen da, sondern nach meiner Instruktion.“

„Zu Befehl, Herr General.“

„Ich habe nach dieser auch ein Disciplinarzüchtigungsrecht gegen die sich auflehnenden Gefangenen.“

„So steht es in der Instruktion.“

Der General triumphirte, daß sein Auditeur, der, obwohl in seinen Augen nur halb Offizier, dennoch in juristischen und vielen andern Dingen eine ganze Autorität für ihn war, bis dahin seiner Logik keinen einzigen Widerspruch hatte entgegenstellen können. Völlig siegreich schloß er:

„Also, Auditeurchen, lasse ich als Commandant, nicht als Gerichtsherr, dem Menschen seine Hiebe geben. Achtzig dictire ich ihm, lassen Sie sie sofort vollstrecken.“

Der bedächtige und gewissenhafte Auditeur hatte noch immer Einwendungen.

„Der Herr General vergessen,“ sagte er, „daß Sie wegen des Ausbruchs des Menschen schon eine Kriminaluntersuchung haben einleiten lassen. Doppelt kann er nicht bestraft werden; die Kriminaluntersuchung hebt das Disciplinarverfahren auf.“

Allein diesmal ließ der alte General sich nicht irre machen.

„Das ist für den Ausbruch, Auditeurchen,“ rief er. „Züchtigen lasse ich ihn für das Entweichen.“

„Durch das Ausbrechen ist er entwichen, Herr General. Das ist von einander nicht zu trennen.“

„Es ist zweierlei, sage ich Ihnen.“

„Ich bedauere, Herr General, gesetzlich –“

„Ich befehle hier als Commandant nach meiner Instruktion; hier gibt es kein Gesetz.“

„Das Gesetz steht über der Instruktion.“

„Das verstehen Sie nicht, Auditeurchen.“

„Herr General – “

Das Gesicht des alten Generals wurde sehr roth.

„Herr Auditeur, wo ich als General befehle, bin ich gewohnt, jeden Widerspruch als Insubordination

„Zu Befehl, Herr General.“

„So lassen Sie dem Menschen seine Achtzig geben.“

Der Auditeur hatte noch eine Einwendung, freilich nur eine halbe.

„Entschuldigen Sie, Herr General, die Instruktion gestattet Ihnen als Disciplinarzüchtigung nur vierzig Hiebe.“

Der General ließ sich auch durch diesen Einwurf nicht irre machen.

Auf einmal nur vierzig, Auditeurchen. Sie lassen ihm also zuerst vierzig geben, und wenn er dann noch nicht bekannt hat, so rapportiren Sie mir, und er bekommt die zweiten vierzig.“

„Wenn er nicht bekannt hat, Herr General? Ich denke, er bekommt die Züchtigung für sein Entweichen.“

„Das verstehen Sie nicht, Auditeurchen, das geht meiner Instruktion an.“

„Aber dann die zweiten vierzig? Für das Entweichen kann er nur einmal gezüchtigt werden.“

„Auditeur, Sie werden unausstehlich. Das wird sich finden. Gehen Sie.“

Der Auditeur ging, die Züchtigung vollstrecken zu lassen. Der Corporal, der sie zu vollziehen hatte, war von dem Commandanten schon instruirt.

Fritz Jure wurde vorgeführt, um seine Züchtigung zu empfangen. Der Auditeur eröffnete ihm den Zweck der Vorführung.

„Der Herr General hat Dir vierzig Hiebe dictirt, für Deine Entweichung.“

Der Gefangene schien darauf gefaßt zu sein. Er verzog keine Miene. Der Corporal flüsterte ihm in’s Ohr:

„Du wirst achtzig bekommen, wenn Du das gestohlene Geld nicht herausgiebst.“

Der Dieb sah ihn höhnisch an. Er bekam vierzig Hiebe. Mit einem Stock, stehend, auf den Rücken. Der Nichtsoldat wird liegend mit der Peitsche auf dem Gesäß gezüchtigt. Er verzog auch während der Züchtigung keine Miene.

„Nun?“ fragte ihn der Corporal.

Der Dieb antwortete mit einem Blicke der Verachtung. Der Auditeur mußte dem General rapportiren.

„Die Züchtigung ist vollstreckt, Herr General.“

„Hat er bekannt, Auditeurchen?“

„Nein, Herr General.“

„Lassen Sie ihm die zweiten vierzig geben.“

„Herr General, die Instruktion –“

„Die zweiten, sage ich. Vierzig hat er bekommen für das Entweichen. Andere vierzig bekommt er dafür, daß er bei seiner Entweichung die Sträflingskleidung mit sich fortnahm.“

„Er konnte doch nicht nackt davon laufen, Herr General.“

„Das verstehen Sie nicht. Meine Instruktion habe ich auszulegen.“

Der Dieb bekam die zweiten vierzig Stockhiebe. Er zuckte auch diesmal nicht. Aber sein Gesicht war leichenblaß geworden, seine Augen waren von weiten, schwarzen Kreisen umgeben.

„Nun, das Geld?“ fragte, als die Execution beendigt war, der Corporal wieder.

Der Gezüchtigte antwortete mit einem Blicke stiller, aber desto drohender Wuth.

Der Auditeur rapportirte wieder dem General.

„Auch die zweite Züchtigung ist vollstreckt.“

„Hat er bekannt?“

„Nein.“

„Für heute mag er Ruhe haben.“

Am andern Morgen mußte der Auditeur wieder zum General kommen.

„Auditeurchen, der Mensch muß heute wieder seine achtzig haben.“

„Aber, verehrter Herr General –“

„Auditeurchen, der Mensch hat einen armen Lieutenant bestohlen.“

„Herr General, ich bitte Sie –“

„Der Vater der Braut war mein Freund.“

„Herr General, geben Sie der Stimme der –“

„Zuerst vierzig, Auditeurchen, dafür, daß er seine Commißjacke, die er mitgenommen, nicht zurückgebracht hat. Keine Widerrede!“

Der Auditeur mußte auch die dritte Züchtigung vollstrecken lassen. Vorher ließ er den Gefangenen in sein Verhörzimmer führen.

„Jure,“ sagte er hier zu ihm, „der General hat Dir eine neue Züchtigung von vierzig Hieben dictirt, für die Verbringung Deiner Sträflingskleidung. Er wird Dich auf solche Weise ferner züchtigen lassen, bis Du das Geld herausgiebst. Ich kenne ihn, und er hat das Recht dazu. Gehe in Dich. Mache Dich nicht zum Krüppel.“

„Ich habe nicht gestohlen, ich weiß von keinem Gelde,“ antwortete der Dieb mit seinem frechen Trotze.

[511]

Schiller’s Aeltern.




Er bekam die dritten vierzig Hiebe. Er hielt auch sie aus, auf den schon wunden, ihn schon furchtbar schmerzenden Rücken. Er hielt sie standhaft aus, ohne einen Laut. Aber sein ganzes Gesicht war erdfahl geworden, und sein ganzer Körper zitterte.

„Nun,“ fragte der Corporal wieder.

Der Gefangene wollte ihm in das Gesicht speien; aber er beherrschte sich und zog still ab.

Der Auditeur rapportirte dem General die Vollziehung der dritten Züchtigung.

„Und er hat noch nicht bekannt?“

„Nein, Herr General.“

„Es that mir leid, Auditeurchen, aber der Mensch hat einem armen Offizier sein Alles gestohlen, und die Braut ist die Tochter meines Freundes. Er hat seine Jacke, eine Militärjacke, in einen Graben in Berlin geworfen. Er hat das selbst bekannt. Das ist ein Affront, und er verdient dafür die vierten Vierzig. Lassen Sie sie ihm geben.“

„Noch heute, Herr General?“

„Noch heute.“

Der Auditeur ließ vorerst den Gefangenen durch einen Arzt untersuchen, ob er ohne Nachtheil die Züchtigung werde ertragen können. Der trotzige Dieb stellte sich kräftiger als er war. Das Gutachten des Arztes fiel bejahend aus.

Die vierte Execution begann.

Der Dieb gab auch jetzt keinen Laut von sich. Aber bei dem zwanzigsten Hiebe fiel er zusammen. Der Auditeur befahl einzuhalten. Der Gezüchtigte wurde in das Hospital gebracht. Der finstere, energische Verbrecher hatte auch einen eisernen Körper. Er war nach vierzehn Tagen wieder hergestellt.

Der General ließ den Auditeur rufen.

„Auditeurchen, er Mensch, der Fritz Jure, der den Lieutenant von Maxenstern bestohlen hat, ist wieder besser.“

Der Auditeur verbeugte sich schweigend.

„Er kann wieder seine Hiebe aushalten.“

„Ich weiß es nicht, Herr General.“

„Aber ich weiß es. – Er hat noch immer nicht bekannt.“

„Nein, Herr General.“

„Er hat noch viel gegen die Disciplin gefehlt.“

„Noch immer, Herr General?“

„Aber ich habe mich an Se. Majestät gewandt.“

„Und Se. Majestät?“

„Haben dem Lieutenant von Maxenstern ein Gnadengeschenk von zwölftausend Thalern gemacht.“

„Gottlob!“

„Ja, Gott erhalte Se. Majestät, Friedrich Wilhelm den Dritten.“

„Und der Jure, Herr General?“

„Ich und meine Instruktkion haben nichts mehr mit ihm zu schaffen. Er gehört jetzt nur noch Ihnen und dem Gesetze.“

Die Untersuchung gegen Fritz Jure war bald abgeschlossen. Er legte auch in ihrem ferneren Verlaufe kein Bekenntniß ab. Trotz seinem Leugnen konnte seine Schuld keinem Zweifel unterliegen. Es wurde gegen ihn auf Festungsbaugefangenschaft bis zur Begnadigung erkennt, auf welche letztere vor Ablauf von funfzehn Jahren von Amtswegen nicht anzutragen sei. So lauteten damals die Gesetze.

Er verbüßte sein Strafe, volle funfzehn Jahre lang, unverdrossen, aber auch in „untadelhafter Führung.“ Nach Ablauf der genannten Zeit wurde er daher begnadigt. Er kehrte nach Berlin zurück. Die Polizei bewachte ihn von dem Augenblicke seiner Entlassung an auf Schritt und Tritt. Von den gestohlenen zwölftausend Thalern wurde gleichwohl keine Spur gefunden.

Nach einigen Monaten war er indeß plötzlich verschwunden.

Nach einem Jahre hörte man, daß ein Mensch, auf den das Signalement des Fritz Jure paßte, in dem Westen von Nordamerika sich angekauft habe, und dort als fleißiger Ackerbauer lebe.

Ludwig Liedke war lange vorher im Zuchthause gestorben.

[512]

Schiller’s Aeltern.

Ein Gedenkblatt von Arnold Schloenbach.
Mit Portraits.

In Nr. 34 der Gartenlaube brachten wir Goethe’s Aeltern; dies führte uns leicht begreiflich auch zu den Aeltern unseres Schiller, und wenn es gewiß stets anregsam ist, das Gedenken der größten und edelsten Geister unserer Nation dann und wann wieder aufzufrischen, so ist es auch gewiß interessant, das „Fleisch und Blut“ kennen zu lernen, aus denen diese Geister entsprossen sind; hier sind es nun auch die Gegensätze, die in ihrer Vergleichung noch besonderes Interesse gewähren; so grundverschieden beide Dichter sich einander gegenüber stehen, ebenso auch Beider Aeltern. Doch wie bei Goethe, zeigt sich auch bei Schiller der große Einfluß der Aeltern, namentlich der Mutter, auf das innere Wesen des Sohnes. – Eine gewisse Charakter-Aehnlichkeit von Schiller’s Vater mit Goethe’s Vater ist nicht zu leugnen, doch ist sie tiefer und einzeln zu suchen, und geht, im Ganzen genommen, verloren. Beider Väter hießen Caspar, Beider Mütter Elisabeth; sonst: welch’ ungemeiner Unterschied des Bodens, der Verhältnisse, der Anschauungen und Bedingungen, aus denen Beide heranwuchsen! Bei Goethe die mächtige, berühmte, freie Reichsstadt, mit ihren Kaiserkrönungen und ihrer Stellung zur Zeitgeschichte; bei Schiller ein armes, kleines Dorf, das erst durch ihn seinen Namen bekam; bei Goethe Reichthum, Glanz, Macht, natürlich Verbindung mit dem Bedeutendsten und Vornehmsten seiner Zeit; bei Schiller – nun, der arme Feldscheer und Barbier, Caspar Schiller, der Sohn eines Dorfbäckers, brachte an baarem Gelde 215 Gulden 25 Kr. mit in die Ehe; die Mutter Elisabeth, deren Vater ein ganz verarmter Bäcker, brachte an baarem Gelde nichts hinzu; nur ihre Liegenschaften betrugen 188 Gulden Werth; – als Goethe zuerst in die Welt hinausging: welche Kisten und Kasten und Felleisen wurden da aufgepackt; eine Equipage fuhr vor und Diener umringten sie; – Schiller: rührend ist es, aus einem amtlich beglaubigten Documente zu lesen, was er mit in die Welt hinausnahm: „Ein blaues Röcklein nebst Camisol ohne Aermel, ein Paar Hosen, zwei Manchettenhemden, ein Unterhemd, vier Paar leinene Strümpfe, ein Paar Schuh, ein Paar Stiefeln, einen ord. Hut, Geld: 43 Kr., funfzehn Stück unterschiedl. laleinische Bücher.“ – So sind die Gegensätze der Verhältnisse[WS 1] hinreichend angedeutet; die Gegensätze zwischen den Aeltern mögen sich von selbst ergeben.

Johann Caspar Schiller, der Vater unseres Dichters, wurde geboren am 22. October 1723 zu Bitterfeld im Würtembergischen, als der Sohn des Bäckers und Schultheiß daselbst; er starb am 7. September 1796, als Hauptmann (nach Andern als Major) auf der Solitüde bei Stuttgart.

Elisabeth Dorothea Schiller, die Mutter, wurde geboren am 13. December 1732 zu Marbach, als Tochter des verarmten Bürgers und Bäckers, Johann Kodweiß; sie starb am 12. Mai 1802 zu Cleversulzbach, in den Armen ihrer Tochter Louise, vermählt dem dortigen Pfarrer Frank.

Am 22. Juli 1749 vermählten sich Beide; erst nach achtjähriger Ehe wurde ihnen eine Tochter geboren, Christophine, die nachmalige Hofräthin Reinhard in Meiningen; zwei Jahre darauf, am 11. November 1759, unser Schiller; beinahe im Lager, wo die Mutter ihren Mann besucht hatte und wo sie eilig aufbrechen mußte, um noch in ihrem älterlichen Hause zu Marbach Deutschlands schönstem Dichter das Leben zu geben. Der Vater empfing „das große Geschenk des Himmels“ mit dem Gebete: daß Gott diesem Kinde an Geistesstärke zulegen möge, was sein Vater aus Mangel an Unterricht nicht habe erreichen konnen. – Dieses Gebet des würdígen Mannes sollte so glänzend in Erfüllung gehen!

Und das ganze Leben dieses Mannes selbst war ein unermüdliches Kämpfen und Streben nach höherer Ausbildung; sein höchster Schmerz wohl der, daß ihm an Unterricht und Talent versagt worden, was ihm zu der ersehnten Ausbildung nöthig sei. – Kurz, gedrungen, fest wie sein Figur, war sein Charakter, sein Benehmen, doch gemildert von ächt protestantischer Frömmigkeit; lebhaft, klar wie seine blauen Augen, sein Verstand; die energische Nase und hochgewölbte Stirn hatte unser Schiller von ihm; im Ganzen: er war ernst, streng und mild; muthig, redlich, gehorsam und bescheiden.

Früh vater- und mittellos geworden, wurde er bei einem Chirurgus und Barbier in die Lehre gethan, und betrieb er dieses Geschäft sorgenvoll und widerstrebend bis zu seinem 22. Jahre, wo er sich als Feldscheer in ein baierisches Regiment aufnehmen ließ und im österreichischen Erbfolgekrieg mit nach den Niederlanden zog. Nach dem aachener Frieden 1748 kam er in das Vaterland zurück, heirathete in Marbach und trieb hier wieder das Geschäft des Chirurgen und Barbiers, und zwar noch sorgenvoller, noch widerstrebender als früher. Dies und die kinderlose Ehe trieben ihn dann wieder fort, als der siehenjährige Krieg heranrückte; er ließ sich als Fähndrich und Adjutant im würtembergischen Regiment Prinz Louis anwerben, das in österreichischen Diensten nach Böhmen zog. Hier zeichnete er sich aus durch Tüchtigkeit, Thätigkeit, Mäßigkeit und maßloses Studium militärischer und medicinischer Werke; hier wirkete er als Soldat, als Chirurg und – als Geistlicher; als sein Regiment nach Hessen und Thüringen verlegt wurde, kam er dann und wann nach Hause, wovon unser Dichter ein redendes Beispiel ist. Mit Ende des Krieges 1763 kam er als Hauptmann zurück. – Noch eifriger studirte er jetzt Militärisches und Medicinisches; eifrig auch Landwirthschaft und namentlich Alles, was sich auf Baum- und Obstzucht bezog. Sein ganzes Wesen war klarer, bestimmter in Handlung, Wort und Schrift geworden; aber auch strenger, schärfer, militärischer; sogar der tägliche Gottesdienst im Hause wurde militärisch eingerichtet; die Gebete mußten nach Exercitien gesprochen werden. Er selbst hatte ein langes Gebet in etwas sonderbaren und holperigen Reimen verfertigt, was jeden Tag executirt wurde. Es fing folgendermaßen an:

„Treuer Wächter Israels,
Dir sei Preis und Dank und Ehren,
Laut betend lob’ ich dich,
Daß es Erd’ und Himmel hören.“

Indessen steckte doch auch ein Stück Aufklärung in ihm; er wurde manchmal borstig gegen übertriebene und unberechtigte Pfaffereien, und als ihn einmal sein Fritz, mit Beziehung auf ein Gedicht von elfenbeinernen Zähnen der Kirche, fragte: „Hat denn die Kirche Zähne von Elfenbein?“ antwortete er: „O, sie hat auch manchmal Wolfszähne.“

Im Jahre 1765 sendete ihn sein Herzog Karl als Werbeoffizier nach der Grenzstadt Schwäbisch-Gmünd, wo er im Dorfe und Kloster Lorch sich mit der Familie niederließ. Hier nahm er seinen Fritz viel mit hinaus in den Wald zu den Förstern, zu den Werbelagern, auf die Ruinen; alles ihm deutend und namentlich die Geschichten von den Hohenstaufen ihm erzählend. Die Familie lebte indessen kümmerlich von dem, was der Vater in dem letzten Kriege sich erspart hatte; sein Sold blieb aus, und erst nach einigen nachdrücklichen Vorstellungen wurde er, im Jahre 1768, nach Ludwigsburg versetzt, mit ausreichendem Gehalt. Hier machte er sich um die Baumpflanzungen so verdient, daß ihm schon 1770 die Oberaufsicht über die neuen Anlagen der Solitüde übergeben wurde; 60,000 Bäume soll der Vater unseres Dichters hier gepflanzt haben. Im Jahr 1772 wurde Friedrich confirmirt; er feierte dies mit einem Gedichte, das man wohl als das erste seiner Feder bezeichnen kann; der Vater meinte, als Friedrich es ihm zeigte: „Ei, bist Du närrisch geworden, Fritz?“ – Daß Fritz Theolog werden sollte, war schon lange von den Aeltern beschlossen, vom Knaben mit Sehnsucht entgegengesehen; da kam „die Gande“ des Herzogs: den Knaben seiner geliebten Dressir-Anstalt einverleiben zu wollen, weil die Lehrer denselben so talentvoll in ihren Berichten bezeichnet hatten. Die Aeltern waren bestürzt, der Vater suchte ehrfurchtsvoll und dankbar abzulehnen – vergebens! Die Gnade wurde noch einmal octroyirt; das war Befehl, und Friedrich Schiller ging auf die Karlsschule.

Seine Flucht von da traf den unvorbereiteten Vater wie ein Donnerschlag; doch konnte er auch dem Sohne nicht lange zürnen; er sah zwar nicht ganz ein, daß derselbe Recht hatte, doch ahnete er es, empfahl ihn Gott und freute sich des schon wachsenden Ruhmes, wenn auch nicht ohne ernstes Bedenken für des Sohnes Seelen- [513] und Lebensheil. Ein Brief an den flüchtigen Dichter bezeichnet mehr als alle andern Worte das strenge, aber rechtschaffene Wesen des Vaters; hören wir ihn deshalb: „So lange Er, mein Sohn, seine Rechnungen auf Einnahmen setzt, die erst kommen sollen, mithin dem Zufalle oder Nothfalle unterworfen bleiben, so lange wird Er im Gedränge verwickelt bleiben. Wiederum: so lange Er denkt: dieser oder jener Gulden oder Batzen wird es nicht ausmachen, daß ich so ’rauskomme, so lange werden Seine Schulden nicht geringer werden, und – das wäre mir leid, wenn Er sich nach einer schweren Kopfarbeit in Gesellschaft anderer guten Menschen nicht sollte erholen, erfreuen können. Aber dergleichen Erholungstage mehrere als Beschäftigungstage zu nehmen, das wird wohl nicht angehen. Bester Sohn, Sein Aufenthalt in Baerbach ist von dieser Art gewesen. Dafür muß er anjetzo büßen und das nicht von ungefähr. Die Verlegenheit, in welcher Er sich dermalen befindet, ist wahrlich ein Werk der höheren Vorsehung, um Ihn von dem allzu großen Vertrauen auf eigene Kräfte abzubringen, um Ihn mürbe zu machen, damit Er allen Eigensinn ablege, dem guten Rathe Seines Vaters und andrer wahren Freunde mehr folge, Jedermann mit mehr Achtung, Höflichkeit und Dienstbeflissenheit begegnen, und je mehr und mehr überzeugt werde, daß unser gnädigster Herzog bei Seiner Einschränkung es gut mit ihm gemeint habe und daß es mit Seiner Verfassung besser stände, wenn er sich gefügt hätte und im Lande verblieben wäre. Er hat überhaupt manchmal so närrische Launen, die Ihn bei Seinen besten Freunden unerträglich machen, Steifigkeiten, die den besten Mann zurückschrecken.

„Nicht genug, daß Er mir den höchst unverdienten Vorwurf macht, als ob ich für Ihn 300 Gulden hätte aufbringen können und sollen, fährt Er fort, mich wegen Nachfrage um Ihn, auf eine sehr empfindliche Weise zu tadeln. Lieber Sohn, das Verhältniß zwischen einem guten Vater und dessen, obschon mit vielen Verstandeskräften begabten, aber doch dabei in dem, was zu einer wahren Größe und Zufriedenheit erforderlich wäre, immer noch sehr irregehendem Sohne, kann den Letzteren niemals berechtigen, das, was der Erstere aus Liebe, aus Ueberlegung und aus selbst gemachter Erfahrung jenem zu Gute vernimmt, als Beleidigung aufzunehmen. Was die verlangten 300 Gulden betrifft, so weiß es leider Jedermann, dem meine Lage nur einigermaßen bekannt, daß es nicht möglich sein kann, nur 50 Gulden, geschweige denn so viel in Vorrath zu haben, und daß ich eine solche Summe borgen sollte, zu immer größerem Nachtheil meiner übrigen Kinder, für einen Sohn borgen sollte, der mir von dem Vielen, was er versprochen, noch das wenigste hat halten können: da wäre ich doch ein ungerechter Vater.“

So der strenge, rechtschaffene Mann. – Wie aber nun der Sohn tausendmal mehr hielt, als er versprochen: der glückliche Vater sollte es noch erleben; sollte zwei Jahre vor seinem Tode den berühmten Sohn noch an sein Herz drücken, thränenden Auges, doch auch immer noch ernstlich bedacht, wegen des Sohnes Heil und Demuth. Der berühmte Sohn verschaffte ihm auch noch einen Verleger für sein Werk mehrerer Jahre über Gartenbau und Baumzucht, und der würdige Vater hat wohl kein Geld mit solcher Freude empfangen, als die 24 Karolin, die ihm für das Werk wurden. – Er blieb rüstig bis in sein 73stes Jahr; dann stellte sich ein Brustleiden ein, das ihn über ein halbes Jahr lang quälte und zuletzt seinen Tod wünschenswerth machen mußte.

Als Schiller denselben erfuhr, schrieb er. „Ein erschütternder Schlag! Daran zu denken, daß etwas, das uns so theuer war und woran wir mit den Empfindungen der frühen Kindheit gehangen, und auch im spätern Alter mit Liebe geheftet waren, daß so etwas aus der Welt ist, daß wir mit allen unsern Bestreben es nicht mehr zurückbringen können, daran zu denken, ist immer etwas Schreckliches. Auch wenn ich nicht daran denke, was der gute, verewigte Vater uns Allen gewesen ist, so kann ich mir nicht ohne Rührung den Beschluß eines so bedeutenden und thatenvollen Lebens denken, daß ihm Gott so lange und mit solcher Gesundheit fristete, und daß er so redlich und ehrenvoll verwaltete. Ja wahrlich, es ist nichts Geringes, auf einem so langen und mühevollen Laufe so treu auszuhalten, und so wie er noch im 73sten Jahre mit einem so kindlichen, reinen Sinn von der Welt zu scheiden. Möchte ich so unschuldig von meinem Leben scheiden, als er von dem seinigen.“

Wir haben diese Worte nicht des Dichters, sondern des Vaters wegen angeführt, weil sie denselben auch im Munde des Sohnes noch näher charakterisiren; die Liebe andeuten, die er hinterließ, den Einfluß, den er jedenfalls auf die Kinder haben mußte.

Viel einfacher als das Leben und Bild des Vaters, ist das der Mutter anzudeuten, obgleich, wie schon oben bemerkt, ihr Einfluß auf den Sohn noch bedeutender war. Auch äußerlich ähnlicher war ihr der Sohn: er hatte ihre hohe, schlanke, zartgebaute, etwas vorgebeugte Gestalt, ihren langen, schönen Hals, ihr langes, röthlich blondes Haar, ihr blaßkränkliches, mit Sommersprossen gezeichnetes Gesicht, ihren feinen Mund mit der etwas hervortretenden Unterlippe, namentlich ihre herrlichen, tiefblauen Augen, die nur leider etwas kränklich und oft röthlich umfaßt waren. Sie war sanft, milde und sinnig, hatte unendlich zartes und inniges Gefühl, hingebende Pflichttreue, das zärtlichste Mutterherz, ahnungsvolles Verständniß für Großes und Schönes, besondere Vorliebe für Uz und Gellert, eine seltene Gabe anregsamer Mittheilung und Erklärung aus den Gebieten der Natur und der biblischen Geschichten, Geschicklichkeit im Spiel der Harfe und Geschick, dann und wann ein einfaches, anspruchsloses, aber formschön gebautes Lied zu dichten, wie das folgende beweisen mag:

„O hätt’ ich doch im Thal Vergißmeinnicht gefunden
Und Rosen nebenbei! Dann hätt’ ich Dir gewunden
Im Blüthenduft den Kranz zu diesem neuen Jahr,
Der schöner noch als der am Hochzeitstage war.
Ich höre traun, daß itzt der kalte Nord regieret,
Und jedes Blümchens Keim in kalter Erde frieret!
Doch eines frieret nicht, es ist mein liebend Herz,
Dein ist es, theilt mit Dir die Freude und den Schmerz.“

Dieses innige Liedchen möge zugleich die Liebe andeuten, womit sie ihrem Mann ergeben war, womit sie ihm treu und wacker anhing durch alle Drangsale und Stürme ihres wechselvollen Lebens. – Acht Jahre ohne Kinder, manches Jahr von ihrem Manne getrennt, war sie viel auf sich, und bei ihrer ohnehin beschaulichen Natur, auf innere Betrachtung angewiesen; da konnten denn alle jene genannten stillen Eigenschaften sich um so innerlicher entwickeln; da konnte sie dieselben um so ungestörter auf die ersten vier bis sechs Jahre ihrer ersten Kinder übertragen. Aber auch später, als der Vater dauernd zurückgekehrt war, und sich mit wissenschaftlichen Studien beschäftigte, waren die Kinder mehr der Mutter als dem Vater zugewiesen; flüchteten vor dessen Strenge auch immer hin zur versöhnenden sanften Mutter, beichteten ihr, wenn sie etwas Unrechtes gethan hatten, und konnten vor ihrem tiefen, milden Auge nie lügen, was bei dem Vater oft recht flott ging. – Als der kleine Sohn einst bei einem furchtbaren Gewitter auf einen Baum gestiegen war, „um zu sehen, woher das viele Feuer komme,“ und der geängstigte Vater derb strafen wollte, da verklärte sich der ahnungsvollen Mutter bleiches Gesicht zu hohem Glanze und sie schützte den Knaben. Sie schützte ihn auch, als er jetzt alle seine Taschen umgekehrt hatte, um, was darin sei, armen Reisenden zu schenken; als er dann ohne Schuhschnallen nach Hause kam, weil er dieselben einem armen Knaben geschenkt hatte. Sie nahm ihn mit aus allen Gängen in’s Freie, erzählte ihm Sagen, Mährchen, sprach ihm Gedichte vor, machte ihn aufmerksam auf Schönheiten der Natur und erzählte ihm einst die Geschichte von den Jüngern, die nach Emaus gingen und den Herrn suchten, mit solcher Wirksamkeit, daß dem Knaben die hellen Thränen aus den Augen stürzten.

Ihr auch vertraute der Sohn die Absicht seiner Flucht an, und sie verstand ihn, segnete ihn unter krampfhaftestem Schluchzen und kämpfte einen tiefen, schmerzlichen Kampf mit dem Gefühle, ihrem geliebten Manne solch wichtiges Geheimniß verschweigen zu müssen. Die Mutterliebe aber siegte; sie schwieg, stark und heiter.

Im Jahre 1784 sah sie allein den Sohn zum ersten Male wieder, in Bretten, gleich über der Landesgränze; hierher eilte heimlich der Sohn, um die geweihte Stirn den ersten Lorbeerkranz, den für „Kabale und Liebe“ das Vaterland ihm schon gewunden hatte. Im Jahre 1792 besuchte sie mit ihrer Tochter Louise den ebenso gefeierten als zärtlich sehnsüchtigen Sohn in Jena. Ein Jahr darauf kam derselbe mit der in Hoffnung gehenden Frau zu den Aeltern, und hier legte er am 14. September sein erstes Kind in die Arme der überglücklichen Großmutter.

Bis zum Tode ihres Mannes war sie dessen treueste, ausdauerndste Pflegerin. Nach dessen Auflösung schrieb Schiller der Schwester: „Alles, was zu einem gemächlichen Leben gehört, muß der Mutter werden, und es ist hinfort meine Sache, daß keine [514] Sorge sie drückt. Nach so vielen Sorgen muß der Abend ihres Lebens heiter sein.“ Er macht dann Pläne mancher Art dazu; die Mutter aber will ruhig bleiben, wo der Vater gestorben ist. Nach einiger Zeit heirathet die gute Tochter Louise den vortrefflichen Prediger Franke, und mit dieser Theuren zog dann die Mutter unseres Dichters nach Cleversulzbach, wo sie bald darauf starb, und zwar an demselben Tage, wo ihr großer Sohn seine neue Wohnung in Weimar bezog.

Auch hier wollen wir des Dichters Worte anführen, die er der Entschlafenen nachrief; zuerst in einem Brief an seine Schwester in Meiningen: „So sind nun beide liebende Aeltern entschlafen und dieses älteste Band, das uns an’s Leben fesselte, ist zerrissen! Es macht mich sehr traurig, und ich fühle mich in der That verödet, ob ich gleich mich von geliebten und liebenden Wesen umgeben sehe. – – Möge der Himmel der theuern Abgeschiedenen Alles mit reichen Zinsen vergelten, was sie im Leben gelitten und für die Ihrigen gethan! Wahrlich, sie verdiente, liebende und dankbare Kinder zu haben, denn sie war selbst eine gute Tochter für ihre leidenden Aeltern.“ Früher, an anderer Stelle, sprach Schiller also von seiner Mutter: „Meine Mutter liebte mich sehr und hat viel um mich gelitten. Sie war eine verständige, gute Frau, und ihre Güte, die auch gegen Menschen, die ihr nichts angingen, unerschöpflich war, hat ihr überall Liebe erworben. Mit einer stillen Resignation ertrug sie leidenvolles Schicksal und die Sorge um ihre Kinder kümmerte sie mehr als alles Andere.“ –

In dem Pfarrhause, wo diese edle Mutter unseres Dichters starb, wohnt jetzt ein anderer Dichter Schwabens; einer der vortrefflichsten und liebenswürdigsten der Gegenwart, Eduard Mörike. Mit seinem Gedicht:

„Auf das Grab von Schiller’s Mutter“

wollen wir unsere Betrachtung abschließen:

„Nach der Seite des Dorfs, wo jener alternde Zaun dort
Ländliche Gräber umschließt, wall’ ich in Einsamkeit oft.
Sieh den gesunkenen Hügel! Es kennen wenige Greise
Kaum ihn noch, und es ahnt Niemand ein Heiligthum hier.
Jegliche Zierde fehlt, und jedes deutende Zeichen;
Dürftig breitet ein Baum schützende Arme umher.
Wilde Rose, dich fand ich allein statt anderer Blumen.
Ja, beschäme mich nur! Brich als ein Wunder hervor!
Tausendblättrig öffne dein Herz! Entzünde dich herrlich
Am begeisternden Duft, den aus der Tiefe du ziehst!
– Eines Unsterblichen Mutter liegt hier bestattet; es richten
Deutschland Männer und Frau’n eben den Marmor ihm auf.




Acht Stunden „Cepo“.

Mexikanisches Spiegelbild.

Während die veruneinigten Staaten Deutschlands trotz des jahrelangen Schreies: „sein Vaterland muß größer sein,“ immer kleiner geworden sind, werden die vereinigten Nordamerika’s immer größer, z. B. jetzt wieder um ganz Mexiko, das erhabenste Stück Erde in landschaftlicher Beziehung, das verdorbenste und wahnsinnigste in politischer und socialer, da sich der alte corrumpirte spanische Eroberungsgeist hier am Wildesten ausgebildet und am Längsten gehalten. Jetzt unterliegt endlich diese faule spanische Kultur auch hier der anglo-sächsischen, nachdem der unverschämteste und letzte Tyrann, Santa Anna, mit Schimpf und Schande davon gejagt worden ist, und die Mexikaner zunächst so viel einsehen, daß sie nicht mehr politisch auf eigenen Füßen stehen können. Ob die wilde, schauderhaft gemischte und in unzählige Bastardsorten geschichtete Bevölkerung Mexiko’s im Stande sein wird, an die vereinigten Staaten gelehnt, aus seiner Rohheit und Ruchlosigkeit, aus seiner Treulosigkeit und Streit- und Mordsucht, aus seiner Eifersucht und aristokratelnden Bastardnasenhochtragerei sich heraus- und emporzufinden in die Kultur und Humanität, bleibt auch nach Santa Anna’s Sturze noch eine Frage, eine um so kitzlichere und weltgeschichtlich wichtigere Frage, als auch die vereinigten Staaten sich immer mehr einer großen Krise nähern, welche mit innerm Verfall ihrer Institutionen und äußerlichem Auseinanderfallen droht. Die Sklavenfrage und die Brutalität, mit welcher sie im Norden und Süden aufrecht erhalten und ausgedehnt wird, der zur Herrschaft kommende Knownothingismus, nach welchem die eingewanderten Anglo-Sachsen sich für national erklären, und die Deutschen und Ireländer als Eindringlinge, als Fremde todtschlagen, verjagen, deren Häuser verbrennen und mit einem förmlichen Vertilgungskriege bedrohen, diese frech um sich greifende Brutalität, welche schon zu einem „deutschen Auswanderungs-Vereine aus Amerika“ geführt hat, giebt uns zu immer größeren Befürchtungen für das Gedeihen des Westens auf seiner bisherigen Grundlage Anlaß und Gründe.

Was Mexiko betrifft, das durch seine glückliche Revolution gegen Santa Anna, trotz Sebastopol, auf unsere Beachtung Anspruch macht, so wissen wir wenig Bestimmtes über seine innern Zustände. Man weiß nur im Allgemeinen, daß die Bevölkerung in zwei Hauptschichten, eine miserable, sklavische Arbeiterklasse und eine mehr als zehnfach geschichtete, faule, rohe, stolze Adelsklasse zerfällt. Im Uebrigen wird eine specielle Thatsache, ein bestimmtes Bild mitten aus dem Leben Mexiko’s vorläufig hinreichen, uns eine Vorstellung von diesem seltsamen Lande zu machen. Die Thatsache ward mir von einem Manne mitgetheilt, der sie an Ort und Stelle mit erlebt hatte.

„Schlechtes Wetter und Müdigkeit nöthigten mich, in einer „Hacienda“ (Meierei) Zuflucht zu suchen. Ungefähr einen Büchsenschuß von dem Haupt- und Herrengebäude krochen etwa 30 Hütten in der größten Unordnung, aber sehr malerisch durcheinander, die Wohnungen der Paeones oder Tagelöhner. Die Hütten sahen, wie gesagt, sehr malerisch aus: die üppige Natur dieses Landes hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, die schmutzigen, wackeligen, durchlöcherten Dächer und Wände mit dem dicksten Schleier von Ranken, Blättern und Blumen zu verhüllen. Jede Hütte stand in einer lebendigen Umzäunung wunderlichen, dichten, stacheligen Cactus, über welche das üppigste Gewebe großäugig blühender bunter Schlinggewächse hinwegwucherte, und nach allen Seiten im Winde winkte mit großblättrigen, blühenden Armen. Aber das Innere der Hütten! Wo die Natur zu schön, zu freigebig ist, verkümmert und verkommt der Mensch, dessen Kraft nicht im Boden wurzelt, sondern im Prometheustrotze seiner geistigen Kraft gegen das gefesselte Reich der Natur. Die Weichherzigkeit und überfließende Freigebigkeit der Natur hat auch Kleinasien und die ganze Türkei zu einer Wüste voller Ruinen, Unkraut und Ungeziefer gemacht und den Muselmann, einst der Schrecken der christlichen Welt, zum sterbenden Manne entnervt und abgeschwächt, so daß die Türkei, welche einst den Engländern und Franzosen zur Theilung mit Rußland angeboten ward, nun blos für England und Frankreich gerettet werden kann. Napoleon behält Constantinopel mit Zubehör, die Engländer mögen sich in Kleinasien Gelegenheit zum Geldmachen verschaffen.

„Doch das beiläufig. Aber so viel ist – auch noch beiläufig – gewiß, daß man die Geschichte jedes Volkes besser aus der Gestalt und Formation der Scholle, auf der es lebt, verstehen lernt, als aus diplomatischen Aktenstücken und geheimen Staatsarchiven, aus denen die Geschichts-Professoren ihre monströsen Bücher fabriciren. Diese außen üppig-schöne, innen von Schmutz und Elend starrende Hütte Mexiko’s ist der wahre Schlüssel zu dessen Geschichte.

„Die Bewohner dieser Hütten sind freie Arbeiter, aber viel schlimmer dran, als der Sklave Nordamerika’s, den das Gesetz und das Interesse der Eigenthümer durchschnittlich vor dem gröbsten Elend zu schützen weiß, während der freie mexikanische Paeon allen Launen und Brutalitäten des Arbeitgebers ausgesetzt und erbarmungslos verlassen ist, sobald er krank oder arbeitsunfähig wird. Kein Gesetz, kein Erbarmen, kein Krankenhaus für ihn. Um jede Hütte ist ein Fleckchen Land, welches der Paeon in gestohlenen Stunden kärglich mit Taback und „pimento“ (eine Art Pfefferstaude) bebaut. Der Gewinn daraus gehört ihm, aber er hat nie Gewinn, er arbeitet immer mit Schaden. Ein brutales Monopol, noch fortgeerbt aus der spanischen Herrschaft, zwingt ihn, seinen Weizen, seinen Mais, seine Werkzeuge, alle seine Bedürfnisse in der Hacienda des Grundherrn zu kaufen. Die monopolisirten [515] Preise übersteigen stets seine Mittel, so daß er immer auf Kredit kaufen muß, und sein Schuldenregister immer größer, die Abhängigkeit von dem einzigen Gläubiger immer drückender wird. Der dia de raya, Zahltag, sonst unter den Arbeitern freudig begrüßt, ist ihm deshalb ein Tag zunehmenden Elends.

Da ich mich später sehr lange in der Nähe der Hacienda aufhielt, hatte ich oft Gelegenheit, in das Innere der Hütten und der Zustände dieser Päones zu blicken. Der Laden, in welchem sie allein alle ihre Bedürfnisse kaufen mußten, stand in der Mitte des unter lachendste Vegetation begrabenen Dorfes. Eines Morgens war ich Zeuge des Geschäfts darin. Jeder Päon, der sich einstellte, zog ein etwa sechs Zoll langes hohles Stück Rohr aus der Tasche und entrollte daraus zwei Stückchen Papier, das eine des Gläubigers, das andere seine Rechnung. Von der Bilanz dieser beiden Rechnungen hing der Kredit der Käufer ab. Unter ihnen fiel mir gleich von vornherein ein ganz besonders hohlbackiges, abgemagertes Individuum auf, das immerwährend ängstlich umhertrippelte, bis sich die andern Käufer verlaufen hatten. Es rauchte dabei eine Cigarito nach der andern, augenscheinlich um den bellenden Hunger zu betäuben. Endlich trat es entschlossen an den Ladentisch und forderte ein Cuartillo Mais.

„Ihr Rohr,“ antwortete der Diener.

Er zieht sein simples Verzeichniß von Soll „und Haben“ zitternd heraus, der Diener wirft’s ihm nach dem ersten Blick hin und verweigert jede weitere Erhöhung des Kredits. Noch mehr zitternd steckt das unglückselige Jammerbild sein Rohr wieder ein, sieht stechend und verzweifelt umher und wollte fortschwanken. Von Mitleid ergriffen, bezahlte ich die von ihm verlangte geringe Quantität Mais, worüber der Unglückliche so erstaunt und entzückt war, daß er mir, um mir seine Dankbarkeit zu beweisen, noch einen Real (5 Silbergroschen) abborgte und mich außerdem flehentlich bat, ihn in seine Hütte zu begleiten, wo sein Weib sterbenskrank läge und so sein Einkommen geschmälert habe, daß ihm der Kredit abgeschnitten ward, als er dessen am Dringendsten bedurfte.

In der Hütte bildeten ein paar irdene Gesäße und einige Ochsenhäute das ganze Mobiliar. Auf einer dieser Häute lag ein abgemagertes, elendes Weib, um welches zwei Kinder in großer Unschuld und noch mehr Schmutz spielten. Sie schwang mit matter, knöcherner Hund ein an Aloe-Fibern aufgehangenes Bündel, in welchem ein Säugling schlief. Ich rieth statt der Pimento- und Cactusfrüchte, von denen die Leute seit Wochen ausschließlich gelebt, eine geeignetere Kost und Diät, aber sie horchten mit traurigem Kopfschütteln zu, bis der Mann plötzlich freudig die Hände rieb und entzückt rief, die heilige Jungfrau habe ihm eine herrliche Idee eingegeben, die sein Glück begründen werde und müsse. Alles Fragen half nichts, er behielt das Geheimniß seiner Idee für sich und wiederholte nur immer ganz entzückt: „Eine gloriose, triumphirende Idee.“

Zwei Tage darauf begegnete ich dem Eigenthümer der Hacienda, vor welchem niedergebeugt und die Mütze in der Hand drehend mein Päon, dem die heilige Jungfrau die triumphirende Idee eingegeben, wie ein zum Strange verurtheilter armer Sünder stand.

„Ah, Sennor Don Ramon,“ rief ich, „wie steht’s? (como esta?)[1] Was giebt es Neues?“

„Daß meine Leute sich mit den Panthern gegen mein Vieh verbunden haben, das giebt es Neues,“ erwiederte Sennor Don Ramon ganz rothbraun vor Wuth. „Nun hab’ ich noch ein Füllen verloren und zwar durch die Dummheit dieses Kerls hier. Sie wissen,“ fuhr er mit steigender Leidenschaft fort, „daß diese verfluchten Panther alle Nächte Verwüstungen unter meinem Vieh anrichteten. Gestern nun kommt dieser Hallunke hier zu mir und behauptet, die heilige Jungsfrau habe ihm eine triumphirende Idee zu meinem Gunsten eingegeben.“

„Das war mein Glaube,“ bemerkte der Angeklagte bescheiden.

„Also, er schlug vor,“ fuhr der Don fort „an einem gewissen Platze ein Füllen als Lockspeise für die Panther anzubinden. Er wolle dann die ganze Nacht mit einem geladenen Gewehre in einem Versteck dabei wachen und jeden Panther, der sich dem Köder nähern würde, niederschießen. Ich war thöricht genug, ihm ein Füllen von sechs Monaten dazu zu bewilligen. Was hast Du mit dem kostbaren Thiere gemacht, Schlingel?“

„Sehen Sie, Sennor Mästro,“ sagte der Päon furchtsam „ich hielt mich zwei Stunden lang im Dickicht versteckt. Zehn Schritt davon schlug das angebundene Füllen um sich und lockte die Panther an. Endlich leuchtete es wie zwei brennende Cigarren durch die Finsterniß. Ich zielte dahin, empfahl meine Seele der heiligen Mutter Gottes, wandte den Kopf ab und drückte los.“

„Und statt des Panthers schossest Du das Füllen todt, Hallunke!“

„O, Sennor Mästro, ich lähmte es blos ein Bischen –“

„Ganz gleich, geh’ und laß Dir vom Secretär acht Stunden Cepo geben.“

„Aber es war doch eine triumphirende Idee,“ sagte der so Verurteilte, indem er langsam und schluchzend ging, um sich selbst dem Cepo zu überliefern.

Das Mitleiden mit dem Unglücklichen ließ mir keine Ruhe, so daß ich nicht umhin konnte, den Ort der Cepo’s und anderer Strafinstrumente aufzusuchen. Der Cepo ist ein barbarischer Pranger, ähnlich den früher in England üblichen „stocks“, d. h. zwei Klötzen, auf deren einem der Bestrafte lag, deren anderer aber, gewöhnlich zu diesem Zwecke durchlöchert, die Füße desselben in die Höhe festhielt. Der Cepo aber ist grausamer und knebelt die Füße in einer Höhe, daß der Bestrafte nur auf dem Nacken eine Stütze für den ganzen Körper findet, eine Lage, die nach einigen Stunden unerträglich wird. Ich sah etwa ein halb Dutzend solcher Cepo’s in einem Hofe der Hacienda aufgestellt, einige mit einem Schirm gegen die Sonne bedeckt, welcher als bedeutende Milderung der Strafe gilt. Ich suchte nach meinem Päon, fand aber dafür Martingalo, einen der Schäfer, aber ohne Schirm, so daß er in dem Brande der Sonne lag, als sollte er gebraten werden.

„Wie kommst Du hierher?“ fragte ich verwundert.

„Ach, Sennor Cavalier,“ antwortete er kläglich, „nur wegen meines guten Herzens. Als ich hörte, daß Einer meiner Freunde zu acht Stunden verurtheilt war, gab mir die heilige Jungfrau den mitleidigen Gedanken ein, daß ihm etwas Zerstreuung gut thun werde. So kam ich hierher mit einigem kleinen Gelde und einem Spiel Karten. Unglücklicher Weise aber hatte mein Freund kein anderes Capital als seine acht Stunden Cepo, in welchen er eben eingespannt werden sollte. Doch setzte ich erst zwei wirkliche Realen gegen sein Versprechen, daß er ebenfalls zwei Realen zahlen würde, wenn er verlöre. Ich war sonst immer sicher und spielte glücklich, da ich ein hübsches Kunststück beim Spiel verstehe; aber jetzt verlor ich. Ich verlor und gewann wieder, bis ich aber zuletzt doch Alles, bis auf gar nichts, verloren hatte. Mein Mitspieler, ein guter Kerl, schlug mir dann, um mir Gelegenheit zu geben, daß ich Alles wieder gewinnen könnte, seine acht Stunden Cepo als Einsatz vor. Gewönne ich, wollte er mir alles Geld zurückgeben, sollte ich aber verlieren, müßte ich die acht Stunden Cepo für ihn übernehmen. Diesmal gewann ich, aber natürlich blos die acht Stunden Cepo. Meine Ehre erforderte es jetzt, zum Verwalter zu gehen und seine Einwilligung zu der Stellvertretung zu erbitten, um so mehr –“

„Als Du glaubtest, er werde Nein sagen,“ unterbrach ich ihn.

„Er Nein sagen? O, im Gegentheil, mit der niederträchtigsten Höflichkeit willigte er ein.“ Dabei suchte er sich bald mit den Ellenbogen zu stützen, bald die eine oder die andere Hand als Sonnenschirm zu brauchen und seine furchtbare Lage durch alle möglichen Rückungen und Renkungen zu erleichtern.

Die größte Erleichterung schien ihm der Dollar, den ich meinem Schützlinge zugedacht hatte, und nun ihm gab. Er betheuerte, daß dieses Geschenk für eine besondere Gelegenheit, sein Glück zu machen, aufbewahrt werden sollte. Eine solche bot sich ihm kurz nachher: er spielte mit dem Besitzer eines westindischen Sclaven um diesen Sclaven und gewann ihn.

So einfach dieses Bild aus dem mexikanischen Leben ist, enthält es doch genug Elemente zu dem Beweise, daß dem Mexikaner die Verjagung ihres Tyrannen, Santa Anna, und der Anschluß an die nordamerikanischen, sklavenenthusiastischen Freistaaten nicht viel helfen wird, so lange sie solche sociale Beziehungen, solche Gerechtigkeitspflege, solche Arbeiterverhältnisse, solche Spiele um Menschen und Cepo haben. Unter solchen Verhältnissen folgt oft dem Mann der Ruthe der Zuchtmeister mit „Scorpionen.“

[516]

Handwerker-Briefe.

II.

Ich gehe nun zu denjenigen unter den erwähnten Vereinen über, welche die berührte Aufgabe: „Dem Kleingewerbe die erforderlichen Kapitalmittel zufließen zu lassen,“ unmittelbar verfolgen, ohne an den Bedingungen des Gewerbebetriebes selbst etwas zu ändern. Es sind die Vorschußvereine.

Eine Anzahl Handwerker und Arbeiter vereinigt sich, um durch ihren gemeinschaftlichen Kredit die nöthigen Fonds zu erhalten, welche man sodann wieder unter die Einzelnen je nach deren Bedürfniß vertheilt. Dies der Grundcharakter des Vereins, welcher schon deshalb seine Wirksamkeit auf die Mitglieder beschränkt, und keineswegs dem Publikum als öffentliche Leihanstalt gegenübertritt. Durch Darlehen, für welche sich sämmtliche Mitglieder mit ihrem ganzen Vermögen solidarisch, d. h. Jeder für das Ganze, verpflichten, wird hauptsächlich der erforderliche Betriebsfond herbeigeschafft, und wo nur irgend die Sache vernünftig in Angriff genommen wurde, hat es den Vereinen unter dieser Form an Geldzufluß niemals gefehlt. Wenn man aber auf diese Weise auch mit Leichtigkeit den ganzen Bedarf decken könnte, so darf man doch eine zweite Einnahmequelle dabei nicht außer Acht lassen, regelmäßige, etwa monatliche Beisteuer der Mitglieder, wodurch man einen allmälig wachsenden, den Vereinsgliedern selbst gehörigen, unverzinslichen Fond erhält, welcher dem Geschäft die eigentliche, solide Grundlage giebt und den Kredit der Gesellschaft erhöht. Dabei ist es zweckmäßig, einen geringen Steuerbetrag als das Mindeste festzusetzen, dessen Ueberschreitung jedoch Allen freizugeben, indem man so der Ueberbürdung Unbemittelter vorbeugt, ohne doch der so wünschenswerthen Ansammlung unnötige Schranken zu setzen.

Was die Höhe der zu gebenden Vorschüsse anlangt, so ist dieselbe durch das lokale Bedürfniß der an den Vereinen theilnehmenden Klassen bedingt, und vor Allem darauf zu sehen, daß die Kassenbestände dasselbe vollständig decken, was in Eilenburg und Delitzsch durchaus der Fall war. In letzterem Orte, wo sich der Verkehr des Vereins recht eigentlich auf das Kleingewerbe einer Landstadt beschränkt, giebt man bis 200 Thaler auf eine Post, in Eilenburg, wo sich das Geschäft neuerlich immer großartiger gestaltet, bis 1000 Thaler und drüber. Natürlich hängt in den einzelnen Fällen Alles von der Sicherheit ab, welche die Vorschußsucher bieten und die in jedem Falle reiflich zu prüfen ist, da ein zum großen Theil auf fremde Gelder gegründetes Institut durch Verluste in dieser Beziehung leicht gefährdet werden könnte. Deshalb wird bei Vorschüssen von irgend einigem Belang in der Regel Deckung durch Pfand oder Bürgschaft verlangt, welche stets ohne große Schwierigkeit zu beschaffen war. Nie wird es namentlich einem soliden, rechtlichen Handwerker oder Geschäftsmann an einem Bürgen fehlen, da die Aushülfe hierbei eine gegenseitige ist, und der Bürge sehr bald selbst in die Lage kommt, seinerseits eines solchen zu bedürfen. Außerdem ist zur Deckung von Verlusten, welche dennoch mitunter durch Insolvenz der Schuldner vorkommen können, die Bildung einer besondern Reservefonds vorgesehen, welchem bestimmte Eintrittsgelder der Mitglieder und Antheile am Geschäftsgewinn zugewiesen sind, bis er eine seinem Zweck entsprechende Höhe erreicht hat, welche zu dem Geschäftsumfang in Verhältniß steht.

Ein fernerer Hauptpunkt hierbei sind die von den Vorschußempfängern zu zahlenden Zinsen. Da dieselben den ganzen Geschäftsertrag bilden, so müssen davon auch alle Geschäftsunkosten, also: a) die Zinsen für die vom Verein aufgenommenen Kapitalien; b) die Verwaltungskosten gedeckt werden, welche letztere, einschließlich angemessener Besoldung der Kassenbeamten, immerhin zwei bis drei Procent des Betriebsfonds betragen werden. Soll nun außerdem noch Etwas für den Reservefond und die Dividende erübrigt werden, so ist es klar, daß man mit dem landesüblichen Zinsfuß nicht auskommen wird. Nun liegt in der Normirung eines solchen höhern Zinsfußes zwar kein Wucher, da nur die Mitglieder eines geschlossenen Vereins sich dazu gegenseitig verpflichtet haben, und von dem Mehr theils gewisse, ihnen sonst obliegende Aufgaben decken, z. B. Verwaltungskosten theils für sich eine Reserve und Dividende aufsammeln. Doch drängt sich eine zweite Frage dabei auf: „Ob die durch einen solchen Zins zu bringenden Opfer nicht die den Betheiligten dagegen gewährten Vortheile übersteigen?“ – ein Bedenken, an welchem manche der derartigen Vereine gescheitert sind. Doch kann für denjenigen, welcher die praktischen Verkehrsverhältnisse kennt, nicht der mindeste Zweifel hierüber obwalten. Man forsche nur genauer nach, was unsere Handwerker und Arbeiter bei den Geldnegocianten zahlen müssen, wenn sie einmal auf kurze Frist einer mäßigen Summe bedürfen. Ein Thaler Zins für 20 Thaler Kapital auf vier Wochen, gilt hier für überaus billig, was auf das Jahr sechzig Procent austrägt. In vielen Fällen gäben die Leute gern mehr, wenn sie nur das Geld erhalten könnten. Das Wuchergesetz weiß man dabei Seitens der Gläubiger stets zu umgehen, so wie man sich Seitens der Schuldner wohl hütet, sich über die hohen Procente zu beschweren, da man sich das Wiederkommen bei Jenem sichern muß. In Erwägung dessen wurde daher anfänglich in den erwähnten Vereinen den Vorschußempfänger ein Zins von einen preuß. Pfennig (= 1/12 Neugroschen) vom Thaler auf die Woche berechnet (= 141/3 Procent auf das Jahr). Später, als sich das unverzinsliche Kapital und der Verkehr hoben, wurde dies in Delitzsch auf drei preuß. Pfennige vom Thaler auf den Monat (= 10 Procent auf das Jahr) ermäßigt, wogegen man in Eilenburg, mit Rücksicht auf die größeren Summen und längeren Fristen der Vorschüsse: 5 Procent eigentlichen Zins in jedem Falle und außerdem 3 – 5 Procent Provision, für Verwaltungskosten etc., also 8 – 10 Procent auf das Jahr zusammen von den Schuldnern einzog, je nachdem der Vorschuß nur bis 20 Thaler betrug und in wöchentlichen Terminen zurückgezahlt wurde, oder, bei höhern Beträgen unter oder über drei Monat ausgeliehen war. Daß diese Sätze von 8 – 141/3 Procent bedeutend niedriger sind, als dasjenige, was die Mitglieder außerhalb des Vereins zahlen müssen, ist sicher. Auch beim höchsten Satze von einem Pfennig vom Thaler auf die Woche beträgt der Zins von 20 Thalern auf vier Wochen nur – 62/3 Neugroschen, bei dem Satze von drei Pfennigen auf den Monat, welcher die Regel bildet, nur – 5 Ngr. – eine Abgabe, der sich die Leute mit Freuden unterwerfen, und die gegen den Nutzen, den sie sich mit diesem Gelde im Geschäft verschaffen können, gar nicht in Betracht kommt. Daß die Vorschüsse bei dem im Kleingewerbe bedingten rascheren Umsatz meist nur auf kürzere Fristen gebraucht werden, kommt dabei sehr mit in Anschlag.

Hält man diese Sätze bei Verzinsung der Vorschüsse fest, so bleibt, nach Deckung aller Unkosten, noch eine nahmhafte Summe als Reingewinn für die Mitglieder übrig, selbst wenn man einen Theil davon dem Reservefond zuschlägt. Wie wichtig diese Dividende für die Vereinszwecke wird, besonders wenn man sie, wie die genannten Vereine, den Mitgliedern nicht baar herauszahlt, sondern gutschreibt, möge man aus Folgendem entnehmen. Wie wir sahen, entstand durch die monatlichen Beisteuern ein Guthaben der Mitglieder in der Vereinskasse, und diesem schreibt man die am Jahresschlusse sich ergebende Dividende zu. Dieses Guthaben der Einzelnen wird als ein Theil des Betriebsfonds im Geschäft gewagt, indem es gegen die Forderungen der Vereinsgläubiger zurücktritt. Tragen demgemäß die Mitglieder vorzugsweise mit ihrem Guthaben die Gefahren des Kassengeschäfts, so ist es nicht mehr als gerecht, daß auch dessen Gewinn, die Dividende, nach Höhe desselben, und nicht nach Köpfen, unter sie vertheilt werde., Der Reiz, welchen alsdann eine solche, einigermaßen beträchtliche Dividende auf Erhöhung der Beisteuern, also auf das Sparen, selbst bei sonst ganz Unbemittelten, ausübt, ist außerordentlich. So wurden in Delitzsch in Folge davon die Monatssteuern um Mehr als das Doppeite erhöht, und die Beschränkung des Guthabens bis auf einen höchsten Betrag von 16 Thaler nothwendig, wollte man nicht den Bemittelteren einen zu großen Vorsprung hierbei vor den Unbemittelteren gestatten, und letztere an der Dividende unverhältnißmäßig verkürzen. So wird das ganze Vereinsvermögen allmälig auf Actien der Mitglieder übergeführt, deren volle Einzahlung beim Eintritt der Meisten unmöglich fallen würde, weshalb man sie ihnen durch Aufsammlung ihrer Monatssteuern und Gewinnantheile erst bilden muß.

Wegen Leitung der Vereinsangelegenheiten, insbesondere wegen [517] der so wichtigen Kassen- und Buchführung kann hier nur das Allgemeinste bemerkt werden. Im Ganzen üben die Vereine in den Generalversammlungen aller Mitglieder die beschließende Gewalt, somit die Oberaufsicht über die Verwaltung, welche letztere gewissen Vorständen und Ausschüssen anvertraut ist, von denen die eigentlichen Kassenbeamten (mindestens ein Kassirer und ein Controleur) besoldet und zu genauer Buchführung und Rechnungslegung verpflichtet sind. Ueberhaupt kann ich mich umsomehr des Eingehens in die Details enthalten, als so eben ein der Verlagshandlung dieser Blätter eine ausführliche Schrift darüber:

     Vorschußvereine als Volksbanken. Praktische Anweisung zu deren Gründung und Einrichtung von Schulze in Delitzsch
zu dem geringen Preise von – 10 Ngr. – erschienen ist, welche den Gegenstand in erschöpfender Weise behandelt und zugleich Statuten, Geschäftsformulare, Schemata zur Buchführung, kurz alles Mögliche mittheilt, was bei Gründung solcher Vereine irgend von Nutzen sein kann. Als Beleg für die von mir entwickelten Ansichten möge aus den in dieser Schrift gegebenen Rechnungsnachweisen über die erwähnten Vereine das Nachstehende eine Stelle finden.

Der Vorschußverein in Eilenburg (Fabrikstadt von 10,000 Einwohnern im preuß. Herzogthum Sachsen) Ende 1850 mit 180 Mitgliedern aus dem Handwerker- und Arbeiterstande ohne Unterstützung von irgend einer Seite gegründet, wuchs 1851 auf 390, 1852 auf 582, 1853 auf 650, 1854 auf 714 Mitglieder, welche – 1 Sgr. – Monatssteuer entrichten, seit 1853 aber auch mehr einlegen dürfen. Der Verein erfreute sich von seiner Stiftung an eines immer wachsenden Kredits, und flossen ihm darlehnsweise an fremden Gelder zu:

im Jahre 1851 5,943 Thlr., wovon 1,946 Thlr. Sgr.,
0"       " 1852 5,914 0 "  " 3,521 0 " 0 "
0"       " 1853 13,334 0 "  " 6,261 0 " 0 "
0"       " 1854 26,685 0 "  " 13,027 0 " 26 0 "
zurückgezahlt wurden.
zusammen: 51,878 Thlr., wovon 24,755 Thlr. 26 Sgr. zurückgezahlt sind.

Mit diesen Geldern wurde es möglich, folgende baare Vorschüsse an die Mitglieder zu gewähren:

im Jahre 1851 8,801 Thlr. 29 Sgr. Pf.
0"       " 1852 13,366 0 " 5 0 " 0 "
0"       " 1853 21,621 0 " 2 0 " 1 0 "
0"       " 1854 25,661 0 " 4 0 " 5 0 "
zusammen: 69,450 Thlr. 10 Sgr. 6 Pf.

Von den Vorschußempfängern gingen im Jahre 1854 mit Ausschluß der Reste ein:

768 Thlr. 5 Sgr. 11 Pf. eigentliche Zinsen à 5 Procent,
595 0 " 24 0 " 0 " Provisionen à 3 – 5 Procent
1363 Thlr. 29 Sgr. 11 Pf. zusammen,

und wurden die Gehalte der Beamten dadurch aufgebracht, daß man von den eingegangenen Provisionen an 595 Thlr. 24 Sgr. dem Kassirer 1/2, dem Director und Controleur 1/4, den Ausschußmitgliedern 1/12 gewährte, das übrige 1/6 aber der Kasse zur Deckung der sonstigen Unkosten und Verstärkung der Dividende überwies. Das Guthaben der Mitglieder betrug an Monatssteuern und frühern Dividenden Ende 1853 718 Thlr. 10 Sgr. 10 Pf., hierzu traten 73 Thlr. 27 Sgr. 3 Pf. Reingewinn etc. 1853, welche mit 60 Thlr. 5 Sgr. 5 Pf. als Dividende zugeschrieben und mit 13 Thlr. 21 Sgr. 10 Pf. zur Reserve geschlagen wurde, so daß die letztere sich auf 60 Thlr. 24 Sgr. 3 Pf. erhöhte. Der Reinertrag des Geschäfts pro 1854 stellt sich ungefähr eben so, doch war, als die Schrift verfaßt wurde, der Rechnungsabschluß noch nicht erfolgt. Da im Jahre 1854 326 Thaler 9 Sgr. 7 Pf. Monatssteuern eingekommen waren, so stellte sich der Betriebsfond Ende 1854 auf circa 28,000 Thaler heraus, wovon gegen 1200 Thaler als Guthaben und Reserve den Mitgliedern gehörten.

Das Angeführte ergiebt, daß der Verein durch seine Erfolge in den Stand gesetzt worden ist, über das Bedürfniß der Handwerker und Arbeiter, die ihn gründeten, hinauszugehen und weitere Kreise des bürgerlichen Verkehrs in seine Wirksamkeit hereinzuziehen. Um auch bedeutendere Geschäfte nicht zurückzuweisen, bedurfte er ansehnlicher Baarvorräthe, weshalb er Geldofferten niemals zurückweist, auch wenn sie das vorhandene Kassenbedürfniß übersteigen.

Vielmehr suchte man die Kasse zu einem Mittelpunkt für alle müßige Gelder in einem gewissen Kreise zu machen, und trat mit einigen Banquiers in Verbindung, bei denen die Ueberschüsse zinsbar angelegt wurden, was z. B. im Januar d. J. mit 6000 Thalern der Fall war. Unter diesen Umständen mußte man sich aber auch entschließen, Vorschüsse auf längere Fristen, bis zu neun Monaten und ein Jahr zu geben, was in Verbindung mit den höhern Beträgen wiederum auf den Zinsfuß zurückwirkte, den man sich mit den erwähnten höchst zweckmäßigen Modificationen zu reduciren entschloß, um sich nicht derartige Geschäfte von vorn herein abzuschneiden. Natürlich konnte diese auf die Dividende nicht ohne Einfluß bleiben, welche dadurch ebenfalls eine Verminderung erlitt, so daß, wie im Verhältniß zu der bedeutenden Mitgliederzahl geringen Monatssteuerbeträge ergeben, eine wesentliche Anregung davon zur Verstärkung dieser Steuern nicht ausging.

Einen andern Verlauf nahmen die Dinge in Delitzsch, einer nicht bedeutenden Landstadt von 5000 Einwohnern, in Eilenburgs Nachbarschaft, wo der Vorschußverein, zwar schon im Frühjahr 1850 gegründet, doch erst im Herbst 1852 auf der besprochenen gesunden Grundlage reorganisirt wurde und in Thätigkeit trat. Die bis auf 30 gesunkene Mitgliederzahl hob sich Ende 1852 auf 100, 1853 auf 175, 1854 auf 210. Doch blieb der Verkehr wesentlich auf das Kleingewerbe der unbemittelteren Einwohner beschränkt, indem die Wohlhabenderen, welche genügende Sicherheiten bestellen können, die mit der städtischen Sparkasse seit 1854 verbundene Darlehnskasse benutzen. So behielt der Verein einen scharf abgegrenzten, auf das Bedürfniß einer bestimmten Klasse berechneten Charakter. Im Gegensatz zu Eilenburg nimmt die Kasse daher keine Gelder über den Bedarf an, und da die Vorschüsse nur bis auf drei Monate gegeben und höchstens bis auf ebensolange prolongirt werden, so ist im Verhältniß zu dem Umsatze ein weit geringeres Betriebskapital nöthig, wie in Eilenburg. Deshalb treten denn auch die Monatssteuern der Mitglieder nebst der Dividende weit mehr in den Vordergrund, indem man die Kapitalbildung für die Mitglieder zu einer Hauptaufgabe macht. Das hat zur Folge gehabt, daß man in 5 bis 6 Jahren, bei irgend gedeihlichem Fortgange der Geschäfte, das ganze Betriebskapital durch das aufgesammelte Guthaben der Mitglieder darzustellen hoffen kann, wie die nachstehenden Daten aus den Rechnungen der besten Jahre bestätigen. Während der Umsatz seit 1850 bis zur Reorganisation kaum einige hundert Thaler auf das Jahr erreichte, hob er sich seitdem in folgender Weise, daß:

bis Ende 1852 244 Thlr.
im Jahre 1853 3261 Thlr. 15 Sgr.
im Jahre 1854 2935 0 " 29 0"
zusammen: 6441 Thlr. 14 Sgr.

darlehnsweise aufgenommen, davon 3808 Thaler wieder zurückgezahlt, und an Vorschüssen gewährt wurden:

im Jahre 1853 7,167 Thlr. 10 Sgr.
0"     " 1854 12,039 0 " 0"
zusammen 19,206 Thlr. 10 Sgr.

Der Rechnungsabschluß pro 1854 stellte sich dahin heraus:

334 Thlr. 1 Sgr. 11 Pf. eingegangene Zinsen der Vorschußempfänger à 10 Procent, wovon zu decken waren 111 Thlr. 14 Sgr. 2 Pf. Zinsen der Vereinsgläubiger, 130 Thlr. 22 Sgr. 9 Pf. Verwaltungskosten einschließlich der Besoldungen, 242 Thlr. 6 Sgr. 11 Pf. zusammen, so daß: 91 Thlr. 25 Sgr. Reinertrag des Geschäfts blieb. Davon wurden 88 Thlr. 27 Sgr. 6 Pf. den Mitgliedern auf die im Guthaben eines Jeden Ende 1853 begriffenen vollen Thalereinheiten als Dividende zugeschrieben, was, da 149 solcher Einheiten vorhanden waren, 171/2 Sgr. auf jeden Thaler betrug. Den Rest von 4 Thlrn. 27 Sgr. 6 Pf. schlug man zur Reserve. Das Gesammtguthaben aller Mitglieder betrug inclusive der erwähnten Dividende Ende 1854 558 Thlr. 15 Sgr., der Reservefond 235 Thlr. 18 Sgr. 3 Pf. In Folge der Dividende wurden aber im Januar 1855, sobald der Rechnungsabschluß pr. 1854 bekannt wurde, zur Abrundung des Guthabens, außer den gewöhnlichen Monatssteuern, über 200 Thaler von den Mitgliedern eingezahlt, so daß, da die gewöhnlichen Steuern 25 bis 30 Thaler allmonatlich betragen, das Guthaben Ende dieses Jahres, mit Einschluß der zu erwartenden Dividende, jedenfalls 1200 Thaler erreichen wird, was mit [518] Hinzurechnung des Reservefonds bereits mehr als ein Drittheil vom Betriebskapital ausmacht.

Nach alledem glaube ich in jeder Beziehung in das Urtheil des angeführten Buchs einstimmen zu müssen, das ich hier wörtlich mittheile.

„Um es kurz zusammen zu fassen,“ – sagt der Verfasser am Schlusse des zweiten Kapitels – „bestehen die Vortheile, welche dem kleinen Gewerbstande aus solchen Vereinen entstehen, darin, daß derselbe dadurch
     1) in den Stand gesetzt wird, jeden Augenblick eine den Verhältnissen angemessene baare Summe zu erhalten;
     2) daß ihm die hohen, wucherischen Zinsen erspart werden, die er bisher bei solcher Aushülfe, wenn er sie überhaupt fand, opfern mußte;
     3) daß der Gewinn des Vorschußgeschäfts, bisher das thatsächliche Monopol der Kapitalisten, in seine eignen Taschen zurückfließt, und nebst den kleinen, ihn nicht belästigenden Steuern, die Anfänge einer eignen Kapitalbildung zu seinen Gunsten bildet.

Nur auf solche Weise läßt sich ein vernünftiger, praktischer Ausgangspunkt bei Handhabung der sozialen Frage auffinden, der auch von der allerconservativsten Seite die Probe hält. Der systematischen Entzweiung von Arbeit und Kapital, zum großen theil der Frucht bitterer Noth und des Unverstands, so gefürchtet in ihren Konsequenzen, kann wohl nicht besser entgegengetreten werden, als wenn man den Arbeiter selbst der Vortheile des Kapitals theilhaft werden läßt, ihm die Bildung eines eignen Kapitals ermöglicht.“

Möchten die in dem Buche vertretenen Grundsätze, so schließe ich, das Beispiel so bedeutender Erfolge, zum Segen unseres Handwerker- und Arbeiterstandes eine recht ausgebreitete Nachfolge finden, und besonders dazu dienen, so manche einseitige Bestrebungen, welche von der Rückkehr zu den Beschränkungen voriger Jahrhunderte das Heil erwarten, aber die Unmöglichkeit ihrer Voraussetzungen zu belehren, da mit den Verkehrsformen, welche dem Stande der Dinge zu einer gewissen Zeit entsprachen, diese Zeit selbst nimmermehr zurückgeführt werden kann.




Gedrängte Uebersichtskarte des russisch-türkischen Kriegsschauplatzes.[2]


A. Perekoy. – B. Botasch. – C. Eupatoria. – D. See Sasik. – E. Kalamita-Bai. – F. Hafen von Sebastopol. – G. Kap Chersones. – H. Kap St. Georg. – I. Hafen von Balaklava. – J. Kamara. – K. Kaffa. – L. Meerbusen von Kaffa. – M. Kap Takli. – N. Bai von Kertsch. – O. Kertsch. – P. Jenikale. – Q. Leuchtthurm. – R. S. Vorgebirge. – T. Meerbusen von Kasantipp. – U. Halbinsel. – V. Hafen von Arabat. – W. Landzunge von Arabat. – X. Baktschissarai. – Y. Simferopol. – Z. Kara Su Bazar. – I. Anapa. – II. Taman. – III. Landzunge. – IV. Landschaft Taman. – V. Okhatarsk. – VI. Asow. – VII. Rostow. – VIII. Taganrog. – IX. Mariopol. – X. Alexandriovisk. – XI. Rediansk. – XII. Genitschi. – XIII. Das faule Meer. – XIV. Das schwarze Meer. – XV. Meerenge von Kertsch. – XVI. Mündung des Kuban. – XVII. Meerenge von Jenikale. – XVIII. Meerbusen von Asow. – XIX. Asow’sche Meer.

[519]

Die Asche Napoleon’s und deren Grabmal

in Paris.

Eine arme Familie kommt aus einer fernen Insel nach Paris und bittet für eines ihrer Kinder, einen mürrischen Knaben, um eine Stelle in der Miiitärschule.

Der Junge macht Festungen von Schnee in Brienne und stürmt sie.

Der Junge ist ein Jüngling geworden und kanonirt auf die Engländer in Toulon.

Wird von den Engländern in Aegypten geschlagen.

Der Junge ist Mann geworden und kartätscht das Volk nieder, stürzt die Regierung, wird Consul, Consul auf Lebenszeit und in Notre-Dame gekrönter Kaiser.

Das Grabmal Napoleon’s.

Ueberwunden und wieder auferstanden wird er bei Waterloo von Wellington und Blücher geschlagen, geächtet, als Gefangener nach der englischen Insel Helena gebracht und sein ganzes Geschlecht für immer von Frankreich verbannt.

Zunächst kommt seine Asche nach Paris zurück.

Die Asche wird lebendig und wählt den Neffen der Asche zum Präsidenten der demokratischen Republik.

Die demokratische Republik wählt den Präsidenten zum Kaiser.

„Das Kaiserthum ist der Friede."

Das Kaiserthum ist der Krieg.

[520] Das Kaiserthum ist Versöhnung mit dem halbtausendjährigen Erzfeinde England. England vergöttert den Kaiser in London.

Die kaiserlich gewordenen Pariser vergöttern die Königin von England in Paris.

Königin Victoria mit Familie steht in der Nacht neben der Asche Napoleon’s des Ersten, geführt vom Dritten.

Waterloo ist gerächt. Die lebendig gewordene Asche Napoleon’s – wird sie nun sterben und Frieden haben und halten?

Welches Mährchen aus Tausend und einer Nacht klingt so phantastisch, als diese trockne Zusammenstellung von neuern und neuesten geschichtlichen Thatsachen?

All’ der fabelhafte Pomp, der die Königin von England in Paris stets umdrängte und Millionen verwüstete, hat zusammengeschmolzen und legirt nicht den hundertsten Theil der geschichtlichen Bedeutung, welche in dem stillen, nächtlichen, dem Volke unzugänglichen Heranschreiten der Vertreterin der englischen Nation zu der Asche des größten Feindes Englands am Arme Napoleon’s III. lag, des Beherrschers von Frankreich und des Siegeshauptes über den Trümmern von Sebastopol. England bat in diesem Akte um Vergebung der Sünden von Waterloo und Helena, um Vergebung des Blutes von einigen Millionen Menschen, welche die Kriege zwischen England und Frankreich verschlungen hatten, ohne zugleich einen Ablaß bei dieser Gelegenheit mit einzureichen für die siebentausend Millionen Thaler Kriegsschulden, die es seinem Volke größtentheils deshalb aufgebürdet hatte, um Napoleon und dessen Geschlecht der Legitimität und der Bourbonen wegen für immer von Frankreich zu verbannen – bat in diesem Akte um Vergebung aller seiner Legitimitätskriege und huldigte – obgleich die aristokratischste, conservativste Regierung – doppelt der Revolution, dem großen Sohne derselben und dem – Dritten.

Am Tage, als die Königin von England das Grab des großen Napoleon besuchen wollte, war das Volk ausgeschlossen. Die Königin kam erst Abends an. Die glänzenden Uniformen ihres Gefolges erbleichten in dem aufleuchtenden Triumphe der alten verwitterten Gesichter Napoleon’scher Invaliden, in deren Kapelle ihr Abgott ruht. Die Fackeln und Kerzen belebten mit ihrem Geflacker die steinernen Wände und Engel, welche den Sarkophag umschützen. Die Orgel spielte: „God save the queen!“ als sie am Arme der lebendig gewordenen Asche an die todte herantrat. Aus den acht Abtheilungen der Kapelle, in deren Mitte der Sarkophag die Mitte bildet, blickten die Augen alter, gegenwärtiger und zukünftiger Helden stumm und andächtig herein, getroffen von der Nemesis der Geschichte, feierlich angeregt durch die nobeln künstlerischen Architektur- und Sculpturformen, an welchen sich der höchste Kunstgeschmack Frankreichs erschöpfte, vielleicht auch von Fragen durchzuckt: Wird diese mährchenhafte, aller blutigen Kriege und der tiefsten, listigsten Weisheit der Staatskunst spottende Wendung der Geschichte nun aufhören, uns für die Sünden an der Civilisation zu bestrafen?

Wird sie sich bei dem Humbug, den wir mit „westlicher Civilisation“ treiben, jetzt den Spott gefallen lassen? Wohl nicht, denn schon jetzt scheint es uns, als sei selbst der Fall Sebastopols nur ein Pyrrhussieg, der mehr Verlust als Gewinn einschließt und das nächste Jahr den Franzosen noch abermals tausend Millionen Franks und den Engländern hundert Millionen Pfund Sterling abborgen wird, um sie so wenig zurückzugeben, wie die Tausende von Jünglingen und Männern, die fielen und noch fallen werden.

Bis jetzt war und ist der Krieg von allen Seiten nur ein Todtengräber der Civilisation, wie Napoleon der Große es im ganzen letzten Viertel seiner Laufbahn war.




Blätter und Blüthen.

Das St. George-Kloster auf der Krim. Die chersonesische Tauris, jetzt Krim, scheint von jeher ein Asyl für Verfolgte und Flüchtlinge gewesen zu sein. An der Spitze derselben steht die ihrer Abschlachtung zu Ehren der alten griechischen Götter entflohene „Iphigenie auf Tauris.“ Später finden wir verbannte Staatsmänner und Poeten und glaubensverfolgte Sekten zwischen ihren unwirthlichen Felsen und Schluchten. Unter letzteren zeichnen sich besonders die arianischen Christen aus, die vom fünften Jahrhundert an sich hierher zurückzogen und ihren Kultus zu einem bedeutenden Umfange ausgebildet zu haben scheinen. Spuren ihrer Wohnungen und Kirchen findet man fast über die ganze Insel, besonders im Inkerman-Thale. Auf den steilsten Höhen und in den schwärzesten Höhlen ragen noch in melancholischer Oede Bruchstücke verwitterten Mauerwerks als stumme Zeugen des warmen Lebens einer der frühesten und frömmsten christlichen Sekten empor. Die Ruinen auf der südlichen Küste sind größtentheils griechischen Ursprungs und ebenfalls zum Theil aus der christlichen Zeit, woraus man auf eine ungewöhnliche Noblesse und Freisinnigkeit der tartarischen Chans, welche diesen christlichen Kultus nicht störten, schließen muß.

Das Kloster St. George, allgemein verehrt über die ganze Krim, gehört zu den interessantesten Ueberbleibseln der alten versteinerten christlichen Andacht unter tartarisch-muhamedanischen Schutze. Es ward im zehnten Jahrhundert für griechische Mönche gebaut, welche sich weigerten, sich den „Ketzereien“ des Phocius zu fügen. Auf der höchsten Spitze des chersonesischen Küste gelegen, 360 Fuß über dem Spiegel des schwarzen Meeres, bildet es weit und breit den einzigen anziehenden Kulturpunkt zwischen einer nur spärlich bebauten felsigen Oede. Seit 1829 ist es eine Art Priesterseminar für die russische Flotte im schwarzen Meere. Die alliirten Heere stellen es unter den Schutz eines Zuaven-Corps, und General Canrobert erließ noch folgenden besondern Tagesbefehl:

„Das Kloster St. George steht unter dem Schutze der alliirten Armeen. Militärische und alle mit den Armeen verbundenen Personen sind gebunden, dasselbe und dessen Personen und Eigenthum als unverletzlich zu respektiren. Eindringen mit Gewalt oder Störung der Bewohner desselben ist hiermit streng verboten.
2. Octbr. 1854. Canrobert.“

Der Befehl ist bis jetzt unverletzt geblieben. Die siebzehn darin wohnenden Mönche leben mitten im Kriege friedlich weiter und können mit ihren 23 Brüdern, die jetzt in Sebastopol Kranken und Sterbenden dienen, verkehren. Das Haupt derselben, mit der Würde eines „Archimandriten“ ist Pater Querondi, eine imposante, würdige Gestalt von 48 Jahren, von bedeutender Größe und mit einem langen grauen Barte. Die Mönche tragen große, schwarze Roben und runde schwarze Hüte ohne Krämpen, mit schwarzen Schleiern. Der Pater zeichnet sich in Kleidung durch nichts als ein großes goldenes Kreuz auf seiner Brust von den übrigen Mönchen aus. Das Kloster steht unter dem Gericht des Erzbischofs von Odessa. Die Mönche verrichten ihre Andacht täglich zweimal, um 9 Uhr Vor- und 3 Uhr Nachmittags, und zwar in der vom Kaiser Nikolaus vor 25 Jahren durch Ukas eingeführten slavonischen Sprache. Ihr Gesang ist ziemlich gut, der Ruf ihrer Frömmigkeit und Wohlthätigkeit anerkannt auf der ganzen Insel. Außer dem Archimandriten besitzt Niemand theologische Gelehrsamkeit, selbst nicht in Bezug auf die eigene Religion. Im Dienste auf Schiffen sind sie der strengsten Disciplin unterworfen, müssen jeden Morgen dem Commandeur ihre Aufwartung machen und nicht nur nach den von ihm vorgeschriebenen Texten, sondern auch nach bestimmten commandirten Sätzen und Worten den Matrosen und Soldaten das Heil predigen, das ganz streng sich nach dem Staatszwecke richten muß. Die griechische Kirche des russischen Staates ist neuerdings, d. h. unter dem Kaiser Nicolaus, entschiedener als je als Diaconus des Staates angewandt und durchgeführt worden.

Der prächtigste Kultus der griechischen Kirche entfaltet sich zum Osterfeste, für welches im St. George-Kloster diesmal besondere Vorbereitungen getroffen worden, um den römische-katholischen und protestantischen Kriegern zu imponiren.

Die Auferstehungsfeierlichkeit beginnt mit brillanter Illumination in allen Kirchen des Reiches zugleich Punkt 12 Uhr zur Mitternacht des ersten Feiertages. Banner, Kreuze, Archimandriten, Proto-Popen und Priester jedes Ranges in seidenen, goldenen, juwelengeschmückten Roben, unabsehbare Volksmassen in ihrem prächtigsten Staate gehen in Prozession um die Kirche und dann hinein in deren glänzendes Lichtmeer, „um den Körper des Heilandes zu suchen.“ In der Kirche ruft der erste Pope vom Altare herab: „Christos volseress,“ („Christ ist erstanden!“) In demselben Augenblicke schwillt die Jubelhymne feierlich vom Chore, und alle Kanonen des Reiches senden ihre krachenden Donner durch die Nacht über weite, unermeßliche Ebenen und Steppen. Die Volksmassen küssen sich frohlockend in der Kirche und wie durch Zauber erscheinen Tische und alle mögliche bis dahin (der Fastenzeit) verbotenen Eßwaaren, die unter Jubel und Freude auch eben so rasch wieder in die Abgründe der hungrigen Gaumen verschwinden und unendliche Massen verdorbener Magen und selbst Todesfälle verursachen.

Die Begrüßungsformel am ersten Ostertage ist in ganz Rußland uniform: „Christos volseress!“ Selbst der Kaiser grüßt seine Schildwachen auf diese Weise und bekömmt denselben Gegengruß.

Bei dieser Gelegenheit vernahm der Kaiser vor wenigen Jahren, aus seinem Palaste heraustretend, eine komische Ausnahme.

„Christos volseress!“ ruft er der Schildwache zu.

„So sagt man,“ antwortet der steinsteife Soldat.

Der Kaiser erschrak förmlich und ließ sofort entrüstet eine Untersuchung anstellen. Die Schildwache erwieß sich als ein starkgläubiger Anhänger des Propheten Muhamed. Seit der Zeit ward streng darauf gesehen, daß am Ostertage nur gute, gläubige, griechische Christen vor den kaiserlichen Palästen Schildwache stehen.




Das Ehrlichmachen der Leichname im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Die Sage, daß der Scharfrichter und Alles, was [521] er berührt, unehrlich sei, ist für uns ein seltsames Mährchen aus dunkler Vorzeit. Vor kaum mehr als hundert Jahren aber war diese Sage noch ein unumstößlicher Glaubenssatz, der auch auf die Gebildetsten seinen Einfluß ausübte.

Als die Aerzte unserer Vorfahren anfingen, einzusehen, daß sie der Leichname bedurften, um den Bau des menschlichen Leibes kennen zu lernen, wurde diese Einsicht ihnen zunächst eine Quelle ernster Verlegenheit. Diese einzigen Leichname, die ein Arzt damals zu erlangen hoffen durfte, waren die von Selbstmördern und hingerichteten Verbrechern, welche zunächst dem Scharfrichter oder Abdecker anheimfielen, und mit diesem in irgend einen Verkehr zu treten, war zumal für einen Arzt sehr bedenklich. Hätte sich unter den Bewohnern einer Stadt oder Landschaft das Gerücht verbreitet, daß ihre Aerzte sich mit dem Wasenmeister in leichtfertige, freigeisterische Beziehungen eingelassen hätten, so wären sie sämmtlich lieber ohne Arzt gestorben, als daß sie diese nun auch unehrlichen Doctoren hätten an ihr Bett treten lassen. Da kam nun ein kluger Kopf auf ein gutes Auskunftsmittel. Ließ sich doch sogar der Teufel durch einen wohlangebrachten Hokuspokus vertreiben, warum sollte es nicht möglich sein, die Abneigung einer wohlehrsamen Bürgerschaft gegen den Wasenmeister und Alles, was mit ihm in Berührung kam, zu beschwichtigen? Man erfand eine Ceremonie, durch welche der Glaubenssatz, daß ein Ding, welches einmal in den Händen des Abdeckers gewesen sei, fortan von keinem ehrlichen Menschen berührt werden dürfe, zwar feierlich anerkannt, zugleich aber erklärt wurde, daß man um des allgemeinen Besten willen für ein einzelnes solches Ding von jener Regel abstrahiren wolle. Man verfuhr dabei natürlich möglichst öffentlich. Der Leichnam eines Selbstmörders oder hingerichteten Verbrechers wurde von einem Knechte des Wasenmeisters auf einen zweirädrigen Karren vor das Thor des anatomischen Theaters gebracht. Der Knecht mußte nun den Kasten, in welchem der Leichnam lag, von dem Karren herabnehmen, ihn öffnen, den Deckel auf die Erde, und auf ihn den Leichnam legen. War der Todte durch das Schwert hingerichtet worden, so wurde ihm der Kopf zwischen die Beine gelegt. Natürlich hatte sich inzwischen eine große Anzahl von Zuschauern eingefunden, die sich jedoch in ehrfurchtsvoller Entfernung hielten. Nun trat der Prosector in Begleitung des Pedells in die Nähe des Leichnams. Beide entblößten das Haupt, was ebenfalls alle Umstehenden thaten. Der Prosector las dann ein landesfürstliches Decret vor, welches diese Feierlichkeit verordnete, und erklärte sodann, daß er von Seiten des akademischen Senates beauftragt worden sei, im Namen der medizinischen Facultät den vorliegenden Leichnam durch Aufdrückung des Facultätssiegel ehrlich zu machen, damit ein jeder ehrbare Mensch an solchem zu hantieren befugt sei. Neben ihm hielt der Pedell in der rechten Hand das Facultätssiegel mit einer auf Papier geklebten feuchten Oblate, und überreichte Beides dem Prosector, welcher nun das Papier mit der Oblate auf die entblößte Brust des Leichnams legte, und das Siegel darauf drückte Der Knecht des Scharfrichters mußte während dieser Handlung mit seinem Gespann in einiger Entfernung warten. Der Leichnam, der nun ehrlich war, wurde nun von Freiwilligen aus der umstehenden Menge in das anatomische Theater getragen, worauf der Scharfrichterknecht seinen Kastendeckel wieder in Empfang nehmen durfte.




Die Schlacht an der Tschernaja. Ein englischer Maler giebt uns von dort folgende Schilderung. „Sterbende und Todte lagen in allen Richtungen und Verzerrungen umher. Einige starben mit den Gesichtern aufwärts, die Hände in der Luft ballend und damit graspend, bis sie platt herabfielen, Andere waren todt und steif mit gerade emporgerichteten Armen, als wenn sie plötzlich von einem Schlage mitten im Todeskampfe versteinert worden wären. Manche waren jedenfalls augenblicklich todt niedergefallen und lagen mit ihren Gesichtern platt auf dem Boden. An Andern sahen die Wunden und Verstümmelungen entsetzlich aus. Zwei Franzosen lagen dicht bei einander, Jeder eines Armes mit dem obern Schulterblatte durch ein- und denselben Kanonenschuß beraubt. Anderswo lagen drei Russen hinter einander, der Erste ganz ohne Vorderkopf, ohne Gesicht, der Zweite mit durchlöcherter Brust, der Dritte mit aufgerissenem Leibe: die That eines einzigen Schusses.

„Doch die Todten waren bei Weitem nicht das Entsetzlichste! Nein, die Todten lagen still, selbst in den unnatürlichsten Positionen. Aber die Sterbenden, die Sterbenden! Die Fieberphantasirenden! Die vor Durst Wahnsinnigen! Die röchelnden letzten Rufe nach Wasser in ganz unverständlicher Sprache, aber deutlich genug durch Gestikulationen Einiger, die ihre Zungen heraussteckten und darauf wiesen, und selbst während der letzten Athemzüge noch die Operation des Trinkens symbolisch versuchten! Wir holten allerdings fleißig Wasser, aber bei Vielen kam’s zu spät. Die Russen hatten fast alle große Aehnlichkeit mit einander, vielleicht hatte hier eine bestimmte Race ihre Todten und Sterbenden gelassen. Gesicht beinahe Negerform, sandfarbiges Haar, blaue Augen, sehr faltige Gesichter, dicke Lippen, wenig Stirn, plattgedrückte Nase, verworrener Bart. Aber dazwischen fiel mir ein sehr edeles, sterbendes Gesicht auf, das unablässig um Wasser bat. Ich eilte nach dem Flusse hinunter, nachdem ich ihm die Trinkkanne abgeschnitten hatte, füllte sie, kam athemlos zurück und half ihm, sich aufrichten, um ihm die Labung einzuflößen. Aber kaum hatte ich ihn ein Paar Zoll gehoben, stieß er einen Schrei aus und fiel todt zurück, plötzlich ganz todt. Bald war er von Engländern und Franken umringt, die seine Taschen und Kleider untersuchten, um ihn zu beerben„ Dieses Plündern unter Todten und Sterbenden, statt letzteren wenigstens das herzerschütternde Feldgeschrei nach Wasser! Wasser! zu befriedigen, sah von Seiten unserer Freunde eben so barbarisch aus, wie von unsern Feinden.“




Die Garde stirbt, aber sie ergiebt sich nicht (La garde meurt, mais se ne rends pas) soll in dem Getümmel der waterlooer Schlacht die Antwort des französischen Generals Cambronne gewesen sein, als die Briten ihn aufforderten, sich zu ergeben. Tausendmal und wieder tausendmal ist diese Antwort in allen europäischen Ländern nacherzählt worden. Es ist möglich, daß der General sie in einem gewissen Zeitpunkte der Schlacht gegeben hat; aber nicht bei folgender Gelegenheit, wo, nach ganz glaubwürdigen Zeugnissen, der hannoversche Oberst (nunmehriger Generallieutenant) Halkett, welcher in der Schlacht eine hannoversche Brigade commandirte, ihn wirklich zum Gefangenen machte.

Das hannoversche Feldbataillon Osnabrück, welches einen Theil jener Halkett’schen Brigade bildete, griff in der Nähe des Pachthofes Hougemont ein Viereck der kaiserlichen Garde an und überwältigte es. Das Viereck gehörte zu der Brigade des Generals Cambronne, welche die äußerste Linke des französischen Angriffs ausmachte. Der größte Theil der Halkett’schen Brigade bestand aus neuausgehobenen Truppen, welche zum ersten Male einem Feinde gegenüberstanden, und nun einem mörderischen Feuer der Cambronne’schen Brigade ausgesetzt waren. Hannoversche Scharfschützen, die manchen Franzosen tödteten, schwärmten dem Bataillon Osnabrück voran, auf welches die Cambronne’sche Brigade muthig losschritt. Der General Cambronne selbst marschirte an der äußersten Spitze seiner Truppen. Indem er diese durch rasches Vorwärtsreiten und lebhaftes Schwenken seines Degens zum Kampfe ermunterte, wurde ihm, als er dem hannoverschen Bataillon schon nahe gekommen war, das Pferd unter dem Leibe erschossen. Halkett hielt dies in demselben Augenblicke für eine günstige Gelegenheit, seinen jungen Soldaten Vertrauen einzuflößen; schnell wie der Blitz sprengte er ganz allein auf den französischen General los, und drohte ihm mit dem augenblicklichen Tode, wenn er sich ihm nicht sogleich zum Gefangenen ergäbe. Cambronne, durch das Außerordentliche des Falles überrascht, senkte sogleich seinen Degen und ergab sich dem tapfereren Obersten. Dieser säumte nun nicht, mit seinem Gefangenen der britischen Linie entgegen zu eilen. Aber unglücklicher Weise stürzte gleich hierauf auch Halkett’s Pferd, von einer Kugel getroffen, mit seinem Reiter zu Boden. Zwar suchte sich der tapfere Mann augenblicklich von dem Thiere zu befreien; als er sich aber aufgerafft hatte, sah er zu seinem größten Aerger den französischen General gemächlich zu seinen Truppen zurückkehren. Doch war Halkett nicht gewohnt, einen errungenen Vortheil so leicht wieder aufzugeben; es gelang ihm, fast in demselben Augenblicke das Pferd wieder auf die Beine zu bringen und eben so schnell dem französischen General nachzusprengen. Er holte ihn auch wirklich wieder ein und führte ihn an den Achselschnüren seiner Uniform im Trabe nach der britischen Stellung zurück. Dadurch zum höchsten Muthe entflammt, stürmten die Hannoveraner mit dem Bayonnet unaufhaltsam auf die Franzosen los und stachen sie zum Theil nieder, zum Theil trieben sie sie in die Flucht.




Künstliches Seewasser. Das beste ist jedenfalls das natürliche, das man für die Stunde des Gebrauchs trocknet, luftdicht verschließt und, wenn man z. B. ein Marine-Aquarium fertig hat, wieder naß macht. Trocknes Seewasser? Ja. Man dampft es ab, so daß blos die chemischen Bestandtheile in fester Form übrig bleiben. Das ist dann ganz wörtlich trocknes Seewasser. Um es wieder in flüssiges, richtiges Seewasser zu verwandeln, gießt man auf 561/2 Unzen trocknes Seewasser 10 Gallonen, weniger 3 Nösel Flußwasser. Diese Kunst, welche bei sich ausbreitendem Geschmacke für Marine-Aquarien, für künstliche Seebäder u. s. w. eine recht hübsche Industrie in Hafenstädten werden konnte, schlug zuerst Dr. E. Schweitzer vor, und prakticirte sie auch mit dem besten Erfolge. Für kleinere Quantitäten nahm er 6 Unzen trocknes Seewasser in 1 Gallone Flußwasser und rührte die Mischung um, bis alle trocknen Bestandtheile aufgelöst waren. Wir haben früher die chemische Zusammensetzung des Seewassers angegeben, so daß, wer genau sein will, darnach wissenschaftlich componiren kann. Das Bequemste ist aber dieses trockne Seewasser, welches man wie Zahnpulver versenden und dann je nach Bedarf wieder zu Wasser machen kann. Wir zweifeln nicht, daß trocknes Seewasser bald ein Industrie-Objekt und Handelsartikel werden wird, billig zu haben in jedem anständigen Materialwaarenladen.




Englisches Heidenthum. Die englischen Bibel- und Missionsgesellschaften vertheilen jährlich hunderttausende von Bibeln und sammeln Millionen von Pfunden in England, um schwarze, braune, gelbe und rothe Heiden in allen fernen Welttheilen zu bekehren und ihnen das Niederknieen vor Götzen abzugewöhnen. Inzwischen knieeten neulich eine ganze Menge schon längst bekehrter Engländer vor einem Menschen nieder, der nicht einmal Kaiser, geschweige Götze ist. Wie eine englische Zeitung erzählt, kam die Königin von England zu ihrem großen Alliance-Besuche nicht so früh in Boulogne an, als die Leute erwarteten. Erst um zwei Uhr verkündeten donnernde Kanonen ihre Ankunft. Natürlich hatten sich große Volksmassen am Landungsplatze zusammengedrängt, unter denen sich viele Engländer patriotisch hervordrängten. Einige derselben kamen in einem besondern kleinen Dampfschiffe in den Hafen hinein, Engländer von Familie und Vermögen, Herren und Damen. Am Landungsplatze sahen sie im kaiserlichen Pavillon eine glänzende Generals-Uniform, in welcher sie Se. Majestät den Kaiser Napoleon III. Allerhöchst selbst vermutheten, so daß sie sofort, von Andacht und Ehrerbietung niedergedrückt auf ihre Knieen fielen. Die Franzosen lachten aus vollem Halse, auch der General oben biß sich in die Lippen, um seiner Würde durch Herausplatzen vom Zwerchfelle nichts zu vergeben, und die Engländer standen sehr dumm aussehend wieder auf, und wischten sich sehr lange die Hosen ab, um ihr dummes Aussehen so lange als möglich zu verbergen. Schade, daß der Kaiser selbst es nicht war. Obgleich ein „gestrenger Herr“, um uns manierlich auszudrücken, und kein Freund von Zungen-, Preß- und Zwerchfellfreiheit, würde er doch, wir wetten darauf, in diesem Falle das Zwerchfellerschütterungsrecht seier getreuen Unterthanen anerkannt haben, obwohl nach dem unmittelbaren komischen Eindrucke ein dauernder Ekel vor dieser englischen [522] officiellen Civilisation übrig bleiben muß. Abgöttisches Niederknieen vor Marmor und Macht, das ist die einzige Religion der „guten Gesellschaft“ Englands. Andere Nationen drückt häufig eine Macht von Oben nieder, die freien Engländer aber werfen ihre äußerlich saubern, innerhalb schmutzigen Persönlichkeiten freiwillig in Koth und Kehricht.




Ein amerikanischer Stutzer. „In der ganzen Welt," bemerkt ein new-yorker Blatt („Daily Times“), „ist es die Aufgabe des Dandy, sich, so weit es durch ihn selbst und seinen Schneider möglich ist, von der Natur zu entfernen; von der ganzen Race der Dandy’s aber ist der seltsamste, spaßhafteste und unbeschreiblichste der, welcher halb drei Uhr auf dem Pflaster des Broadway (Newyork) sichtbar wird. Die jungen Sprößlinge unserer reichen Familien sehen, nach einem gewissen verweichlichten Typus gemessen, gut aus. Sie haben glatte hübsche Gesichter, aber ohne die Spur jener kräftigen Entwickelung, welche dem Manne gebührt. Sie sind dünn und knieschüssig, und man möchte sagen, sie seien blasirt zur Welt gekommen. Wie kann dies auch anders sein? Sie kommen von der Amme zum Tanzmeister; kaum haben sie die Kinderklapper weggeworfen, so greifen sie zum Billardstock, und alle Stunden, die der europäische Knabe in Feldern und Heckenwegen vertummelt oder in denen er gesund schläft, weil er sich früh zu Bett legte, verbringt der Newyorker in heißen Zimmern voll verpesteter Luft, oder in öffentlichen Ballsälen, wo gefälschter Brandy seinen Geist schwächt und sein Wachsthum beeinträchtigt. Deshalb gedeiht die newyorker Jugend nur selten zu wohlgewachsener muskulöser Männlichkeit. Nun sollte man meinen, daß bei solchen Formfehlern, wie Spindelbeinen, schmaler Brust und spitzen Schultern, das Beste wäre, sich in bequeme lose Kleider zu hüllen, welche diese Mängel etwas verbergen. Wir wollen sehen, ob dem so ist. So ein Mann-Knabe mit zartem Gesichtchen und einer Wange, auf der auch nicht der Verdacht eines Bartes haftet, nimmt sich sehr unbedeutend und mädchenhaft aus. Daher erachtet er es für nöthig, einen großmächtigen Hut zu tragen, der halb keck, halb unverschämt auf die eine Seite gesetzt wird, und unter dessen breitem Rande hervor er altklug aussehen möchte. Der Mann-Knabe hat sehr spitze Schultern, deshalb zieht er den Rockkragen hinten hinauf wie einen Zuckerhut, so daß vom Nacken und Kopf nichts zu gewahren ist, und er von hinten wie ein behangener Kleiderstock erscheint, über welchem ein Hut auf dem Kragen eines schlaffen weiten Rockes aufgesteckt ist, aus dem ein Paar beinlose Beinkleider hervorbaumeln. Ein solcher Mann-Knabe hat äußerst lange und dünne Beine, an den Knien eingebogen, das Zeichen der Schwäche, er trägt darum sehr enge kurze Hosen, die am Knie, dem schwächsten Punkte, noch besonders knapp anliegen. Aber die an sich unnatürlich langen Beine werden nicht blos durch die kurzen Hosen noch verlängert, nein, er trägt überdies auch sehr hohe Absätze an den Stiefeln. So, die Hände in den Aermeln verborgen, aus denen, anscheinend frei schwebend, ein niedliches Rohrstöckchen hervorblickt, trippelt er in einer unbeschreiblichen Gangart die Trottoirs entlang, vergleichbar einem Affen, der auf einer heißen Platte promenirt. Das ist das Bild der ganzen Klasse. Denn von allen Absonderlichkeiten der new-yorker Dandy’s ist gewiß keine auffälliger als die wunderbare Einheit des unter ihnen vorherrschenden Geschmacks. Es ist einer wie der andere, sie gleichen sich gerade wie Papiermännchen, die Kinder durch einen einzigen Scheerenschnitt aus künstlich gefaltetem Papier fabriziren. Die Menge dieser fremdartig aufgeputzten Jungen mit verlebten Zügen ruft peinliche Gedanken hervor, wenn das Lächeln über ihre innere Albernheit vorüber ist.“




Vierbeinige Tagelöhner. Ein Engländer sah in Ceylon einen Elephanten auf der Straße arbeiten, und es war äußerst interessant zu beachten, mit welcher Ueberlegung das Thier dabei verfuhr; er riß nämlich mittelst einer unten mit einem Haken versehenen Kette, welche an ein seinen Nacken umgebendes Halsband befestigt war, große Wurzeln aus dem Erdboden, und zog oder zerrte zu diesem Behuf wie ein Mann, oder richtiger wie eine Anzahl Männer, indem er mehrere stete Rucke aneinander folgen ließ, seine ganze Körperkraft auf jeden einzelnen Ruck werfend und fast jedesmal bis zu den Knieen herabsinkend; auch drehte er sich von Zeit zu Zeit um, damit er sähe, was er gefördert. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Elephanten denken und bei ihrem Thun von Erfahrung und Gedächtniß Gebrauch machen, auch scheint ihre Befähigung durch den Verkehr mit dem Menschen in nicht geringem Grade zuzunehmen. Die Genauigkeit und sorgsame Thätigkeit, welche sie in Zurichtung und Anordnung von Bruchsteinen beim Bauen einer Brücke beurkunden, ist, wenn man es nicht mit Augen sieht, unglaublich; sie legen den Stein mit eben so viel Geschicklichkeit wie ein Maurer, und kehren zwei- bis dreimal zurück, um hier und da nachzubessern, wenn sie glauben, daß das Werk noch nicht vollkommen sei; sie entfernen sich in diesem Falle einige Schritte und betrachten, was sie zu Wege gebracht, mit prüfendem Blicke. Ein Elephant, welcher den ganzen Tag hindurch mit Aufschichten von Holz zugebracht, erzürnte sich, als ihm des Abends ein Versprechen von dem Wärter nicht erfüllt wurde, dergestalt, daß er die von ihm aufgerichteten Holzhaufen sämmtlich wieder umstürzte.




Merkwürdiger Fund. Beim Graben eines Brunnens, unweit Leeds, fand man in diesen Tagen inmitten eines großen Stückes Steinkohle, ungefähr 234 Fuß unter der Erdoberfläche, einen Frosch, der sich ziemlich lebendig zeigte. Als man ihn aus seiner engen Haft hervorzog, war seine Farbe sehr dunkel, sie ward aber am Lichte bald hell, wie bei dem gewöhnlichen Frosche. Die Augen sind äußerst glänzend und mit einem goldfarbigen Ringe umgeben. Die Spalte in der Kohlenschicht, die ihn enthielt, war mit Wasser gesättigt, und wahrscheinlich in Folge dieses Umstandes, in Verbindung mit seinem engen Kerker, vermochte er Jahrtausende hindurch in seinem halb erstarrten Leben zu verharren.




Zur Beachtung!




Mit dieser Nummer schließt das 3. Quartal unserer Zeitschrift und beginnt mit Nr. 40 das 4. Quartal. Wir bitten die Bestellungen auf dieses 4. Quartal sofort nach Empfang der heutigen Nummer aufzugeben, damit die regelmäßige Zusendung nicht unterbrochen wird.

Mit Bezugnahme auf die in Nr. 36 mitgetheilte Calculation der Gartenlaube sehen wir uns heute zu der Mittheilung genöthigt, daß vom 1. Oktober ab der Quartalpreis von 121/2 Ngr.

auf 15 Ngr. oder 1 fl. Conv.-Mze.

erhöht wird. Diejenigen Abonnenten, welche die Gartenlaube semesterweise beziehen, haben mithin auf das 4. Quartal noch 21/2 Ngr. oder 15 Xr. Münze nachzuzahlen.

Die Gartenlaube erscheint ganz in derselben Weise fort wie bisher, nur dürfen wir – bei nunmehr vermehrten Kräften – unsern Lesern auch eine noch glänzendere illustrative Ausstattung und durchgängig gediegene Textbeiträge versprechen. Daß wir nie mehr versprechen, als wir halten können, glauben wir bewiesen zu haben.

Vorläufig diene unsern Lesern folgende Mittheilung:

An novellistischen Beiträgen werden die kommenden Nummern, außer den permanenten von Ludwig Storch, Ferd. Stolle, Schrader und Anderen noch enthalten: Zwischen Himmel und Erde, Novelle von Otto Ludwig, dem schnell bekannt gewordenen Dichter des „Erbförsters.“ – Eine Nacht in der Holzhauerhütte von W. O. von Horn. – Das dunkle Thal von Bernd von Gusek, etc. etc.

An belehrenden und instruktiven Artikeln außer den gesundheitlichen Beiträgen des Prof. Bock, den naturwissenschaftlichen Mittheilungen der Professoren Roßmäßler und Willkomm, den kulturgechichtlichen Vorlesungen des Prof. Biedermann, den Schilderungen unsers londoner Mitarbeiters Dr. Beta: küchenchemische Vorträge des Doktor Hirzel (für alle Hausfrauen von großem Interesse), populaire Briefe über Musik von Prof. Lobe (jedem Laien verständlich), instruktive und schildernde Privat-Mittheilungen vom Kriegsschauplatze, nebst guten Abbildungen – Eine Reihe interessanter Lebens- und Jagdbilder – Berichte aus Amerika – Mittheilungen aus England und Frankreich etc. etc.

Leipzig, den 20. September 1855.
Die Verlagshandlung. 
Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Spanisch: Wie steht’s? Deutsch: Wie geht’s? Französisch: Wie tragen Sie sich? Englisch: Wie thut Ihr Thun? u. s. w., in jeder Nation anders, just nach ihrer kulturhistorischen und physikalischen Eigenthümlichkeit.
  2. Während der orientalische Krieg sich bisher fast lediglich auf Belagerung der Seefeste Sebastopol erstreckte, dürfte uns die nächste Zeit mehr Berichte über Operationen im freien Felde bringen. Wir geben hiermit unseren Lesern eine gedrängte Uebersicht des gesammten Kriegsschauplatzes, welche zur Orientirung der kommenden Ereignisse wesentlich beitragen wird. Wir haben dabei besonders Rücksicht auf die Operationen der Flotten genommen, die, wenn nicht alle Nachrichten trügen, schon in den nächsten Tagen, besonders im asow’schen Meere, beginnen werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Vehältnisse