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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[493]

No. 42. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Kopf und Herz.
(Fortsetzung.)
III.

Franziska war auf die hohe Freitreppe vor dem Hause getreten und beobachtete durch das offene Thor die Straße, die sich in gerader Linie bis zu dem Walde hinzog. Sie hoffte, daß Walther ihr folgen würde, und dies hätte vielleicht viel zur Milderung ihrer Aufregung beigetragen. Aber kein Reiter ließ sich erblicken, und die Eifersucht mit allen ihren Schrecken erwachte in der Brust Franziska’s. Sie mußte sich eingestehen, daß Marianne wirklich ein reizendes Wesen sei, völlig geeignet die Neigung eines jungen Mannes dergestalt zu wecken, daß er darüber gewisse andere Rücksichten vergaß.

„Er will mit mir brechen,“ dachte sie, „und dazu hat er die Gelegenheit benützt, die an und für sich nur der Gegenstand einer oberflächlichen Disputation zu sein verdiente, wie sie schon hundertmal unter uns stattgefunden hat. O, ich errathe, was ihn dazu antreibt! Müßte ich nicht mit Blindheit geschlagen sein, wenn ich die Lobpreisungen Marianne’s nicht richtig deuten sollte? Sie ist schön und die muthmaßliche Erbin des Obersten – mir bleibt nichts als eine kleine Rente, die kaum hinreicht, die Kosten der Toilette einer Dame vom Stande zu bestreiten. Wie unwürdig ist Walther’s Benehmen! Ich verlasse das Schloß nicht eher, bis ich den Obersten gesprochen und die Einleitung zu meiner Rache getroffen habe. Ich vernichte meine Feindin durch alle nur ersinnlichen Mittel, dann mag sie Walther in der Bauerhütte aufsuchen. Ich kenne den empfindlichsten Fleck meines Onkels – noch heute will ich ihn treffen. Und falle ich, so soll jenes Geschöpf mit mir fallen, das einen so unheilvollen Einfluß auf mein Leben ausübt.“

Franziska ward durch einen schwarzen Punkt, der sich am Walde auf dem weißen Streifen der Straße zeigte, in ihrem Nachsinnen unterbrochen. Mit ungetheilter Aufmerksamkeit beobachtete sie die Entwickelung des Punktes, denn es mußte entweder Walther oder der zurückkehrende Oberst sein. Beide Fälle waren für sie von großer Wichtigkeit.

In diesem Augenblicke trat der Kammerdiener heran.

„Ihr Zimmer ist bereit, gnädiges Fräulein!“ meldete der Greis.

„Gut, mein Freund; ich werde dessen wohl nicht bedürfen,“ antwortete Franziska, ohne ihre Blicke von der Straße abzuwenden.

Gottfried schwieg einige Augenblicke, indem er verwundert die stolze Dame betrachtete. Dann wagte er die Frage: „Sie wollen uns doch nicht schon wieder verlassen, gnädiges Fräulein?“

„Was kommt dort auf der Straße?“ fragte sie.

Der Greis legte die flache Hand über die Augen und sah nach der bezeichneten Richtung.

„Das ist ein Wagen!“ murmelte er.

„Sollte der Oberst zurückkommen?“

„Unmöglich – es ist noch nicht Mittag, und das Revier liegt weit. Aber ich wüßte doch nicht, wer uns sonst noch besuchen sollte – –“

Es verflossen wiederum einige Minuten. Die beiden Personen setzten ihre Beobachtungen fort.

„Ich erkenne deutlich einen Wagen,“ sagte Franziska, die lieber einen Reiter gesehen hätte.

„Und ich erkenne,“ sagte der Kammerdiener, „daß es das Gespann meines Herrn ist. Mein Gott, wie der Kutscher jagt, als ob der Wagen in Trümmern zerfliegen sollte.“

Keuchend flog jetzt der Lieblingsjagdhund des Obersten durch das Thor. Das schöne schlanke Thier schnob mit schaumtriefendem Maule die Treppe hinauf, sprang an dem Kammerdiener empor, heulte einen Augenblick in dumpfen Tönen und flog sausend wieder zum Hofthore hinaus, dem Wagen entgegen, der sich nun deutlich erkennen ließ.

„Mein Gott, was ist denn das?“ murmelte der erstaunte Greis. „So habe ich das Thier nie gesehen. Und warum kommt der Wagen so früh zurück? Wenn nur kein Unglück geschehen ist,“ fügte er leiser hinzu, denn er erinnerte sich unwillkürlich des verhängnißvollen Tages, an dem durch seines Herrn Versehen Marianne’s Vater das Leben verlor.

Während der Greis vor banger Erwartung bebte, klopfte Franziska’s Herz ängstlich dem Augenblick des ersten Wiedersehns entgegen. Sie fühlte, daß sie sich eine schwere Aufgabe gestellt hatte. Von der Unterredung mit dem Obersten hing ihre ganze Zukunft ab. Sie kannte zwar den biedern Charakter des Onkels, aber auch seine strenge Unparteilichkeit. Nach der Unterredung mit Marianne, wozu sie sich in ihrer leidenschaftlichen Aufregung hatte hinreißen lassen, durfte sie nicht feig zurücktreten, ohne der Lächerlichkeit anheim zu fallen. Ihr blieb nichts, als durch kecke Verläumdung die Feindin zu stürzen.

Der Wagen war indeß so nahe gekommen, daß man das Rollen desselben vernehmen konnte.

„Großer Gott, Was ist das, was ist das?“ rief der greise Kammerdiener, indem er in großer Bestürzung die Treppe hinabeilte. „Es sitzt ja nur eine Person in dem Wagen!“

[494] Franziska starrte nach dem Thore, unter dessen hoher Wölbung das Gerassel des Wagens jetzt laut ertönte. Gottfried, von einigen Knechten umringt, stand in dem Hofe.

„Schickt nach einem Arzte!“ rief der Kutscher, in dessen Gesicht sich Angst und Schrecken malte.

In dem offenen Jagdwagen saß Eberhard von Detmar. An seiner Brust lag das mit einem blutigen Tuche umwundene Haupt des Obersten, das er vorsichtig mit beiden Armen umschlungen hielt. An der Spitze der Dienerschaft flog Marianne herbei. Mit einem lauten Schreckensschrei gewahrte sie die Gruppe im Wagen. Eberhard winkte, daß man sich ruhig verhalten möge, dann ließ er sanft den regungslosen Freund in die Arme der Diener gleiten, die ihn vorsichtig in den Saal trugen und auf die Polster des Sopha’s legten. Marianne sank laut schluchzend zu Boden und bedeckte die herabhängende Hand ihres Wohlthäters und Vaters mit Thränen und Küssen. Der Kammerdiener eilte mit Wasser herbei und durchnäßte das Tuch, das den durch eine volle Ladung zerschossenen Kopf einhüllte.

„Wie ist das zugegangen?“ fragte er schluchzend, als Eberhard mit dem Gerichts-Actuar des Schlosses eintrat.

„Bei dem hastigen Aussteigen aus dem Wagen hat sich sein eigenes Gewehr entladen.“ „Ich bitte, gnädiger Herr, bestätigen Sie diese Angabe!“ sagte der Actuar.

Der Verwundete machte eine zustimmende Bewegung mit der Hand.

„Ertheilen Sie mir Ihre Befehle!“ fuhr der Actuar fort, der sich an einen Tisch gesetzt hatte und zu schreiben begann.

Unterstützt von Marianne’s Armen hob sich der Oberst mit krampfhafter Anstrengung empor. Ein dumpfes Röcheln vereitelte sein Bemühen zu reden – wimmernd sank er zurück. Noch einen Augenblick und der wackere Mann hatte aufgehört zu leben. Der Körper lag mit der Schwere des Todes in dem kostbaren Polster, was von dem aus der Kopfwunde hervorquellenden Blute geröthet ward.

„Mein Freund, mein armer Freund!“ rief Eberhard. „Er ist todt!“ fügte er erschüttert hinzu.

Ein lauter Schreckensschrei durchtönte den von der Dienerschaft angefüllten Saal. Dann hörte man nichts als das stille Weinen der Knechte und Mägde, die am Boden knieten und für das Seelenheil ihres geliebten Herrn ein Gebet zum Himmel sandten.

Marianne war in Ohnmacht gesunken. Als sie unter des alten Kammerdieners Beistande wieder zu sich kam, warf sie sich laut schluchzend über die geliebte Leiche. Man mußte sie gewaltsam entfernen und auf ihr Zimmer führen.

Franziska, die ein solches Ereigniß für unmöglich gehalten hatte, stand nachdenkend in einer Fenstervertiefung. Sie wußte nicht, welchem der aufkeimenden Gefühle sie sich hingeben sollte. Der erste Schreck hatte sie mit Bestürzung erfüllt, dann aber, als sie ihre Feindin unter allgemeiner Theilnahme aus dem Saale führen sah, erwachte die Furcht, daß ein vorhandenes Testament Mariannen zur Universalerbin erklärte. Auf diese Weise wäre sie besiegt, ohne daß ein Kampf stattgefunden hätte. Dieser Gedanke erregte in ihr eine Bitterkeit, daß sie sich theilnahmlos abwandte. Sie fühlte ein heftiges Brennen in dem Gesichte und ein Sausen vor den Ohren. Ihre Niederlage schien ihr so gewiß zu sein, daß sie sich entschloß, ohne Aufsehen den Rückweg anzutreten. Hier verließ sie die siegreiche Marianne und dort begegnete sie dem treulosen Walther, der sich nun ohne Zwang, wie sie wähnte, der reichen Erbin nähern würde. Die stolze Dame fühlte sich völlig niedergeschmettert.

„Wie aber,“ fragte sie sich plötzlich, „wenn kein Testament vorhanden wäre? Der Oberst hat sicher an ein so rasches Ende nicht gedacht. Dann bin ich, die einzige Adersheim, die Erbin, denn jene ist ein völlig fremdes Mädchen und hat keine Ansprüche. Dann bin ich hier Herrin, und Alles liegt zu meinen Füßen. Ich kann mich nicht entfernen, ohne über diesen Punkt Gewißheit zu erhalten.“

Von einer qualvollen Unruhe gefoltert, blieb sie in dem Saale. Der Arzt erschien, den der Wagen geholt hatte. Er untersuchte den Obersten, und constatirte seinen Tod. Der Schuß hatte das Gehirn verletzt. Man bedeckte nun die Leiche mit einem großen weißen Tuche und alle verließen den Saal, der geschlossen ward. Still gingen die Domestiken und Knechte ihren Beschäftigungen nach. Auf der sonst so lebendigen Besitzung herrschte eine tiefe Trauer. Während Eberhard von Detmar Marianne zu trösten suchte, folgte Franziska dem Actuar in die Gerichtsstube, die sich in einem Seitengebäude des Schlosses befand. Der unter Acten ergraute Rechtsmann empfing die Dame mit einem devoten Lächeln. Er kannte die Tochter des Bruders seines verstorbenen Gerichtsherrn und wußte um alle in der Familie obwaltenden Verhältnisse.

„Mein Herr,“ begann sie mit schwankender Stimme, „Sie werden es sicher nicht als Theilnahmlosigkeit an dem erschütternden Ereignisse deuten, wenn ich mir jetzt schon von dem Stande der Dinge in meiner Familie Kenntniß zu verschaffen suche. Sie kennen ohne Zweifel den unglückseligen Zwiespalt – –“

„Ganz recht, gnädiges Fräulein, ich kenne ihn!“ unterbrach sie der dienstwillige Actuar. „Nach meiner unmaßgeblichen Meinung erfüllen Sie selbst eine Pflicht. Sie sind nicht nur die nächste, sondern auch einzige Verwandte des Verstorbenen. Ihnen steht das Recht zu, Auskunft zu fordern.“

„Ist ein Testament vorhanden?“ fragte Franziska mit vor Angst erstickter Stimme.

„Nein!“

„Mein Herr! Mein Herr!“ stammelte sie, und ein freudiger Schreck durchbebte ihren ganzen Körper.

„Hier ist kein Testament gemacht und deponirt. Daß der Herr Oberst an einem andern Orte über sein Vermögen verfügt haben sollte, bezweifle ich, denn in allen Rechts- und Familiensachen war ich sein Rathgeber und Beistand. Ich glaube, Sie als die Erbin von Adersheim begrüßen zu können. Erlauben Sie, daß der alte Gerichtshalter der erste ist, der seiner neuen Herrin huldigend die Hand küßt.“

Und er zog die zarte Hand Franziska’s an seine weißen, schmalen Lippen.

Das war ein jäher Uebergang von der schmerzlichsten Demüthigung zur stolzesten Freude. Sie hätte den Mann in die Arme schließen mögen, dessen Ausspruch alle ihre Feinde vernichtete.

„Lieber Herr,“ sagte sie, „ich ersuche Sie, mir nicht nur Rathgeber und Rechtsbeistand, sondern auch ein Freund zu sein. Die Herrin von Adersheim wird Ihnen diesen ersten Dienst zu lohnen wissen, zählen Sie darauf. Doch verschweigen Sie so lange unsere heutige Unterredung, bis über die volle Rechtsmäßigkeit meiner Erbschaft kein Zweifel mehr obwaltet. Hier ist meine Adresse. Senden Sie mir über alle Vorgänge Nachricht. Am Begräbnißtage sehen Sie mich wieder.“

„Ich beeile mich, dem Obergerichte Anzeige zu machen. In wenig Wochen werden Sie Einzug halten können.“

Franziska besuchte noch einmal die Leiche des Onkels, das sie jetzt Anstandes wegen für nöthig hielt, dann verließ sie das Schloß, ohne von Eberhard von Detmar und Marianne Abschied zu nehmen. Sie brachte die erste Nachricht von dem plötzlichen Tode des Obersten nach der Residenz. Denselben Abend sah man sie schwarz gekleidet in einer Loge des Opernhauses. Es war nicht zu läugnen, daß ihr die tiefe Trauer reizend stand. Die zarte Farbe ihres Gesichts ward durch den eleganten schwarzen Florhut, zum schneeigen Weiß gehoben. Durch die Spitzen schimmerten die runden Schultern wie matter Alabaster. Aber Franziska trauerte nur durch die Kleidung, ihr Herz hätte vor Wonne und Siegesjubel zerspringen mögen. Sie hatte Mühe, ihren Zustand zu verbergen. Dies wäre ihr fast zur Unmöglichkeit geworden, als sie Walther von Linden in einer Loge der ihrigen gegenüber erblickte, wie er mit seinem glänzenden Lorgnon forschend zu ihr herüber sah. Es schien, als ob er sich von der Identität der trauernden Dame mit ihrer Person überzeugen wollte. In einem der Zwischenacte verließ er plötzlich seinen Platz.

„Er hat mich erkannt, er kommt!“ dachte sie mit einer unbeschreiblichen Wonne. „An ihm werde ich mein erstes Strafgericht üben.“

Sie hatte sich nicht getäuscht. Nach einigen Minuten öffnete die Schließerin die Thür der Loge und Walther trat ein. Sie dankte durch ein kaltes, stolzes Kopfnicken auf seinen Gruß.

„Mein Gott, Franziska,“ fragte er eifrig, „Sie sind in tiefer Trauer – was ist geschehen?“

„Treibt Sie die Theilnahme oder die Neugierde?“ fragte sie mit einer reizenden Impertinenz.

[495] „Wie können Sie glauben!“

„Nach der Scene von diesem Morgen bleibt mir nichts anders übrig. Ihre Condolation darf ich nicht annehmen, weil ich durch eine Gratulation danken müßte.“

„Sie sprechen in Räthseln, Franziska!“

„Für Sie? Für Sie?“

„Ich schwöre Ihnen, daß ich bestürzt bin –“

„So erholen Sie sich, Herr von Linden: Der Oberst von Adersheim ist diesen Morgen durch einen unvorsichtigen Schuß auf der Jagd um’s Leben gekommen – gehen Sie hin und beglückwünschen Sie seine Universalerbin, deren Reize nun wohl völlig makellos sein werden.“

„Der Oberst todt?“ rief Walther erstaunt.

„Verlassen Sie sich darauf, ich habe seine Leiche gesehen.“

„Und Sie sind so gleichgültig?“

„Ich bin mehr zu beklagen als der Verstorbene. Wenn Sie die Erbin von Adersheim heirathen wollen, müssen Sie sich an eine andere wenden.“

„Franziska,“ sagte Walther lächelnd, „Ihr Zorn steht Ihnen in der Trauerkleidung so reizend, daß es Ihnen wahrlich nicht an Anbetern fehlen wird, auch wenn Sie bei dem Tode des Onkels leer ausgegangen sind. Um Ihre Trauer durch Kränkung nicht zu erhöhen, entferne ich mich!“

Walther verneigte sich und verschwand aus der Loge.

„Das dachte ich mir!“ murmelte er. „Der Oberst war zu erbittert – Marianne ist Erbin, Franziska’s Zorn ist ein sicherer Beweis.“

„Ich sehe ihn dennoch zu meinen Füßen!“ dachte Franziska, indem sie sich in den Sitz zurückwarf, und theilnahmlos dem folgenden Acte der Oper zuhörte.


IV.

Der Begräbnißtag war gekommen. Auf dem Schlosse Adersheim war alles Schweigen und Trauer. In dem mit Blumen geschmückten Saale stand der Sarg auf schwarzer Bahre. Er war geöffnet, damit die Leute ihren geliebten Herrn noch einmal sehen konnten. Man hatte den todten Obersten mit der Armeeuniform bekleidet, und auf seiner Brust prangten die Bänder zweier Orden. Schärpe, Degen und Federhut lagen neben der Leiche auf einem Tische. Eberhard von Detmar hatte seinen Freund und Waffengenossen zur letzten Parade geschmückt. Domestiken, Knechte, Mägde und Landleute, alle schwarz gekleidet, standen in stillen Gruppen in dem Saale, und betrachteten mit feuchten Augen den verblichenen Herrn. Gottfried, der greise Kammerdiener, stand zu den Füßen der Leiche; er hatte seine Hände gefaltet, und weinte und betete still vor sich hin. Neben ihm stand der Gerichtshalter mit kaltem, ruhigem Gesichte. Der Saal bot einen rührenden Anblick dar. Nicht den ergreifenden, schrecklichen Tod, wie in den Hallen der Kirche; nicht den prunkenden, wie er durch die Straßen zieht – hier sah man den rührenden Tod, wie er sich in die friedlichen Räume des Hauses schleicht. Hier feierte das Herz ein Leichenbegängniß, und Thränen, die den Augen biederer, schlichter Leute entströmten, gaben den Beweis von der Aufrichtigkeit des Schmerzes.

In dem Fremdenzimmer befand sich Franziska; sie hatte das Fenster geöffnet und beobachtete den Schloßhof. Zwei Wagen fuhren durch das Thor ein. Wer beschreibt ihre Ueberraschung, als sie unter den Männern, die zum Begräbuiß des Obersten aus der Residenz gekommen waren, auch Walther von Linden erblickte. Das hatte sie nicht erwartet.

„Nicht die Achtung vor dem Todten, die Liebe zu Marianne führt ihn her!“ flüsterte sie, bebend vor Zorn und Eifersucht. „Er ist der einzige junge Mann unter den Leidtragenden, und es kann nicht fehlen, daß er auf die eitele Bäuerin einen günstigen Eindruck ausübt. Wie schlau er verfährt – gerade an diesem Tage unternimmt er seinen ersten Schritt, wenn er nicht ohne mein Wissen bereits ausgeführt ist. Er vermuthet nicht, daß die nach seiner Meinung leer ausgegangene Franziska auf Adersheim ist. Nur Geduld, Verräther, Du wirst den Irrthum bald einsehen, und den Verrath schmerzlich bereuen! Ich bin die Erbin!“ fügte sie mit dem Gefühle des Stolzes hinzu. „Alle, die mich jetzt kaum bemerken, werden in kurzer Zeit vor mir zittern!“

Sie schwor, eine furchtbare Rache zu üben.

Kaum waren die Männer aus der Stadt in den Saal getreten, als auch Marianne an der Hand des Predigers erschien. Das bleiche Aussehen und die verweinten Augen verriethen ihren tiefen Schmerz. Eberhard von Detmar und Philipp, der junge Landmann, folgte ihr. Marianne und Philipp traten heran, küßten noch einmal die starre Hand ihres Wohlthäters, und der Sarg ward geschlossen. Zwölf Landleute trugen die Bahre in den Hof, wo sich der Leichenzug ordnete.

Franziska zeigte sich an dem Fenster, das über der Freitreppe lag, auf der Marianne laut schluchzend stand. Von der nahen Dorfkirche herüber erklangen die Trauertöne der ländlichen Glocken, der Zug setzte sich in Bewegung. Als er jenseits des Thores in der Allee verschwand, die zu der bei der Kirche liegenden Familiengruft führte, brach die von Schmerz überwältigte Marianne zusammen. Franziska neigte sich aus dem Fenster – da sah sie, wie die Sinkende von Walther’s Armen empfangen und in das Haus zurückgetragen wurde. Sie erstarrte zur Bildsäule. Einige Minuten später verließ Walther den Hof, um sich dem langsam schreitenden Zuge anzuschließen.

„Diesen Dienst wird sie ihm danken, wenn sie kann!“ flüsterte die Lauscherin vor sich bin. „Der Edelmann vergißt seinen Stand, um sich die Gunst einer Bettlerin zu erwerben, weil sie plötzlich reich geworden zu sein scheint. Mich, die Dame von Rang, vernachlässigt er, beleidigt mich selbst, weil er annimmt, sie hat sich in ihren Erbschaftshoffnungen getäuscht. Eine größere Ironie konnte der Zufall nicht ausdrücken als in der Fügung aller dieser Verhältnisse. Und ich beherrsche sie alle! Ich, die Gemißhandelte!“

Eine halbe Stunde später deutete das Schweigen der Glocken an, daß die traurige Feierlichkeit auf dem Friedhofe vollendet sei. Die Leute kamen zurück, und zerstreuten sich still in die einzelnen Gebäude. Während Franziska mit dem ihr ergebenen Gerichtshalter ein eifriges Gespräch führte, trat Eberhard von Detmar in Marianne’s Zimmer. Sie erhob sich von dem Sessel, und reichte ihm still weinend beide Hände.

„O, ich begreife ganz Ihren Schmerz!“ rief der würdige Mann. „Ihnen ist ja der zärtlichste Vater gestorben.“ Sie warf sich an die Brust des Greisen.

„Und ich trage vielleicht die Schuld an seinem Tode!“ flüsterte sie.

„Sie, mein Kind? Unmöglich, ich war Zeuge des Unglücks. Nachdem wir vergebens einen Theil des Reviers durchsucht hatten, bestiegen wir den Wagen, um über ein Feld zu fahren. Da sahen wir ein Reh in den Busch fliehen. Mein Freund, ein eifriger Jäger, ließ halten, sprang aus dem Wagen, und in demselben Augenblicke entlud sich das Gewehr, das er gegen allen Gebrauch aufrecht in der Hand trug. Dies ist der einfache Hergang, den ich durch einen Eid bekräftigt habe. Wie kann Sie irgend ein Vorwurf treffen?“

„Sie kennen vielleicht die traurige Veranlassung nicht, die mich in das Haus meines Wohlthäters geführt.“

„Der gute Oberst hat mir Alles erzählt.“

„Dann müssen Sie auch wissen, daß er stets mit einer gewissen Furcht auf die Jagd ging. Ich kannte seine leidenschaftliche Vorliebe für diese Beschäftigung, und mit Schmerz sah ich, daß er ihr aus Rücksicht für mich nicht folgte. Nur wenn ich ihm zuredete, griff er zur Büchse und ging in den Wald. Du bist mein Schutzgeist, rief er dann lächelnd aus; wenn Du mich gehen heißest, kann mir kein Unglück begegnen. Auch an jenem Tage drang ich mit freundlicher Gewalt in ihn; er fuhr mit Ihnen ab, und ist nicht wiedergekommen. Hätte ich geschwiegen, der arme Mann wäre sicher noch am Leben!“

„Mein liebes Kind, der Schmerz erfüllt Sie mit grundlosen Befürchtungen. Ich wiederhole Ihnen, daß nur die eigene Unvorsichtigkeit unsers geschiedenen Freundes die Schuld an dem Unglück trägt. Es ist geschehen, und kein Mensch in der Welt vermag es zu ändern. Bewahren Sie das Andenken an den Todten in Ihrem dankbaren Herzen, indem Sie so gut und edel zu werden sich bemühen, wie er war, und Sie erfüllen als seine Tochter Ihre Pflicht. Mehr kann Gott und die Welt nicht von Ihnen fordern. Doch nun erlauben Sie mir auf einen Punkt zu kommen, den ich heute noch nicht beregen sollte, heute, wo sich kaum die Gruft unsers Freundes geschlossen hat; aber der Drang der Umstände mag mich entschuldigen, denn ich muß diesen Abend abreisen.“

Eberhard zog Marianne zu sich auf den Sopha.

[496] „Die kurze Zeit meiner Anwesenheit auf Adersheim,“ begann er mild, „hat genügt, um mich einen Blick in die hier obwaltenden Verhältnisse werfen zu lassen. Nach den Mittheilungen meines Freundes finde ich sie erklärlich, selbst natürlich. Sie stehen jetzt wiederum allein wie in jener Zeit, als Ihnen der Tod in einer Nacht Vater und Mutter raubte. Für das älternlose Kind war bald ein Asyl gefunden; für die Jungfrau, die eine Stellung im Leben einzunehmen berechtigt ist, wird es ungleich schwerer sein.“

Marianne schlug ihre thränenfeuchten Augen in frommer Ergebung empor.

„Mein Herr,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „ich bin als eine arme Waise in das Haus meines Wohlthäters gekommen; wenn ich es arm wieder verlasse, so finde ich kein Unrecht darin. Ich fühle beim Scheiden keinen andern Schmerz als den, die Räume verlassen zu müssen, in denen ich unter der Obhut meines zweiten Vaters so glücklich war. Meine theuersten Erinnerungen knüpfen sich an Adersheim, und ist der erste Schmerz überwunden, so fürchte ich nicht, dem Ernste des Lebens zu erliegen. Aber ich gehe nicht so leer aus, wie man wohl glauben möchte – hat mich die Liebe des Herrn Oberst nicht mit Schätzen ausgerüstet, die mir Niemand rauben kann? Er hat mich zu dem heranbilden lassen, was ich bin, ich besitze nützliche Kenntnisse, die ich verwerthen kann. Hieße es nicht seine gute Absicht verkennen, wenn ich auf mehr Anspruch machen wollte? Würde ich nicht die größte Undankbarkeit an den Tag legen?“

„Sie verkennen in der That die Absicht meines Freundes!“ rief Eberhard, verwundert über die Zartheit Marianne’s.

„Wie?“

„Der Oberst hat nie daran gedacht, seine Sorge für Sie nur auf Ihre Ausbildung beschränken zu wollen.“

„Ich erinnere mich nicht, daß er je darüber gesprochen.“

„Zu Ihnen; aber er hat mir seine Absicht geäußert. Ihre Erziehung berechtigt Sie zu dem Leben der höhern Gesellschaft, und er hielt es für Pflicht, Ihnen die Mittel zu diesem Leben zu liefern. Der plötzliche Tod hinderte ihn, sie zu erfüllen. Er hat kein Testament hinterlassen. Das ganze große Vermögen fällt der Tochter seines Bruders anheim – Ihrer Feindin. Läßt sich einerseits in dem Verzögern, seinen letzten Willen festzusetzen, auch die Gutherzigkeit des Verstorbenen erkennen, die stets noch auf eine Besserung der verblendeten Verwandtin zählte, so muß man sich, bei seiner unbegrenzten Liebe zu Ihnen, über die Sorglosigkeit andererseits wundern, mit der er Ihr materielles Wohl unberücksichtigt gelassen hat. Besitzen Sie keine Schenkungsakte?“

Marianne schüttelte schweigend das schöne Haupt.

„Auch ist Ihnen keine förmliche Adoption bekannt?“

Dasselbe Zeichen.

„Dann, Marianne, sind sie der Willkür Franziska’s ausgesetzt. Sie ist die rechtmäßige Erbin, und hat über das Vermögen des Onkels zu verfügen. Das war aber nicht die Intention des Verstorbenen. Er schilderte mir Franziska als eine Verschwenderin und Spielerin. Während Sie vielleicht ein höchst bescheidenes Leben führen, das Sie bei Ihrer Bildung doppelt drückend fühlen müssen, vergeudet jene Dame in übermüthiger Siegeslust das Vermögen, das Ihnen der Verblichene zugedacht hat. O, ich habe es wohl bemerkt, daß ihm das Scheiden aus dieser Welt schwer wurde, weil er Ihr Glück nicht gesichert wußte. Marianne, wir müssen uns verbinden, die Absicht des Todten zu verwirklichen. Zwar weiß ich in diesem Augenblicke nicht, wie ich den ersten Angriff gegen unsere Feindin formiren soll; aber ich wache über Sie und schütze Sie. Der Gerichtshalter ist zum Curator der Erbschaftsmasse bestellt; vor der Hand bleibt also Alles wie es ist, und Sie werden in Ihren Verhältnissen bleiben, um zu beobachten und mir Bericht zu erstatten. Hier ist meine Adresse. Sobald ich kann, bin ich wieder hier.“

Gegen Abend reiste Eberhard von Detmar ab.

(Fortsetzung folgt.)




Das wissenschaftliche Parlament
in der St. George-Halle zu Liverpool.

Die große wissenschaftliche Association in England, eine Vereinigung aller praktischen Zweige der Wissenschaften, hat sich dies Jahr zu ihren parlamentarischen Geschäften und Feierlichkeiten in einer der glänzendsten und großartigsten Kulturtempel, der neuen St. George-Halle in Liverpool versammelt und, während Krethi und Plethi sich die Köpfe symbolisch oder wirklich auf Kriegsschauplätzen im Großen und in Masse zerbrechen, sich gegenseitig mitgetheilt und zum Gemeingut gemacht, was der stille, ernste Fleiß des Forschers oder das Genie und die Ausdauer des Technikers, Erfinders und Entdeckers in den verschiedenen Welttheilen der Erde und des Wissens geschaffen und gewonnen haben. Solch ein Parlament macht nicht nur der „Nation“, sondern unserer Zeit überhaupt Ehre und ist zugleich die würdigste Verurtheilung, die unser Jahrhundert über die Barbareien ausspricht, welche Staatsweisheit und diplomatische Finessen unter uns heraufbeschworen haben. Es ist dabei der glänzendste Beweis, daß sich Wissenschaft and Kunst, Civilisation und Humanität bereits stark genug fühlen, um sich selbst vor einem „allgemeinen Kriege“ nicht mehr scheu zu verstecken. Wir können hier natürlich nicht auf die reichen und vielseitigen Vorträge und Mittheilungen, welche sich hier die Freiheitsmänner der Wissenschaft machten, eingehen und begnügen uns zunächst mit einer kurzen Schilderung des Tempels, in welchem dieses Parlament tagte.

Er ist vor Allem ein Beweis, daß die ungeheure Welthandelsstadt, in welcher die größten Hauptadern des Weltverkehrs sich wie in einem Herzen vereinigen, nicht mehr Geld macht, um eben reich zu sein, sondern auch um dem Schönen, der Kunst und Aesthetik zu huldigen. Dies bewies schon das große Musikfest, mit welchem die Halle eingeweiht ward. Die St. George-Halle entstand in Liverpool in zwei Tagen. Wenigstens waren die Tausende von Pfunden, die dazu gehörten, während dieser Zeit alle aus Privatmitteln zusammengebracht. Das Gebäude gilt als das schönste Englands. Es ist im griechischen Style gehalten. Besonders edel und grandios ist das Innere der großen Central-Halle mit bequemen Sitzen für 4000 Personen. Die Hauptmerkwürdigkeit darin ist die große Orgel, deren Bälge durch eine Dampfmaschine getrieben werden. Sie kostet 56,000 Thaler, wofür man in England 100 Häuser bauen könnte oder ein Schiff von 1500 Tonnen Gehalt. Ihre 8000 Pfeifen werden durch vier Reihen von Tasten gespielt und durch 108 „Register“ modulirt, durch welche man alle möglichen Tonfärbungen (unter welchen ganz neue) und Stärken hervorbringen kann. Die Größe der Pfeifen dehnt sich von drei Achtel Zoll bis 32 Fuß aus. Die Dampfmaschine füllt zunächst zwei Hauptbälge, aus denen die Luft in 12 andere (die Reservoirs) und von da vermittelst neuer mechanischer Einrichtungen so in die Pfeifen getrieben wird, daß die durch Register bestimmte Färbung und Stärke ganz gleichmäßig wirkt und sogenanntes Schnarchen durch Nebenluft u. s. w. unmöglich wird. Genial, neu und ungemein praktisch sind Construktion und Stellung der Register und des Pedals. Sie sind so gestellt, daß der Spieler auf die leichteste Weise den ungeheuern Reichthum des Instruments beherrschen kann. Techniker und Orgelspieler würden hier eine große Masse Studien machen können. In dem technischen Bericht über diese grandiose Musikdampfmaschine werden nicht weniger als fünf ganz wesentliche, neue, patentirte Erfindungen und Verbesserungen angeführt, die wir aus Mangel an technischer Kenntniß nicht weiter schildern können.

Wir kehren zu dem wissenschaftlichen Parlamente zurück, um aus dessen Mitgliedern den würdigsten und größten Mann der Wissenschaft hervorzuheben: Professor Owen, den Geologen. Die Geologie, diese junge, gigantische Wissenschaft, die, denuncirt von Ignoranten und Heuchlern, verwünscht von Autoritätsgläubigen und nur allmälig angenommen und noch langsamer verstanden und gewürdigt von den offenen Köpfen studirender und studirter Jugend, wie ein wahrer Hercules Hydras köpft, Augiasställe reinigt und wissenschaftlichen Autoritätslöwen das Fell abzieht, hat in Professor Owen einen der eifrigsten, frömmsten und mächtigsten Diener und Priester gefunden. Fromm ist er wie wohl selten

[497]

Die St. George-Halle zu Liverpool.

[498] ein Mensch war, das sieht man ihm (auch ohne Phrenologie) schon im Gesicht an, fromm im unerschütterlichen Glauben an die Wissenschaft im Allgemeinen, im thätigen, Tag und Nacht forschenden Glauben an seine Wissenschaft.

Richard Owen erblickte das Licht der Welt unter den Baumwollenballen und Spinnmaschinen am Lancashire, in der Stadt Lancaster (1805). Von seiner Kindheit, die in Armuth verlebt ward, wissen wir nichts. Er studirte Medizin in Edinburg, wo er schon nach 2 Jahren (1826) Professor und (1835) Conservator des dortigen Museums ward. Bis dahin hatte er schon ein großes fünfbändiges Werk über Physiologie und vergleichende Anatomie geschrieben. Von seinen fast unzähligen, wissenschaftlichen Werken, deren Entstehung man kaum einem einzigen Kopfe zutrauen kann, erwähnen wir nur noch eine Naturgeschichte, ein Buch über die „fossilen organischen Ueberreste“ im Museum, „Memoiren über den Perlen-Nautilus,“ eine „Odontographie,“ „Memoiren über geologische Riesenthiere,“ „Geschichte der fossilen Mammalien und Vögel Englands,“ „Erztypen und Homologien in den Rückenwirbel-Skeletten,“ „Geschichte der fossilen Reptilien Englands,“ „Constructionsgesetze im Gliederbau“ und ein besonders merkwürdiges Buch über freiwillige Erzeugung, Entstehung von lebendigen Wesen aus bloßen Ingredienzien, ohne Zeugung mit allmäliger Entwickelung zu vollkommneren organischen Wesen, die „Partheno-Genesis“ (jungfräuliches Gebären), wie er das vielfach bestrittene Naturgeheimniß nennt. – Wir brauchen kaum zu sagen, daß der Mann Mitglied fast aller betreffenden Wissenschaftsvereine der ganzen Erde ist und zwar nicht Ehrenmitglied, sondern wirkliches und thätiges. Im wissenschaftlichen Parlamente war er nicht nur eine der würdigsten und edelsten persönlichen Erscheinungen, sondern durch seine Vorträge auch die interessanteste und wichtigste. Er ist ein Mann, den die Wissenschaft durch und durch human, edel und nach allen Seiten hin liebens- und verehrungswürdig gemacht hat. Alle Völker und Klassen bewundern in seinen vorsündfluthlichen, lebensgroßen und lebensgetreuen Schöpfungen auf der geologischen Insel[1] des Krystallpalastes (von ihm geschaffen und entworfen, ausgeführt von Waterhouse Hawkins) den größten und genialsten Meister geologischen Wissens. Die Königin Victoria gab ihrer Verehrung dadurch einen liebenswürdigen Ausdruck, daß sie ihm im Schlosse zu Kew (mit dem weltberühmten botanischen Garten) eine glänzende Residenz anwies. Wie er schon in der großen Industrie-Ausstellung als Präsident der Jury für animalische und vegetabilische Substanzen sich viele Verdienste erwarb, fährt er mit jugendlichem Eifer fort, an der geologischen und naturwissenschaftlichen Ausstattung und Bereicherung des neuen Krystallpalastes zu arbeiten. Die „geologische Insel“ wird als erste, wirkliche, vorsündfluthliche Schöpfung der geologischen Wissenschaft immer zu den größten Merkwürdigkeiten gehören und Richard Owen als diesen Schöpfer eines Ruhmes genießen, für welchen die geographischen und sprachlichen Grenzen bereits als überwunden betrachtet werden müssen.


Kulturgeschichtliche Bilder.
3. Die Transport- und Communikationsmittel.
Das Postwesen und die Landstraßen in der früheren Zeit. – Schilderung einer Reise im 17. Jahrh. – Die „gelbe Kutsche“ und die Schnellposten. – Schwerfälligkeit des früheren Postdienstes. – Verdrängung der Posten und Chausseen durch Dampfwagen, Eisenbahnen und Telegraphen. – Vergleichung der Schnelligkeit dieser verschiedenen Beförderungsarten. – Das Reisen zu Wasser im vorigen Jahrhundert und dessen Hindernisse. – Die damaligen und die jetzigen Reisegelegenheiten zu Wasser. – Die Vermehrung des Reiseverkehrs gegen früher. – Der Reiseaufwand sonst und jetzt. – Das Briefporto. – Wirkungen dieser Verbesserungen des Transportwesens und der Communikationsmittel.

Nirgends sind die Fortschritte unserer Kultur augenfälliger, als auf dem Gebiete des Transportwesens und der Communikationsmittel. Hier wenigstens dürfte es auch dem blindesten Bewunderer der „guten alten Zeit“ unmöglich sein, die Vorzüge des Jetzt vor dem Sonst in Abrede zu stellen, er müßte sich denn zu der Ansicht bekennen (die freilich die Autorität eines Friedrich des Großen für sich geltend machen kann, heutzutage aber doch eine gar zu arge volkswirthschaftliche Ketzerei ist, um von einem auf Bildung Anspruch machenden Menschen im Ernste vertreten zu werden): daß schlechte Straßen nützlich für ein Land seien, weil sie den Gastwirthen, Schmieden und Stellmachern viel zu verdienen gäben.

Es war gewiß ein großer und von dem correspondirenden Publikum jener Zeit dankbar begrüßter Fortschritt, als im Anfange des 16. Jahrhunderts Francesco von Taxis die erste regelmäßige Post im deutschen Reiche einrichtete. Bis dahin hatte man sich mit den „Botenfuhren“ begnügen müssen, die zwischen einzelnen größern Handelsstädten, wie Hamburg und Nürnberg, hin- und hergingen, und Briefe (selten wohl Personen) mitnahmen. Später entstanden neben der Reichspost auch in mehrern Einzelstaaten selbstständige Postanstalten. Die Benutzung dieser Anstalten zum Reisen mag indessen kaum 100 Jahre alt sein, indem his dahin wegen der bodenlosen Wege überhaupt jede Art von Fahrgelegenheit dermaßen unbequem und gefahrvoll war, daß man nur in der höchsten Noth davon Gebrauch machte. Wer reisen mußte, reiste damals zu Pferde; hohe Personen und Frauen ließen sich in Sänften tragen. Die erste Kunststraße (eine kleine Strecke) entstand 1753 zwischen Nördlingen und Oettingen. Noch vor 70, 80 Jahren gab es nur erst in einem kleinen Theile von Deutschland, und auch da natürlich nur auf den Hauptverkehrsstraßen, etwas leidlichere Wege, d. h. solche, auf denen man nicht bei jeder Umdrehung der Räder im Kothe zu versinken, in Löcher zu fallen, Wagen, Geschirr und Pferde, ja selbst die eigenen Gliedmaßen und das eigene Leben auf’s Spiel zu setzen befürchten mußte.

Die nachstehende Schilderung einer Reise aus dem Jahre 1721[2] malt die Gefahren und Beschwerlichkeiten einer solchen in der damaligen Zeit auf sehr anschauliche Weise. Und noch fünfzig Jahre später sah es in vielen Gegenden Deutschlands, besonders Norddeutschlands, damit nicht besser aus. Jene erwähnte Reise ging von Schwäbisch-Gmünd nach Ellwangen, zwei Orte, deren Entfernung von einander etwa acht Poststunden beträgt.

Der Reisende, ein wohlhabender Mann, ging in Gesellschaft seiner Frau und ihrer Magd am Montag Morgen, nachdem er am Tage zuvor in der Johanniskirche „für glückliche Erledigung vorhabender Reise“ eine Messe hatte lesen lassen, aus seiner Vaterstadt ab. Er bediente sich eines zweispännigen sogenannten „Plahnwägelchens.“ Noch bevor er eine Wegstunde zurückgelegt und das Dorf Hussenhofen erreicht hatte, blieb das Fuhrwerk im Kothe stecken, daß die ganze Gesellschaft aussteigen, und „bis über’s Knie im Dreck platschend“ den Wagen vorwärts schieben mußte. Mitten im Dorfe Böbingen fuhr der Knecht „mit dem linken Vorderrad unversehendlich in ein Mistloch, daß das Wägelchen überkippte und die Frau Eheliebste sich Nase und Backen an den Plahnreifen jämmerlich zerschund.“ Von Mögglingen aus bis Aalen mußte man drei Pferde Vorspann nehmen und dennoch brauchte man sechs volle Stunden, um letztgenannten Ort zu erreichen, wo übernachtet wurde. Am andern Morgen brachen die Reisenden in aller Frühe auf und langten gegen Mittag glücklich beim Dorfe Hofen an. Hier aber hatte die Reise einstweilen ein Ende, denn hundert Schritte vor dem Dorfe fiel der Wagen um und in einen „Gumpen“ (Pfütze), daß Alle garstig beschmutzt wurden, die Magd die rechte Achsel auseinanderbrach und der Knecht sich die Hand zerstauchte.“ Zugleich zeigte sich, daß eine Radachse zerbrochen, und das eine Pferd am linken Vorderfuße „vollständig gelähmt worden.“ Man mußte also zum zweiten Male unterwegs übernachten, in Hofen Pferde und Wagen, Knecht und Magd zurücklassen und einen Leiterwagen miethen, auf welchem die Reisenden endlich ganz erbärmlich zusammengeschüttelt, am Mittwoch „um’s Vesperläuten“ vor dem Thore von Ellwangen anlangten.

[499] Alte Leute werden aus eigenen Erinnerungen ihrer Kindheit oder aus Erzählungen ihrer Aeltern wissen, welche halsbrechende und zum Sterben langweilige Tour eine Reise von Dresden nach Leipzig noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts war. Ist es doch noch keine zwanzig Jahre her, daß in Preußen mehrere der wichtigsten Verkehrswege, z. B. die Straße von Magdeburg über Stendal nach Hamburg und manche Straßenzüge in den Ostprovinzen nur erst zum Theil chaussirt waren. Bis 1816 gab es in den sämmtlichen preußischen Landen diesseits der Elbe, mit Ausnahme Schlesiens und Sachsens, nicht mehr als 44,3 Meilen Staatschausseen, in Ost- und Westpreußen nebst Posen zusammen nur 1,2 Meilen!

Welcher ungeheure Fortschritt hat in dieser Hinsicht seit den letzten 30 bis 40 Jahren allerwärts in Deutschland stattgefunden! Nicht blos im Süden (wo man hierin schon weit früher vorgeschritten war), sondern auch in den meisten Gegenden Norddeutschlands (vor Allem in Sachsen, welches jetzt beinahe 11/2 Meile Staatsstraßen auf jede Quadratmeile seiner Bodenfläche besitzt), nicht blos in den Ebenen, sondern bis hinauf in die steilsten Gebirge, findet man entweder wirkliche Kunststraßen (Chausseen), oder wenigstens so fahrbare und wohlerhaltene Wege, wie man sie vor 100 Jahren nicht einmal in der unmittelbaren Nähe der Haupt- und Residenzstädte hatte.

Im Postwesen selbst ferner, welche Veränderungen! Die ehemalige „gelbe Kutsche“ mußte vor (etwa 30 Jahren) der „Diligence“, diese dem Eilwagen weichen, welcher letzte denselben Weg, zu welchem jene erste 11/2 Tage brauchte, in zehn, bisweilen in sieben oder acht Stunden zurücklegte. Der heutige Reisende, der sich behaglich auf den elastischen Polstern einer preußischen oder hannöverschen Schnellpost dehnt und, in weiche Kissen zurück gelehnt, von der federnden Bewegung des Wagens sich schaukeln läßt, wird sich nur schwer in die Lage eines jener unglücklichen Märtyrer des frühern Postwesens versetzen können, welcher auf einem Mark und Bein durchschütternden Leiter- oder Korbwagen, dem die wohlthätige Erfindung der Federn vollkommen fremd geblieben war, auf einem ungepolsterten, selten auch nur mit einer Rücklehne versehenen Sitze, ohne ein schützendes Obdach gegen Wetter und Wind wie gegen Sonnenschein im schneckengleichen Zuge der Gäule auf den holprigen Wegen fortgeschleppt und umhergeworfen ward. Die letzten lebendigen Traditionen jener Marterwerkzeuge, die man noch vor einem oder ein paar Jahrzehnten in gewissen stoßenden Rumpelwagen auf manchen Nebenpostcursen (z. B. in den höchsten Gegenden unsres Erzgebirges und Voigtlandes) antraf, sind nunmehr wohl auch allerorten vollends verschwunden.

Der Postdienst bewegte sich früher (wie sich ältere Reisende noch aus eigener Erfahrung erinnern werden), namentlich in unserm kaltblütigen Norden, mit einer Schwerfälligkeit und Langsamkeit, die den ohnehin so schwer geplagten Reisenden wohl der Verzweiflung nahe bringen konnte. Es galt für nichts Geringes, als Friedrich der Große durch eine neue Postordnung für seine Staaten (im Jahre 1784) einschärfte, daß die ordinäre Post auf jeder Station binnen einer Stunde abgefertigt sein müßte. Auf Extrapostpferde mußte man selbst auf den Hauptcursen mindestens eben so lange warten, auf Nebencursen oft viel länger. Was würde ein preußischer Postbeamter aus jener Zeit gesagt haben, wenn man ihm das Bild eines Schnellpostdienstes aus dem dritten Jahrzehent dieses Jahrhunderts (also nicht volle fünfzig Jahre später) im Spiegel der Zukunft hätte zeigen können? Er würde die Verwirklichung dieses Bildes ebenso für eine Unmöglichkeit erklärt haben, wie ein großer Theil unsrer heutigen Postbeamten vielleicht noch vor wenigen Jahren es für eine Unmöglichkeit gehalten hat, daß eine wohleingerichtete Briefbeförderung ohne specielle Kartirung bestehen könne. Mit dieser Briefbeförderung nahm man sich freilich in jenen frühern Tagen noch ganz anders Zeit. Gleich als ob man fürchtete, der Brief, welcher von Berlin bis Frankfurt neun Tage, von Paris bis Berlin 16 bis 18 Tage unterwegs sein mußte, möchte doch noch zu rasch an den Ort seiner Bestimmung gelangen, ließ man in der Regel die Posteingänge mindestens eines ganzen Tages, oft auch mehre Tage zusammenkommen, ehe man sich die Mühe nahm, dieselben an ihre Adressen zu vertheilen. Selbst in der königlichen Residenzstadt Berlin bedurfte es einer besondern königlichen Verordnung (1770), um die Briefträger dahin zu vermögen, daß sie die eingegangenen Briefe nicht blos einmal täglich, sondern zweimal abholten und austrugen.

Es ist das Verdienst des preußischen Generalpostmeisters v. Nagler, jenen Schlendrian aus dem Postdienste ausgetrieben und eine vorher nie gekannte Pünktlichkeit, Schnelligkeit und Beweglichkeit in denselben gebracht zu haben. Die Nachbarländer Preußens ahmten das dort gegebene Beispiel nach, und seit dieser Zeit hat das norddeutsche Postwesen das süddeutsche, hinter dem es ehemals bedeutend zurückstand, in manchen Beziehungen, namentlich was die vorgenannten Eigenschaften betrifft, überflügelt und sich dem französischen und englischen wenigstens einigermaßen ebenbürtig an die Seite gestellt.

Aber wer spricht denn heutzutage überhaupt noch von Postwagen und Poststraßen, wenn es gilt, die Leichtigkeit des Personentransportes oder die Schnelligkeit der Gedankenmittheilung, des Brief- und Zeitungsverkehrs, zu messen und mit den Einrichtungen früherer Perioden zu vergleichen? Die schnellste Schnellpost, ihrer Zeit als ein Wunder und Nonplusultra menschlichen Fortschrittstrebens auf diesem Gebiete angestaunt, muß beschämt vor dem Dampfwagen, die vollkommenste Kunststraße, demüthig vor der Eisenbahn sich verkriechen, und beide wiederum sinken, was die Gedankenmittheilung betrifft, in Nichts zusammen gegenüber den wahrhaft zauberartigen Wirkungen des elektrischen Telegraphen.

Wenn Chausseen und Posten die Entfernungen der Orte und Länder von einander bereits auf die Hälfte oder ein Drittheil herabgesetzt hatten, so haben der Dampf und die Eisenschiene im Bunde dieses Drittheil abermals um das Drei-, Vier-, ja Acht- und Zehnfache verkleinert. Auf den schlechten Wegen der frühern Zeit hatte ein Wagen Noth, die Wegstunde in einer Zeitstunde zurückzulegen, also mit einem Fußgänger Schritt zu halten. Mit Hülfe der Kunststraßen und eines wohleingerichteten Relaidienstes brachte man es dahin, zwei bis drei Wegstunden in einer Zeitstunde zu fahren (in England sogar vier). Der Dampfwagen dagegen auf seiner eisernen Bahn durchbraust in demselben Zeitraum eine Strecke von 8, 12, 16, 20, ja, wenn es darauf ankommt, 30 und noch mehr Stunden.

Der elektrische Telegraph endlich hat alle räumliche Entfernungen so gut wie gänzlich verschwinden gemacht, hat es ermöglicht, daß Mittheilungen von London nach Wien, von Paris nach Warschau, welche vor hundert Jahren mindestens drei bis vier Wochen unterwegs waren – jetzt in wenigen Stunden, ja, nach den neuesten Vervollkommnungen des Telegraphenwesens mit Hülfe des Translators) in vielleicht kaum einstündiger Frist an den Ort ihrer Bestimmung gelangen können, und wird sehr wahrscheinlicher Weise in nicht ferner Zeit diese wunderbare, aller Raum- und Zeitschranken schier entbundene Schnelligkeit der Gedankenmittheilung sich, selbst über den atlantischen Ocean hinüber, nach der neuen Welt erstrecken.

Wo die Natur selbst die Wege geebnet hatte – auf dem Wasser – da fuhr man auch in früherer Zeit schon leidlich bequem, ungleich bequemer wenigstens, als auf den von menschlicher Nachhülfe abhängigen Landstraßen. An Fährlichkeiten freilich fehlte es dabei ebenfalls nicht und die lässige Hand einer Staatswirthschaft, die ihren Vortheil weit häufiger auf die Erschwerung, als auf die Erleichterung des Verkehrs baute, half hier so wenig nach als auf dem Lande. Wenn der Schiffer auf dem Rhein, um das „Binger Loch“ oder das „Wilde Gefähr“ zu passiren, das Doppelte oder Dreifache der Pferdezahl brauchte, die er für gewöhnlich bei der Bergfahrt vorlegte, dazu wohl gar noch Lootsen an Bord nehmen mußte, so war dies ja (nach den damaligen volkswirthschaftlichen Begriffen) ein reiner Vortheil für die Bewohner der Uferlande und folglich auch für deren Regierungen, denn der Schiffer mußte ja um so mehr Geld aufwenden, was dem betreffendn Lande zu gute kam. Daß dieser Vortheil viel größer sein würde, wenn statt des einen Schiffes, bei erleichtertem Verkehr, zehn oder zwanzig in der gleichen Zeit den Strom passirten, obschon jedes einzelne davon nur die gewöhnliche Zahl Pferde und Führer brauchte und nur kürzere Zeit an den betreffenden Punkten anlegte, davon scheint man damals keinen Begriff gehabt zu haben, so wenig als davon überhaupt, daß durch Verwohlfeilerung der Gelegenheiten des Reisens und des Transportes von Sachen, der Reise- und Waarenverkehr sich in’s Außerordentliche steigern lasse. Friedrich der Große, der doch noch einer der bessern, wenigstens der eifrigeren und gemeinnützigeren Staatswirthe seiner Zeit war, [500] hatte auch hierüber so verkehrte und so kurzsichtige Ansichten, daß er z. B. für die Briefportoeinnahme in seinem Reich alljährlich eine gewisse, nothwendig zu erreichende Summe festsetzte und, wenn die wirkliche Einnahme hinter diesem Voranschlag zurückblieb, eine Erhöhung des Briefportos (statt einer Herabsetzung, was das Richtige gewesen wäre) verfügte. Das Allerverkehrteste aber in dieser Art, was der im Uebrigen so kluge König that, war eine Verordnung, die er als Herzog von Cleve erließ, wonach alle auf dem Rheine Reisende, sobald sie an’s Clevische kommen, den Strom verlassen und zu Lande weiter reisen mußten, um, wie in der Verordnung gesagt war, den königlichen Posten diesen Gewinnst nicht zu entziehen.

Wenn aber auch das Reisen zu Wasser, was die Fahrstraße selbst anbelangt, weit früher praktikabel wurde, als das zu Lande, so lag es doch in Bezug auf Bequemlichkeit, Behaglichkeit und Eleganz der Fahrzeuge, so wie auf Schnelligkeit des Fortkommens, die längste Zeit hindurch beinahe ebenso in der Kindheit, wie dieses letztere. Die mehr als einfache Einrichtung der offenen Nachen oder Marktschiffe, bis zur Einführung der Dampfschiffe, die einzigen regelmäßigen Transportmittel auf unsern Flüssen (und zwar nur auf den größten, wie Rhein, Donau, allenfalls einer kurzen Strecke des Untermain und dergleichen), der vollständige Mangel an Eleganz und Comfort, der darauf herrschte, wurde vielleicht nicht ganz so hart empfunden, wie die schlechte Beschaffenheit der Postwagen, weil das Element selbst dort die Wirkungen dieser Unvollkommenheit einigermaßen milderte, bildete aber jedenfalls einen ebenso starken, wenn nicht noch stärkeren Contrast zu der ausgesuchten Pracht und Bequemlichkeit der Reisegelegenheiten, welche heut zu Tage an deren Stelle getreten sind, zu den geräumigen, geschmackvoll gemalten und vergoldeten Salons, den luxuriösen Tables d’hôte, den wohlassortirten Sammlungen von Journalen, Büchern und Bilderwerken, womit unsere zahlreichen Dampfschiffe ihren Passagieren den verhältnißmäßig viel kürzeren Aufenthalt darauf angenehm und unterhaltend zu machen suchen.

Was die Schnelligkeit betrifft, so ist der Fortschritt, welchen die Anwendung des Dampfes auf die Flußschifffahrt hervorgebracht hat, zwar nicht ganz so groß wie der bei dem Landtransport, immerhin aber bedeutend genug. Stromabwärts, wo man durch die Strömung begünstigt war, fuhr man mit den blos durch Ruder, höchstens mit Hülfe von Segeln bewegten Schiffen etwa um das Drei- bis Vierfache langsamer, als jetzt; stromaufwärts dagegen, wo man sich der Pferde oder Menschen zum Ziehen bedienen mußte, mindestens um das Sechsfache. Und dabei durfte noch keine Verzögerung durch das Außenbleiben der nöthigen Zugkräfte, oder durch das nothgedrungene längere Anhalten an den zahlreichen Zollstätten (wenn das Schiff zugleich Waaren führte) eintreten. Denn dieser letztere Aufenthalt allein konnte unter Umständen eine solche Wasserreise z. B. zwischen Cöln und Mainz, um ganze Tage verlängern, da es auf dieser Strecke vielleicht zwanzig Zollstätten gab, die noch dazu häufig an den entgegengesetzten Ufern lagen, wo dann die Schiffe genöthigt waren, nicht nur selbst herüber- und hinüberzufahren, sondern auch die Pferde oder Menschen, welche sie zogen, abwechselnd von einem Ufer auf’s andere zu transportiren. Auf der Donau vollends war das Fahren zu Berge, wegen der hier befindlichen Stromschnellen, für deren Beseitigung nichts geschah, nahe zu einer völligen Unmöglichkeit, wenigstens eine Sache der höchsten Unbequemlichkeit und der tödlichsten Langweile. Eine Familie, welche die ganze Tour von Wien bis Ulm, wegen der Unsicherheit der Landstraßen, zu Wasser zurücklegte, brauchte dazu mehr Zeit, als heut zu Tage zu einer Reise nach Amerika und zurück erfordert wird.

Mit den Seereisen war es nicht anders. Regelmäßige Reisegelegenheiten gab es schon im vorigen Jahrhundert von Kuxhaven nach London, von Kiel nach Kopenhagen, von Lübeck nach Stockholm und nach Riga. Aber wie lange Zeit brauchte man zu jeder dieser Touren! Mindestens das Vierfache, bisweilen das Sechs- oder Achtfache der jetzigen.

Die Vermehrung, welche in Folge der so namhaften Erleichterung, Verwohlfeilerung und Vervielfältigung der Reisegelegenheiten aller Arten, während des letzten halben Jahrhunderts, der Reiseverkehr nothwendig erfahren mußte und auch wirklich erfahren hat, läßt sich in Zahlen zwar insofern nicht genau nachweisen, als uns über den Reiseverkehr der früheren Zeiten (ebenso wie über die Briefbeförderung) authentische statistische Angaben fehlen, indem man in Deutschland erst vom Jahre 1810 an solche amtlich zu sammeln und aufzubewahren angefangen hat. Allein man kann getrost behaupten, daß, wo vor 100 oder 150 Jahren vielleicht eine, vor 50 vielleicht 10 Personen reisten, gegenwärtig mindestens 10,000 sich auf Eisenbahnen, Poststraßen oder einer der jetzt so zahlreichen Dampfschiffrouten hin- und herbewegen. Die Seltenheit der regelmäßigen Verbindungen von Ort zu Ort noch zu Anfange dieses Jahrhunderts (worüber sichre Nachrichten vorliegen) beweist und erklärt die ungleich geringere Ausdehnung des Reise- und Briefverkehrs in der damaligen Zeit. Zwischen Leipzig und Dresden z. B. fuhr damals nur zweimal in der Woche eine Postkutsche, während jetzt täglich sechs Dampfwagenzüge von einem dieser Orte zum andern gehen, also wöchentlich zweiundvierzig d. i. 21 mal so viel, als damals. Nimmt man an, daß jene zwei Postkutschen jedesmal ganz besetzt waren und rechnet man jede zu 16 Plätzen, so gäbe dies in der Woche 12, also im Jahre ohngefähr 600 Hin- und eben so viel Herreisende, zusammen zwischen jenen beiden Hauptstädten 1200 Postreisende jährlich. Gegenwärtig befördert die Leipzig-Dresdner Eisenbahn im Jahre etwa 600,000 Personen, d. i. 500 mal so viel. Bedenkt man nun, daß die Route Leipzig-Dresden in jener Zeit eine der wenigen war, welche wenigstens einen regelmäßigen Postdienst und verhältnißmäßig noch leidliche Wege aufzuweisen hatte, während auf den Seitenrouten und in nur einiger Entfernung von den großen Städten ordentliche Postverbindungen und fahrbare Wege völlig aufhörten, so wird die oben gewagte Behauptung von einer tausendfachen Vermehrung des Reiseverkehrs innerhalb der letzten 50–70, und einer vielleicht zehntausendfachen innerhalb der letzten 100–150 Jahre sicherlich nicht übertrieben erscheinen. Auf dem Rheine – um noch ein Beispiel anzuführen – fuhr vor 60 Jahren täglich ein Marktschiff zwischen Mainz und Cöln, ebenso auf dem Maine zwischen Frankfurt und Mainz; auf der untern Donau, wohl nicht einmal alle Tage, eines. Oberhalb Mainz scheint der Rhein, oberhalb Frankfurt der Main, oberhalb Regensburg die Donau gar nicht (wenigstens nicht regelmäßig) mit Schiffen zu Personenbeförderung befahren worden zu sein, wie wir denn auch von geregelten Reisegelegenheiten auf Neckar, Mosel, Elbe, Weser und Oder in jener Zeit nichts lesen. Heut zu Tage gehen auf dem Rhein allein Tag für Tag 10–12 Dampfschiffe stromauf- und eben so viele stromabwärts und die Summe der auf sämmtlichen deutschen Flüssen täglich hin- und herfahrenden Dampfer beträgt mindestens ein halbes Hundert.

Um schließlich auch von der Verwohlfeilerung des Reisens gegen früher eine Vorstellung zu geben, sei nur das Eine bemerkt, daß, nach vorliegenden Berechnungen aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Jemand, der nur einigermaßen bequem und mit Behagen reisen wollte (so weit dies überhaupt bei dem damaligen Zustande der Straßen, der Gasthöfe und der Transportmittel möglich war), nicht unter einem Ducaten auf die Meile Reiseaufwand rechnen durfte. Das wäre auf eine Tour von 12 Meilen, also etwa von Leipzig bis Dresden oder von Mainz bis Coblenz ohngefähr 40 Thaler. Dafür konnte er freilich einen Bedienten mitnehmen und im eigenen Wagen mit Extrapostpferden reisen (Beides war aber auch unumgänglich nothwendig, wenn man sich das Reisen nur einigermaßen erträglich machen wollte) – aber er konnte sich weder vor dem halsbrechenden Bergauf Bergab und dem bodenlosen Moraste der Wege schützen, noch auch nur annähernd sich jenen Grad von Comfort verschaffen, welcher dermalen einem Reisenden im Coupe eines Eisenbahnwagens erster Klasse oder in der Hintercajüte eines Dampfschiffes, an der reichbesetzten Tafel und in den fürstlich eingerichteten Zimmern unserer großen Rheinhotels, Alles in Allem für den achten oder zehnten Theil jenes Aufwandes zu Gebote steht. Der Minderbemittelte konnte unter den geschilderten Umständen an eine Tour zu Wagen von nur einiger Ausdehnung gar nicht denken; wer aus dieser Klasse also zu Fuße zu reisen außer Stande war, wie Frauenzimmer, alte oder kränkliche Personen, der mußte überhaupt auf das Reisen verzichten, selbst wenn Gesundheitsrücksichten, Familien oder Geschäftsverhältnisse ihm dasselbe noch so wünschenswerth oder gar nothwendig erscheinen ließen. Denn selbst eine Reise mit der ordinären Post von Leipzig bis Dresden kostete zu jener Zeit, einschließlich des nothwendigen ein- oder auch zweimaligen Nachtlagers und der Zehrung für zwei bis drei Tage, allermindestens [501] 6 Thaler, (das Postgeld allein betrug auf 12 Meilen 4 Thaler), das ist viermal mehr als gegenwärtig – ungerechnet den mehr als sechsfach größern Zeitaufwand. Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so beträchtliche Verringerung haben die Kosten des Briefverkehrs erfahren. Durchschnittlich kann man annehmen, daß heut zu Tage ein Brief nur die Hälfte von dem kostet, was man ehemals dafür bezahlte.

Welch’ ungeheuere Vortheile sind aus diesen mannigfachen Verbesserungen unseres Transportwesens und unserer Mittel der Gedankenmittheilung für die Annehmlichkeit, Bequemlichkeit, ja Sicherheit des Lebens, für das materielle Wohlbefinden in jeder Beziehung, für den geschäftlichen Verkehr, endlich für die allgemeine Bildung der Menschen, für die Verbreitung und Verallgemeinerung von Ideen, Erfahrungen und Kenntnissen aller Art, für die Annäherung der verschiedenen Individuen und Volksstämme unter einander, für die Beseitigung localer Vorurtheile und nationaler Antipathien, kurz, für die immer vollkommenere Erreichung jenes großen Kulturzweckes hervorgegangen, welcher dem Menschen als das Ziel seiner irdischen Bestrebungen und Anstrengungen vorgesteckt ist!




Londoner Lebens- und Verkehrsbilder.
Zweimal vor dem Polizei-Gericht.

Ohne eigentlich zu wissen wie, war ich in einem Theile des Westendes Sprachlehrer, Dolmetscher und Freund in der Noth, deutscher Tischler geworden, besonders einer ziemlichen Menge, die alle bei einem englischen Bäcker zu je Zweien alle dessen Schlafstellen einnahmen. Der Eine hatte sich in die Tochter verliebt, ohne seit 6 Monaten etwas Anderes sagen zu können, als „Guten Morgen, Miß!“ und „Gute Nacht, Miß!“ Mit der Zeit war aber in ihm das Bedürfniß entstanden, seinen heimischen Gefühlen in der Sprache der Angebeteten auf eine beredtsamere Weise Luft zu machen, so daß er beschloß, Unterricht im Englischen zu nehmen. Seine „Schlafcollegen“ besannen sich bei dieser Gelegenheit, daß sie auch öfter in den Fall gekommen waren, mit Engländern zu sprechen und Engländerinnen zu sagen, es sei nicht gut, daß der Mensch allein sei u. s. w. So kamen sie eine Zeit lang sehr eifrig Abends 8 Uhr zu mir, lernten Englisch und wunderten sich über die sonderbaren Gewohnheiten der Engländer, weder auf Vocale, noch Consonanten Rücksicht zu nehmen, sondern von jedem Worte möglichst wenig und dieses Wenige möglichst schlecht und immer so auszusprechen, daß man beim Anblicke des Wortes gar nicht daran denken konnte. Doch was half’s? Die Sache mußte gelernt werden. Und es dauerte gar nicht lange, so waren Einige überzeugt, daß sie im Leben, wie in der Liebe mit dem Erlernten durchkommen würden. Freilich machte der Eine bald die Erfahrung, daß man die deutsche Zunge viel länger mißhandeln muß, um mit ihr die kakophonischen Kunststücke der englischen einigermaßen erträglich und verständlich nachmachen zu köuuen. Er hatte sein junges Englisch öfter angewandt, um den irischen Laufburschen, Leimsieder und dienstbaren Geist im Arbeitslocale schlecht zu machen. Der Junge hatte es entweder nicht verstanden oder innen darüber gelacht oder vielmehr jedesmal darüber gelacht, am Meisten, wenn er’s verstand. So bekam der Junge eines schönen Morgens nicht nur eine Ohrfeige, sondern auch einen Stoß vor die Brust, daß ihm zwei Rippen zerbrachen. Wenigstens lautete die Anklage so.

Also mein Schüler war verklagt und schriftlich vorgeladen, vor dem Polizeigerichte in Great-Marlborough-Street um zwei Uhr Nachmittags zu erscheinen. Blaß und athemlos kam er mit dem Zettel zu mir gelaufen, was eigentlich darin stehe und was hier zu thun sei und daß ich ihm helfen möchte, es möge kosten was es wolle. So wurde ich sein Advokat, Dolmetscher, Vertheidiger, Freund und Rathgeber, ohne zu wissen wie und wo ich alle die dazu nöthige Weisheit hernahm. Nachdem ich mich privatim überzeugt, daß die zerbrochenen Rippen in das Reich der Dichtung gehörten, hielt ich meinen Feldzug gegen den Ankläger für kein zu schwieriges Kunstwerk der Strategie. Mit meinen Hülfstruppen von Zeugen, einem Polen, der wenig Deutsch und gar kein Englisch verstand, einem Ungar, der das Deutsche in seiner eigenen Manier behandelte und das Englische so sprach, daß er sich selbst nicht verstand und einem Böhmen, der in gar keiner Sprache reden konnte und dem Verklagten brach ich zu rechter Zeit nach dem Polizeigerichtslokale auf. Ich wußte nicht, in welchem Hause die Polizei und der Magistrat Recht pflegten. Auf meine Frage, wo es eigentlich sei, bekam ich die praktische Antwort: „Da wo immer allerhand Leute vor der Thür stehen, in der Regel auch ein schwarzer Omnibus.“ Wir fanden allerhand Leute umher stehen und auch den schwarzen Omnibus und traten ein, wurden rechts in einen schmutzigen öden Raum mit einigen zerbrochenen Stühlen und roth gefirnißten Holzbänken gewiesen, wo die künstlich und umsichtig gemachten Fenster nur da Aussichten gewährten, wo gelangweilte Künstlerhände den Firniß abgerieben und dadurch allerhand Figuren und Namen zu Stande gebracht hatten, und instruirt, daß wir hier warten müßten, bis wir aufgerufen würden. Wir warteten zunächst so lange, als wir gelernt hatten zu warten, hernach aber noch länger, viel länger und vertrieben uns die Zeit damit, zu beobachten, was um uns her vorginge. An einem schmutzigen Pulte verkaufte ein Polizeibeamter immer mit’n Hut immerwährend „Vorladungen“ an Jeden, der’s bezahlen konnte und die Hülfe des Polizeigerichts brauchte. Vorgeladene Parteien, Kläger und Verklagte, weinende Weiber mit Kindern, Kinder ohne Aeltern, Wittwen und Waisen, geputzte und zerlumpte, gefaßte und ruhige und tobende und schimpfende Personen gingen aus und ein. Draußen durch die offen stehende Thür sahen wir es immerwährend hin- und herströmen. Polizeibeamte kamen in der bekannten klassischen Position mit Arretirten, die, in Armslänge abwärts am Oberarme gehalten, hereingetrieben wurden. Andere, bösartiger Natur, wurden von 2 Policemen, wie ein intimer Freund, von beiden Seiten unterm Arme gefaßt, hereingeführt oder geschleppt, besonders viel derbe, pfiffig aussehende Jungen ohne Mützen, ohne einen oder den andern Aermel, ohne Sohlen unter den Schuhen oder ohne diese selbst.

Die immerwährend wechselnden Scenen im Polizeigerichtslokale verkürzten zwar unsere Stunden lang ausgedehnte Wartezeit, aber mein Angeklagter, der immer that, als handelte es sich um sein Leben, war inzwischen doch so schwach geworden, daß wir ihn in die gegenüberliegende englische Apotheke, ein Bierhaus, führen mußten, eine Art Vorparlament zu den Verhandlungen selbst. Hier gestärkt, kehrten wir mit neuem Muthe zum Warten zurück und sahen zunächst zu, wie der schwarze Omnibus beladen ward. Durch eine besondere enge Thür wurden Verurtheilte einzeln hineintransportirt und innerhalb des Omnibus einzeln in schilderhausartige Behälter, mit etwas Fenster oben, eingeschlossen. Ein Policeman schloß endlich die Hauptthür, setzte sich daneben in einen für ihn außen angebrachten Sitz und gab dem Policeman vorn das Zeichen zur Abfahrt. Solche schwarze Omnibusse durchkreuzen London alle Tage nach allen Richtungen, wo Gefängnisse stehen. Bei dieser Gelegenheit war es 5 Uhr geworden. Alle Vorgeladenen, die noch übrig waren, darunter wir, wurden rasch hinausgetrieben, die Richter, Assistenten und Diener, die bisher sich zu Allem viel Zeit genommen hatten, wurden eifrig und eilig und stürzten, gierig nach ihrem Mittagsessen, davon, ohne weder links noch rechts zu hören.

Auf den nächsten Freitag wieder um 2 Uhr vorgeladen, kamen wir um 4 Uhr in das Gerichtszimmer selbst, zunächst unter die dichtgedrängten, in einen schmalen Streifen eingezwängten Zeugen und Zuhörer. Vor demselben befindet sich ein schmaler Streifen Raum zwischen Holzwänden für die Angeklagten – lauter Stehplätze, daneben eine Art Katheder, auf welches Jeder treten muß, so lange er eidlich etwas aussagt. Dazu wird er jedesmal durch eine kurze Anrede von einem besondern Beamten vorbereitet, der ihm einschärft, daß er die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sage. Daß er dies wolle, bekräftigt er eidlich, jedoch ohne einen Eid zu schwören. An Eidestatt küßt er ein kleines, dünnes, dicht verschlossenes Buch, welches, wie man ihn versichert, das ganze neue Testament enthält. In einem innern, in mehrere [502] Abtheilungen zerfallenden Raume sitzen Richter, Protokollführer und sonstige Beamte. Der eigentliche Richter (Einzelrichter, da hier nur Bagatellsachen verhandelt werden, gegen welche es keine Appellation giebt) thront aber in der Mitte auf einer besondern Kanzel und frägt, befiehlt und entscheidet in der gemüthlichsten, heitersten Weise, ohne je böse zu werden, so schlimm sich auch einzelne Leute oft geberden. Unser Richter hatte wirklich etwas Patriarchalisches, Väterliches, wovon er in meiner Gegenwart mehrere Beweise gab. Ein prächtiger, schwarzäugiger Savoyardenknabe[WS 1] mit einem häßlichen Affen im Arme, den er streichelte und hätschelte wie ein Kind, stand vor ihm, des Bettelns angeklagt. Der Junge vertheidigte sich mit: „Mio caro, cor mio“ und einigem Englisch, das er noch durch eine Pantomime deutlich machte. Er zeigte auf den Mund des Affen, dann öffnete er seinen Mund, steckte die ganze Hand hinein und lachte von einem Ohr bis zum andern. Dann zeigte er auf die Jacke des Affen und seine eigenen Lumpen und dann auf sich und den Affen, so daß man den deutlichen Eindruck bekam, er wolle sagen: „Ich und der Affe sind Herzensfreunde; ich ernähre ihn und er mich.“ Und dazu sah der Affe den Richter so fest und ernsthaft an, daß jeder Zweifel verschwinden und die Schuld des Bettelns gesühnt sein mußte. Und so war’s auch. Der Richter griff in die Westentasche, einige andere Herren griffen auch in die Westentasche. Kupfer, sogar kleines Silber und Stückchen Kuchen erschienen und concentrirten sich nach dem Savoyardenknaben und seinem Affen hin. Damit schloß diese Verhandlung.

Jetzt wurden alle Augen größer und alle Hälse länger. Ein tartarischer Chinese von riesiger Höhe und wahrhaft eckigem Knochenbau in grober, blauer Leinewand, die besonders in Form von Beinkleidern den unteren Theil seines Körpers so reichlich umwallte, daß man sie nicht leicht von einem weiten Frauenkleide unterschied, erhob sich auf dem Stehplatze der Angeklagten. Die glänzend braungelbe Farbe in seinem eckigen Gesicht mit den schiefen, stechenden Augen, dem breiten dicklippigen Munde und dem dicken Zopfe hinten, der zwar innerhalb der Jacke sich verkroch, aber grade mit dem dicksten Anfange ungemein stark aus dem Nacken heraustrat, endlich die Unmöglichkeit, ihm ein Wort zu verstehen oder verständlich zu machen, gaben der Erscheinung ein ungetheiltes Interesse, das sich zum wärmsten Mitleiden steigerte, als der Policeman erzählte, er habe einen Auflauf in der Straße erregt und den „Verkehr“ gestopft, weil er einem Jungen, der ihn am Zopfe gezerrt, etwas braun und blau geschlagen und er nun weinte und auf seinen Zopf zeigte und drohte und zu verstehen gab, daß seine Ehre auf’s Tiefste verletzt sei, und dann auf seinen Magen und dessen Leere und seine Unfähigkeit, sich verständlich zu machen und etwas zu verdienen, pantomimisch und in unverständlichen, singenden Tönen aufmerksam machte. Der Richter entschuldigte ihn wegen der Selbsthülfe, die er sich erlaubt habe, um die gekränkte Ehre seines Zopfes zu rächen, da dieser im Lande der Chinesen ein Heiligthum sei und auch in England Niemand ein Recht habe, seinen Nebenmenschen am Haar zu zausen. So ein hülfloses Wesen bedürfe des Mitleidens und des Schutzes. Spott sei hier doppelt strafbar. Offenbar sei er ein Matrose, hungrig und erschöpft. Hier sei Geld, der Policeman solle ihn nach der Themsepolizei führen und ihr aufgeben, zu erfragen, ob ein chinesisches Schiff oder sonst ein Unterkommen für ihn da sei. Andere Beamte und Publikum gaben auch Geld. Der Chinese machte schreckliche Pantomimen der Dankbarkeit mit gurgelnden, singenden Tönen und verschwand mit einem Policeman.

Nachdem eine zerlumpte Irländerin mit einem magern, bläulichen Kinde, die kein Englisch verstand, einem Arbeitshause empfohlen worden war, kam unsere Sache daran. Der Ankläger, ein verschmitzter Bursche von 15 Jahren, küßte das Testament und klagte dann über seine zerbrochenen Rippen, deren er erst drei angab, hernach aber auf zwei reducirte. Richter und Publikum lachten, je dunklere Farben seine Anklage annahm. Nachdem ich die Aussage der verschiedenen Zeugen und des Angeklagten verdolmetscht hatte, sagte der Richter, es bliebe nichts übrig als eine Ohrfeige, die er unter bewandten Umständen sehr wohl verdient habe, so daß er auf den Schutz des Gesetzes, das Ohrfeigen im Allgemeinen verbiete, keinen Anspruch machen könne. Der Wundarzt des Gerichts hatte natürlich die Stelle, wo die zerbrochenen Rippen sich aufhalten sollten, untersucht und nach seiner Aussage nichts gefunden, als kleine rothe, runde Fleckchen, um derenwillen er aber nicht den deutschen Tischler, sondern gewisse schwarze Thierchen hätte anklagen müssen. Ein sehr gemüthliches Gelächter schloß den kurzen Prozeß, um dessenwillen mein Tischler 14 Tage lang solche Heidenangst ausgestanden hatte, daß ihm der Appetit und viel von seinem Körperumfange verloren gegangen war.

Sonstige Verhandlungen drehten sich um Geld-, Injurien- und Prügelangelegenheilen von Krethi und Plethi. Anständige Leute bemerkte ich beide Male weder unter Klägern noch Verklagten. Auch ich wäre nicht zu diesem Artikel gekommen, hätte der Junge nicht seine Rache ausüben wollen. Er lauerte uns auf vor der Thür und sagte höhnisch zu dem Tischler: „Eeih, nu haben Sie doch 6 Stunden Arbeit verloren und müssen die Zeugen bezahlen.“ Dies war ihm genug. Das ganze Polizeigerichtswesen machte auf mich den Eindruck des Kunterbunten und Gemischten aus allen möglichen Nationen und von Unbeholfenheiten der untern Klassen, des Ungenirten, Patriarchalischen, Bequemen, Nachlässigen, dabei aber Humanen und Gutmüthigen von Seiten des Gerichts. Vielleicht findet der Leser hier ein kleines, aber wahres Spiegelbild davon.




Bilder aus der Thierwelt.
Der Biber.

Im Winter des Jahres 1852 erhielt ein Kaufmann in London von einem Freunde in Canada einen Biber. Derselbe war noch sehr jung, klein und wollig und ohne das lange Haar, an welchem man das völlig erwachsene Thier erkennt. Es war das einzige am Leben gebliebene von fünf oder sechs Exemplaren, die gleichzeitig in Amerika eingeschifft worden waren. Er befand sich bei seiner Ankunft in einem sehr kläglichen Zustande, war sehr abgemagert und das Fell über und über mit Pech und Theer beschmutzt. Durch gute Behandlung ward er bald wieder gesund gemacht; er wuchs zusehends, ward rund und fett und der Pelz sauber und glatt. Er ward sehr zahm und zutraulich. Wenn man ihn bei seinem Namen, Binny, rief, so antwortete er gewöhnlich mit einem leisen klagenden Tone und kam auf seinen Herrn zu. Der Teppich vor dem Herde war während der Winterabende sein Lieblingsaufenthalt und er lag auf demselben der Länge nach ausgestreckt, zuweilen auf dem Rücken, zuweilen auf der Seite, zuweilen auf dem Bauche, wobei er seine Zehen mit den Schwimmhäuten dazwischen ausbreitete, um die behagliche Wärme des Feuers darauf einwirken zu lassen.

Sein Trieb zum Bauen entwickelte sich sehr bald. Ehe er noch eine Woche in seinem neuen Quartiere war, machte er sich, sobald er aus seinem Käfig gelassen ward und Materialien in seiner Nähe fand, sofort an die Arbeit. Seine Kräfte waren schon, ehe er zur Hälfte ausgewachsen war, sehr bedeutend. Er schleppte einen großen schweren Borstbesen oder eine Wärmflasche, indem er den Griff derselben mit den Zähnen faßte und sich sie über die Schulter legte. So kroch er mit der Last in schiefer Richtung weiter, bis er die Stelle erreichte, wo er den Gegenstand hin haben wollte. Die größten und schwersten Dinge nahm er allemal zuerst in Angriff und zwei der längsten Gegenstände legte er gewöhnlich kreuzweis über einander, so daß das eine Ende die Wand berührte und das andere in das Zimmer hinausragte. Den durch die übereinandergelegten Besen und die Wand gebildeten Zwischenraum füllte er mit Bürsten, Büchern, Stiefeln, Stöcken, Kleidern, Torfstücken und andern dergleichen Dingen aus. Wenn der Bau eine gewisse Höhe erreicht hatte, stützte sich der Biber auf seinen Schwanz und machte öfters Pausen, während welcher er seine Arbeit zu betrachten und zu kritisiren [503] schien. Zuweilen riß er nach einer solchen Pause den Bau ganz oder theilweise wieder ein, zuweilen aber ließ er ihn auch stehen wie er war.

Nachdem er seine Baumaterialien an einer Stelle des Zimmers – denn gewöhnlich wählte er allemal einen und denselben Platz – aufgehäuft hatte, begann er den Raum zwischen den Füßen einer Kommode, die nicht weit davon stand und deren Füße hoch genug waren, daß er darunter sitzen konnte, wie unter einem Dache, zu vermauern, wozu er Torfstücke und kleine Holzscheite nahm, die er sehr gleichmäßig auf und neben einander legte, worauf er die Zwischenränme mit kleinen Stückchen Kohle, Heu, Tuch oder was er sonst bekommen konnte, ausstopfte.

Diesen letztern Platz schien er zu seiner Wohnung zu bestimmen, während der zuerst aufgeführte Bau wahrscheinlich einen Damm vorstellen sollte. Als er den Raum zwischen den Füßen der Kommode ummauert hatte, begann er Reiser, Tuchlappen, Heu, Baumwolle und dergleichen hineinzutragen und ein Nest zu machen. Nachdem er dies zu seiner Zufriedenheit gethan, pflegte er sich unter die Kommode zu setzen und mit den Nägeln seiner Hinterfüße zu kämmen. Bei dieser Operation zeigte sich, daß das, was auf den ersten Anblick eine Mißbildung zu sein schien, eine für die Bedürfnisse des Thieres ganz zweckmäßige Einrichtung war. Die breiten mit Schwimmhäuten versehenen Hinterfüße des Bibers sind nämlich so einwärts gebogen, daß sie gewissermaßen ein verkrüppeltes Ansehen haben; wenn die Zehen aber anstatt gekrümmt, gerade wären, so könnte sich das Thier nicht ihrer so gut zu dem Zwecke bedienen, seinen Pelz in Ordnung zu halten und ihn von Schmutz und Feuchtigkeit zu reinigen.

Kleine und leichte Gegenstände trug Binny gewöhnlich zwischen dem rechten Vorderbein und dem Kinn, während er auf den übrigen drei Beinen ging. Umfangreiche Gegenstände, die er nicht gut mit den Zähnen fassen konnte, schob er vorwärts, indem er sich mit der rechten Vorderpfote und dem Kinn dagegen stemmte. Auf seinem Schwanze trug er niemals etwas; er tauchte ihn gern in Wasser, in welches er dagegen mit dem ganzen Leibe nicht gern zu gehen schien. Wenn sein Schwanz feucht gehalten ward, so verrieth das Thier niemals Durst; war er dagegen trocken, so schien es sich sehr unwohl zu fühlen und trank dann sehr viel. Es ist nicht unmöglich, daß der Schwanz des Bibers gleich der Haut des Frosches die Fähigkeit besitzt, das Wasser aufzusaugen, obschon die schuppige Hülle, welche dieses Glied des Bibers bedeckt, nicht die Eigenschaften zu besitzen scheint, welche absorbirende Flächen gewöhnlich haben.

Man hat vielfach behauptet und es ist auch bis zu einem gewissen Grade erwiesen, daß der Gesang der Vögel von dem abhängt, was sie zuerst hören; ihr Nestbau dagegen scheint das Ergebniß angeborenen Instinktes zu sein. Binny war jedenfalls viel zu jung eingefangen worden, als daß er etwas von der Bauthätigkeit seiner Aeltern oder Genossen hätte sehen und beobachten können; sein Instinkt aber drängte ihn selbst unter den ungünstigsten Umständen zur Arbeit und er war hier, drei Treppen hoch im Zimmer eines Hauses in London, eben so eifrig mit Errichtung eines Dammes beschäftigt, als ob er seine Wohnung am Ufer eines Flusses oder Sees in seinem Heimathlande Obercanada gebaut hätte.

Brot, Milch und Zucker waren die hauptsächlichste Nahrung Binny’s; sehr gern genoß er aber auch saftige Früchte und Wurzeln. Zarte Zweige und Schößlinge, besonders von der Weide, sagten seinem Geschmack sehr zu und er verstand sie sehr geschickt zu handhaben, indem er sie durch seine Vorderpfoten zog, die er dann eng zusammenhielt, ungefähr so, wie die Korbmacher thun, wenn sie die Elasticität einer Ruthe prüfen.

Ein so geselliges Thier muß nothwendig den Gefühlen der Freundschaft zugänglich sein, was bei dem Biber in der That auch der Fall ist. Drage erzählt von zwei jungen Bibern, welche lebendig gefangen und auf eine benachbarte Faktorei in der Hudsonsbai gebracht wurden, wo sie sehr gut gediehen, bis einer davon durch Zufall das Leben verlor. Der andere fühlte den Verlust seines Kameraden augenblicklich, begann traurig umherzuschleichen, verschmähete jedes, selbst das leckerste Futter und starb nach wenigen Tagen. Der Reisende Bullock erzählt einen ähnlichen Fall, dessen Augenzeuge er in Nordamerika war. Ein Männchen und ein Weibchen wurden zusammen in einem Gemach gehalten, wo sie beide ganz glücklich lebten, bis das Männchen durch den Tod seiner Genossin beraubt ward. Ein paar Tage lang schien er seinen Verlust gar nicht einzusehen, sondern holte Futter und legte es vor das todte Weibchen hin; als er aber endlich fand, daß sie sich durchaus nicht bewegte, bedeckte er sie mit Reisern und Blättern und war bei Bullock’s Abreise ebenfalls dem Tode nahe.

Leider müssen wir auch von dem Thiere, von welchem hier die Rede ist, berichten, daß ihm kein langes Leben beschieden war. Die Haushälterin, welche mit Binny’s Verpflegung beauftragt war, sorgte mit fast übertriebener Gewissenhaftigkeit für ihn, wärmte ihm das Bett und traktirte ihn oft mit Kuchen und andern Süßigkeiten, bis er der feisteste und glänzendste aller Biber ward. Binny wußte auch diese gute Behandlung und Pflege vollkommen zu würdigen und verrieth die größte Anhänglichkeit an seine Pflegerin. Endlich als sein Herr einmal auf einige Tage verreiste, meinte er, daß Binny, der außerordentlich fett geworden war, sich wohler befinden würde, wenn er einmal in die freie Luft käme und sich ungehinderte Bewegung machen könne. Er brachte ihn daher zu einem Freunde, der in der Vorstadt wohnte und einen schönen Garten hatte. Hier konnte das Thier frei umherlaufen und hatte jede Bequemlichkeit, begann aber doch bald Mangel an Freßlust zu verrathen. Vergebens versuchte der Freund des Besitzers, durch allerhand Delikatessen den Appetit seines Gastes wieder zu wecken. Mit Ausnahme einiger Trauben verweigerte das niedergeschlagene Thier jede Nahrung und zehrte sich zusehends ab. Das Schlimmste fürchtend und in der Meinung, daß Binny sich wieder nach seiner frühern Umgebung zurücksehne, brachte man ihn wieder zu der Haushälterin zurück. Der arme Biber erkannte sie sofort, ließ seinen leisen wehmüthigen Ruf hören und kroch unter ihren Stuhl. Aber der Schlag war einmal gefallen. Binny erholte sich nicht wieder und starb, wie die gute alte Haushälterin mit Thränen in den Augen behauptete, am „gebrochenen Herzen.“ Der arme Binny! Er war ein treues und amüsantes Geschöpf, und Alle, die ihn kannten, erinnern sich mit ganz besonderem Vergnügen der höchst komischen Auftritte, welche zwischen dem würdigen, aber langsamen Biber und einem leichtfüßigen flinken Affen von der unter dem Namen Macauco bekannten Klasse, der sich mit in demselben Zimmer befand, statt hatten.

Der Macauco, welcher auf den Namen Macky hörte, konnte Sprünge machen, die an’s Wunderbare grenzten. Von einem Tische sprang er zwanzig Fuß und noch weiter auf die obere Ecke einer geöffneten Thür und dann wieder zurück auf den Tisch oder auf die Schulter seines Herrn, leicht wie ein Elf. Bei diesen Sprüngen schien sein Schwanz die Stelle einer Balancirstange zu vertreten und die elastischen Kissen an seinen Fingerspitzen setzten ihn in den Stand, sich so leicht niederzulassen, daß man ihn kaum fühlte, wenn er einem auf die Schulter sprang. Wenn sein Herr, wie derselbe sehr oft zu thun pflegte, mit gekreuzten Beinen vor dem Feuer saß, schlich sich Macky gewöhnlich herbei, setzte sich ihm auf die Füße, wickelte seinen Schwanz um sich herum, wie eine Pelzboa und schlief ein. Wenn man ihm ein Stück Apfelsine gab, so nahm er es in das Maul und warf den Kopf so weit als möglich zurück, so daß von dem Safte auch nicht ein Tropfen verloren ging. Ein Glas Champagner ging ihm über alles und seine Sprünge und Capriolen waren dann über alle Beschreibung drollig. Die Possen, die er mit Binny zusammen ausführte, waren höchst drollig. Oft während Monsieur Macky auf den Füßen seines Herrn saß, klingelte man Binny, welcher so rasch herbei kam, als sein watschelnder Gang es ihm gestattete, sich dicht an das Bein seines Herrn andrängte und sich mit dem Kopfe und der Nase daran rieb. Plötzlich bemerkte er Macky, weckte ihn auf und bemühete sich, ihn zum Mitspielen zu veranlassen, indem er vor ihm herumwatschelte. Macky, der sich niemals lange bitten ließ, that einen Sprung auf Binny’s Schwanz, war aber im nächsten Augenblicke schon weit wieder fort. Nun begann Binny in die Höhe zu bäumen, den Kopf zu schütteln und die wunderlichsten Grimassen zu machen. Es dauerte nicht lange, so sprang Macky ihm auf den Rücken, tanzte eine Polka auf ihm und sprang ihm dann über den Kopf herunter, worauf Binny dem Tänzer mit entschlossener schwerfälliger Schnelligkeit zu Leibe ging. Im Nu sprang ihm Macky wieder über den Kopf und trampelte ihm auf seinem breiten, flachen, schuppigen Schwanze herum. Binny schüttelte den Kopf, lenkte um wie ein schwerbeladener Frachtwagen und bis er den Kopf dahin gebracht, wo zuvor sein Schwanz gewesen, war Macky wenigstens zwanzig Mal von den Tischen und [504] Stühlen auf ihn und von ihm hinweggesprungen. Nun ward Binny grimmig und klatschte mit seinem Schwanze wiederholt auf die Diele, daß die Fenster klirrten, während Macky um ihn herumtanzte und die lächerlichsten Grimassen schnitt, wobei er Binny’s Schwanz mit seinem Finger berührte und schnell wie der Gedanke wieder zurücksprang.

Trotz dieser kleinen Neckereien waren sie die besten Freunde und vertrugen sich ausgezeichnet mit einander. Eines Tages waren sie mit einander allein in dem Zimmer, wo ein Waschschrank stand, dessen Thüren man aus Versehen offen gelassen hatte. Macky kletterte hinauf, durchwühlte den ganzen Schrank, zerrte Servietten, Tischtücher u. s. w. heraus und warf sie dem Biber herunter, welcher, nachdem er sich ein köstliches Bett daraus bereitet, sich auf dasselbe niederstreckte. Als die Haushälterin in’s Zimmer kam, fand sie Macky und Binny fest eingeschlafen, wobei der erstere mit Kopf und Schultern auf Binny’s fettem weichem Halse ruhete. Als Binny starb, fürchtete sein Herr, daß Monsieur Macky, eben seines lebhaften Temperaments wegen, sich den Mangel an Gesellschaft allzusehr zu Herzen nehmen möchte und machte ihn daher dem Garten der zoologischen Gesellschaft zum Geschenk, wo man ihn mit einem andern Affen seiner Art zusammenbrachte, in dessen Gesellschaft er lange und glücklich lebte.




Blätter und Blüthen.

Lebendiges Felsenriff. Ein Journal vom „höhern See“ in Nordamerika („Lake Superior Journal“) erzählt: „Als das Dampfschiff Ward neulich von der Neweenaw-Spitze nach Marguette überfuhr, wurden Capitain, Matrosen und Passagiere durch das plötzliche Geschrei: „Ein Riff! Ein Riff!“ in Schrecken gesetzt. Die Maschinen wurden außer Thätigkeit gesetzt, aber in seiner Richtung noch fortarbeitend, stieß das Schiff doch noch ziemlich unsanft, zwar nicht an, aber tief in das Riff hinein, welches, statt aus Felsen, aus einem Berge von Juniwasserfliegen bestand.

Dieser lebendige Berg ragte mehrere Fuß über das Wasser empor, war etwa 10 Ruthen lang und 5–6 Fuß breit und konnte nach dem Raume, den eine Fliege einnimmt, aus nicht weniger als 1000 Millionen Stück bestehen, also so viel, als nach der üblichen Annahme Menschen auf der ganzen Erde leben.


Die Halbinsel Krimm, aus der jetzt Weltgeschichte geschlagen wird, bietet den Engländern, Franzosen und Türken nicht nur viele politische künstliche Feinde, sondern auch natürliche, als da sind: Sümpfe und deren Ausdünstungen mit Fiebern und giftigem Ungeziefer. Zu den letzteren gehören zuerst Heuschrecken in zwei Arten und in Myriaden Felder meilenweit auffressend und die grüne Erde blutroth färbend, da sie roth aussehen. Eine Sorte kleiner Käfer frißt die Weinstöcke auf. Drei Sorten giftiger Insekten sind nicht blos der Natur, sondern auch dem Menschen gefährlich: eine riesige Tarantelspinne mit einer drei Zoll langen Zunge, eine kleinere Sorte, deren Biß oft tödtlich wird, und ein Hundertfuß unter trockenem Holze in Tausenden versammelt, einen Biß übend wie Ameisen, aber tödtlich, wenn nicht gleich Mittel dagegen gebraucht werden. Endlich findet man in den Berggegenden giftige Scorpionen. Ob die Russen die Landung des Feindes im Vertrauen auf diese Feinde so ohne Wehr zugelassen haben? Was die Sümpfe und Flüsse betrifft, über welche das Invasionsheer von Eupatoria bis Sebastopol passiren mußte, so hieß es hier, daß der Feind die Absicht hatte, es hinein zu treiben. Die schönsten Theile der Krimm liegen zwischen den Bergen und dem Meere. Südlich von Sebastopol streckt sich ein berühmter, alter Hafen mit der Hauptstadt Balaklava, welches die Engländer, wenn sie siegen, zu ihrem Hauptstationsorte machen wollen. Von hier aus dehnt sich das eigentliche Paradies der Krimm, das berühmte Thal von Baidar (das taurische Arkadien, Tempe der Krimm) 1 Meile breit und 3 lang zwischen Bergen und der Meeresküste hin, lauter Wiese, Wald, üppiges Gefild, Garten, Weinberg, Getreidemeer und Fruchtfülle mit Bäumen von so dichtem üppigen Laubwerk, daß sie den Tag unter sich in Nacht verwandeln. Ein Reisender, der das Thal beschrieben, erwähnt einen Wallnußbaum, der jedes Jahr über 100,000 Nüsse getragen habe. Balaklava liegt vor einem der besten und berühmtesten Häfen der Welt, dessen Werth schon der alle Strabo schilderte. Wenn sich die Engländer hier etabliren könnten, würden sie von hier aus allein bald alle „Kriegskosten“ wieder herausschlagen können. Die größtentheils griechische Bevölkerung des Ortes, lauter Seeräuberkinder, wird ihnen aber das Leben „im Paradiese“ nicht leicht machen.


Der Hundekönig und sein Reich. Die spanischen Provinzen in Südamerika hatten sich erhoben, um das Joch des Mutterlandes abzuwerfen und kämpften um ihre Freiheit. Ein Creole von Cuba, Juan mit Namen, stand in dem Heere der Patrioten von Peru, zeichnete sich durch großen Muth und eben so großes Glück aus, und brachte es zu einer ziemlich hohen Stelle. Nach dem Kriege hatte Peru sehr viel Freiheit, aber sehr wenig Geld und konnte seine Helden nicht bezahlen. Unser Creole erklärte, sich mit Land abfinden zu lassen; darauf ging man ein und sagte ihm, er möge sich eine Insel von den Encantadas aussuchen, bekanntlich einer Gruppe Felsen unter der heißen Sonne des Aequators, die zu Peru gerechnet wird. Der Creole schiffte sofort dahin, besah sich die Inseln genau und erklärte bei seiner Rückkunft, er habe die Certos-Insel gewählt und wolle sie annehmen, wenn man sie ihm als alleiniges Eigenthum und völlig unabhängig von Peru überlasse, auch ihm ein Document in aller Form darüber ausstelle. Dies geschah und Juan ward einer der Souveraine, obgleich er nie im Gothaischen Kalender gestanden hat.

Das Nächste, was der neue Inselkönig that, war, daß er eine Proklamation erließ, in welcher er unter glänzenden Versprechungen Unterthanen für sein völlig unbewohntes Reich suchte. Es fanden sich etwa achtzig Seelen, Männer und Weiber. Diese versorgte er mit dem Nothwendigsten, mit Werkzeug, auch einigen Rindern und Ziegen, und dann miethete er ein Schiff, das Alle nach dem gelobten Lande bringen sollte. Zuletzt, kurz vor dem Absegeln, erschien der neue König selbst und zwar unerwarteter Weise mit einer Leibwache, einer Anzahl großer grimmiger Hunde, die sich die ganze Fahrt über aristokratisch von den gemeinen Unterthanen ihres Herrn abgesondert hielten und nur diesem sich anschlossen.

Sobald König und Unterthanen an der Insel glücklich angekommen waren, welche etwa acht Meilen im Umfange hat, begannen sie die Hauptstadt zu bauen, und einige wenige Hütten, die sie von Lavablöcken aufführten, während die Rinder in den am Wenigsten unzugänglichen Schluchten einige Gräser suchten, die Ziegen aber, geborne Abenteurer, Entdeckungsreisen in das Innere des Landes antraten, die Menschen dagegen von Fischen und Schildkröten lebten, welche letztere sich in zahllosen Mengen da aufhalten.

Bei allen neuen Ansiedelungen kommen Streitigkeiten und Kämpfe vor, und sie blieben hier um so weniger aus, als die meisten Colonisten Auswürflinge der verschiedensten Nationen waren. Se. Majestät sah sich endlich genöthigt, sein ganzes Reich in Belagerungszustand zu erklären, persönlich Jagd auf die rebellischen Unterthanen zu machen, welche in das Innere des Landes sich geflüchtet hatten und in der Nacht in gar nicht zweifelhafter Absicht in den Lavapalast hineinschlichen, und mit hoher eigener Hand die niederzuschießen, welche er erreichen konnte. Die Zuverlässigsten seiner andern Unterthanen hatte er überdies zu einer Leibgarde gebildet, die neben der Hundegarde sein Leben schützen sollte. Trotzdem aber, daß Alle, die nicht zu dieser Garde gehörten, Uebelthäter und Verräther waren, wurde die Todesstrafe stillschweigend bald wieder abgeschafft, denn der König berechnete, daß er in kurzer Zeit alle seine Unterthanen erschießen müßte, wenn er nach strengem Recht verfahren wollte. Er entließ denn auch seine Garde, welche die Weisung erhielt, Kartoffeln zu bauen, und die bewaffnete Macht bestand nun wieder allein aus dem Hunde-Regimente, der König selbst aber wagte sich nur bis an die Zähne bewaffnet und umgeben von seinen getreuen grimmen Hunden zwei Schritte vor die Thür.

Der Belagerungszustand hatte zahlreiche Opfer gekostet, der Ehesegen aber war sehr gering im Lande und so nahm die Bevölkerung ab statt zu. Das bekümmerte den König sehr und er sann auf Mittel, die Zahl seiner Unterthanen in anderer Weise zu vermehren. Da seine Insel einiges Wasser hatte und unter den übrigen Felsen umher noch am Einladendsten aussah, so wurde sie gelegentlich von Wallfischfahrern besucht. Se. Majestät erhob von denselben Hafen- und andere Abgaben und allmälig fing er an, Matrosen zur Desertion zu verleiten, was ihm häufig gelang, da er es an Versprechungen nie fehlen ließ.

Obwohl er nun diese Deserteure als Günstlinge behandelte, sollten sie doch seinen Sturz herbeiführen. Sie verbanden sich zunächst mit den Unzufriedenen, gewannen endlich auch die ehemalige Leibgarde und dann brach ein allgemeiner Aufstand aus. Der Inselgebieter rückt mit allen seinen Hunden gegen die Aufrührer und an der obersten Stelle der Küste kam es zum Kampfe, zur blutigen Schlacht. Sie währte drei Stunden; die Hunde kämpften mit Wuth und Todesverachtung, die Empörer aber unterstützte die Ueberlegenheit. Drei Mann und dreizehn Hunde blieben todt auf dem Platze, Verwundete gab es auf beiden Seiten viel mehr und der König mußte endlich mit dem Reste seiner Hunde-Armee fliehen. Der Feind verfolgte ihn hartnäckig und trieb ihn mit Steinwürfen in das wilde Innere der Insel. Dann kehrten die Sieger in die Hauptstadt zurück, zapften die Rumfässer an und proklamirten die Republik. Die Gefallenen wurden dann mit allen Kriegsehren begraben, die todten Hunde aber schimpflich in’s Meer geworfen. Der Hunger trieb auch den geschlagenen flüchtigen König bald wieder aus den Bergen heraus, und er machte Friedensanträge, aber die Rebellen wollten durchaus mit ihm nicht anders Frieden schließen, als unter der Bedingung, daß er die Insel auf immer verlasse. Er mußte sich fügen, und so nahm das nächste Schiff den Exkönig mit nach Peru.

Lange privatisirte er da und wartete jeden Tag auf Nachricht von seinem Reiche, auf die Reue der Rebellen, auf seine Zurückberufung und auf den Sturz der Republik, aber vergebens; seine aufrührerischen Unterthanen blieben bei einander ohne alle Regierung, ohne alles Gesetz als das des Stärkeren. Ihre Zahl wuchs mehr und mehr, denn alle entlaufenen Matrosen waren ihnen willkommen und sie lieferten keinen aus; in Jedem sahen sie einen Märtyrer der Freiheit, und ihre Insel nannten sie „Zuflucht der Unterdrückten aller Nationen.“ Wenn sie Gelegenheit fanden, beraubten sie auch wohl ein Schiff, das an ihrer Küste anlegte, und auch vor Mord scheuten sie sich nicht. So kam es, daß endlich kein Schiff mehr an der Insel anlegen durfte. Das Gesindel auf derselben war somit geächtet, und Viele suchten endlich wieder hinwegzukommen; sie wagten sich in Böten in das Meer hinaus oder auf benachbarte Inseln, und gaben sich für Schiffbrüchige aus, um von vorüberkommenden Schiffen aufgenommen zu werden.

In unsern Tagen noch hausen Einige auf der geächteten Insel, und sie versuchen oftmals, namentlich in der Nacht, durch aufgesteckte Lichter, Schiffe an ihre Küste zu locken, aber erfahrene Seeleute scheuen diese Irrlichter mehr als Stürme und Klippen. – Der Hundekönig soll vor wenigen Jahren in Verzweiflung gestorben sein.


  1. Vergleiche Gartenlaube Nr. 10.
  2. Sie ist nach einem handschriftlichen Berichte mitgetheilt in Scherr’s „Geschichte deutscher Kultur und Sitten“ S. 297.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Savovardenknabe