Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[257]

No. 20. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Schlom Weißbart.
Ein Bild aus Litthauen.
Vom Verfasser der schwarzen Mare.
(Fortsetzung.)


„Ihr seid bekannt als Pferdedieb.“

„Kennt mich der Herr?“

„Sämmtliche Beamte an der Grenze bekunden es.“

„Hat Einer gesehen, daß ich habe gestohlen?“

„Sie bekunden das allgemeine Gerücht.“

„Was heißt Gerücht? Die Polizei kann machen das Gerücht. Sie sprechen, Herr, daß ich bin verwickelt in eine große Untersuchung von vielen Spitzbuben. Hat gesehen ein Einziger von diesen, daß ich habe gestohlen?“

„Sie würden dadurch sich selbst angeklagt haben.“

„Also nur die Polizei hat mich angeklagt. Die Polizei hat gemacht das Gerücht, und auf dieses Gerücht sitze ich hier seit länger als einem Jahre.“

Die Rollen des Inquirenten und Inquisiten waren beinahe vertauscht.

„Ihr sagtet, Schlom Weißbart, außer dem Dorfrichter von Mädischkehmen habe noch Einer Euch an die Grenze gelockt. Wer war dieser Eine?“

„Erlassen Sie mir das, Herr!“

„Ich frage in Eurem Interesse.“

„Gott behüte mich vor solchem Interesse. Kennen der Herr Kreisjustizrath das Essen von Kirschen mit großen Herren?“

Beim Durchlesen der weitläufigen Acten war ich auf einen Umstand aufmerksam geworden, über welchen Schlom Weißbart noch nicht vernommen war, welcher gleichwohl etwas mehr Thatsächliches, als bloßes allgemeines Gerücht zum Inhalte hatte. Ein Zeuge, der in Russisch-Neustadt Geschäfte gehabt, wollte dort gesehen haben, wie Schlom Schwarzbart eines Morgens früh drei braune Pferde zum Stalle des Schlom Weißbart gebracht habe. In derselben Nacht waren einem preußischen Gutsbesitzer in der Nähe von Laugallen, also nicht sehr weit von Neustadt, drei braune Pferde von der Weide gestohlen. Freilich stand die Identität der von dem Zeugen nur flüchtig in der Morgendämmerung gesehenen Pferde mit den gestohlenen in keiner Weise fest. Um so mehr konnte der Verdacht gegen Schlom Weißbart nur ein so entfernter sein, daß er juristisch kaum in Betracht kam. Ich glaubte indeß, an diesen Umstand anknüpfen zu dürfen.

„Schlom Weißbart,“ fragte ich den Juden, „kennt Ihr den Schlom Schwarzbart?“

Sein Gesicht durchflog wieder dasselbe höhnische Lächeln, wie im Gefängnisse bei Nennung des Namens Schlom Schwarzbart. Ruhig entgegnete er. „Giebt es doch viele Schlome in der Welt.“

„In Russisch-Neustadt“, ergänzte ich meine Frage.

„Auch da.“

„Und Einer von ihnen hat den Zunamen Schwarzbart!“

„Ich weiß es nicht.“

„Wie man Euch Weißbart nennt?“

„Gottes Wunder, so nennt mich die Polizei in Preußen.“

„Zur Unterscheidung von Schlom Schwarzbart.“

„Aber ich kenne keinen Schlom Schwarzbart. Auch in Rußland kennt man nicht einen Schlom Schwarzbart, und auch nicht den Schlom Weißbart.“

Ich weiß nicht, warum plötzlich der Verdacht in mir aufstieg, Schlom Weißbart und Schlom Schwarzbart seien ein und dieselbe Person. Rasch stellte ich dem Juden die Frage: „Seid Ihr selbst der Schlom Schwarzbart?“.

Ein Blitz der Wuth schoß aus seinem Auge auf mich. Aber er antwortete mit seinem freundlichen Lächeln: „Dann müßte ich ja kennen den Schlom Schwarzbart.“

„Gewiß werdet Ihr ihn kennen. Er soll gestohlene Pferde in Euren Stall gebracht haben.“

„Haben der Herr Zeugen?“

Auch diese Richtung des Verhörs führte nicht weiter. Ich hatte schon vorher meinen Plan gefaßt und schritt sofort zum Schlußverhör. Ich eröffnete ihm das. Er mußte sich Gewalt anthun, seine laute Freude zurückzuhalten.

„Sie lassen mich frei? Heute?“

„So nicht, Schlom. Ich schicke nur Eure Acten noch heute nach Insterburg zum besonderen Spruch über Euch ein.“

Er wurde niedergeschlagen. „Gott behüte, da sind viele Herren Referendarien, das wird lange daueru, ehe sie kommen zurück.“

„Ihr sollt bis dahin jeden Schabbes Euren Hering haben, und wenn Ihr wollt, täglich.“

Etwas richtete ihn das Versprechen wieder auf. „Nicht täglich. Aber die Woche zweimal, wenn der Herr erlauben.“

„Ich erlaube es.“

„Und,“ fuhr er fort, plötzlich zögernd, mit beinahe ängstlich angehaltenem Athem. „Und erlauben der gnädige Herr, daß ich kann sprechen meine Frau und mein Kind?“

„Auch das.“

[258] Er stürzte vor mir nieder, meine Stiefel zu umfassen. Ich mußte mich fast gewaltsam von ihm losreißen.

„Das ist ein großer Bösewicht,“ sagte, als der Jude abgeführt war, der Secretair, wie mit erleichtertem Herzen. „Ein gleißnerischer Bösewicht, den alle Welt fürchtet, in Preußen wie in Rußland.“

„Und dennoch,“ erwiederte ich, „kann Niemand in Preußen oder in Rußland ihn eines bestimmten Verbrechens auch nur anklagen, geschweige überführen. Sollte den Menschen nicht das unverschuldete Unglück eines allgemeinen Vorurtheils verfolgen, das sich so oft, ohne alle Veranlassung, in wahrhaft unbegreiflicher Weise klettenartig an manche Menschen anheftet?“

„Umgekehrt möchte ich glauben, daß seine ebenso große List wie Frechheit seine Verbrechen nur zu sehr zu verdecken weiß –“

„Aber der arme Mensch sitzt ja seit beinahe anderthalb Jahren gefangen zwischen den stärksten Gefängnißmauern, und er hatte nicht einmal Geld, um zu seiner Nahrung sich mehr als Wasser und Brot zu verschaffen.“

„Er hat zu Hause Vermögen, und ein Weib, ebenso boshaft und ränkesüchtig wie er, dabei bildschön.“ –

Gegen den Juden Schlom Weißbart lag nach meinem Erachten kein Beweis eines Verbrechens vor, der eine Strafe gegen ihn hätte begründen können. Nach der ganzen Lage der Untersuchung gegen die Bande war auch keine Bezüchtigung irgend eines Verbrechens, kein weiterer Beweis gegen ihn zu erwarten. Es erschien mir daher völlig ungerechtfertigt, den Juden in fernerer Gefangenschaft bis nach Abschluß der, vielleicht noch ein Jahr dauernden Untersuchung gegen die Bande zu behalten. Andererseits, nachdem die Criminaluntersuchung gegen ihn wegen Theilnahme an den Diebstählen einmal eingeleitet war, konnte er, zumal als Ausländer, ohne ein Urtheil nicht entlassen werden; dieses Urtheil war von dem Oberlandesgerichte in Insterburg zu ertheilen. Dem letzteren sandte ich daher die – dünnen – Akten gegen den Juden, mit den betreffenden Bemerkungen zum Spruche ein.

Unterdessen machte ich noch einen letzten Versuch, um über den Juden eine bestimmte nähere Auskunft zu erhalten. Die russischen Behörden hatten, auf die sämmtlichen vielen amtlichen Ersuchungsschreiben der Kreisjustizcommission zu diesem Zwecke, gar nicht geantwortet. Wenige Tage nach meiner Ankunft in Ragnit erfuhr ich, daß einer meiner Universitätsfreunde, ein Livländer, einen höhern Posten in der russischen Zollparthie an der Grenze bekleide. An ihn wandte ich mich um Auskunft.

Es war ein seltsames Zusammentreffen von Umständen, unter denen ich einige Zeit nachher die Antwort erhielt. Es kam damals täglich nur eine Hauptpost nach Ragnit. Sie kam des Morgens um acht Uhr von Tilsit; sie brachte die sämmtliche Correspondenz aus Deutschland, Preußen und Rußland. Die Briefe für die Kreisjustizcommission sowohl als die Privatbriefe für mich wurden bald nach Ankunft der Post durch meinen Boten des Gerichtes eingeholt und in das Gerichtslokal gebracht, wo ich mich jeden Morgen einfand.

Etwa vierzehn Tage seit Absendung der Akten gegen Schlom Weißbart nach Insterburg mochten verflossen sein, als der Bote, der die Correspondenz von der Post abgeholt hatte, mit dieser mir auch einen Privatbrief aus Rußland an mich überbrachte. Ich eröffnete ihn zuerst. Er war von meinem Freunde. Er betraf den Schlom Weißbart und bestätigte alles Schlechte, was das Gerücht von dem Juden ausgebreitet hatte.

Der Jude Schlom aus Russisch-Neustadt, der seit länger als einem Jahre in den Gefängnissen der Kreisjustizcommission zu Ragnit sich befinde, sei in der That einer der gefährlichsten Verbrecher an der Grenze. Er stehe mit allen Räuber- und Diebesbanden der Grenze in Verbindung, und mache ebensowohl ihren Anführer als Hehler. Man fürchte ihn allgemein wegen seiner Verwegenheit und Grausamkeit. Durch seine Verbrechen habe er sich ein nicht unbedeutendes Vermögen erworben. Dieses gewähre ihm die Mittel, die bestechlichen Beamten von sich abhängig zu machen. Um so mehr sei er von Jedermann gefürchtet, und Niemand wage gegen ihn aufzutreten. Alle Versuche, amtliche Auskunft über ihn zu erhalten, werden vergeblich sein. Das allgemeine Gerücht bezeichne ihn sogar als den Mörder seiner ersten Frau; seine jetzige Frau, gleichfalls eine abgefeimte Verbrecherin, solle ihm bei der That geholfen haben. Seine Tochter, sein einziges Kind aus der ersten Ehe, zur Zeit des Mordes etwa zwölf Jahre alt, sei durch einen Zufall Zeugin des Verbrechens geworden; sie sei seitdem periodisch von Wahnsinn befallen, in dessen Krisen sie furchtbare Sachen spreche. Trotz alledem habe Niemand gewagt, ihn oder seine zweite Frau wegen der That anzuklagen.

Mein Freund schloß seine Nachrichten mit der Bemerkung, daß er begreiflich nur, freilich sorgfältig aufgesuchte Gerüchte mittheile, deren weitere Verfolgung unter den erwähnten Umständen unzweifelhaft ohne alles Ergebniß bleiben werde, die aber schon dadurch eine erhebliche Bestätigung finden müßten, daß während der Haft Schlom’s gerade derartige Grausamkeiten, die ihm Schuld gegeben wurden, bei Diebstählen und Räubereien in der Gegen nicht mehr vorgekommen seien.

Auch dies war wiederum mehr Gerücht, als Auskunft über bestimmte Thatsachen. Aber es war mit so vielen Gründen unterstützt, daß ein großer Theil meiner Zweifel gegen ein so wieder und wieder bestätigtes, allgemein verbreitetes Gerücht verschwinden mußte. Und hatte nicht auch mein erster Blick in den Augen des Juden neben hoher Verschmitztheit jene Blutgier und Mordlust gesehen?

Indeß für die Zwecke der Criminaluntersuchung war von weiteren Nachforschungen augenscheinlich nichts zu gewinnen, der Brief konnte mich daher zu ferneren Schritten nicht veranlassen, und ich beschloß, die Ankunft des Erkenntnisses von Insterburg abzuwarten, es dem Juden zu publiciren und ihn alsdann, da ich nur seine Freisprechung erwartete, sofort der Haft zu entlassen.

Eins der ersten eingegangenen amtlichen Schreiben, die ich darauf eröffnete, brachte das Erkenntniß des Juden. Es lautete gegen alle meine Erwartung nicht freisprechend. Der Angeschuldigte sei im Besitze eines erwiesen gestohlenen Pferdes ergriffen; der Besitz des gestohlenen Gutes bilde nach der Criminalordnung eine nahe Anzeige. Der Angeschuldigte habe bei seiner Verhaftung sich widersetzt, um die Flucht zu ergreifen; Flucht oder Versuch derselben bilde ein zweites Indicium. Der Angeschuldigte werde allgemein als ein Mensch von ebenso schlechtem Charakter als verbrecherischer Lebensweise, besonders auch als Mitglied einer Bande von Dieben bezeichnet. Nun verordne aber der Paragraph 405 der Criminalordnung wörtlich: „Wenn mehrere Anzeigen in einem Falle zusammentreffen, welche mit einander übereinstimmen, und durch den schlimmen Charakter des Verdächtigen und die bisherige schlechte Lebensweise desselben unterstützt werden, so ist ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorhanden, bei dem eine außerordentliche Strafe in der Regel kein Bedenken haben kann.“ Der Angeschuldigte sei mithin außerordentlich wegen Pferdediebstahls zu bestrafen. Die ordentliche Strafe des Pferdediebstahls bestehe nach der Verordnung vom 28. September 1808, §. 18 in einer „scharfen Züchtigung von Einhundert Peitschenhieben.“ Es werde deshalb eine außerordentliche Strafe von fünfundzwanzig Peitschenhieben gegen den Angeschuldigten hiermit festgesetzt und erkannt.

Nach den Worten des Gesetzes war diese Entscheidung überall gerechtfertigt. Für meine Erwartung eines anderen Ausfalles derselben mochte mich wohl jene Theilnahme für den Juden eingenommen haben, die seitdem durch die Mittheilungen meines Freundes mindestens sehr verkaltet, wenn nicht in ihr Gegentheil umgeschlagen war. Die Beamten der Kreisjustizcommission jubelten, daß der verbrecherische Jude, trotz alles Leugnens nicht ohne einen „preußischen Denkzettel“ nach Rußland zurückkehren solle.

Ich ließ sofort den Juden vorführen, um ihm das Urtheil zu publiciren.

Er trat mit dem Ausdrucke großer Spannung in das Gerichtszimmer. Er sah unruhig darin umher.

Es ist erklärlich, daß das Schreiben meines Freundes mich veranlaßte, ihn mit scharfem Mißtrauen zu betrachten. Ich sah gleichwohl nur diese Spannung in den Zügen, die ich auch jetzt noch schön und edel geformt finden mußte; keine Tücke, keine Blutgier. Stand wirklich ein furchtbarer Mörder vor mir?

Sein Blick war unterdeß mit steigender, fast zur Aengstlichkeit sich steigernder Spannung auf einer Thür haften geblieben, die in eines der Bureauxzimmer führte. Das fiel mir auf.

„Sucht Ihr Etwas, Schlom Weißbart?“

„Nein Herr. Haben Sie mich doch lassen rufen.“

Er antwortete zögernd. Er schien zu zittern, während er antwortete.

[259] Was konnte er haben? Ich hatte allerdings in einem andern Tone, als früher, kalt, strenge zu ihm gesprochen. Einen Menschen wie ihn konnte das aber nicht zittern machen.

„Erwartet Ihr hier Jemanden?“

„Wer sollte kommen zu mir?“

„Wenn nun etwa Zeugen Eurer Verbrechen? Aus Rußland?“

Hatte ich ihn wollen in Angst setzen, so hatte ich das Gegentheil erreicht. Er athmete auf. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck jener ruhigen, bescheidenen Freundlichkeit der früheren Begegnungen mit ihm an.

„Der Herr ist so gnädig, zu scherzen mit mir,“ sagte er. „Aber,“ fuhr er anscheinend in unbefangener Offenheit fort, „weil der Herr sind so guter Laune, so kann ich sagen, was ich habe auf dem Herzen. Ich erwartete, daß meine Frau sei hier.“

Daß seine Unbefangenheit eine gemachte war, zeigte die Aengstlichkeit, die ihn unwillkürlich wieder ergriff, während er die letzten Worte sprach.

Seine Frau war noch nicht da gewesen, seitdem ich in dem letzten Verhöre ihm erlaubt hatte, sie zu sprechen.

„Eure Frau ist nicht hier,“ erwiederte ich ihm.

Er wurde nicht ruhiger.

„Stehe mir Gott bei. Sie hätte hier sein müssen schon vor acht Tagen. Es wird passirt sein ein Unglück.“

„Ihr könnt Euch morgen davon überzeugen.“

„Was, Herr?“ fuhr er auf.

„Euer Erkenntniß von Insterburg ist angekommen.“

„Gott ist barmherzig. Mein Erkenntniß! Morgen? – Ich bin frei?“

„Seid ruhig, und hört den Inhalt des Urtheils.“

Ich las ihm das Erkenntniß vor.

Ich hatte einen fast entsetzlichen Anblick, als ich geendigt hatte und wieder zu ihm aufblickte. Tödtende Bosheit und Rache sprachen sich in seinen dunkel glühenden großen Augen, in seinen zusammengepreßten Lippen aus.

„Strafe?“ stammelte er mit bebender Stimme. „Das Erkenntniß ist gekommen von Insterburg?“

„Ihr habt es gehört.“

„Von Insterburg? Auf die Akten, welche haben hingeschickt der Herr Kreisjustizrath?“

„So ist es.“

„Und auf den Bericht, den haben gemacht der Herr Kreisjustizrath?“

„Auch das ist so.“

Der tödtende Blick traf mich von Neuem, ich möchte sagen, mich jetzt besonders allein. Er sah in mir die Ursache des Straferkenntnisses.

„Ihr könnte appelliren,“ fuhr ich fort, „wenn Ihr der Meinung seid, daß Euch Unrecht geschehe.“

„Ich appellire, Herr, sogleich. Ich bin unschuldig. Unschuldig, und fünfundzwanzig Hiebe! Ich appellire. Nehmen Sie zu Protocoll meine Appellation.“

Auf einmal schien er sich zu besinnen. Langsamer setzte er hinzu: „Und wenn ich appellire?“

„Wie so, wenn Ihr appellirt?“

„Werde ich kommen frei?“

„Nicht vor Rückkehr des Appellationsurtheils.“

„Und das kann dauern wie lange?“

„In den nächsten vier Wochen dürft Ihr nicht darauf rechnen.“

Er wurde nachdenklicher. Er war so sehr mit seinen Gedanken, mit dem Suchen nach einem Entschlusse beschäftigt, daß er darüber ganz die Beachtung seines Aueßeren vergaß. Sein Gesicht bekam den Ausdruck der Gemeinheit, und, was ich bisher an ihm noch nicht beobachtet hatte, jener eigenthümlichen Feigheit des gewöhnlichen Juden, die sich besonders einem körperlichen Schmerze gegenüber äußert. Das sonst so schöne Gesicht des Menschen wurde dadurch ungemein häßlich. Ich hatte mich in meiner Wahrnehmung nicht getäuscht.

„Fünfundzwanzig Hiebe?“ sagte er nach einer Pause. „Steht es so im Urtheil?“

„Fünfundzwanzig.“

„Mit der Peitsche?“

„Mit der Peitsche.“

„Auf den Rücken?“

„Auf das Gesäß.“

„Auf das – ?“

Er vollendete die Frage nicht. Er kniff wüthend die Lippen zusammen.

Nach einer Weile fragte er weiter: „Heute noch?“

„Ihr appellirt ja.“

„Wenn ich aber nicht appellire?“

„Dann noch heute.“

„Und das Urtheil, sagen der Herr, auf meine Appellation kann noch dauern vier Wochen?“

„Mindestens.“

„Und wenn ich nehme die Hiebe, komme ich frei?“

„Sogleich.“

„Morgen?“

„Noch heute, sobald die Züchtigung vollstreckt ist.“

„Ganz frei?“

„Man wird Euch bis zur russischen Grenze transportiren. Von da könnt Ihr gehen, wohin Ihr wollt.“

„Nach Hause? Zu meiner Frau? Zu meiner – ? Morgen?“

Auf einmal fuhr er wieder auf. Jene Furcht vor dem körperlichen Schmerze spiegelte sich wieder in seinem Gesichte. „Fünfundzwanzig Hiebe? Auf das – ? Herr, kann ich sehen die Peitsche?“

„Sie ist im Gefängnißhause.“

„Der Lemkat hat bekommen zwanzig Hiebe mit der Peitsche. Au wai, wie hat er geschrieen. Gebrüllt hat er; wie ein Ochse, den der Schlächter hat getroffen falsch. Es waren nur zwanzig.“

Er sprach mehr mit sich selbst als zu mir. Die Angst vor der Züchtigung erfüllte ihn ganz und gar.

„Fünfundzwanzig,“ fuhr er fort, aber für sich. „Gott, sei barmherzig. Vier Wochen! Meine Frau! Das Kind! Was macht mein Kind! Habe ich nichts von ihr gehört in so langer Zeit. Heute frei! Fünfundzwanzig – ! Barmherzig, Herr! Barmherzig!“

Auf einmal sagte er entschlossen, mit lauterer Stimme: „Ich appellire, Herr! Schreiben Sie es zu Protokoll, ich appellire.“

In diesem Augenblicke trat ein Gerichtsdiener ein, der mir leise mittheilte, die Frau des Schlom Weißbart sei im Vorzimmer, und bitte, ihren Mann sprechen zu dürfen.

Ich konnte mir denken, daß die Unterredung mit seiner Frau einen entscheidenden Einfluß auf den Entschluß des Juden, in Betreff seiner Appellation ausüben werde. Ich beschloß daher, die Frau sofort vorzulassen, zumal da vorschriftsmäßig die Unterredung nur in meiner Gegenwart stattfinden durfte. Ich leugne nicht, daß es mir zugleich interessant war, den Juden bei diesem Wiedersehen zu beobachten, bei der ersten Begegnung mit seiner Frau, die er seit beinahe anderthalb Jahren nicht gesehen, zudem der Genossin eines schweren Verbrechers, bei dem ersten Empfange von Nachrichten über die Seinigen, über deren Schicksale er in der ganzen langen Zeit seiner Gefangenschaft gar nichts vernommen hatte.

„Schlom Weißbart,“ sagte ich zu ihm, „Euere Frau ist hier, um Euch zu sprechen.“

Die unerwartete Nachricht machte einen furchtbaren Eindruck auf ihn. Sein Gesicht wurde leichenblaß, die kräftige Gestalt begann zu zittern, er taumelte beinahe. Zu sprechen vermochte er nicht.

„Wollt Ihr sie jetzt gleich sehen?“ fuhr ich fort.

„Ja, Herr,“ stammelte er, die Sprache wieder gewinnend.

„Wenn der Herr wollen sein so gnädig,“ fuhr er fort. – „Aber ich bitte den Herrn noch um einen Augenblick. Will der Herr erlauben, daß ich mich darf setzen?“

Er bedurfte in der That einer Erholung. Ich gab ihm einen Stuhl. Er setzte sich, den Kopf tief niedergebeugt, das Gesicht mit den Händen bedeckt.

So saß er mehrere Minuten, ohne eine Bewegung, ohne einen Laut. Als er aufstand, schien er ein ganz anderer Mensch zu sein. Keine Spur von Furcht oder Aengstlichkeit mehr in seinem Gesichte. Man sah darin vielmehr den Ausdruck eines festen, fast gebieterischen Stolzes.

„Wollen der Herr jetzt sein so gnädig?“ sagte er.

Ich gab dem Gerichtsdiener einen Wink, die Frau des Juden herein zu führen.

Eine Frau in der Kleidung der wohlhabenderen Jüdinnen von der russischen oder polnischen Grenze trat ein. Diese Kleidung war eine halb europäische, halb orientalische, jedenfalls eine [260] sehr kleidsame. Die Frau trug ein ziemlich eng anliegendes Kleid von schwarzer Seite, nicht so lang, um einen kleinen Fuß und zart geformte Knöchel zu verbergen. Brust und Schultern verhüllte ein, allerdings etwas sehr bunter Shawl von feinstem, weichstem Kashemir. Den Kopf bedeckte ein zierlicher Turban von rother Seide, mit gelber Seite durchwunden.

Es war eine überraschend schöne Frau; der Körper schlank und schmiegsam gebaut, von nicht zu hoher Gestalt. Das Gesicht von außerordentlicher reiner südlicher Bildung; die Haut blendend weiß und durchsichtig; das Auge, merkwürdigerweise bei einer Jüdin, zumal in jener Gegend, dunkelblau. Dieses blaue Auge und eine fast kindliche Schüchternheit, die über Gesicht und Wesen der Frau ausgebreitet lag, gaben ihr zugleich ein sehr jugendliches Aussehen. Dem Juden mit dem weißen Bart gegenüber glaubte man nicht die Frau, sondern die Tochter zu sehen. Sie trat in demüthiger Haltung ein. Ihr etwas verwirrter, ängstlicher Blick suchte angelegentlich, unzweifelhaft ihren Mann. Sie stand unschlüssig, als sie ihn sah.

Der Gerichtsdiener, der sie herein gebracht hatte, ein alter, an den Dienst gewöhnter Unteroffizier, gab ihrem Auge eine andere Richtung.

Dort sind der Herr Kreisjustizrath,“ sprach er strenge zu ihr, indem er auf mich wies.

Der ängstliche Blick der Frau wandte sich bittend zu mir.

„Sie können Ihren Mann sprechen,“ sagte ich ihr.

Es entwickelte sich eine merkwürdige Scene.

Schlom Weißbart hatte seine Gestalt hoch aufgerichtet. Die Arme hatte er auf der Brust übereinander geschlagen. Das Auge blickte strenge. Er sah aus, wie ein Herr, der seinen Sclaven empfängt.

Wie eine Sclavin nahete sich ihm die Frau; zögernd, leise, die Arme wie zum Zeichen der Unterwürfigkeit unter der Brust gekreuzt. Etwa drei Schritte vor dem Manne blieb sie stehen. Ein Blick von ihm schien sie festgebannt zu haben.

Er stand unbeweglich. Den strengsten, den durchbohrendsten Blick, dessen dieses dunkle, durchbohrende Auge fähig war, hatte er auf die zitternde Frau gerichtet. Wie viel fragte dieser Blick? Wie viel wollte er erforschen, ergründen, erpressen? Sein Glück, seine Ehre!

Sein Glück? Seine Ehre? Der Verbrecher? Der Räuber? Der Mörder?

War er Verbrecher? War er Räuber und Mörder? Dieser stolze, dieser strenge Blick, dieser Blick der Ehre zeigte das nicht. Wenn aber auch Verbrecher und Mörder, wer will dem größten Verbrecher alles menschliche Gefühl, alle Menschenwürde absprechen? Der Mensch verdamme den Menschen nicht.

Die Frau ertrug den strengen, durchbohrenden Blick des Mannes. Auch sie richtete sich auf, mehr und mehr, je länger und fester er sie ansah. Ihr Auge begegnete klar dem seinigen.

Er war zufrieden. Er reichte ihr die Hand. Sie küßte sie. Dann küßte er sie auf die Stirn.

„Was macht die Sara?“ war sein erstes Wort.

Seine Tochter hieß so.

Die Frau antwortete ihm nicht. Schon während er sie küßte, hatten sich plötzlich ihre Augen mit Thränen gefüllt. Durch die Thränen blickte sie zu ihm auf.

„Wie seid Ihr so mager geworden, Herr,“ sagte sie.

„Laß das. Antworte mir. Wie geht es Euch?“

Seine Stimme wurde freundlicher. Er nahm die zitternde Hand der Frau.

„Wie es uns geht?“ erwiederte sie. „Wie es uns hat ergangen? Schlecht. Ihr könnt es Euch denken, Herr. Wir sind geworden arm, seit Ihr fort waret.“

„Arm? Arm?“

„Die Beamten –“

„Die Schufte, sie haben Dir genommen Alles?“

„Beinahe Alles. Wenn Ihr doch nur bald zurückkehren möchtet nach Hause.“

„Ich komme; ich komme.“

„Bald, Herr?“

„Was macht die Sara? Du hast mir nicht beantwortet meine Frage.“

Die Frau bedeckte ihr Gesicht, mehr nachdenklich, wie es schien, als weinend.

Er wurde dringender, ängstlicher. „Du antwortest mir nicht?“

„Lieber Herr Schlom, wie soll ich Euch sagen?“

„Gott sei barmherzig! Sprich. Was macht das Kind? Die Sara?“ Eine große Angst hatte sich seiner bemächtigt.

„Herr, die Sara –“

„Gott sei barmherzig! Sprich. Rede. Lebt sie?“

Die Frau schwieg.

„Lebt sie? Ist sie todt?“

„Sie ist es!“ sagte die Frau leise, indem sie den Mann umfing, um ihn zu halten.

Er schwankte, sie ließ ihn auf dem Stuhle nieder. Er drückte seine beiden Hände in das Gesicht. Die Thränen drangen zwischen den Fingern hindurch.

„Meine Sara! Todt! Meine Sara! Mein einziges Kind! Gestorben! Im Wahnsinn! Auf den Lippen den Fluch gegen – Wahnsinn! Fluch! – Und ein Bettler! Arm! Alles genommen. Ein armer Bettler, ohne Kind, ohne Alles, Alles haben sie mir genommen. Die Schurken! Aber die sollen – Fort, fort nach Hause.“ Er sprang auf. Sein Blick war Rache, Wuth. Der wüthende Blick fiel auf die still weinende Frau.

„Warum trägst Du den rothen Turban?“ fuhr er sie an. „Warum trauerst Du nicht? Willst Du höhnen meinem Schmerz mit den rothen Lappen?“

„Herr,“ antwortete die Frau demüthig, „durfte mein Anblick schon Euch bringen die Trauerbotschaft?“

Welch’ ein richtiges Gefühl verrieth diese Antwort. Darum auch, um den Schmerz um die Tochter zu mildern, hatte sie ihm zuerst den Verlust des Vermögens gemeldet. Und auch diese Frau war eine verworfene Verbrecherin, eine Mörderin und die Genossin eines Mörders?

Ihr Antwort besänftigte ihn. Er suchte sich zu sammeln.

„Wann ist sie gestorben?“ fragte er.

„Vorgestern. Gestern haben wir sie begraben. Darum konnt ich nicht früher zu Euch kommen.“

Er trat auf mich zu, gesammelt, entschieden. „Herr, ich nehme zurück meine Appellation. Ich muß nach Hause. Lassen Sie mir geben noch heute –“

Er stockte, mit einem Blicke auf seine Frau.

„Wann kann ich verlassen das Gefängniß?“ fragte er.

„Um fünf Uhr heute Abend.“

„Der Herr will mich lassen transportiren bis zur Grenze?“

„Durch die Gensd’armerie. Ich gebe Euch an das Landrathsamt ab.“

Er wandte sich an die Frau. „Hast Du mitgenommen Geld?“

Sie zögerte mit der Antwort, einen mißtrauischen Blick auf mich und die anderen Beamten werfend.

Er machte ihr ein Zeichen, das uns unverständlich war. Sie antwortete mit einem ähnlichen Zeichen.

Er trat wieder zu mir.

„Kann ich werden transportirt für meine Kosten?“

„Gewiß.“

„Auf einem Wagen?“

„Auch das.“

„Heute Abend um fünf?“

„Ich werde beim Landrathsamte dafür sorgen.“

„Bis zur Grenze?“

„Bis zur Grenze hinter Laugszargen.“

„Gehe jetzt,“ befahrl er seiner Frau. „Bestelle einen Wagen nach Laugszargen. Um fünf Uhr bin ich bei Dir im Kruge.“

Die Frau ging.

„Verlaß nicht den Krug,“ rief er ihr noch nach. „Ich komme dorthin. Gehe nicht zu dem Gefängnisse.“

Erst als er hörte, daß die Frau auch das Vorzimmer verlassen hatte, wandte er sich zu mir. „Lassen Sie mir jetzt geben die Hiebe,“ sagte er. „Aber gleich, wenn der Herr mir will thun einen großen Gefallen.“

Man hätte unter anderen Umständen vielleicht lachen können über die dringende Bitte um eine solche Gefälligkeit. Das Bestreben des Juden, die bevorstehende Züchtigung vor seiner Frau zu verbergen, gewann Achtung ab. Ich ließ ihn alsbald zu der Vollstreckung der Strafe abführen.

[261]
Skizzen aus Ungarn.
Von Herbertka.
I.
Der Csikós.

Wenn man den ungarischen Bauer über sein Vaterland befragt, antwortet er nicht selten: „Ach, Ungarn ist viel zu groß, das läßt sich nicht beschreiben!“ – Er kennt kein anderes Land über die Marken seiner Heimath, oft nicht über die seines Comitats hinaus – er will kein anderes kennen – und er hat so Unrecht nicht – denn Ungarn ist ein schöner, glücklicher, gesegneter Erdstrich, er ist in Wahrheit die Kornkammer Oesterreichs, und von einem Volke bewohnt, das, stolz auf seine kampfreiche Geschichte, kriegslustig und in ungeschwächter Jugendkraft, durch die Jahrhunderte braust. Es sind noch dieselben Centauren, Roß und Mann eins, welche unter dem gefürchteten Namen der Hunnen, gleich Wetterschlägen, ganz Deutschland durchdrangen; dieselbe südasiatische Glut wohnt noch im Magyaren von heute, den aber die Civilisation, die allerdings eines Zeitraums von siebenzig Decennien bedurfte, auch zum guten Bürger, zum arbeitsamen Landmann bildete.

Der Csikós.

Die Hirten Ungarns, diese ächten Natursöhne, diese Muster einer unverfälschten Race, sind der eigentliche Typus des ungarischen Volkes. Ein schöner, kräftiger Menschenschlag, scheinen sie gefeit gegen jede Krankheit; die Urkraft, die in ihnen wohnt, trotzt der sengenden Glut der Sonnenstrahlen, wie den eisigen Herbstnebeln der Pußta, – dafür schauen sie aber auch das erste Morgenroth, und ihnen leuchten Mond und Sterne wohl am Längsten. Einfach wie ihr Kleid, ist ihre Nahrung. Sie kennen kaum eine andere, als Speck und Brot, so wie eine Hose und ein Hemd von grober Leinwand, darüber die Bunda geworfen, ihre ganze Verhüllung ausmachen. Sie kennen nichts in der Welt als die ihnen anvertrauten Thiere, sie lieben nichts als ihre Pferde, Schafe, Schweine oder Rinder, mit denen sie sich schon als kleine Jungen beschäftigten. Was unsern Kindern ein Spielzeug oder ein Bilderbuch, das ist dem siebenjährigen Hirtenbuben ein junges Schaf oder Fohlen.

Die Hirten bilden gewissermaßen eine Zunft. Es giebt Schafhirten, Rindvieh-, Schweine- und Roßhirten, die sich in ihrer Lebensweise streng von einander scheiden, und gewisse Gebräuche und Rechte usurpirt haben, von denen sie keinen Zoll breit weichen.

Sieht man auf einer Hochzeit, wo es immer drüber und drunter geht, einen recht ausgelassenen Burschen, der wie toll den Dudelsack bearbeitet, oder auf einer Flöte bläst und dazu mit dem Bund-Schuhe taktirt und wild den Kopf wirft, dessen Haare in lange Zöpfe geflochten, so kann man wetten, dies sei ein Schafhirt, der am Morgen des Tages auf seinem Esel zur Schenke kam, und die Huth seiner Heerde einstweilen dem großen zottigen Freunde, seinem Hunde, vertraute, dessen Glieder so stark sind, daß er selbst ein Schrecken für Wölfe ist. Außerdem bleibt der Schafhirt Tag und Nacht unter seinen Schafen. Auf seine Handaxt gestützt, mustert er Stunden lang die wollige Zucht, oder lehnt an seinem Esel, und schnitzt zum Zeitvertreib Holzlöffel oder strickt Strümpfe. Dabei darf die Pfeife nie ausgehen, so wie der Napf mit saurer Milch nicht leer werden, die im Sommer seine einzige Nahrung ausmacht.

Wenn man bedenkt, daß Ungarn mehr als 17 Millionen [262] Schafe züchtet und daß auf 80 bis 100 Schafe ein Schäfer kommt, so mag wohl die Anekdote nicht übertrieben sein, daß Ungarns größter und reichster Grundbesitzer mehr Hirten habe, als jener Lord Schafe. –

Ungeselliger und unzugänglicher ist das Leben des Schweinehirten, der nie in einer Schenke zum Tanze aufspielt. Weniger in den Ebenen, als in undurchdringlichen Eichen- und Buchenwäldern, lebt er mit seiner grunzenden Schaar. Abgeschlossen von Städten und Dörfern, fern von jeder Kultur, ist der ungarische Schweinehirt der vollendete Sohn der Wildniß. Sümpfe und Moräste stehen bei ihm in gleichem Werthe mit Flüssen und Seen. Er lacht laut auf, wenn die Fischer an der Theiß ihren Strom den Nil Ungarns nennen, und verweist dagegen stolz auf den Hansag mit dem beweglichen Kahne als den König der Moräste. Statt des Dudelsacks handhabt er seine Balta (Handaxt) als Wurfgeschoß mit so furchtbarer Geschicklichkeit, daß er damit jedes beliebige Schwein aus ziemlicher Entfernung todt zu Boden streckt. Diese Handaxt ist sein stetes Spielzeug; er läßt es durch die Finger laufen wie einen Spazierstock, wirft es hoch in die Luft und fängt es im Gehen wieder auf, und so verleiht diese Waffe dem ganzen Manne ein solches Gefühl der Sicherheit, daß das Sprüchwort geht: der Kondas ist sicher vor Jedem, aber nicht Jeder vor ihm. – Und in der That ist er bei seinem rachsüchtigen Temperament ein gefürchteter Charakter, den man, mehr als zuträglich ist, mit der „Haideschenke“ verkehren sieht, und der nie recht begreifen kann, daß seines Herrn Schweine nicht auch die Seinigen sind. – –

Neben der Schweine- und Rindviehzucht spielt die Pferdezucht in Ungarn die bedeutendste Rolle.

Das Steppenpferd wird nicht so leicht von einem andern an Schnelligkeit wie an Wildheit übertroffen; gewiß aber erreicht kein Pferdeknecht der Welt den Csikós an Schlauheit, Ausdauer und Kühnheit.

Außer den kaiserlichen Gestüten, wo die ungarische Zucht durch englische Race veredelt wird, giebt es auch in den Pußten wilde Gestüte, welche das ganze Jahr hindurch unter freiem Himmel campiren. Nur bei außergewöhnlicher Kälte werden die Pferde in leicht gebaute Ställe getrieben, und es ist keine Seltenheit, daß die Stute auf dem Schnee fohlt.

Hier ist nun das Reich des Csikós, hier ist es, wo der verwegene Bursche, um ein Lobeswort seines Herrn zu erhaschen, oft sein Leben einsetzt, um diesen oder jenen Ausreißer wieder zur Heerde zurückzubringen, oder ein Roß einzufangen, welches verkauft werden soll.

Was der Araber in der Wüste, ist der Csikós in der Steppe. Er lebt, ißt, trinkt, schläft und stirbt auch manchmal auf seinem Pferde. Kein Pferd zu besitzen, ist ihm geradezu eine Schande, so daß er es vorzieht, das erste beste sich lieber anzueignen, als etwa zu Fuße zu gehen. Wie der Seemann die Landratte verachtet, so blickt der Csikós mit Geringschätzung auf den bescheidenen Fußgänger herab; und hört man einmal von einer Schlägerei zwischen einem Infanteristen und Husaren, so kann mit ziemlicher Gewißheit angenommen werden, daß dieser Husar ein ehemaliger Csikós gewesen.

Um bei seinem Geschäft völlig unbehindert zu sein, liebt er die zwangloseste Tracht. Außer einer blauen Weste trägt er nur Hemd und Gatye (weite Hosen), die er meist bis über’s Knie aufschlägt, wenn er läuft oder reitet. Die Csizmen (Stiefeln) sind oben so weit, daß sie zugleich als Taschen dienen, und nur auf seinem Hute erlaubt er sich einen kleinen Luxusartikel, in Gestalt eines weißen Busches. Es ist dies die Blüthe einer baumwollenartigen Staude, die aus den Steppen wächst, und das „Waisenmädchen“ genannt wird, weil sie immer allein steht. –

Wer jemals ein Steppenpferd in seiner ganzen Wildheit daherbrausen sah, und so leicht wieder fortjagen, daß es nur eine leise Spur im Sande zurückläßt, den befällt gewiß eine Art Schauder, wenn er nur daran denkt, sich einem solchen Thiere nähern, oder in den Weg stellen zu wollen.

Wohl aber sucht sich der Csikós den wildesten Hengst in der Heerde, wirft ihm, noch ehe das Thier sein Heranschleichen gewahrt, schon den Lasso über den Kopf und zieht diese Fangschnur, indem er sich dabei selbst zu Boden wirft, mit solcher Gewalt zusammen, daß das eben noch wüthende Pferd wie todt zur Erde stürzt. Wie ein Blitz eilt er nun herbei, stellt sich mit gespreizten Beinen über das zusammengebrochene Thier, und lockert vorsichtig den Lasso, der den Hals zuschnürte; das Roß fühlt sich frei, bäumt mit sammt dem Reiter in die Höhe und durchbricht im wüthendsten Carrière die auseinanderstiebende Heerde, und endet nicht eher diese Höllenjagd, bis es mit zitternden Knieen an einem Flüßchen oder Moraste steht, wohin es der schlaue Reiter dirigirte, der in der einen Hand seine Peitsche schwang und mit der andern die Mähnenhaare umschlungen hielt. Man behauptet, die Wildheit sei für immer von einem Pferde gewichen, das die eiserne Faust eines Csikós berührte.

So verleben diese waghalsigen Menschen ihre Tage in der Steppe, die hier, wie auf dem Schlachtfelde, stets Heldenthaten vollziehen. –

II.
Esterhaz und Forchtenstein.

Wie ein leuchtender Stern strahlt in der Geschichte Ungarns der Name „Maria Theresia!“

Nie wird der Ungar vergessen, wie die bedrängte Frau, den Feind im Rücken, sich nach Preßburg begab, und den Säugling Joseph auf dem Arme, in der Versammlung der Stände erschien und in lateinischer Sprache eine Rede hielt, in der sie, mit Thränen im Auge, ihre unglückliche Lage schilderte, und sich und ihren Sohn dem Schutze der Ungarn anvertraute. Ihre Jugend, ihre Schönheit nicht minder als ihr Mißgeschick rührten alle Anwesenden, und mit begeistertem Rufe erscholl’s: „Laßt uns sterben für Maria Theresia, unsern König!“

Auch in der Geschichte von Esterhaz ist der Name der erhabenen Frau verflochten, und mit Ehrfurcht betreten wir das Zimmer des Schlosses, wo die große Königin vor 164 Jahren übernachtete.

Sogenannte Ritterburgen giebt es in Ungarn nur noch sehr wenige. Die Mongolen und Türken, die in das Land gerade zu der Zeit einfielen, in welcher sich der Adel jene Schlösser zu bauen pflegte, deren Dauerbarkeit Jahrhunderten trotzte, scheinen Ungarn um seinen mittelalterlichen Schmuck gebracht zu haben, der in deutschen Landen noch durch unzählige der herrlichsten Ruinen zur Gegenwart redet.

Wenn auch Johannes Hunyad unsterblich als Osmanensieger glänzte, und sein ruhmwürdiger Sohn, Mathias Corvinus, als König ein wahrer Vater und Beschützer seines Volkes war, so verfiel doch bald unter schwächeren Nachfolgern Ungarn wieder der Anarchie durch innere Zerfleischungswuth und jene wilden Eindringlinge und ward ein Herd des Vandalismus. Endlich schaffte Eugen’s denkwürdiger Sieg bei Zentha über die Türken (1697) dem Lande die ersehnte Ruhe, nachdem das Haus Oesterreich zehn Jahre früher, auf dem Landtage zu Preßburg, das unglückselige Wahlrecht der ungarischen Stände aufgehoben hatte.

Eine der wenigen Ruinen, die aus jener eisernen Zeit stammen, liegt im neograder Comitate und zeigt noch Spuren von ihrer einstigen Größe und Gewaltigkeit. Sie heißt Fülekvár. Sie ward gegründet, indem ein Hirt den höchsten Punkt eines Berges erreichte, wo sein Hund einen ungeheuern Schatz fand, mit welchem der Hirt die Burg daselbst aufbaute und so ein mächtiger Ritter wurde. Der Hund hieß Fülaß (d. h. Einer der Ohren hat), und deshalb wurde die Burg Fülekvár genannt.

Ein anderes Bergschloß aus späterer Zeit und in demselben Comitate beißt Dévény, und liegt eine halbe Stunde von dem großen Marktflecken Miethna, ungarisch Samosfalck. Dort hauste ein reicher, wilder Dynast (hoher Edelmann), Georg von Balassa, der sein Schwert in dem Aufstande des Grafen Mathé von Trentstein gegen den Ungarn-König Robert zog, gefangen wurde und auf seine Burg Dévény, unter Aufsicht eines Obersten, gebracht wurde, der ihm immer knapp zur Seite blieb. Doch endlich wurde dies Bewachen Georg von Dévény zu viel, und er erschoß mit einer Pistole den Obersten beim Mittagsmahle, über den Tisch hin. So ward er frei – und hier schweigt die Geschichte.

Doch zu Esterhaz und Forchtenstein.

An der Grenze eines zwanzig Meilen langen Morastes, des Hansag, liegt Esterhaz, eines der schönsten Schlösser des Fürsten Paul Esterhazy, des Aeltesten dieser berühmten Familie.

[263] Um einen Begriff von dem Reichthume dieses Magnaten zu bekommen, muß man wissen, daß die Güter dieses Edelmannes den Flächeninhalt des Königreichs Sachsen übertreffen, gegen vierzig Städte, fünfunddreißig Schlösser und 130 Dörfer umfassen, und daß sein Gesammtvermögen auf 150 Millionen geschätzt wird. Und deshalb durfte es auch nur ein Esterhazy wagen, ein Schloß in solch’ einförmige Gegend, wie die am Neusiedlersee, zu bauen und so zu beweisen, wie durch Reichthum und menschliches Raffinement einer so öden Landschaft noch gewisse Reize abgewonnen werden können.

Esterhaz stammt aus dem Ende des 17. Jahrhunderts und steht seit länger als funfzig Jahren unbewohnt. In seinen Dimensionen riesenhaft (denn es zählt 356 Fremdenzimmer, außer den Tanz- und Concertsälen, den fürstlichen Gemächern, den Officianten- und Trabantenwohnungen), erscheint es dennoch beim ersten Anblick kleiner, was wohl das Ueberladene der Ornamentik und der tausend und aber tausend Schnörkel verursacht, welche die Architektur der damaligen Zeit bedingte, besonders da es im italienischen Styl aufgeführt ist. – Aber das Innere übertrifft diese Außenseite noch bei Weitem. – Wohin der Fuß tritt, berührt er geschliffenen Marmor oder Parkets von den kostbarsten Hölzern fremder Welttheile. Die Wände und Decken der Vorhallen sind bedeckt mit Gold und Malerei; gewirkte Seiden- und Ledertapeten der endlosen Zimmerreihen wechseln in mannigfaltigsten Variationen, venetianische Spiegel und Glasverzierungen werfen ihre brillantesten Lichter und Reflexe auf diese Prachtschöpfungen, die uns noch so frisch und glänzend entgegen strahlen, daß man meinen sollte, erst gestern habe der alte musikliebende Fürst, der Mäcen Joseph Haydn’s, seinen Feenpalast verlassen.

Den schroffsten Gegensatz zu dieser architektonischen Ueppigkeit bietet deren Umgebung – der Park des Schlosses, der wohl meist im schönsten Zopf-Styl angelegt sein mag, jetzt aber wie ein Bild versunkener Herrlichkeit vor uns liegt. Die Wege sind mit Gras und Unkraut überwachsen, die Bäume und Taxushecken haben ihre ursprüngliche Form verloren, und sind, nach damaligen Begriffen, sehr ausgeartet, d. h. ihrem Naturzustande näher gekommen – die kleinen niedlichen Amoretten liegen, von den Piedestalen gestürzt, mit Moos überwachsen, am Boden; die verschiedenen Schleichwege zu den Pavillons sind völlig undurchdringlich vor Gestrüpp und Binsen, und die kleinen, sonst so einladenden Lusthäuser, die ebenfalls bemalt und vergoldet waren, stehen, von Feuchtigkeit überzogen, in gräulicher Schwärze da und der Wind klappert mit den lockern Jalousie-Läden, durch die kein liebeglühendes Auge mehr lauscht.

Wenn auch unscheinbarer, doch für den Archäologen von viel bedeutenderem Interesse, ist das Schloß Forchtenstein, in der Nähe von Eisenstadt und gerade auf der österreichischen Grenze gelegen. Auf einem steilen Felsen erhebt es sich weit über das Land, und schaut mit seinem unförmlichen Wachtthurme, stolz ob seines ehrwürdigen Alters, nach Esterhaz hinüber. Forchtenstein erbaute ebenfalls ein Esterhazy im Anfange des 16. Jahrhunderts. Hier deutet Alles aus Kampf und Vertheidigung – keine Gärten, keine Pavillons, nicht Gold noch Marmor, nur starke Bastionen und Rittersale mit Waffensammlungen.

Die innern Räumlichkeiten sind eben so eng als unbehaglich, wie es nur in einem befestigten Schlosse des Mittelalters sein konnte. Der Baustyl ist gemischt, halb gothisch, halb byzantinisch, fast den Waffen entsprechend, womit die Burg theils gerüstet, theils verziert ist. Alle Lanzen, Speere und Schwerter sind leichter und in der Form graziöser als die unserer Ritter, die Brustharnische sind immer aus beweglichen Schienen zusammengesetzt, um sich darin nach allen Seiten hin bewegen zu können; die Helme sind leicht und oft schuppenartig, so wie man noch Schilde aus der ältesten Zeit von Korbgeflecht sieht. Türkische Waffen aller Gattungen prangen hier als Siegestrophäen, zwischen denen die alten ungarischen Fahnen hängen, die ein Kreuz mit dem Heilande als Banner führen.

Diese Veste, vielleicht das einzige Denkmal des mittelalterlichen Ungarns, dient jetzt als Gefängniß für die aufsässigen Bauern des Fürsten.




Schiller’s Frau.
Ein Gedenkblatt zur fünfzigjährigen Todtenfeier Schiller’s.
(Schluß.)
II.
Frau und Wittwe.

Das Eheleben des nun verbundenen Paares ist nach Innen leicht und kurz dahin zu beschreiben, daß es vollkommen dasjenige erfüllte und darstellte, was wir vorher in den Bedürfnissen Beider als Motive ihrer Verbindung, als Bedingung ihrer Liebe zu fixiren suchten. – Schiller sah sich immer inniger, immer tiefer geliebt, verstanden, bewundert; sah Charlotten’s schöne Natur sich immer reifer und bedeutungsvoller entfalten; fühlte das innigste Behagen in so treuer, ruhig aber unermüdlich waltender Pflege und in der elastischen Humanität, womit Charlotte dem einen Theil seines Wesens entgegenkam, das er selbst dahin beschreibt: „Meine Gefühle sind durch mein Nervenleiden reizbarer und für alle Schiefheiten, Härten, Unfeinheiten und Geschmacklosigkeiten empfindlicher geworden.“

Charlotte wurde sich immermehr bewußt, sowohl der hohen Segnungen, die sie durch Schiller empfing, als derjenigen, die sie ihm gab; oft litt und duldete sie freilich auch in dem innern und äußern Kultus ihrer Aufgabe, das aber machte sie dann auch wieder froh und stolz, und stählte ihren Charakter.

Sie lebten angenehm und wenn auch beschränkt, so doch ohne drückende Sorgen in Jena; die Familien Paulus und Griesbach waren ihr nächster und liebster Umgang. Charlotte lernte noch besser Clavier spielen, weil Schiller bei seinen Arbeiten gern eine sanfte Musik im Nebenzimmer hörte. Vor den Studenten fürchtete sich die junge Frau anfangs, doch überwand sie dies bald, begleitete ihren Mann in das Auditorium und bereitete ihm nebenan Thee, den sie ihm dann und wann zutrug. – Dann gingen sie miteinander nach Hause.

Bald sollten sie einer schweren Prüfung entgegen gehen: Schiller wurde lebensgefährlich und lange krank und er behauptete später, daß nur Charlotten’s ausdauernder Muth bei ruhigster und sicherster Ueberschauung ihn gerettet habe. In diese Rettung kam das großartige Geschenk aus Dänemark, das den Dichter auf drei Jahre hin reichlich versorgte und ihm Muth und Kraft für Wallenstein gab.

Indessen waren doch bedeutende Reste aus der Krankheit zurückgeblieben und störten den Dichter sehr häufig. Da berief er sein Auditorium in sein Haus und wenn er hier docirte, saß Charlotte neben ihm, aufmerksam auf seine Gesundheit wie auf seine Worte. Er fühlte sich dann sehr glücklich. –

Im Sommer 1793 wohnte das Paar in Heilbronn und Ludwigslust. Am 14. September kam Charlotte mit dem ersten Kinde, das Karl getauft wurde, nieder, sehr schmerzlich und lebensgefährlich. – Sie sprach stets gern von solchen Zuständen in ihren Briefen an Stein und Fischenich, aber in so einfach rührender Weise, mit so innigster Mutter-Seligkeit, daß man sie darum lieben konnte. –

Etwas Mutterhaftes, das sie stets gehabt hatte, bildete sich überhaupt immer mehr in ihr aus; so nannte sie den lieben Freund Fischenich, der nur zwei Jahre jünger als sie war, stets nur „lieber Sohn“ – Im Jahre 1794 begann Schiller’s schönes Verhältniß mit Goethe; Charlotte freute sich dessen unendlich und spricht ebenso maßvoll als treffend und charakteristisch darüber und über Goethe selbst; – Gleichzeitig verheirathete sich die von Beulwitz geschiedene Caroline mit dem Vetter Wilhelm von Wolzogen und als derselbe in Weimar angestellt wurde, freute sich ebenso Charlotte wie Schiller, die Geliebten in solcher Nähe zu haben. – Neue Krankheit Schiller’s forderte bald wieder die ganze Kraft Charlotten’s heraus, doch mußte sie auch Rücksicht auf ihre bevorstehende zweite Niederkunft nehmen. Sie theilte nun ihre Zeit [264] verständig ein und während sie schlief, spielten die Hausjungfern mit Schiller am Bette – Karte.

Am 11. Juli 1796 gebar sie ihren zweiten Sohn, Ernst. Schiller schreibt bei dieser Gelegenheit recht naiv: „Meine Frau wollte das Kind selbst stillen, aber es kommt nichts mehr.“ – Am 11. October 1799 schenkte sie ihrem Gatten die erste Tochter Caroline. Ein furchtbares Nervenfieber ergriff sie danach und wochenlang schwebte sie in Todesgefahr, in völliger Geistesverwirrung. – Der treue und tüchtige Hausarzt Starke und Schiller’s treue Pflege selbst gaben sie dem Leben und der Gesundheit wieder. Mit Anfang 1800 begann ein neues und schöneres Leben in Weimar. Wer kennt hier nicht das liebe, freundliche Schillerhaus! Der Dichter hatte die Sonnenseite und Charlotte befestigte selbst an den Fenstern die carmoisinrothen Vorhänge, die auf Schiller’s productive Stimmung einen wohlthuenden Einfluß ausübten. Das war schon etwas Krankhaftes in Schiller, was sich immer mehr steigerte. Charlotte mußte ihm immer eifriger die Schnupftabaksdose füllen, kalte Fußbäder anrichten und in den Schubladen seines Arbeitstisches faule Aepfel legen, deren Ausdünstung auf seine Nerven anspannend wirkte, die aber Goethe fast zu einer Ohnmacht brachten, als derselbe einst Schiller besuchte und bei dessen Abwesenheit ihn an seinem Schreibtisch erwarten wollte. – Die gute Frau mochte bei solchen Umständen wohl Mancherlei zu dulden haben. –

Im Juli 1804 erwartete sie ihre vierte Niederkunft und wollte dieselbe in Jena, bei dem treuen Starke, vollbringen. Schiller begleitete sie dorthin und bei einer leichten Erkältung schlug sein Nervenleiden in ein furchtbares Fieber über, während Charlotte höchst gefährlich ihre zweite Tochter, Emilie, gebar. Beide schwebten zu gleicher Zeit in höchster Todesnoth. Charlotte genaß bald, aber Schiller erholte sich nur scheinbar und bald schon sahen die Freunde seinem Tode entgegen. Dieser erfolgte am 9. Mai des Jahres 1805, Nachmittags 6 Uhr. Charlotte und Caroline saßen an seinem Bette. Leise erhob er das Haupt, um die Geliebten noch einmal anzuschauen, Charlotte noch einmal zu küssen; dann fuhr es wie ein elektrischer Schlag hell über seine Züge, sein Haupt sank zurück und wie schlafend, mit heitrem Antlitz, lag der große Todte da. Charlotte konnte nur sagen: „Er hat mir noch die Hand gedrückt!“ – Das war die letzte Seligkeit, die sie in ihrem Bunde mit Schiller genoß. –

Die schönsten Blüthen desselben hat Charlotte in folgenden Worten (an Fischenich, vom 3. Juli 1805) niedergelegt, und gewiß mit vollstem Rechte: „Es hat Niemand, kann ich behaupten, dieses edle hohe Wesen so verstanden wie ich, denn keine Nuance entging mir. Ich wußte mir seinen Charakter, die Triebfedern seines Handelns zu erklären, zurechtzulegen wie Niemand. – Die Jahre verbanden uns immer fester, da ich durch das Leben mit ihm seine Ansichten auf meinem eigenen Wege gewann und ihn verstand wie keiner seiner Freunde. Ich war ihm so nothwendig zu seiner Existenz, wie er mir. Er freute sich, wenn ich mit ihm zufrieden war, wenn ich ihn verstand. Dieses geistige Mitwirken, Fortschreiten war ein Band, das uns immer fester verband. – – Ich habe die Beruhigung, daß ich gewiß Alles für ihn that, um ihn vor unangenehmen Eindrücken im Leben zu bewahren, daß er vielleicht ohne mich nicht so lange für die Welt gewirkt hätte. – Ach Sie kannten ihn nur halb, denn in dem letzten Theile seines Lebens, wo seine Seele frei auch unter dem drückenden Gefühle der Krankheit sich erhob, wo er immer milder, immer lieber wurde, sein Herz an dem unschuldigen Leben seiner Kinder sich erfreute, war er ganz anders noch, als da Sie mit uns lebten. Diese Liebe, diese Freude an den lieben Geschöpfen, diese Heiterkeit, wenn er zu uns kam, würde Ihrem Herzen wohlgethan haben. Das lange Leben mit ihm hatte auch mein Gefühl auf eine glückliche Höhe gestellt; bei ihm, mit ihm war ich über das Leben hinweg.“

Diese Worte sind wohl das herrlichste Vermächtniß, das Charlotte uns hinterlassen hat und die ewige Dankbarkeit der deutschen Nation für diese einfache, seltene Frau herausfordert. – – Es giebt Schmerzen, so tief, so keusch und heilig, daß man sie nicht berühren, nicht darstellen darf. Und solchen Schmerz empfand jetzt Charlotte. Ihr war’s, als wenn sie in die ewige Nacht verstoßen wäre und nur der Gedanke an ihre Kinder, das strenge Pflichtgefühl der Mutter, rettete sie vor Verzweiflung. –

Verfolgt man Charlotten’s Entwicklung in ihrem Eheleben aus ihren Briefen, namentlich an die Freunde Fischenich und von Stein, so wird uns ihr ganzes Wesen immer lieber und verehrungswerther. Wir lernen die treue, tüchtige Gattin und Hausfrau, die zärtliche, durchaus praktische und verständige Mutter ebenso schätzen, wie die stets strebende Seele und klare, denkende Kraft. Es ist rührend, mit welcher Glückseligkeit, es ist bedeutsam, mit welch’ scharfer Beobachtung sie von dem Wesen, der Richtung und Entwickelung ihrer Kinder spricht. Zu Anfang wünscht sie sich lieber nur Knaben, weil sie von dem eigentlichen Wesen des Weibes so ideale Begriffe habe, daß es sie schmerzen würde, ihre Töchter nicht danach erziehen zu können. Als aber nun die Töchter kommen, ist sie auch glücklich und weiß klug auf praktischem Wege ihrem Ideale nachzustreben. –

Nach und nach wird Charlotte corpulent; sie scherzt darüber und meint, ihre Bekannten lachten sie aus, es erscheint ihr aber als Gewinn, weil sie nun die Welt gemüthlicher ansieht, ohne phlegmatisch zu werden. –

Vor Allem strebte sie nach Klarheit und deshalb war es ihr stets so innig wohl in Goethe’s Gesellschaft. Höchster innerer Lebensgenuß ist ihr: nach Veredelung der geistigen Kräfte zu streben. – Sie schließt sich immer mehr ab gegen neue Bekanntschaften und Freunde; sie will lieber die alten desto fester im Andenken halten um so desto näher in der Vergangenheit leben. In Berlin findet sie die Natur wie die näheren menschlichen Verhältnisse trostlos. Sie selbst bestimmt Schiller, die dort ihm gemachten glänzenden Anerbietungen nicht anzunehmen; allerdings auch, um den Hof in Weimar nicht zu betrüben.

Nach dem Tode Schiller’s wurde Charlotte von allen Seiten, von nah und fern, mit der innigsten und thätigsten Theilnahme beschenkt. Der Hof, Dalberg, Cotta sicherten ihr reichliches Auskommen, sodaß sie auch ihren Kindern die beste Erziehung geben konnte. Im Sommer des Sterbejahres sandte Starke sie nach Brückenau in’s Bad. Die Mädchen blieben währenddem bei Griesbach’s, die Söhne nahm sie mit sich; sie konnte nicht ohne dieselben leben, sie liebt sie jetzt doppelt. Ein schönes Wort aus dieser Zeit bekundet, wie der Schmerz sie veredelte; sie schreibt an Fischenich: „Ich bin jetzt über nichts mehr böse.“ Ihre neu gewonnene Gesundheit benutzt sie zur Ueberwindung ihres Schmerzes, denn sie meint: „Ein Mensch, der sich nicht überwinden kann, ist ein trauriges Mitglied und die Menschen fliehen ihn.“ So übt sie nun Kräfte aus, die sie – wie sie meint – nicht in sich gesucht hat. Aber sie fühlt sich auch isolirt, wenn sie sich nicht an Geistiges hält; so hört sie denn bei Gall Schädellehre, bei Goethe Naturwissenschaft, bei denen es ihr ist, als ob sie die Welt sich gestalten sähe. Sie läßt sich von den Söhnen und deren Hauslehrern vorlesen, weil ihre Augen angegriffen sind, widmet sich aber vor Allem der Ausbildung ihrer Kinder. Martens, Ukert, Gabler und Abeken sind im Laufe einiger Jahre deren Hauslehrer. –

Während der Schlacht bei Jena wohnte sie in den Gemächern der Herzogin. –

Wir überspringen nun viele Jahre ihres ruhig fortgehenden Wittwenlebens. Die Söhne waren währenddem schon in die Welt getreten und angestellt; die eine Tochter hatte sich als Erzieherin ausgebildet und kam als solche später an den Hof nach Stuttgart; die andere vermählte sich dem Herrn von Gleichen.

Im Jahr 1821 besuchte sie ihren Sohn Ernst in Köln und beobachtete auf dieser Reise und während ihres Aufenthaltes in Köln und Aachen fein und scharf die Lebens- und Menschenverhältnisse nach verschiedenartigen Seiten hin, wie dies aus ihren Briefen an Fischenich hervorgeht.

Nach Weimar zurückgekehrt, besuchte sie in Rudolstadt ihre alte Mutter und sie hatte sich vorgenommen, später längere Zeit bei ihr zu verweilen, als dieselbe 1823, über achtzig Jahre alt, starb. Nun zog es sie um so mächtiger wieder nach dem Rhein, wo in Köln ihr Ernst, in Bonn ihr Karl glücklich verheirathet waren. Und in Bonn ließ sie sich für den Rest ihres Lebens nieder. Eine gefährliche Augenoperation bestand sie muthig und mit guten Aussichten auf Erfolg. Da aber traf sie plötzlich, im Juli 1826, ein Nervenschlag; ohne Bewußtsein, aber unter heitern Phantasieen, starb sie in den Armen ihrer Kinder. – Sie hatte früher an Schiller’s Seite begraben sein wollen. Als ein neuer Kirchhof in Weimar angelegt wurde, wollte sie hier einen Begräbnißplatz für Schiller und sich kaufen, den aber der zeitige Bürgermeister, [265] Schwabe, ihr unentgeltlich anbot. Nun wurde sie an den Ufern des Rheins begraben. –

In ihrem Nachlasse fand man ein Gedicht vom 20. Februar 1809, „Die wechselnden Gefährten,“ der Feier ihres Hochzeitstages geltend. Es hat mehr persönliches als dichterisches Interesse, wie denn auch ihre in den Horen von 1799 abgedruckten Gedichte: „Die Capelle im Walde“ und „Eine Nonne“ mehr Formensinn als dichterische Kraft verrathen. –

Der Herausgabe von Schiller’s Briefwechsel mit Goethe war sie eigentlich entgegen; sie betheiligte sich nicht daran und überließ es ihrer Schwester Caroline, die deswegen mit Cotta und Goethe in Briefwechsel trat. –

Wir könnten jetzt noch viele schöne Geistesblüthen aus ihren Briefen auf ihr Grab streuen, doch einen schöneren Grabesschmuck kann sie nicht haben als die Worte:

Charlotte von Schiller
war eine edle, tugendhafte Gattin und Mutter, eine rechtschaffene Freundin; – der treue Erdenengel von Deutschlands edelstem Dichter!




Der Blüthenstaub.

Wie vieles Andere in der Natur, woran man im gewöhnlichen Leben gleichgültig vorüber zu gehen pflegt, ist auch der Blüthenstaub ein höchst interessanter und beachtenswerther Gegenstand, indem von seinem Dasein die Existenz des Menschen zum großen Theil abhängt. Eben deshalb dürfte eine nähere Beschreibung desselben und seiner Bestimmung in diesen Blättern an ihrem Platze sein. Ich darf wohl als bekannt voraussetzen, daß man mit dem Namen Blüthenstaub jene feine, verschiedenartig gefärbte, staubartige Masse bezeichnet, die sich im Innern der hohlen, beutelförmigen Organe befindet, welche in keiner vollständigen Blume fehlen und daselbst meist auf zarten Stielen befestigt sind. Man nennt jene hohlen Organe in der Wissenschaft Staubbeutel oder Antheren, den Stiel den Staubbeutelträger oder Staubfaden und den ganzen Apparat ein Staubgefäß. Wenn Sie sich das Bild einer Lilie oder Tulpe vergegenwärtigen wollen, so werden Ihnen sogleich die sechs großen, langgestielten Staubgefäße, welche um den im Centrum der Blume befindlichen Stempel herumstehen, in die Augen fallen, und bei diesen Blumen haben Sie gewiß auch schon den Blumenstaub bemerkt, da derselbe in außerordentlich großer Menge in den Staubbeuteln enthalten ist und nach deren Aufspringen die Außenfläche derselben als dicke Staublage, bei der weißen Lilie von gelber, bei der Feuerlilie von rothbrauner, bei der Tulpe von graugrüner Farbe überzieht. Aber selbst der kleinsten und unansehnlichsten Blume dürfen die Staubgefäße nicht fehlen, wenn sie ihre Bestimmung, eine Frucht hervorzubringen, erfüllen soll.

Der Blüthenstaub wird durch die Lebensthätigkeit der Staubbeutel in deren Innern erzeugt. Nachdem er seine vollständige Ausbildung erlangt hat, öffnen sich die Staubbeutel, indem sich entweder Spalten oder Löcher an bestimmten Stellen ihrer Wandung bilden. Durch diese Oeffnungen entweicht nun der fertige Blüthenstaub; nicht selten wird er durch das plötzlich erfolgende Aufspringen und elastische Zurückschnellen der Staubbeutelwandung mit solcher Gewalt ausgestreut, daß die ganze Oberfläche der Blume mit demselben bedeckt erscheint. Das Aufspringen der Staubbeutel erfolgt gewöhnlich zu derselben Zeit, wo sich die Blumenknospe zu öffnen beginnt und deshalb findet man in den meisten vollständig aufgeblühten Blumen entleerte Staubbeutel. Seltner springen die Staubbeutel erst nach dem Aufblühen der Blume, noch seltner schon in der Knospe auf. Letzteres ist z. B. bei den blauen Glockenblumen (Campanula der Fall. Nach dem Entleeren des Blüthenstaubes hat der Staubbeutel und überhaupt das Staubgefäß seine Bestimmung erfüllt; es verwelkt und geht zu Grunde. Der Blüthenstaub beginnt nun aber erst die ihm obliegende Verrichtung auszuführen, welche keine andere ist, als die im Innern des sogenannten Fruchtknotens, d. h. des untern verdickten Theiles des im Mittelpunkte der Blume befindlichen Stempels oder Pistilles, enthaltenen Anfänge der zukünftigen Samenkörner, oder die Eier zu befruchten. Ueber diesen höchst merkwürdigen Vorgang werde ich vielleich ein anderes Mal meinen Lesern das Nähere mittheilen, heute wollen wir uns blos mit dem Blüthenstaube selbst beschäftigen.

Der Blüthenstaub, in der Sprache der Wissenschaft Pollen genannt, erscheint dem bloßen Auge, wie schon sein Name verräth, als eine feine staubartige Masse. Betrachtet man ihn aber unter dem Mikroskop, so gewahrt man, daß derselbe aus lauter einzelnen Körnern besteht, welche man in der Wissenschaft Pollenkörner oder Pollenzellen nennt. Ein jedes solches Körnchen ist nämlich weiter nichts als eine einzelne isolirte Pflanzenzelle. Bei der Mehrzahl der Pflanzen haben diese Pollenkörner eine kugeliche oder länglich-runde Gestalt, seltner sind sie linsenförmig zusammengedrückt. Es kommen aber auch höchst merkwürdige Formen vor, und manche der Leser und Leserinnen dieser Blätter würden gewiß in hohem Grade erstaunen, wenn sie den Staub gewisser, zum Theil sehr unscheinbarer Blumen bei ein- bis dreihundertfacher Vergrößerung erblickten. Die Pollenkörner mancher Pflanzen bieten rein geometrische Gestalten dar, indem sie vierseitig (tetraëdrisch), würfelförmig, zwölfeckig (dodekaëdrisch), prismatisch u. s. w. sind. Die Pollenkörner der Tanne sehen aus, wie zwei durch ein Band mit einander verbundene Kugeln, diejenigen des rauchhaarigen Weidenröschens (Epilobium hirsutum) sind dreieckig-kugelig und mit langen Fäden besetzt, diejenigen des im Meer wachsenden Seegrases, dessen man sich zum Ausstopfen und Polstern bedient, haben eine schlauch- oder fadenförmige Gestalt. Der beigedruckte Holzschnitt enthält die in stark vergrößertem Maßstabe entworfenen Abbildungen sowohl gewöhnlicher als einiger der auffallendsten Formen von Pollenkörnern. Fig. 1 sind Pollenkörner eines Leinkrautes (Linaria); Fig. 2 Pollenkörner der Dattelpalme; Fig. 3 ist ein Pollenkorn der Weißtanne; Fig. 4 ein solches der gemeinen Saudistel; Fig. 5 eines von der Passionsblume; Fig. 6 ein im Keimen begriffenes (s. unten) Pollenkorn von Epilobium hirsutum. Die Pollenkörner Fig. 4 und 5 haben ein ungemein zierliches Aussehen. Dies kommt von ihrer äußeren Haut her. Mit Ausnahme der Pollenkörner der unter dem Wasser blühenden Wassergewächse besteht nämlich die Wandung eines jeden Pollenkornes aus zwei in einander geschachtelten Häuten. Die innere Haut ist farblos, durchsichtig und überall gleichmäßig ausgebildet, die äußere Haut dagegen ist sehr häufig gefärbt, und bei sehr vielen Pflanzen an ihrer Außenfläche mit höchst verschiedenartig gestalteten Auswüchsen, als Haaren, Stacheln, Leisten, Warzen u. dergl. m., alle natürlich von mikroskopischer Kleinheit besetzt, welche ganz regelmäßig angeordnet sind. Die vorragenden Leisten pflegen fast immer zu solchen zierlichen netzförmigen Maschen, wie [266] in Fig. 5 verbunden zu sein. Auch die langen Fäden a in Fig. 6 sind Auswüchse oder Anhängsel der äußern Pollenhaut. Doch ist diese äußere Haut bei sehr vielen Pollenkörnern auch ganz glatt und durchsichtig. Sind im letzteren Falle die Pollenkörner gefärbt, so rührt die Farbe von dem Inhalt derselben her, der im Allgemeinen aus einem dickflüssigen Schleime besteht, in welchem kleine Oeltröpfchen und feste Körperchen verschiedener Art, als Stärkemehlkügelchen, Eiweißklümpchen u. s. w. schwimmen.

Die äußere Pollenhaut ist in der Regel mit Oeffnungen versehen, welche bald als rundliche Löcher, bald als längliche Spalten, bald als helle bandartige Streifen, die rings um das Pollenkorn herumlaufen, erscheinen, und daher das seltsame Aussehen der Pollenkörner oft noch bedeutend erhöhen. Diese Oeffnungen befinden sich stets an bestimmten Stellen des Umfangs der Pollenkörner. Bei Fig. 2 sind sie als drei in gleichen Abständen von einander befindliche Längsspalten, bei Fig. 5 als drei kreisförmige Spalten ausgebildet. Bei Fig. 4 erscheinen sie als runde Löcher in den breiten Netzleisten der äußern Haut, bei Fig. 6 als eben solche Löcher an den drei Ecken des Pollenkornes, welche durch zapfenartige Vorsprünge der innern Pollenhaut gebildet werden (b ist hier die innere, c die dieser locker anliegende äußere Pollenhaut, d sind die Löcher der letzteren, durch welche bei e die innere Pollenhaut blasenförmig bei f schlauchförmig hervorgetreten ist, a sind die fadenförmigen Anhängsel der äußern Pollenhaut). Diese Oeffnungen in der äußeren Pollenhaut haben eine wichtige Bestimmung. Wenn nämlich ein reifes Pollenkorn in eine zuckerhaltige Flüssigkeit gelangt (oft genügt schon bloßes Wasser), so beginnt die innere Pollenhaut aufzuquellen und sich auszudehnen, und, weil sie in dem engen von der äußeren Haut fest umschlossenen Raume nicht Platz hat, durch die Oeffnungen in der letzteren schlauchförmig hervorzutreten. Man nennt diesen seltsamen Vorgang die Keimung der Pollenkörner. Dieselbe erfolgt in der Natur regelmäßig auf der sogenannten Narbe des Stempels, indem diese immer mit einer klebrigen zuckerhaltigen Feuchtigkeit überzogen ist. Hier dringen die Pollenschläuche, was man die Auswüchse der innern Pollenhaut nennt, in das Zellgewebe des Stempels ein und gelangen, indem sie sich immer mehr verlängern, endlich bis in die Höhlung des Fruchtknotens und bis zu den Eiern, ja bis in deren Inneres. Durch den Pollenschlauch wird auch die im Innern des Pollenkorns befindliche Flüssigkeit, welche man jedenfalls als den eigentlichen befruchtenden Stoff ansehen muß, bis in’s Innere des Eies geleitet und auf diese Weise durch den Pollenschlauch die Befruchtung vermittelt.

Meine Leser werden nunmehr die hohe Wichtigkeit des Blüthenstaubes begreifen. Ihm allein verdankt der Mensch die saftigen und schmackhaften Baum- und Gartenfrüchte, welche einen so wesentlichen Theil seiner Nahrung, ja in manchen Gegenden der Erde, wie auf den Südseeinseln, deren Bewohner fast ausschließlich vom Genusse der Cocosnüsse, der Vendamen- und Brotfrucht leben, seine wichtigste Nahrung bilden, denn eine uralte Erfahrung hat gelehrt, daß unbefruchtet gebliebene Fruchtknoten sich niemals in eine Frucht verwandeln, sondern abfallen. Der Mangel eßbarer Früchte wäre jedoch noch zu ertragen. Eine viel größere Wichtigkeit des Blüthenstaubes ergiebt sich aus der eigentlichen Bestimmung desselben, das pflanzliche Ei zu befruchten, d. h. es fähig zu machen, sich in einen keimfähigen Saamen zu verwandeln. Da blos ein solcher eine neue Pflanze hervorzubringen vermag, die Mehrzahl der Gewächse sich aber durch Saamen vermehrt, so würde, wenn der Blüthenstaub nicht vorhanden, die Vegetation, mit ihr die wichtigste Bedingung des Thier- und Menschenlebens sehr bald zu Grunde gehen. Aus der Bestimmung des Blüthenstaubes ergeben sich aber auch noch einige wichtige Winke für das praktische Leben. Vor allen Dingen darf man, will man Früchte erzielen, die Pflanzen nicht der Staubgefäße berauben. Als im vorigen Jahrhunderte einmal in einigen Gebirgsgegenden der Oberlausitz zur Zeit der Roggenblüthe seltsamer Weise plötzlich Frost und starker Schneefall eingetreten war, da hatten alle Bauern, in der Meinung, ihr Korn würde verderben, wenn es vom Schnee bedeckt bliebe, ihr Leute auf das Feld geschickt, um mittelst Harken und Stangen die schneebedeckten Aehren abzuschütteln. Was war die Folge davon? Daß diese Unvorsichtigen fast kein Körnchen ernteten, indem sie mit dem Schnee die Staubbeutel, welche bei dem Roggen, wie bei allen Gräsern, an feinen, haarförmigen Staubfäden höchst locker hängen, abgeschüttelt hatten, während die weniger Furchtsamen, welche ihre Kornfelder unangetastet gelassen hatten, eine sehr reichliche Ernte hielten.

Aber nicht allein durch äußere Gewalt, sondern auch in Folge eines natürlichen Umbildungsprozesses können die Blumen ihrer Staubgefäße beraubt werden. Das ist die sogenannte Blumenfüllung, welche in der Umwandlung der Staubgefäße in Blumenblätter besteht, und bei manchen Pflanzen leicht durch wiederholtes Versetzen aus einem magern Boden in einen fetten bewirkt werden kann. Alle vollen oder gefüllten Blumen, wie die vollen Rosen, Nelken, Levkoyen, Hyazinthen, Primeln, Ranunkeln, Anemonen u. a. m. sind, einen so schönen Anblick sie auch gewähren mögen, doch weiter nichts, als verstümmelte, verunstaltete Blumen, weil sich an der Stelle der Staubgefäße Blumenblätter befinden, die Blumen selbst daher ihre Bestimmung, eine Frucht hervorzubringen, nicht mehr erfüllen können. Es giebt aber auch viele Blüthen, welche naturgemäß keine Staubgefäße, sondern blos einen Stempel oder gar blos nackte, d. h. von keinem Fruchtknoten verhüllte Eier besitzen. Man nennt solche Blüthen weibliche, indem man die Eier, weil sie sich nach geschehener Befruchtung in keimfähige Saamen verwandeln, als die weiblichen Geschlechtsorgane der Pflanzen betrachtet, im Gegensatze zu den männlichen Blüthen, worunter man solche versteht, welche blos Staubgefäße und keine Stempel oder Eier enthalten. Blüthen, in denen beiderlei Geschlechtsorgane gleichzeitig vorhanden sind, nennt man Zwitterblüthen. Es giebt nun eine große Anzahl von Pflanzen mit eingeschlechtigen Blüthen und zwar nicht wenige, wo ein Individuum blos männliche, ein anderes blos weibliche Blüthen trägt. Dahin gehören unter andern die Pappeln, Weiden, viele ausländische Nadelhölzer und Palmen. Hier scheint eine Befruchtung der weiblichen Blüthen unmöglich zu sein, allein die Natur hat dafür Sorge getragen, daß dieselbe erfolgen könne, selbst dann, wenn die männlichen Pflanzen sich weit entfernt von den weiblichen befinden. Bei allen Pflanzen nämlich, deren Geschlechter auf zweierlei Individuen vertheilt sind, besitzen die männlichen Individuen eine ungeheure Menge von Blüthen und jede Blüthe erzeugt wieder eine sehr bedeutende Menge von Pollen. So enthält z. B. ein einziger männlicher Blüthenkolben der südamerikanischen Oelpalme gegen 200,000 Blüthen und jede solche Palme trägt wieder eine Unzahl von Kolben! Auch die Dattelpalme bringt eine ungeheure Menge männlicher Blüthen hervor, und ich habe während meines Aufenthaltes im südlichen Spanien oft beobachtet, daß zur Blüthenzeit der Dattelpalme der gelblich gefärbte Blüthenstaub, wenn der Wind die Krone einer solchen Palme schüttelte, in Form gelber Wolken entwich und weithin verstreut wurde. Der Wind ist bei allen jenen Gewächsen mit getrennten Geschlechtern (es sind meist Bäume und Sträucher) der Vermittler der Befruchtung, indem er den in großer Menge von den männlichen Blüthen erzeugten Pollen über weite Strecken durch die Luft führt. Einige Körnchen gelangen dann gewiß zu jeder Blüthe der weiblichen Individuen und mehr als einige Körnchen sind nicht nöthig, um eine solche Blüthe zu befruchten, da bei jenen Pflanzen die weiblichen Blüthen immer nur wenige Eier zu besitzen pflegen.

Wenn der Wind über ganze Wälder von Bäumen mit getrennten Geschlechtern zu deren Blüthezeit hinwegstreicht (z. B. über Nadelwälder, wobei jedoch zu beachten ist, daß bei unseren Nadelhölzern männliche und weibliche Blüthen auf einem und demselben Baum vorhanden sind), so können ungeheure Massen von Blüthenstaub in die Luft geführt werden. Regnet es dann in der Gegend, wo die Atmosphäre von Blüthenstaub erfüllt ist, so wird letzterer von den Regentropfen mit fortgerissen und fällt zu Boden. War sehr viel Blüthenstaub in der Luft, so wird die ganze Oberfläche des Bodens mit einem gelblichen Ueberzuge bedeckt werden, und es aussehen, als ob gelbe Flocken aus der Luft herabfielen. Ein solcher Blüthenstaubregen ist schon im Alterthum wiederholt beobachtet worden. Man hielt damals und noch im Mittelalter, ja auch später sogar die herabfallenden gelben Flocken für Schwefel und nannte deshalb jenes Phänomen Schwefelregen. Da die Pollenkörner so außerordentlich klein sind (ihr Durchmesser wechselt zwischen 1/20 und 1/500 pariser Linie), so liegt es auf der Hand, daß zu einem solchen Schwefelregen Tausend von Millionen Pollenkörner gehören. Zu den Pflanzen mit getrennten Geschlechtern, und zwar zu denjenigen, wo sich die männlichen und weiblichen Blüthen auf besonderen [267] Individuen befinden, gehören auch mehrere wichtige Kulturgewächse der wärmeren Gegenden unserer Erde, unter andern die Dattelpalme und der Johannisbrotbaum. Wo diese Gewächse in großem Maßstabe angepflanzt werden, wie z. B. im südlichen Spanien und Portugal, da muß man begreiflicherweise dafür Sorge tragen, daß in jeder Plantage ein paar männliche Bäume stehen, sonst wird man niemals Früchte von den weiblichen Bäumen ernten. Die Kultur der Dattelpalme ist uralt und schon zu Herodot’s Zeit war es bekannt, daß nicht alle Dattelpalmen Früchte trügen und daß die unfruchtbaren unter die fruchtbaren gepflanzt werden müßten, wenn letztere Früchte tragen sollten. Dasselbe sagen noch jetzt die valencianischen Bauern, die gewiß keine Ahnung vom Geschlechtsunterschiede der Pflanzen haben. Weniger bekannt scheint die Trennung der Geschlechter bei dem Johannisbrotbaume zu sein. Wenigstens habe ich in den genannten Ländern wiederholt klagen hören, daß manche Anpflanzungen von Johannisbrotbäumen keine Früchte trügen, und bei genauerer Nachforschung immer in Erfahrung gebracht, daß alte unfruchtbare Bäume, wahrscheinlich also die männlichen, als unnütz niedergeschlagen worden seien. Es ist dies ein Beweis, wie sehr selbst in den Landvolksschulen eine Belehrung über die wichtigsten Kapitel aus der Bildungsweise und dem Leben der Pflanzen Noth thut.

Prof. Willkomm. 




Jagd- und Lebensbilder aus Amerika.
Nr. 3. Der Rackun.

Wer kennt nicht die Schuppenpelze, welche Amerika wie Europa mit der besten und stattlichsten Winterbekleidung für hartes Frostwetter versehen? Auch das Thier, welches sie liefert, der Rackun oder Schuppenpelzbär (Procyon lotor) ist bekannt genug, weniger sind es aber seine Gewohnheiten, die nur der Jäger beobachtet.

Es giebt zwei Arten derselben, den gemeinen Rackun (Procyon lotor) und den Krabbenesser (Procyon cancrivorus), welche durch ganz Amerika verbreitet sind. Man findet sie in den heißen Niederlanden von Louisiana und den tropischen Theilen von Mexiko, wie in den Schneeregionen von Canada und in den grünen Thälern von Californien, und kennt sie überall so, wie man den Fuchs in Europa kennt. Jedes Kind und jedes alte Weib spricht von dem „schlauen ollen Kun.“ Die Naturforscher haben ihn in die Familie der Ursidae, genus Procyon gereiht, Linné macht ihn geradezu zum Bären und klassifizirt ihn als Ursus, mir scheint indessen, daß er weit eher zum Fuchsgeschlecht gehört. Die Spanier nennen ihn auch „Zorro negro“ (schwarzer Fuchs).

Ein Schriftsteller beschreibt ihn so: „Er hat die Pfoten des Bären, den Leib des Dachses, den Kopf des Fuchses, die Nase des Hundes, den Schweif der Katze und scharfe Klauen, mit denen er die Bäume wie ein Affe erklettert.“ Die Bezeichnung des Schweifes ist nicht richtig, dieser ist vielmehr buschig, was der der Katze nicht ist. Der Rackun hat die Größe des Fuchses, ist aber ungleich dicker und pelziger im Leibe und seine Pfoten sind kürzer und er rennt wie eine Katze. Die Schnauze ist spitz und dazu geschaffen, alle Winkel nach Spinnen und Gewürm durchzuspüren. Die Farbe seines obern Pelzes ist dunkelbraun und beinahe schwarz mit grau gemischt, unten wird sie heller. Um seine Augen läuft ein schwarzer Streif bis zur Kehle. Die größte Schönheit des Thieres bildet sein Schweif, der sechs schwarze und sechs gräulichweiße Ringe und eine schwarze Spitze hat. Wenn die Jäger sich aus dem Fell eine Mütze machen lassen, wird der Schweif wie eine Feder daran befestigt, und dieses bildet eine kleidsame Kopftracht, welche namentlich die jungen Jäger lieben.

Der Rackun ist sehr verliebter Natur, aber wunderbarer Weise ist das Weibchen größer und schöner als das Männchen; sein Pelzhaar ist voller und tiefer gefärbt, ganz entgegengesetzt als man es sonst in der Natur findet.

Der Rackun klettert vortrefflich und sucht sich in den Höhlen der großen Bäume eine sichere Wohnung. Dort bringt das Weibchen im Frühling, gewöhnlich im April, vier bis sechs Junge zur Welt. Er lebt nur in Wäldern und zwar immer in der Nähe vom Wasser, denn er hat die Gewohnheit der Otter, Alles, was er frißt, erst in’s Wasser zu tauchen. Daher heißt er der Wascher (lotor). Auch liebt er häufige Waschungen und ist sehr reinlich. Ferner ist er äußerst gefräßig, und verschlingt das wilde Geflügel ebenso begierig wie Frösche, Eidechsen, Larven und Insekten jeder Art. Besonders liebt er das Süße und ist daher dem Zuckerrohr und dem jungen Wälschkorn der Pflanzer besonders gefährlich. Nachts überfallen ganze Schaaren dieser Thiere die Felder und richten dort unermeßlichen Schaden an, und wird dafür natürlich so viel als möglich verfolgt. Er ist aber auch der Feind aller kleineren Thiere, tödtet Hasen, Kaninchen, Eichhörnchen und jeden Vogel, den er erwischen kann, sodann ist er sehr hinter Schellfische, Krabben und Austern her, die Schaalen der letzteren öffnet er mit seinen Klauen so geschickt, wie es nur ein Austernhändler kann. Selbst die jungen Schildkröten sind vor ihm nicht sicher und man sagt, daß er sie zu fischen weiß, indem er seinen Schweif in’s Wasser hält. Dies klingt indessen zu sehr nach Buffon, als daß man es glauben könnte, obwohl ich es von amerikanischen Jägern gehört habe.

Die Rackun-Jagd ist vorzüglich Sache der Neger, denn man überläßt sie diesen gern, weil dazu kein Feuergewehr nöthig ist, das die Neger nicht tragen dürfen, und die Zahl der Thiere dadurch bedeutend verringert wird. Die Neger rühmen auch das Fleisch des Rackun, das dem der Schweine ähnelt, aber nur von jungen Thieren gut ist, und der Erlös von dem Fell, für das sie 121/2 Cents bekommen, hilft den armen Teufeln wesentlich zur Verbesserung ihrer Lage. Der Rackun und das Opossum bilden das Wild für die Neger und es wäre traurig für diese, wenn sie ausgerottet würden, ehe die Sklaverei abgeschafft ist.

In Tennessee wohnte ich einer Rackun-Jagd bei, die mir ihrer Neuheit wegen viel Spaß gewährte. Sie geschah des Nachts und ich ging mit einem alten Neger, Onkel Abe, und einem Jagdhunde, Pompo, nach dem Wälschkornfelde, um dort die Kuns aufstöbern zu lassen. Onkel Abe galt für einen gewaltigen Nimrod in der ganzen Nachbarschaft und ich war daher sicher, eine gute Jagd zu haben. Er trug nur eine Axt, ich hatte dagegen eine Doppelbüchse. Als wir an das Kornfeld kamen, das eine halbe Meile breit war, ließen wir den Hund los, und dieser begann alsbald zu spüren und nicht lange darauf anzuschlagen. Wir gingen an den verschiedenen Seiten des eingefenzten Feldes entlang, plötzlich rief Abe: „ein Wurm!“ und gleich darauf sahe ich Pompo hinter einem dunkeln Gegenstande einherlaufen, das mit einem plötzlichen Satze auf den Zaun sprang und herüber kletterte. Dieser war so hoch, daß der Hund ihm nicht folgen konnte.

„Ein Wurm, Massa!“ rief mir Abe wiederum zu, und ich verstand wohl, daß dies einen Rackun bedeuten sollte. Er half dem Hund über den Zaun, kletterte selbst hinüber und ich folgte.

Nach etwa fünf Minuten hörten wir den Hund unaufhörlich bellen. „Dat Wurm uf’n Boom sein.“

Ja, das konnte ich mir wohl denken, aber auf welchem, das war die schwierige Frage, die sich jetzt erhob, und von welcher der Erfolg unserer Jagd abhing. War es ein hoher Baum, konnten wir dem Rackun nachpfeifen. – Pompo stand vor einem solchen, ein paar hundert Schritte von uns. Natürlich hatte der Rackun sich dahin gerettet, denn die niedrigen konnten ihm nichts nutzen, und wir hatten nun nur noch die eine Hoffnung, daß der Baum nicht hohl sein möge, und meine Büchse ihn erreichen könnte. Abe hatte aber darauf wenig Vertrauen.

„Er uf seinem eignen Boom sein, Massa, und der ein großes Loch haben. Dat dumme Fenz! Wenn dat nich da war, Pompo ihn nich zu seinem eignen Boom gelassen hätte.“

Daraus lernte ich, daß die Kunst des guten Rackun-Hundes darin bestand, ihn von seinem Baum abzuhalten und solchem zuzutreiben, auf dem er sich nicht leicht verbergen kann. Der Rackun läuft nur ein paar hundert Schritt gut und entfernt sich deshalb selten von seiner Höhle, holt ihn aber der Hund ein, so kann er ihn abtreiben. Erreicht der Rackun dagegen seinen Baum, so bleibt nichts übrig, als diesen zu fällen, und da dies mehr Arbeit macht, [268] als ein Dutzend Rackuns werth sind, so läßt man dies gewöhnlich bleiben.

„Wie ich Euch sagen, Massa, kuck dar! Der’s der Boom is dick wie’n Heuhaufen.“

Ich sahe nach der Richtung, welche er bezeichnete, und sahe Pompo an der Wurzel eines großen Baumes stehen, an dessen Wurzel er unaufhörlich anschlug und wedelte.

„Wat da sein, Pompo,“ rief jetzt plötzlich Abe aus, „du dummes Zeug machen – dat Wurm nich da sein. ’Kun nie nich auf einen Knoppboom klettern – dat besser wissen sollen, oller Narre!“

Dies richtete meine Aufmerksamkeit auf den Baum. Ich erkannte in ihm eine Sycamore (plantanus occidentalis) und erfuhr darauf von Abe, daß deren Rinde dem Rackun zu glatt sei und er die Eichbäume, Pappeln und Ulmen vorziehe.

„Potz Blitz, er doch da sein,“ rief Abe aus. Kuckt dar, Massa! Er auf dem alten Weinstock rufgeklettert sein! Hatt’st doch Recht, Pompo, und Nigger der olle Narre. Hi–uz, olle Hund, hi–uz!“ – Jetzt sahe ich, daß eine Schlingpflanze von der Lianen-Art, die sich um den Baum schlang und bis an dessen Spitze hinaufschlängelte, dem Rackun als Leiter gedient hatte.

Diese Entdeckung half uns indessen nichts. Der Rackun war fünfzig Fuß hoch in seiner Höhle, wo der Sturm einmal den Baum abgebrochen hatte und sich eine weite Höhlung zeigte. Ihn zu fällen, wäre Wahnsinn gewesen und wir verließen ihn daher, um eine neue Jagd zu beginnen. Pompo trieb auch alsbald einen zweiten Rackun aus dem Kornfelde, aber wieder sprang es über den Zaun und nach dem Walde. Wir folgten dem Anschlag des Hundes und sonderbar: wieder führte er uns nach der alten Sycamore. Wir zogen daher zum zweiten Male ohne Erfolg ab, und begannen das dritte Treiben. Wieder derselbe Verlauf auf dem Felde, und man kann sich denken, wie groß unser Erstaunen war, als uns Pompo abermals nach derselben Stelle führte.

„Wuh, Massa,“ rief jetzt Abe aus, „das nicht mit rechten Dingen zugehen. Das derselbe Wurm sein! Dat’s nich der ’Kun, dat’s der Deibel. O Gotte doch, Massa, uns von hier fortgehen lassen.“

Ich war aber nicht gesonnen, dies zu thun. Meine Geduld war zu Ende und ich wollte etwas Näheres über diese Erscheinung wissen. Instinktmäßig griff ich nach Abe’s Axt und schlug sie in den Baum. Es klang ganz hohl. Noch ein Schlag. Die Axt brach durch. „Hallo,“ rief ich aus, „da sitzt der Teufel. Der Baum ist hohl bis zum Grunde, und wir können ihn fällen. Er muß herunter und wenn wir bis zum Morgen daran hauen sollten.“

Als Abe sah, daß ich so entschlossen war, faßte auch er wieder Muth.

„Wenn der Boom so hohl sein, Massa,“ sagte er, „wir die Würmer ausräuchern können. Dat’s Gras genug hier, um den Deibel selber auszuschmoken. Sollen wir’s dhun, Massa?“

„Versteht sich!“ rief ich aus. „Rasch an’s Werk.“ Es währte nicht lange, so hatten wir ein Loch in den Baum gehauen, durch das wir Gras und Reisig stecken konnten und zündeten dieses an.

Der Rauch that bald seine Wirkung. Wir sahen ihn aus der Rackun-Höhle zuerst in dünnen Striemen, dann immer dicker und dicker herauskommen, hörten ein Rappeln und Quitschen in dem hohlen Baum und nach kurzer Frist kam ein Rackun zum Vorschein und wandte sich der Liane zu, um herabzuklettern, dann folgte ein zweites und drittes, bis es ihrer sechs waren.

Die Scene, welche nun folgte, war köstlich. Ich hatte meine Büchse ergriffen und schoß damit die beiden ersten Rackuns. Sie stürzten nieder. Pompo ergriff ein Drittes, als es, die Liane entlang laufend, entwischen wollte, während Abe dem Vierten mit der Axt den Kopf spaltete, als er es erreichen konnte. Die beiden Andern rannten zurück und versuchten wieder in die Höhle zu kriechen, mußten aber wieder heraus und hatten mir nur Zeit gegeben, wieder zu laden und sie herab zu schießen. Wir packten daher die ganze Familie auf und Abe erklärte, „dat wäre die größte ’Kunjagd, die er je erlebt habe.“

Da es mittler Weile schon ziemlich tief in der Nacht war, beeilten wir unsern Rückweg und trabten „nach Huse.“




Blätter und Blüthen.

Die koptischen Christen in Kairo. Nach H. Brugsch Reiseberichte aus Aegypten beträgt die gegenwärtige Zahl der dortigen Christen 150 bis 180.000 Köpfe. Die Zahl derselben vermindert sich aber von Jahr zu Jahr durch ihren gezwungenen oder freiwilligen Uebertritt zum Islam. Ihre Gesichtsbildung hat starke Züge, welche unwillkürlich an die alten Aegypter auf den Monumenten erinnert. Ihre Augen sind groß und mehr länglich als rund, ihre Nase ist gerade, an der Spitze sanft eingebogen, ihre Lippen sind aufgeworfen und ihre Gesichtsfarbe ist heller als die der Araber. Ihre Tracht ist auch eine verschiedene von den Muslimen. Der Turban ist schwarz oder blau, ihr Ueberwurf gleichfalls schwarz, auch der Schleier der Frauen ist schwarz, während die Frauen der Muslimen einen weißen tragen. An Gesicht und Armen sind sie grau tättowirt, und das Kreuz bildet hier die Hauptfigur. Die Kopten sind furchtsam und feige, dabei hinterlistig und verschlagen. Sittenreinheit ist einer der seltensten Vorzüge ihres Charakters. Sie haben einen Patriarchen an ihrer Spitze, der förmlich in Kairo residirt. Ihr Jammer, gegenwärtig Kriegsdienste zu thun, ist groß, und sie flüchteten deshalb aus den Dörfern. Dafür wurden Mütter und Weiber von Muslimen mit glühenden Eisen gebrannt und durch Martern aller Art gezwungen, ihre Angehörigen zu verrathen. Neuerdings sollten sie vom Kriegsdienste befreit sein, dafür aber Frohndienste leisten. Der Patriarch hat dies aber entschieden zurückgewiesen.

Ein socialer Fortschritt in der Schweiz. Mit den Fortschritten im Wissen müssen nothwendig auch die Fortschritte im Handeln Hand in Hand gehen, das Wissen muß sich aus seinem Traumleben in die konkrete Wirklichkeit umsetzen, um hier seine reichen Früchte zu tragen. Dies geschieht nur durch die Kraft des guten Willens, der zwar unsere Schweizerberge noch nicht hat versetzen können, dem wir aber andere Vortheile verdanken, die einen erfreulichen Beweis dafür abgeben, daß der Sinn für Häuslichkeit und Wohlstand in unserem Volke immer tiefere Wurzeln schlägt und jene gesunde Anschauung durch alle Schichten der Bevölkerung sich immer weiter ausbreitet, daß nicht durch kommunistische Systeme, durch Aufhetzung der Armen gegen die Reichen das materielle Glück der Menschen dauerhaft begründet werden könne, sondern einzig und allein durch Arbeit und Sparsamkeit. Die Vortheile, von denen wir reden, sind in handgreif­lichen Münzen niedergelegt in unsern Sparkassen. Der Stand des schweizerischen Sparkassenwesens nach dem Rechnungsabschluß vom 31. De­cember 1852 dürfte von allgemeinerem Interesse sein. Mit einer Einwohnerzahl von 2,312,000 zählt die Schweiz 167 Sparkassen. (Einzig der Kanton Wallis mit einer Bevölkerung von 80,000 Seelen besaß damals noch keine solche; seit dem 1. Juli 1854 besteht jedoch auch eine Sparkasse in der wallischen Gemeinde Champéri.) Bei derselben betheiligten sich 181,172 Einleger mit einer Summe von 60,368,172 Francs. Die Reserve­fonds betrugen 2,744,270, Franks. Vergleichen wir den Stand des Spar­kassenwesens von 1852 mit demjenigen von 1835, so zeigt sich ein sehr erheblicher Fortschritt. 1852 kam auf 13 Einwohner ein Sparkasseneinleger, 1835 einer auf 33 Einwohner. Damals betrug im Durchschnitt die Ein­lage 8 Franks auf einen Einwohner; 1852 hat sich diese Ziffer auf 26 Franks gehoben. Auf einen Einleger kamen 1835 durchschnittlich 288 Franks; Ende 1852 aber 333 Franks. – Die bis jetzt bekannten Ergebnisse des Jahres 1853 zeigen sämmmtlich einen weitern Aufschwung der Anstalten.

Der Vergleich der Schweiz mit den übrigen Ländern Europa’s läßt obige Resultate in noch weit günstigerem Licht erscheinen. Während in der Schweiz auf 13 Einwohner ein Sparer kommt, kommt in Sachsen auf 16, in England auf 22, in Hannover auf 37, in Oldenburg auf 40, in Oesterreich auf 40, in Preußen auf 45, in Frankreich auf 63, in Belgien auf 173 Einwohner ein Sparer.

Die Thalfürsten des heutigen Lasistan, im eigentlichen Lasen­lande, sind eine Art unserer ehemaligen Gaugrafen, die wiederum einen Fürsten über sich anerkennen. Solcher Thalfürsten existiren gegenwärtig funfzehn, von denen zwölf an der Küste ihren Sitz haben, die andern drei aber die Straße von Bathum nach Artwin unsicher machen. Sie leben zum größern Theile unter einander in immerwährender Urfehde, so daß Verwüstungen ganzer Dörfer und Felder gewöhnliche Erscheinungen sind. Luxus und Ueppigkeit sind in ihrem Häuslichen an der Tagesordnung, und ziehen sie nicht auf Raub und Plünderung aus, so sind Schmaußereien ihre schönste Erholung. Hier sitzen sie mit ihren Zechbrüdern mit unter­geschlagenen Beinen um eine auf einem Teppiche stehende Schüssel, und fingern die Speise, da der Orientale die Gabel noch nicht als Bedürfniß kennt, heraus; gut ist es, daß dieselbe mehr fest als flüssig genossen wird. Waschen geschieht blos aus Gewohnheit und weil es der Koran vor­schreibt, man würde sich aber schier entsetzen, nach aufgehobener Tafel und geschehener Waschung noch die von Fettigkeiten und Schmutz triefenden Hände in Unzahl anekeln zu müssen. Die Kuptschinen, ihre Gefäße für Wein, stehen in unmittelbarer Nähe. Ganz also die glückliche goldene Zeit unserer Ritter des Mittelalters.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.