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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 36. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Klementine.
Von August Schrader.

I.

Zu Anfang des Monats November im Jahre des Heils 1851 Abends gegen acht Uhr sah man einen jungen, elegant gekleideten Mann durch eine der engsten und schmutzigsten Straßen Berlins gehen. Seinen kurzen Talmamantel fest um die Schultern gezogen und den Hut tief in die Stirn gedrückt, verfolgte er eine Dame, die ihm in kurzer Entfernung voranging. Der Abend war nebelig und kalt; aber den Mann im Mantel plagte eine unerträgliche Hitze, sein Herz klopfte, und im Kopfe fühlte er ein leichten Sausen. Dieser aufgeregte Zustand, den er durch einen ruhigen, nachlässigen Gang zu verbergen suchte, ward dadurch erzeugt, daß er in der vor ihm hergehenden Frau eine Ähnlichkeit mit der schönsten Dame von Berlin entdeckte, einem züchtigen, herrlichen jungen Mädchen, das er bis zum Sterben, aber hoffnungslos liebte. Er war jung, er kannte Berlin, und deshalb wußte er auch den ganzen Umfang der Deutungen, denen sich ein junges und schönes Mädchen aussetzte, wenn man es um diese Stunde, in diesem Stadttheile allein und heimlich auf dem schlechten Pflaster erblickte.

Der junge Mann in bürgerlicher Kleidung war ein Offizier der königlichen Garde, und wenn man dies bedenkt, so kann seine Liebe romanhaft erscheinen; der Leser kann sich aber versichert halten, daß er eben so wahr als leidenschaftlich liebte, und daß der Gegenstand seiner Neigung vollkommen würdig war. Er liebte in der reizenden Klementine von Falk die Tugend selbst, die züchtige Grazie und die Achtung gebietende Heiligkeit. Klementine verdiente in der That der Gegenstand einer platonischen Liebe zu sein, einer Liebe, so hoch und rein, wie der Himmel in seinem heitersten Blau.

Die Nächte in Berlin bringen seltsame, fast unbegreifliche Wirkungen hervor, und der Beobachter derselben weiß, wie phantastisch eine Frau in den dämmernden Schatten erscheint. Man hält sie für ätherische Wesen, die wie Dämonen oder Irrwische durch einen brennenden Magnetismus den Beobachtenden mit fortziehen. Bei dem schwankenden falben Lichte der Gasflammen erhält Alles Leben und Colorit; die aufgeregten Sinne sehen die Frau in einem neuen Lichte, ihr Körper verschönt sich, und alle Glieder gestaltet die sehnsüchtige Vermuthung zu idealen Reizen.

Der flackernde Schein einer Gaslaterne fiel plötzlich in die Taille der unbekannten Schönen. Formen, so schwellend und anmuthig, konnte nur Klementine haben. Dieser leichte, schwebende Gang gehörte nur ihr an. Unter dem schwarzen Sammethute fielen schwere, dunkele Locken über den schneeweißen Hals herab; der weiche Shawl lag wie angegossen auf der schönen Büste, die reizenden Umrisse flüchtig abzeichnend. Der kleine Fuß, mit weißen Strümpfen und schwarzen glänzenden Saffianstiefelchen bekleidet, schien kaum den Boden zu berühren.

Der Offizier beschleunigte seine Schritte, ging rasch an ihr vorüber, und wandte sich, um ihr in das Gesicht zu sehen – sie war verschwunden. Eine heisere Klingel deutete die Thür an. Der junge Mann trat rasch zurück, und sah in einen langen finstern Gang, der durch eine Holzgitterthür von der Straße geschieden ward. Am Ende des schmalen Ganges zeigten sich die ersten Stufen einer beleuchteten Treppe. Leicht wie eine Sylphide schwebte die Schöne hinauf.

„Was ist das?“ fragte sich bebend der junge Mann. „Zu wem geht sie? Wer kann hier wohnen, den Klementine ohne Nachtheil für ihre Ehre besuchen darf? Und warum wählt sie den späten Abend?“

Er trat zurück und lehnte sich an die schwarze Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes. Furchtbare Gedanken durchkreuzten seinen erhitzten Kopf. Das Haus war wie alle Häuser jener abgelegenen Straßen, gemein, eng und aus vier Stockwerken bestehend, deren jedes drei Fenster hatte. Die beiden schwarzen Laden den Erdgeschosses waren fest verschlossen. Da erhellten sich plötzlich zwei Fenster des zweiten Stocks, und der athemlose Lauscher glaubte den Kopf Klementine’s zu bemerken, deren Schattenrisse sich in den leichten Gardinen zeigten. Dann erlosch das Licht, und das verhängnißvolle Haus lag im Finstern.

Thränen der Wuth und Verzweiflung rannen dem armer Manne über die Wangen, er sah und fühlte Alles, was die vor einer furchtbaren Eifersucht erhitzte Phantasie nur erschaffen kann.

„Und wenn ich das Schrecklichste erfahre,“ dachte er, „ich muß wissen, ob ich mich täusche oder nicht. Vielleicht lerne ich den Grund kennen, der Klementine’s Großmutter veranlaßte, meine Annäherung entschieden zurückzuweisen. Ach, und sie, von der ich mich geliebt wähnte, billigt das Verfahren der alten herzlosen Frau. Sie richtet keine Zeile des Trostes an mich, sie vermeidet vielmehr die Zirkel, in denen sie mich zu finden glaubt. Es wäre gräßlich, wenn ich mir hier die Lösung dieses Räthsels holen müßte. Klementine’s Großmutter, des armen Mädchens einzige Stütze, ist unbemittelt, aber sie spielt gern die große Dame, und liebt Luxus und Bequemlichkeit – großer Gott, ich wage nicht, meine Gedanken weiter auszuspinnen! Es ist ja möglich, daß ich mich getäuscht habe.“

Die Arme verschlungen und die glühenden Blicke nach dem Hause gerichtet, stand er wohl eine halbe Stunde da, als plötzlich die Fenster sich wieder erhellten. Man hörte deutlich das Oeffnen und Schließen der Thüren in dem leicht von Holz gebauten Haus [418] Der Lauscher war in zwei Sprüngen an der Gitterthür, damit er dem Mädchen, wenn es zurückkehrte, deutlich in das Gesicht sehen konnte. Zwei Minuten verflossen, und an der erhellten Treppe im Hintergrunde des Ganges erschienen zwei Personen, die sich deutlich erkennen ließen. Es war eine alte Frau und ein junger Mann. Die Alte war schmutzig gekleidet, trug aber eine große weiße Haube mit breiten rothen Bändern auf dem Kopfe. Ein rothes wollenes Tuch, deren Zipfel auf dem Rücken zusammengeknotet, bedeckte ein altes verschossenes Kleid. Der junge Mann, den sie die Treppe herabgeleuchtet, war höchst elegant gekleidet; er trug einen schwarzen Frack, eine weiße Weste, auf der ein goldenes Uhrgehänge blitzte, eine weiße Atlas-Cravatte und einen feinen Hut. Sein zartes rothes Gesicht trug den Typus jener jungen Leute von neunzehn bis zwanzig Jahren, von denen man sagt, daß sie in dem Comptoir des reichen Vaters arbeiten, um später das große Geschäft desselben zu übernehmen, daß sie außerdem aber das Leben eines Barons führen. Lächelnd ließ er sich von der Alten den Mantel um die Schultern werfen, den er bisher über dem Arm getragen hatte. Dann sah er nach der Uhr, grüßte vornehm herablassend, und verließ die Alte, die klaffend wieder die Treppe hinanstieg. In dem Augenblicke, als er das Hölzgitter öffnete, trat ihm der Offizier entgegen.

„Mein Herr, sind Sie in diesem Hause bekannt?“ fragte er mit bebender Stimme.

„Ob ich hier bekannt bin?“ stammelte bestürzt der Angeredete. „Wie können Sie glauben –!“

„Ich bitte, sagen Sie mir, wer im zweiten Stocke wohnt!“

„Ich weiß es nicht.“

„Aber Sie kommen von dort?“

„Ja!“

„So müssen Sie doch wissen, bei wem Sie gewesen sind?“

Diese rasch und heftig ausgesprochenen Fragen schienen den Gefragten in eine große Verlegenheit zu setzen; er rückte den Hut tief in die Stirn hinab, und zog den Mantel bis an das Kinn hinauf, so daß nur seine Nase sichtbar blieb.

„Haben Sie Gründe, Ihren Besuch zu verheimlichen?“ fuhr der Aufgeregte fort.

„Mein Gott, warum fragen Sie mich danach?“

„Ich bitte nur, mir Auskunft zu geben. Wer war die alte Frau?“

„Die alte Frau? Lieber Herr, ich bedaure, daß ich nicht dienen kann – guten Abend!“

Der Unbekannte sprang bei Seite, und verschwand in einem Seitengäßchen.

„Er fürchtet erkannt zu werden!“ flüsterte der Offizier vor sich hin. „Klementine, Klementine, wenn Du es bist!“

Der arme Mann versank in ein tiefes Nachsinnen. Tod und Leben hing von der Lösung dieser Frage ab. Er wartete noch eine Viertelstunde, die ihm zu einer Ewigkeit ward. Die Arbeiter, die in heitern Gesprächen an ihm vorübergingen, beneidete er; er hielt sich für einen aus der Welt Ausgestoßenen. Da schlug das Rauschen eines seidenen Frauenkleides an sein Ohr. Er blickte auf, und Klementine schwebte an ihm vorüber – er erkannte sie, obgleich sie den weißen Schleier herabgezogen hatte. In dem Lichtkreise der nächsten Laterne hielt ein Fiacre, der langsam herangekommen war, ohne daß ihn der junge Mann bemerkt hatte. Als er aufsah, stieg Klementine ein, und der Wagen rollte davon. Rasch warf er noch einen Blick nach dem Hause, um es dem Gedächtnisse einzuprägen, dann folgte er laufend dem Fiacre, um die letzten Zweifel zu lösen, die er zur Ehre seiner Angebeteten noch hegte. Bald sollte er auch diese Zweifel verlieren.

Der Wagen bog in eine breite, belebte Straße, und hielt vor dem glänzend erleuchteten Laden einer französischen Putzmacherin an. Die Dame stieg aus und ging in den Laden. Als der athemlose Offizier an das Fenster trat, stand Klementine vor dem glänzenden Ladentische, und die Putzmacherin, eine elegante Frau von dreißig Jahren, präsentirte der Käuferin, die nun ihren Schleier zurückgeschlagen hatte, ein Karton mit Federn. Der Lauscher verstand jedes Wort, das in dem Laden gesprochen ward.

„Wählen Sie diese Marabouts,“ sagte die Verkäuferin; „sie sind nicht allein das Neueste bei einer Balltoilette, sie müssen in Ihrem schwarzen Haar auch einen reizenden Contrast bilden. Blondinen würde ich nicht dazu rathen. Ich bitte, legen Sie einen Augenblick den Hut ab und prüfen Sie.“

Klementine löste die Bandschleife und warf den Sammethut auf den Tisch. Die Putzmacherin ergriff einen Maraboutschmuck, neigte sich über den Tisch, und befestigte ihn in den vollen schwarzen Locken der Käuferin. Dann reichte sie ihr einen runden Handspiegel. Klementine betrachtete sich lächelnd und mit großer Zufriedenheit. Ach, und der Lauscher konnte deutlich das jugendliche, anmuthige Gesicht sehen, er konnte bemerken, wie reizend die schneeweißen, wolligen Federn in dem glänzenden Schwarz der Haare standen! Der Flaum des indischen Vogels fächelte bei jeder Bewegung des Engelköpfchens die zart geröthete Wange.

„Habe ich nicht Recht?“ fragte lächelnd die elegante Verkäuferin.

„O, sie hat Recht!“ flüsterte der Offizier mit einer gräßlichen Bitterkeit, indem er seine heiße Stirn an die kalten Glasscheiben drückte. „Klementine ist ein Engel, aber ein gefallener Engel!“

„Nennen Sie den Preis dieses Schmucks,“ sagte die Käuferin, indem sie die Federn in der Hand hielt und betrachtete.

„Zwei Ducaten!“

Klementine zog ihre Börse, und warf das Geld auf den Tisch, ohne um den Preis zu feilschen. Der Offizier, der wußte, daß eine solche Ausgabe für Luxussachen die Kasse Klementine’s bisher nicht erlaubt hatte, bebte bei dem Klange des Geldes zurück. Die Käuferin nahm den Karton, grüßte mit der ihr eigenen, unbeschreiblichen Anmuth, verließ den Laden und sprang leichtfüßig in den Wagen, der rasch davonfuhr.

Wie vernichtet stand der junge Mann an seinem Platze. Er hatte alle seine Hoffnungen, und was noch schmerzlicher war, seinen unerschütterlichen Glauben an die Heiligkeit des Mädchens verloren, das er mit dem Fanatismus der ersten Liebe anbetete. Die schrecklichsten Augenblicke seines Lebens waren eingetreten. Er schwankte zwischen zwei furchtbaren Extremen. Da rüttelte ihn ein Stoß, der seine Schulter traf, empor.

„Vorgesehen, Herr! Ich will die Laden vor die Fenster setzen!“ rief eine rauhe Stimme.

Es schlug neun Uhr, und der Hausknecht schloß die Schaubühne, auf welcher der Offizier die letzte Scene des inhaltschweren Drama’s seines Lebens gesehen hatte. Wie ein Trunkener schwankte er seiner Wohnung zu. Um Mitternacht hatte er ein Schreiben an den General vollendet, worin er um die Entlassung aus dem Dienste nachsuchte. Er zweifelte nicht daran, daß Klementine einen Andern liebte.

II.

Ernst von Below gehörte einer alten, aber armen adeligen Familie an. Er war auf Kosten eines Bruders seines früh verstorbenen Vaters erzogen, und hatte es in seinem dreiundzwanzigsten Jahre bis zum Secondelieutenant gebracht. Auch der Onkel, der ihm bisher eine jährliche Unterstützung von sechshundert Thalern gezahlt, war vor einem Jahre plötzlich am Schlagfluß gestorben. Man glaubte allgemein, Ernst, der ein Liebling des alten Barons von Below gewesen, würde nun auch der Erbe seines großen Vermögens werden: allein ein jüngerer Bruder des Verstorbenen, der Junker von Below, wie man ihn allgemein nannte, hatte nachgewiesen, daß Ernst’s Vater nur ein Halbbruder des verstorbenen Barons gewesen sei, und das ganze beträchtliche Vermögen war nun auf den fünfzigjährigen Junker übergegangen, da der Verblichene kein Testament hinterlassen hatte. Die Entscheidung des Gerichts war ungefähr seit vier Wochen bekannt, und Ernst ein armer Lieutenant geworden, der nichts als seinen Sold hatte. Er bewohnte noch einige Zimmer in dem Hause des Barons, das unter den Linden lag. Die übrigen Räume hatte bereits der Junker bezogen, und Maler und Tapezierer waren beschäftigt, sie fürstlich einzurichten.

Um dieselbe Zeit, als Ernst sein Schicksal in Betreff der Erbschaft, die er im ungünstigsten Falle mit dem Junker zu theilen gehofft, erfahren, hatte er auch einen Brief von der alten Frau von Falk erhalten, worin sie ihn ersuchte, jede Annäherung an Klementine ferner zu vermeiden, da ein Liebesverhältniß, das unmöglich zu einer Ehe führen könne, ein junges Mädchen compromittiren müsse, zumal wenn es nichts als seinen unbescholtenen Ruf besitze.

Ernst sah noch einmal Klementine, und da er in ihrem Betragen eine kalte Zurückgezogenheit zu bemerken glaubte, zog er [419] den Schluß, daß Großmutter und Enkelin sich des enterbten jungen Mannes entledigen wollten. Anfangs hielt er Klementine’s Betragen nur für eine Folge ihres Gehorsams und ihrer Abhängigkeit von der alten Frau, die eine kleine Wittwenpension mit ihr theilte; aber seit den Erfahrungen jenes Abends hatte er jede Hoffnung aufgegeben.

„Sie hat nur meine Bewerbungen angenommen“, dachte er, „weil sie in mir einen reichen Mann zu bekommen glaubte. Den armen Secondelieutenant beachtet sie nicht mehr, sie sucht andere, vortheilhaftere Verbindungen. Aber mit welchem Rechte,“ fragte er sich beschämt, „kann ich ihrem Gange nach der einsamen Straße eine solche Deutung unterlegen? Wenn sie einen Akt der Wohlthätigkeit vollbracht hätte? Gebe Gott, daß ich den reinen Engel durch meine Annahme gekränkt habe, ich will gern die mir selbst auferlegten Qualen ertragen, wenn nur sie von keinem Vorwurfe getroffen wird.“

Nach der unter Zweifeln und Hoffen verbrachten Nacht erschien ihm Klementine in einem andern Lichte als zuvor. Er betete sie an, er liebte sie mit der ausschweifenden Angst der Hoffnung, mit der Wuth der aufgestachelten Eifersucht. Das Verbot der alten eigensinnigen Großmutter galt ihm nichts mehr, an der Auflösung des geheimnißvollen Knotens lag ihm Alles, und er beschloß, ihn zu lösen, es möge kosten, was es wolle. Sein Entlassungsgesuch verbarg er in einem geheimen Fache des Schreibtisches.

Gegen zehn Uhr trat der Junker in sein Zimmer. Es war das erste Mal, daß er den Erben des großen Vermögens begrüßte. Ernst besaß zu viel Takt, um dem alten Gecken den Groll merken zu lassen, der in seinem Herzen schlummerte. Der Junker hatte bereits große Toilette gemacht: er trug einen kostbaren kurzen Pelzrock, um jugendlich zu erscheinen, und eine braune Perrücke, der es deutlich anzusehen, daß sie erst kürzlich aus den Händen des Künstlers hervorgegangen war. An seinen dürren Fingern glänzten kostbare Ringe, und selbst der Knopf seiner neuen Reitgerte war von ciselirtem Golde.

„Vetter,“ rief der Junker in einem heitern Tone, „ich habe ein Versehen gut zu machen!“

„Gegen mich?“ fragte Ernst verwundert, der diese Worte auf sein verwandtschaftliches Verhältniß zu ihm bezog.

„Ich übernahm gestern eine Einladung des Kommerzienraths G. für Dich. Unglücklicherweise habe ich vergessen, die Karte Dir zuzusenden – ich übergebe sie deshalb heute persönlich. Laß diese Verzögerung kein Grund sein, die Einladung abzulehnen. Ich biete Dir einen Platz in meinem Wagen an. Der Ball wird einer der glänzendsten der diesjährigen Saison sein.“

Ernst hatte einen Blick auf die Karte geworfen.

„Diesen Abend ist der Ball?“

„Bedarfst Du so großer Vorbereitungen?“ fragte der Junker.

„Wenn auch das nicht, aber – – –“

„Ich lasse kein Aber gelten, mein bester Vetter! Wir müssen Beide auf dem Balle erscheinenn und damit Punktum.“

„Und dennoch muß ich Sie bitten, allein zu gehen.“

„Warum?“

„Ich bin nicht disponirt, in einer großen Gesellschaft zu erscheinen.“

„Bis zum Abend findet sich die Disposition, und um den ersten Grund dazu zu legen, ist hier eine Anweisung auf sechshundert Thaler. Ich zahle die Rente fort, die Dir mein Bruder bewilligt hat. Man soll nicht sagen, daß ein Below nur von seinem Solde lebt; aber auch eben so wenig soll man glauben, daß uns die Erbschaftsgeschichte entzweit hat. Onkel und Neffe treten zusammen in den Ballsaal und alle Gerüchte und Vermuthungen sind im Keime erstickt. Weigerst Du Dich, Vetter, so muß ich annehmen, daß Du selbst einen Bruch mit mir herbeiführen willst. Du siehst, ich biete zuerst die Hand – willst Du sie nicht annehmen?“

„Onkel,“ rief Ernst, „es kann mir nicht einfallen, den Gekränkten zu spielen; indeß – – –“

„Begleitest Du mich – ja oder nein?“

„Geschieht Ihnen ein Dienst damit, so werde ich Sie begleiten.“,

„-Gut! Also um acht Uhr fährt der Wagen vor. Jetzt will ich zu meinem Tapezierer gehen, um ihm Aufträge zu geben, denn der nächste glänzende Ball, von dem die Residenz spricht, wird in meinem Saale stattfinden. Auf Wiedersehen diesen Abend.“

Der Junker verließ singend das Zimmer und das Haus. Ernst ging zur Parade. Das Wetter war klar und hell, die Wintersonne hatte die Wolken durchbrochen, und, von ihrem Strahle angelockt, sah man eine Menge Spaziergänger unter den Linden. Der Offizier war nicht weit gegangen, als er eine Gruppe von drei Personen vor sich erblickte. Sie bestand aus Klementinen, ihrer Großmutter und einem jungen Manne. Der Letztere ging neben Klementine, und war mit ihr in einem lebhaften Gespräche begriffen. Wer beschreibt die Bestürzung des armen Ernst, als er an der Stimme und der Gestalt denselben Mann erkannte, den er Abends zuvor in der verhängnißvollen Straße gesehen und gesprochen hatte! Heute zeigte sie sich öffentlich mit ihm auf der Promenade und die Begleitung der Großmutter sollte das Verhältniß, das nun nicht mehr abzuleugnen war, bemänteln.

„Lieber Freund,“ rief die anmuthige Stimme Klementine’s, „dort fährt ein leerer Fiacre; ich bitte, rufen Sie ihn.“

„Wollen Sie den Spaziergang nicht mehr fortsetzen?“ fragte der junge Mann.

„Meine Großmutter ist ermüdet.“

„Nun, so mag sie allein nach Hause fahren – das Wetter ist so schön! Ich begleite Sie.“

Dem Offizier erstarrte das Blut in den Adern.

„Dieser Mann,“ dachte er, „darf es wagen, eine solche Insolenz auszusprechen! Vielleicht hat er das Recht dazu.“

„Wollen Sie mir den Dienst nicht leisten?“ fragte Klementine lachend.

„Mit Vergnügen, denn Sie wissen ja, daß ich für Sie mein Leben wage.“

Der junge Mann sprang zur Seite in die Fahrstraße und rief den Kutscher. Der Wagen hielt an. Der Unbekannte half der Großmutter einsteigen, dann, als er Klementine den Dienst geleistet hatte, küßte er ihr die Hand, die sich ihm aus dem Wagen entgegenstreckte. Der Fiacre fuhr davon.

„Ein reizendes Geschöpf!“ flüsterte der Unbekannte wie begeistert so laut vor sich hin, daß es Ernst verstehen konnte, der in diesem Augenblicke an ihm vorüberging.

Gedankenvoll schloß sich der Offizier einigen Kameraden an.


III.

Der Junker hatte indeß das Magazin eines der ersten Tapezierer der Residenz betreten. In dem Comptoir traf er ein junges Mädchen, das mit dem Ausmessen von seidenen Gardinenstoffen beschäftigt war.

„Guten Morgen, meine kleine Doris!“ rief er in dem vertraulichen Tone eines alten Bekannten. „Bist Du allein?“

Das niedliche, rothwangige Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren legte den Stoff auf einen Stuhl, und dankte durch eine zierliche Verbeugung.

„Herr Thaddäus, mein Vetter, befindet sich in dem Hauptmagazine. Ich werde ihn sogleich rufen.“

„Bleibe, Doris!“ rief der Junker, indem er die Hand des Mädchens ergriff. „Es ist mir lieb, wenn ich mit Dir einige Minuten plaudern kann.“

„Mit mir, gnädiger Herr? Ich bin nur ein armes Mädchen, das der Vetter aus Barmherzigkeit zu sich genommen hat. Was kann Ihnen an meiner Unterhaltung liegen? Ja, wenn ich eine große Dame wäre.“

„Du verdienst es zu sein, mein Kind!“ antwortete der Junker, indem er ihr in die Wange kniff.

Doris sprang zurück.

„Ich sehne mich nicht danach!“ rief sie lachend.

„Wenn Du willst, kannst Du mit mir in dem neuen Wagen fahren, den Dein Vetter für mich in der Arbeit hat.“

„Das würde sich für mich nicht schicken.“

„Warum?“

„Weil ich Fritz, unsern ersten Gesellen, bald heirathen werde.“

„Ah, daran thust Du recht, meine liebe Doris! Fritz ist ein geschickter Arbeiter und ein hübscher junger Mann, der ein recht glückliches Loos verdient. Es hängt von Dir ab, ihm ein Kapital zu verschaffen, mit dem er ein eigenes Geschäft begründen kann.“

[420] Das Gesicht des jungen Mädchens überflammte eine hohe Röthe.

„Ich werde den Vetter rufen!“ sagte sie kalt und verließ das Comptoir. Nach fünf Minuten trat Herr Thaddäus ein, ein kleiner, dicker Mann von einigen fünfzig Jahren. Ehrerbietig nahm er sein schwarzes Sammetkäppchen ab, so daß seine große, glänzende Glatze sichtbar war.

„Gnädiger Herr, Sie haben sich ohne Zweifel wegen der neuen Möbelstoffe zu mir bemüht – schon vor einigen Stunden habe ich meinen ersten Arbeiter Fritz zu Ihnen gesendet, um Ihnen Proben der neuesten Muster vorzulegen.“

„Ich habe weder Monsieur Fritz, noch die Proben gesehen.“

„Und Sie kommen direkt aus Ihrer Wohnung?“ fragte erstaunt der alte Tapezierer.

„Direkt!“

„Das ist entsetzlich! Diesen leichtsinnigen Burschen werde ich aus meinem Hause jagen! Er läßt sich Nachlässigkeiten über Nachlässigkeiten zu Schulden kommen, und oft, wenn ich glaube, er zeichnet Muster, treffe ich ihn beim Romanlesen. Verzeihung, gnädiger Herr –“

„Hat nichts zu sagen, lieber Freund!“ unterbrach den kleinen aufgeregten Mann lächelnd der lange Junker. „Ich wäre dennoch zu Ihnen gekommen, da ich ein Geschäft zu besprechen habe.“

Der Tapezierer holte einen Stuhl herbei, auf dem sich der Edelmann niederließ.

„Ich stehe zu Diensten, gnädiger Herr!“

„Soviel ich weiß, haben Sie schon die Aufträge meines verstorbenen Bruders besorgt?“

„Ja, gnädiger Herr. Als er vor zwanzig Jahren von seinen Gütern in die Residenz zog, habe ich ihm sein Hotel vollständig eingerichtet. Möbel, Vorhänge, Teppiche, Wagen – alles ist meine Arbeit. Die Tapeten – nun, sie sind freilich ein wenig aus der Mode gekommen – –“

„Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich habe nämlich die Absicht, die ganze erste Etage neu tapezieren zu lassen, die alten Möbel zu verkaufen und neue anzuschaffen. Sie übernehmen die alten Sachen, rechnen Sie mir zu guten Preisen an und liefern mir geschmackvolle, neue.“

„Ich werde Sie gut und reell bedienen, gnädiger Herr. Wann kann die Arbeit beginnen?“

„Heute, morgen – wenn mir in drei Wochen alles vollendet ist.“

„Verlassen Sie sich darauf.“

„Sie kennen das kleine blaue Zimmer neben dem Saale?“

„Ja.“

„Ich empfehle es vorzüglich Ihrer Kunst und Ihrem Geschmacke. Verwandeln Sie es in ein reizendes Damen-Boudoir, in einen wahren Feentempel. Seidene Tapeten, seidene Vorhänge, Gobelins, englische Möbel mit einem Worte, denken Sie, daß es eine Fürstin bewohnen wird.“

„Eine Fürstin!“ rief lächelnd der alte Thaddäus. „So darf ich mir erlauben, meinen Glückwunsch abzustatten?“

„Still!“ rief mit einem feinen Lächeln der Junker. „Die Sache bleibt vor der Hand noch Geheimniß. Sowohl meine politischen als meine andern Freunde dringen in mich, daß ich mir eine Frau aus einer alten, guten Familie nehme. Ich habe mich gestellt, als ob ich keine Neigung zum Heirathen hätte; aber schon seit vier Wochen ist meine Wahl getroffen.“

„Ist’s möglich!“ .

„Ja, mein Freund, ein junges, reizendes Mädchen, die erste, pikanteste Schönheit Berlins erhält meine Hand. Es ist alles abgemacht, und sobald Ihre Kunst mein Hotel zu ihrem Empfange würdig eingerichtet hat, führe ich sie zum Erstaunen der Welt heim. Ich bin ein Freund von Ueberraschungen – also Verschwiegenheit, Eile, Geschmack und Kunst. Von bestimmten Grenzen der Preise kann natürlich nicht die Rede sein.“

„Gnädiger Herr, ich wollte eigentlich meinen Werkführer Fritz noch heute aus dem Hause jagen, um ihn für seine Nachlässigkeiten zu bestrafen; diesen Act der Gerechtigkeit werde ich nun aufschieben, bis ich Ihre Aufträge vollzogen habe, denn der Bursche ist mein bester Arbeiter. Heute Nachmittag werde ich die Locale besichtigen, und morgen soll die Arbeit beginnen. Die alten Möbel lasse ich in mein Magazin schaffen und werde sie, Behufs Anrechnung, gewissenhaft abschätzen.“

Thaddäus legte dem Junker nun Zeichnungen von Möbeln und Zimmerausschmückungen vor. Während dieser Zeit fand in dem angrenzenden Magazine folgende Scene statt. Doris hatte sich dorthin zurückgezogen, um den Zudringlichkeiten des verliebten Junkers zu entgehen. Man kann sich darüber nicht wundern, denn Doris war wirklich ein liebliches, anmuthiges Kind. Sie trug ihren Fuß in einem so niedlichen Schuhe, daß man kaum einen leichten, schwarzen Streifen zwischen dem Fußboden und ihrem weißen Strumpfe bemerkte. Ein solcher Schuh ist eine eigenthümliche Grazie der berliner Mädchen, die den ganzen Tag in einem Magazine verbringen. Dieselbe nachlässige Sorgfalt, mit der die zierlichen Füßchen gepflegt werden, nimmt man auch bei dem leichten grünen Thibetkleide wahr, das sich eng den Körperformen anschließt, um sie zierlich abzuzeichnen. Das Kleid bedeckt alles mit großer Züchtigkeit, aber es läßt die Schönheit und jugendliche Fülle des Oberkörpers ahnen. Das kleine schwarze Sammethalsband mit Bronceschloß hebt die weiße Farbe der Haut hervor, ebenso die schmalen schwarzen Bänder an den Handgelenken, die in kleinen Schleifen zusammengebunden sind. Die schwarze Taffetschürze ist nur dazu vorhanden, um die Feinheit der Taille mehr hervorzuheben, und mit ihren kleinen Taschen die Hälfte der kleinen Hände aufzunehmen. Doris kannte zwar die Vortheile dieser kleinen Toilettenkünste nicht, aber sie übte sie, weil sie es so gesehen hatte. In diesem Unbewußtsein lag ein Reiz mehr für den Beobachter. Sie hatte ein feines Gesicht, rosige Wangen, weißen Teint, dunkelblaue blitzende Augen, eine sanftgewölbte Stirn und sorgfältig gescheitelte braune Haare.

(Fortsetzung folgt.)




Baldomero Espartero.

Es giebt unter den Staatsmännern unserer Zeit kaum einen, der an Größe und Edelsinn Espartero an die Seite zu stellen wäre. Was auch dem frühern „Regenten“ Menschliches passirt sein mag, es giebt keinen trefflicheren Beweis für seine Verdienste und seinen Werth, als daß Spanien, nachdem es ihn eilf Jahre lang in Verbannung vergessen zu haben schien, ihn jetzt gleichsam einstimmig als seinen Retter begrüßt von einer gewissen- und tugendlosen Camarilla- und Unterrocks-Regierungskunst, die ihres Gleichen nur selten auf einem civilisirten, „christlichen“ Throne gehabt haben mag.

Dieser Mann des Volks, grade in einem Moment, wo es sich in sittlicher Entrüstung für sein Recht und seine Moralität erhebt, verdient nähere Beachtung. Wir geben deshalb mit seinem wohlgetroffenen Porträt zunächst eine Skizze seines Lebens.

Espartero wurde 1792 in Granatula, einem Dörfchen der Provinz la Mancha, dem Geburtsorte Don Ouixote’s, geboren. Er war das neunte und jüngste Kind des Zimmermanns, Pantoffel- und Karrenmachers, auch Boten und Factotums von Granatula: Antonio Espartero. Baldomero, „das neunte,“ war zu schwach zu der harten Arbeit, womit der Vater sein Brot und das Olivenöl dazu verdiente, und sollte deshalb Priester werden. Ein Bruder von ihm, Caplan in einem benachbarten Dorfe, übernahm seine Vorbildung. Die Nachricht, daß Napoleon in Spanien eingefallen sei, trieb auch ihn patriotisch empor und weg von seinen geistlichen Büchern. Er schloß sich einem Freiwilligen-Corps, das sich ausschließlich aus Geistlichen bildete und das „heilige Bataillon“ genannt ward, an, und hier zeichnete sich der sechzehnjährige Vaterlandsvertheidiger bald so aus, daß er erst in ein ordentliches Regiment und dann in die Militärschule von Leon befördert ward. Zwei Jahre später finden wir ihn als Seconde-Lieutenant des Ingenieur-Corps von Cadix und 1814 eines Linienregiments in Valladolid. Nach dem Falle Napoleon’s brachen Streitigkeiten des Mutterlandes mit den [421] südamerikanischen Colonien aus, besonders in Chili. General Murillo, der eine Expedition hinüber machen sollte, bekam kurz vor seinem Aufbruche einen Besuch von einem stillen, ernsten, schwermüthigen Seconde-Lieutenant, um seine Betheiligung an dem Chili-Zuge anzubieten. Murillo wurde sofort so für ihn eingenommen, daß er ihn zu seinem Privat-Secretär und zum Capitän erhob. Drüben (in Peru) brachte er’s bald zum Infanterie-Major.

Baldomero Espartero.

Mehr als acht Jahre lang focht er drüben wie ein echter Held des Schwertes und erntete nicht nur den üblichen Ruhm der Offizierehre, sondern auch den eines tüchtigen, ehrenfesten Charakters. Er wurde fünf oder sechs Mal verwundet und immer wieder zur Leitung der gefährlichsten Unternehmungen gegen die Insurgenten bereitwillig gefunden. Doch hatte diese Tapferkeit selbst weiter keinen sittlichen Werth, da es eben nur galt, die Leute in Chili, Peru und Bolivia, also wahre Antipoden Spaniens, wieder der spanischen Krone zu unterwerfen. Nach dem Siege des Insurgenten-Generals Sucre 1824, mußte Mutter Spanien ihre südamerikanischen Töchter durch die Capitulation von Ayacucho freigeben. Espartero kehrte mit Narvaez, Maroto, Valez, Rodil, Alaix und dem durch sein Cuba-Märtyrerthum berühmt gewordenen Lopez nach Spanien zurück. Die Regierung zeichnete ihn aus, das Volk aber auch, nämlich durch den Spottnamen „Ayacucho“. Die Helden, welche Südamerika verloren hatten, mußten überhaupt viel Spott und Schimpf erfahren, so daß sie sich zu einer besondern Freundschaftsgesellschaft verbanden, um gemeinsam zu tragen und sich zu unterstützen. Im spanischen Bürgerkriege fanden sich mehrere dieser „Freunde“ zuweilen gegenüber, ohne daß dieses ehemaligen Bundes vergessen ward. Espartero namentlich trug dieser Freundschaft gegen Maroto edelmüthig Rechnung, als er die Convention von Bergara schloß. Später fand Espartero eine militärische Stellung in Logrono, das auch in der jetzigen Insurrektion eine Rolle spielt. Hier entwickelten sich seine beiden Haupteigenthümlichkeiten, Trägheit und Gleichgültigkeit nach aufregenden Thaten und Anstrengungen und Spielsucht. Letztere mit der Nebeneigenthümlichkeit, daß er fast immer gewinnt. Im südamerikanischen Kriege hatten die Herren auch mehr gespielt als gekämpft, und von Espartero hieß es, daß er sich ein bedeutendes Vermögen damit gemacht habe. In Logrono verliebte er sich in die schöne Tochter eines reichen Kaufmanns, Signorita Jacintha Santa Cruz, aber der Vater wollte von dem „Spieler“ nichts wissen. Doch brachte er ihn so weit, daß er mit ihm um die Tochter spielte, wobei er, wie gewöhnlich, gewann, so daß der Vater Ja sagen [422] mußte, um seine „Ehrenschuld“ abzutragen. Als junger Ehemann wurde er nach der Insel Majorca geschickt, wo er bis zum Tode Ferdinand’s VII. blieb. Der nun folgende Bürgerkrieg stellte ihn als General-Commandeur der Provinz Biscaya an die Spitze der Christino’s. Als solcher war er gegen Zumala Carreguy (1815) sehr unglücklich, da er drei Schlachten verlor. Nach Cordova’s Rücktritt (1836) übernahm er das General-Commando über die ganze Christino-Armee, ward später Vicekönig von Navarra und Chef der baskischen Provinzen, nach dem Siege von Luchana Graf von Luchana, Deputirter der Cortes und Vertreter nach der von ihm beschwornen Constitution von 1837, die er freilich aus Haß gegen das Calatrava-Ministerium stürzen half. Gegen rebellische Soldaten seiner Armee bewies er den tollsten Muth, da er die Haupträdelsführer persönlich aus der Menge herausriß, und dann erschießen ließ. Nachdem er 1838, 27. April, den Carlisten-General Negri bei Burgos, 15,000 Carlisten bei Penacerrada geschlagen und Sieg auf Sieg erfochten, gelang ihm die größte That. Am 30. August 1838 ging er ganz allein an den Truppen seines jetzigen Feindes (ehemaligen Ayacucho-Genossen) Marato hinunter, und rief: „Wollt Ihr Alle zusammen leben als gute Spanier unter Einer Fahne, so geht und umarmt meine Soldaten, wie ich Euren General jetzt umarme!“ – Allgemeiner Enthusiasmus, allgemeine Umarmung – Ende des Bürgerkriegs. Ein Beweis mehr, daß edele Thaten des Herzens mächtiger sind, als die größten Heroenthaten der Gewalt.

Nach diesem dramatischen Verbrüderungsakte blieb nur noch übrig, den Rest der Armee des Don Carlos zu unterwerfen. Espartero trieb ihn (am 14. September) auf französisches Gebiet, und nachdem er auch im Beginn des folgenden Jahres Cabrera’s Truppen in Arragonien besiegt hatte, war das Ende des furchtbaren Bürgerkrieges und die Rückkehr des Friedens allgemeine, historische Thatsache. Hierin liegt die eigentliche Quelle der hohen, nationalen Popularität Espartero’s. Er war der Held der Fortschrittsprinzipien, der bürgerlichen, constitutionellen Freiheit gegen das absolutistische Prinzip und den Bürgerkrieg, der Friedensfürst, der wahre Vaterlandsretter.

Hiermit endigte seine blos militärische Laufbahn. Er begann die des Staatsmanns, um, was er mit dem Schwerte zum Siege gebracht, in das Leben auch wirklich einzuführen. Weder Christine, die Königin, noch ihre Minister zeigten große Lust, die Constitution von 1837 zu respektiren. So zwang er z. B. Narvaez aus dem Ministerio zu treten und erhob seinen Adjutanten und sein Factotum Linage, von dem seine Feinde sagten, daß er eigentlich die Seele aller seiner Verdienste sei, zum General. Vor Allem galt es, die französische Centralisationssucht Christine’s und ihrer Minister zu unterdrücken. Espartero hielt es mit der englischen Freiheit, welche hauptsächlich in der Selbstverwaltung der einzelnen Städte und Gemeinden besteht. Die Königin suchte Espartero in Barcellona[WS 1] auf, um sich seine Unterstützung für ein Bischen Constitutionsbruch auszubitten. Er weigerte sich standhaft und bat endlich um seine Entlassung, die aber nicht angenommen ward. Barcelona, nach Madrid die lebendigste und intelligenteste Stadt, gerieth in große Aufregung, welche zu einer Insurrection anzuwachsen schien. Die Bildung eines neuen Ministeriums stellte die Ruhe etwas her, aber im September 1840 war beinahe das ganze Land rebellisch, weil die Königin hartnäckig auf ihre Centralisationspläne bestand. Espartero, commandirt, gegen die Rebellen zu marschiren, weigerte sich. Die Königin, bisher trotzig und tyrannisch, ward jetzt feig und machte den – Rebellen Espartero zum ersten Minister mit unumschränkter Gewalt. Am 3. October bildete er sein neues Ministerium. Dessen liberales Programm ward von der Königin verworfen. Sie sagte, lieber wolle sie abdanken. Bei dieser Gelegenheit rief sie in ihrem Zorne aus: „Ich habe Ihnen Alles gegeben, Espartero! Ich habe Sie zum Grafen von Luchana erhoben, zum Grafen von Morilla, zum Herzog von Victoria, zum Granden von Spanien; aber es ist mir nicht gelungen, Sie zum „Cavalier“ zu machen.“

Kaum hatte das Volk diese Scene erfahren, holte es ihn überall, wohin er kam, mit den glänzendsten Demonstrationen ein, besonders in Valencia, wie er auch schon im September 1840, als er als neuer Premierminister in Madrid einzog, eben so jubelnd empfangen worden war, wie neulich, vierzehn Jahre später. Christina, zu stolz zum Nachgeben, dankte wirklich ab und begab sich nach Frankreich. Am 8. Mai 1841 wurde Espartero zum alleinigen Regenten Spaniens erwählt, der arme Zimmermannssohn vom Dorfe, freilich bei Weitem nicht einstimmig, was in dem parteizerrissenen Lande auch nicht zu erwarten stand. Unter diesen Verhältnissen war seine gleichsam absolute und zugleich constitutionell beschränkte Stellung der nicht parlamentarischen, sondern soldatisch gewaltsamen Parteien gegenüber, ungemein schwierig; doch entwickelte er während dieser seiner Regentschaft eben so viel parlamentarische Mäßigung als Energie gegen Parteiaufstände, Alle Emeuten, republikanische wie absolutistische (z. B. eine von dem ersten Helden der jetzigen Revolution, O’Donnell zu Gunsten – Christine’s!), alle Eingriffe von Außen warf er mit soldatischer, dictatorischer Strenge nieder und ließ schon im October 1841 den Häuptling einer Verschwörung, welche auf Raub der jungen Tochter Christine’s (der jetzigen Königin Isabella) ausging, Diego Leon Concha erschießen. Für Spanien, wie es war und wohl noch ist, war es im Uebrigen aber mehr ein Fehler, als eine Tugend, daß Espartero mehr ein Washington, als ein Cromwell sein wollte. In seinen Ministern fand er schlechte Freunde seiner municipalfreien, englischen Richtung der Administration. Eine solche hatte auch unter dem fortwährenden Auflodern[WS 2] wilder politischer Parteileidenschaften, zum Theil zurechtgekocht in dem Hexenkessel Christine’s, der immerwährend in ihrem Hotel Rue de Courcelles zu Paris, brodelte, wenig Aussicht auf gedeihliche Entwickelung. Nachdem er im November 1841 eine republikanische Insurrektion in Barcelona unterdrückt hatte, hielt er am 30. wieder einen Triumphzug durch die Straßen von Madrid. Ein Ausbruch derselben Art in derselben Stadt im folgenden Jahre war sein Sturz, nicht weil die Republikaner siegten, sondern sich mit den absolutistischen Christino’s gegen ihn verbanden und er sich gegen diese Verbindung bei der Schwäche seiner Minister, besonders seines ersten, General Rodil, zu schwach zur Consequenz fühlte. So willigte er am 9. Mai 1843 in eine allgemeine Amnestie. Seine Feinde wollten ihn nun zwingen, Männer des Fortschritts und der Constitution zu entlassen. Das war ihm zu arg. Er entließ sein Ministerium und löste das Parlament, die Cortes. auf (26. Mai). Zugleich ward das Gerücht verbreitet, daß Espartero einen für Spanien nachtheiligen Handelsvertrag mit England abschließen wolle. Seine verschiedenen Feinde gossen Oel in’s Feuer, und so loderte bald eine allgemeine Empörung gegen den Friedensfürsten, Landesretter und Volksmann durch Catalonien, Arragonien, Andalusien und Galicien hin. Am 13. Juni erklärte eine revolutionäre Junta von Barcellona[WS 3] aus die Prinzessin Isabella für mündig und zur Königin und den Sturz Espartero’s. Eine provisorische Regierung unter Lopez Caballero und Serrano octroyirte ihm den Titel „Hochverräther am Lande“ und beraubte ihn aller seiner andern Titel und seines ganzen Vermögens. Narvaez, stets sein principieller Gegner, marschirte an der Spitze der Insurgenten gegen Madrid, wo Alles durch Corruption und Geld vorbereitet war, und wo er deshalb am 22. Juli 1843 die beste Aufnahme fand, während Espartero, der Held so vieler Triumphzüge und Volksdemonstrationen, eiligst von Cadiz nach Lissabon und von da nach England floh. Hier ward er am 19. August fast eben so jubelnd empfangen, als später Kossuth. Espartero ist entschieden englisch in seiner Politik, insofern sie das gesunde Element aller Freiheit, das freie Gemeindewesen, am Ausgebildetsten darbietet. Seine Politik, die Spanier dahin zu bringen, daß sie die Freiheit vertragen, war, mißlungen. Ob sie jetzt „reif“ sind, muß die Zukunft erst noch beweisen.

Nachdem Espartero bis 1847 still in England gelebt, wo er viele Verbindungen und Freunde zurückließ, begab er sich in Folge einer Art von Amnestie für seine Freisinnigkeit auf dem Throne, wieder nach Spanien, wo er in Logrono, dem Orte seiner Liebe und Hochzeit, eben so still fortlebte, bis die neue Revolution ihn, den Hochverräther, abermals als Vaterlandsretter im glänzendsten Triumphe durch das Alcala-Thor von Madrid herein- und heraufzog auf die Höhe des spanischen Lebens durch jauchende, jubelnde, Hüte schwenkende Massen, unter Damen-, Tapeten- und Blumen geschmückten Balconen hin, hin unter unabsehbaren Flaggen und Wimpeln, wedelnder Batisttaschentücher, Fahnen von rothem Sammet und goldenen Franzen und goldenen, beschwingten Hoffnungen, welche die kindische, bornirte, leidenschaftliche, soldatische prätorianische Politik und Regierungsweisheit abermals in Blei [423] und Pulver verwandeln wird, wenn es jetzt dem alten Friedensfürsten nicht gelingt, parlamentarische Mäßigung und Selbstbeherrschung als Oel über das Meer der stürmischen Parteileidenschaften zu gießen. Espartero hat das beinahe Unmögliche zu schaffen, zwischen republikanischen und absolutistischen Parteien, Gemäßigten und Exaltirten, rangneidischen Generalen und Stellenjägern und Verschwörungsmachern einen Thron aufrecht zu erhalten, der durch die eigene Schuld derer, die ihn aufrecht zu erhalten das meiste Interesse hatten, tief erschüttert ist.




Amerikanische Briefe.
IV. Boston. Montreal.
Boston. – Amerikanische Nüchternheit. – Eisenbahnfahrt nach Albany. – Sonntagsfeier daselbst. – Ein Badeort. – Montreal. – Das Innere der Stadt. – Die Victoria-Brücke. – Ein französischer Ritter.

In etwa dreißig Stunden liefen wir von Halifax nach Boston herunter, ohne etwas besonders Merkwürdiges zu sehen und zu erleben. Wir landeten unter anständigem Mondschein in Ost-Boston, einer kleinen Insel vor der Stadt selbst, in welche wir uns auf einem Fährboote übersetzen lassen mußten. Die Zöllner, die auch hier noch ihr Wesen treiben, waren in Untersuchung der Gepäcke wenigstens ungemein schnell und höflich, so daß ich bald in einer der wartenden Droschken nach meinem Hotel abfahren konnte. Ich hielt mich zu kurze Zeit in Boston auf, als daß ich mehr von dieser berühmten Gelehrten- und Quäkerstadt Amerika’s geben könnte, als allgemeine Eindrücke. Die Stadt sieht sehr ehrbar und reinlich aus, wie ein alter, englischer Gentleman. Häuser, Straßen, Pflaster, Leute aller Stände sehen reinlich, gut gekleidet, geschäftig und nüchtern aus, nüchtern in des Wortes verwegenster Bedeutung. Einen Betrunkenen würde man hier wie eine vorsündfluthliche Merkwürdigkeit anstaunen und Entree dafür zahlen. Diese in Amerika wenigstens unter den Eingebornen zur Nationaltugend (und wahrscheinlich zum allgemeinen Landesgesetz) sich erhebende Nüchternheit ist ein ungeheurer Sieg der Civilisation und giebt der neuen Welt drüben allein ein unbesiegbares Uebergewicht über die alte, besonders England, wo der weise Staat den Bier- und Branntwein-Cultus der Abgaben wegen in aller Christlichkeit so zärtlich begünstigt, daß die Tempel der Trunkenbolde, die aus eben so viel Weibern und Kindern als männlichen Individuen bestehen, weder Tag noch Nacht, wenigstens giebt es unzählige Häuser der Art, die auch Concession für die Nacht haben, noch Sonntags geschlossen zu werden brauchen, während Staat und Kirche nicht dulden, daß Sonntags anständige Geschäfte, Concertgärten, der Krystall-Palast u. s. w. geöffnet werden. Diese würden nämlich den Besuch der Bier- und Branntweintempel beeinträchtigen! –

Freilich auch die ununterbrochene amerikanische, wässrige Nüchternheit gefällt mir nicht. „Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann,“ er hat kein Gemüth, er ist ein kalter Egoist, dem das Herz niemals warm wird, der nüchtern bleibt, damit er nicht unwillkürlich warm werde und ungeschäftsmäßig etwas zu viel sage, fühle oder verspreche. Jeder anständige Mensch wird überall den Säufer tief verachten, aber etwas himmelweit Verschiedenes ist der Kreis von Freunden und Familien, wo festlich erfreuliche Veranlassungen das Herz treiben, sich in ganzer Fülle und Wärme zu offenbaren. Es ist hierbei ganz natürlich und schön, etwas guten Spiritus oder Rebensaft auf die Vestalampe des Herdes und Herzens zu gießen, um der Natur zu Hülfe zu kommen. Bildung und Anstand werden hier stets das richtige, schöne Maß einzuhalten wissen, damit man die Freuden eines Abends nicht mit auf den Hund gekommenen Katzenjammer bezahle. Aber die Nüchternheit als Nationaltugend und gar als Staatsgrundgesetz ist als Gegensatz zu Personen, die niemals nüchtern werden, vielleicht eben so ekelhaft, als immerwährender Dusel. Das klingt stark, aber ich sahe es in dem Riesenhotel „Revere House“ mit mehr als dreihundert Zimmern, wo ich mit an table d’hôte saß. Von den zweihundert Personen männlichen und weiblichen Geschlechts, die über eine Stunde lang zusammen sehr gründlich, sehr anständig, sehr feierlich aßen, hörte ich während der ganzen Zeit kein herzliches Wort, kein freudiges Ausrufen, kein Weinglas, keinen Champagnerpfropfen sich erheben. Jeder „Mitesser“ war ein Esser für sich, Jeder mit einem besondern Speisezettel, von dem er nach dem Seitentischchen hin, wo die Kellner, mit den Vorräthen standen, seine Befehle nur für sich gab und immerwährend Wasser dazu trank.

Bei aller Politur nur thierische Fütterung ohne Geist. Könntet ihr ihn ohne Wein sprudeln lassen, desto geistvoller würdet ihr sein, aber ihr habt mitten in eurer Gelehrtenstadt nicht einmal Geist genug, ein Glas Wein zu fordern, und nicht Muth und Menschenliebe genug, um mit eurem besten Freunde herzlich anzustoßen.

Ich beschloß, sofort auf einer der acht Eisenbahnen, die Boston nach allen Richtungen in’s Land hinein umstrahlen, die wässerige Stadt zu verlassen. Ich wählte die Albany-Bahn, die mit vielen durch den Befreiungskampf berühmten Ortschaften in Verbindung bringt und Boston zum commerciellen Rivalen New-Yorks erhebt, da sie einen bedeutenden Verkehr mit den westlichen Gegenden und den großen Seeen erleichtert, ohne welchen kein amerikanischer Hafen über lokale Mittelmäßigkeit steigen kann. Der Westen! Welche Pläne werden täglich geschmiedet, welche Anstrengungen gemacht, um sich einen Antheil an dem Transport seiner Schätze zu sichern! Groß sind sie schon jetzt und von europäischer Wichtigkeit, aber unberechnenbar bedeutungsvoll in der Zukunft!

Die zweihundert englischen Meilen von Boston bis Albany legten wir in acht Stunden zurück – Alles für fünf Dollars. Es war meine erste amerikanische Eisenbahnfahrt und deshalb mir Alles neu. Unter einem bedeckten Schuppen hervor schossen wir über die offene Straße, deren Bevölkerung blos durch die Klingel an der Loccmotive ermahnt ward, aufzupassen, wenn sie nicht vorzögen, sich rädern zu lassen. Und so leichtsinnig ging es fort durch Stadt und Land, zweihundert Meilen lang, hier mitten durch ein Dorf, dort mitten durch eine Stadt, über Kreuzwege mit Fußgängern und Lastwagen – nirgends mit einer andern Polizei, als großen Brettern hier und da, auf welchen zu lesen war: „Sieh auf, wenn die Glocke an der Locomotive tönt!“ Wenn Einer dies zu spät thut, hat er sich als freier Amerikaner selbst Vorwürfe zu machen, daß er todt ist. Die Waggons sind ungeheuer lang, mit Fenstern, die mit polirten Mahagoniwänden abwechseln. An den Decken findet man viel Dekorationen und unter den Füßen farbige Teppiche. In jeder hatten achtundfünfzig Passagiere auf zwei Reihen, mit rothem Plüsch überzogenen Armstühlen komfortablen Platz. Der Gang in der Mitte führt nach zwei Thüren, vorn und hinten, die auf Plattforms hinausführen, auf welchen man den ganzen Zug entlang, mitten im Zuge – von Waggon zu Waggon gehen und auch herunterfallen kann, ohne daß Jemand etwas dagegen hat. In der Mitte jedes Waggons steht ein niedlicher Ofen, der mit Holz geheizt im Winter die größte Wärme verbreitet, so daß sich Niemand einzupacken braucht. Alle Waggons sind Eine Klasse. Das wäre eine große Thatsache, wenn nicht alle Personen, die etwas Farbe haben, viel niedriger behandelt würden, als bei uns die dritte von der ersten Klasse. Die Sklaverei in den südlichen Staaten hält deshalb so fest, weil sie von den nördlichen social und moralisch auf die blödsinnigste Weise so handgreiflich unterstützt wird. Das ist ein Schandfleck im amerikanischen Charakter, der durch alles Waschen und Wassertrinken nicht gebleicht wird.

Die lange Fahrt durch Massachusetts gab Gelegenheit, den Charakter des Landes gehörig zu überblicken. Es ist wellenförmig, im Ganzen ärmlich mit traurigem Buschwerk und Granitmassen, sandigen Ebenen und endlosen Massen von Teichen und Seen abwechselnd. Deshalb bemühen sich auch nur Wenige, dem unfreundlichen [424] Boden Getreide und Früchte abzugewinnen. Alle die zahlreichen Städte, durch welche wir kamen, sind Bienenkörbe emsiger Industrie. Die vorzüglichsten davon sind Worcester („Wuster“) und Springfield, letztere am schiffbaren Connecticutflusse, der durch grüneres, freundlicheres Land fließt. Die Häuser wurden hier häufiger und freundlicher und in der That so lieblich, daß ich mir nichts Schöneres denken kann, als in einem solchen zu leben. Weiß und rein und grün bewachsen mit üppigen, blühenden Vorgärten und gemüthlichen Portalen vor dem Eingange gucken sie da überall aus cultivirter Natur heraus, als wären sie eben frisch als Spielzeug aus der Schachtel genommen und aufgestellt worden.

Hinter Springfield hielt der Zug um Mitternacht plötzlich mitten im offenen Felde an. Locomotivführer, Heizer und einige Passagiere liefen mit Laternen in die Nacht hinein. Neugierig folgte ich und fragte, was hier los sei? „I nun weiter gar nichts! Wollen sich blos den Zug ansehen, der heute früh hier umstürzte!“ Richtig, die Herren beleuchteten mit ihren Laternen umgestürzte Waggons, deren Räder schauerlich in den nächtlichen Himmel emporragten und die halb in die Erde gewühlte Lokomotive. Alles war still. Man hatte die Verwundeten und Todten entfernt, welche nur hier und da Blutspuren, Lappen und Bindfaden zurückgelassen. Als Locomotivführer und Heizer (denn diese hatten sich ohne Weiteres die Freiheit genommen) ihre Neugier befriedigt hatten, rasten sie weiter in die Nacht hinein, gerade als wollten sie selbst probiren, was sie sich eben mit viel Kennermiene angesehen.

In Albany am Hudson verlebte ich einen echt amerikanischen Sonntag. Wir waren um 2 Uhr des Nachts angekommen, und als ich des Morgens im Delawar-House mein Fenster aufmachte, sah ich den Sonntag durch die langen, hohen, breiten Straßen und den Hudson hinauf in feierlicher Ruhe ausgestreckt. Selbst die Bäume, die auch hier, wie in den meisten andern amerikanischen Städten, in doppelten, schattigen Reihen durch die breiten Straßen sich ausdehnen, schienen zu ruhen und in christlicher Andacht ihr Rauschen und Blätterflüstern eingestellt zu haben. Nur unten am Werfft saßen einige Schiffer und beschäftigten sich gedankenlos mit Rauchen. Kein Ton, kein Lebenszeichen in der sonnigen Stille. Doch ja. Dort hat sich ein Straßenprediger mit der Bibel auf einen Stein gestellt und predigt leidenschaftlich in die Luft hinein, in der hier und da ein Paar Jungen und alte Weiber ein Weilchen stehen bleiben, so daß er mit jeder Minute eine neue andächtige Gemeinde an sich heranzieht, aber eben so schnell wieder zu vertreiben scheint. Solche Straßenheilande trieben ihr Unwesen bis tief in die Nacht hinein. – Und dabei die vielen prächtigen Kirchen, die mit Teppichen belegt und wie der schönste Prachtsaal des Millionärs ausdecorirt, mit einander in irdischer Herrlichkeit wetteifern, um bei der freien Concurrenz so viel als möglich zu machen. Sogar Sammetsopha’s sah ich in einer, und auf dem Chore führte ein bezahltes Sängerchor eine künstliche Fuge mit viel Präcision durch. Alle Kirchen sahen so weltlich aus, daß man darin eben so gut einen Artikel aus der „Gartenlaube“ von der Kanzel vorlesen könnte und viele gewiß mit mehr Erfolg, als die Prediger mit ihren Anstrengungen den Leuten auf den Sammetsopha’s das „irdische Jammerthal“ noch jämmerlicher zu machen.

Von Albany führte mich der Montagszug wieder mitten durch und über Straßen hin, durch wellenförmiges, ziemlich dicht bebautes Land über viele Brücken von Flüssen, die in den Mohawk münden, durch hölzerne, nette Dörfer 52 Meilen weit nach Ballston Spa, wo die Eisenbahn, wie eine Kutsche, vor den hauptsächlichsten Hotels anhält, um Passagiere aufzunehmen und abzusetzen. Dieses Spa ist einer der berühmtesten Badeörter Amerika’s, noch mehr das 7 Meilen weitere Saratoga, das im Sommer von fashionablen Gästen wimmeln soll. Jetzt standen die kolossalen Hotels und breiten, langen Promenaden öde und leer. Ich sah hier weiter nichts Merkwürdiges, als ein Haus, welches auszog, um sich eine bessere Baustelle zu suchen. Es wanderte ganz gemüthlich auf seinen Walzen hin, während eine Mutter mit ihrem lockigen Kinde im zweiten Stockwerke sich über diese originelle Art zu verreisen, während man ruhig zu Hause bleibt, königlich zu amusiren schienen.

Die 200 Meilen nördlich von Saratoga am langgestreckten Champlain-See hinunter bis Montreal gehören zu den schönsten Scenen, die man in Amerika sehen kann, wie man mich wiederholt versicherte. Ich übergehe hier die Menge Orte und Punkte, welche durch den Krieg zwischen England und Frankreich und den amerikanischen Befreiungskampf historisch berühmt wurden und bemerke nur, daß die ehemaligen Forts und Festungen überall in Ruinen liegen, weil hier Niemand daran denkt, daß jemals Festungen wieder eine Rolle spielen könnten! – Glückliches Amerika!!

Auch den von Dampf getriebenen Prachtpalast, der uns den 132 Meilen langen und 6 bis 9 Meilen breiten See hinauf trug, will ich hier nicht beschreiben und mich eben so wenig auf die an beiden Ufern, deren eins zu New-York, das andere zu Vermont gehört, sich grün und hügelig und bergig erhebenden und streckenden Landschaften einlassen, da man hier mit Worten gar wenig ausrichten kann. – Hinter Plattsburg auf der New-Yorkseite stiegen wir aus dem Dampfboote in Eisenbahnwaggons, die uns bald über die Grenze von Unter-Canada bis an die Ufer des majestätischen Lawrence-Flusses brachten, über dessen meilenweite Breite uns ein Dampfschiff nach seiner Hauptinsel – Montreal – überführte. Noch eine kleine Eisenbahntour – ganz Englisch und in französischer Sprache geführt – und wir sind in der alten Hauptstadt des französischen Canada von Ehemals, in Montreal.

Montreal! Welch ein überraschender Anblick nach den Scenen der neuen Welt, wo Alles jung, weiß, frisch aussieht ohne historischen Boden, während hier Alles in Stein und Mauer, Bauart, Tracht und Sprache Geschichte erzählt. Enge Straßen, französische Firmen, Klöster mit hohen Mauern, von der Zeit angefressene Steine und Einrichtungen, hier aus Paris, dort aus dem Parlamente in London, hier französische Tracht, Sitte und Sprache, dort englische, dort gemischt in seltsames Kauderwälsch, alte feudale Institutionen neben modernen patentirten Fabriken, Nonnen neben Manchesterwaaren, Gerichtsscenen in französischer Sprache, im Zollhause englische Untersuchung in englischer Sprache mit englischem Gelde bezahlt, gallische Priester in langem Schwarz, kniehosige Presbyterianer aus Schottland, Droschkenkutscher in Frießjacken frisch von Irland, Marktkarrenschieber mit „eingebornen“ bunten Leibbinden und Nachtzipfelmützen – alte und neue Welt zusammengerüttelt wie in einem Lotterietopfe. So sieht Montreal aus. – In meinem Hotel liefen ein Dutzend Schwarze als Kellner herum – lauter Flüchtlinge aus der amerikanischen Freiheit. O die Freiheit ist schön, aber immer wieder der Schand-, der Blutflecken! Allmächtig ist Amerika, übermächtiger seine Baumwolle! Was heißt Freiheit, Menschenrecht, wenn darunter die südlichen Baumwollenpflanzer und die nördlichen Baumwollen-Spediteurs leiden sollen? Einige der Kellner waren schöne, gefällige, liebenswürdige Menschen, die im ganzen, großen, freien, christlichen Amerika drüben Jeder hätte todtschießen können, blos weil sie etwas Farbe und Stammbaum mit auf die Welt brachten.

Ich machte am Morgen nach meiner Ankunft einen Spaziergang nach dem Süden der Stadt hin, wo der meilenbreite, klare, majestätische Lawrence seine ungeheuern Wassermassen hinwälzt. Von drüben herüber winken flache Ufer und hinter denselben hervor die „Zuckerhutberge“ von Vermont. Am meilenlangen Bollwerk wimmelt ein unabsehbares Thun und Treiben von Laden und Löschen, Ankunft und Abfahrt von Segel- und Dampfschiffen, die, wie der große Verkehr in den Straßen, ganz an die täglichen Scenen in der City von London erinnern. Man kann hier kein einzelnes Bild geben und ausrahmen: Alles ändert sich in jeder Secunde. Nur Immobilien ließen sich studiren, z. B. die berühmte römisch-katholische Cathedrale zwischen den beiden prächtigsten Straßen „Rue Notre Dame“ und „St. James Street,“ deren Namen im Französischen und Englischen officiell sind.

Die Kirche ist der großartigste gothische Bau Amerika’s mit 10,000 Sitzen, aber mit so roh bemalten Säulen, daß das ganze Kunstwerk dadurch werthlos wird. Die Bankgebäude im griechischen Styl sind ihnen viel besser gelungen. Sie haben mehr Andacht für Bankgeschäfte, als deren Mittelpunkt für ganz Canada Montreal berühmt ist. Auch für Buchhandlungen, Lesezimmer, Schulen, Akademieen u. s. w. giebt es zum Theil herrliche Gebäude. Am Großartigsten ist das Institut für Mechaniker im italienischen heitern Style in St. James Street, von 84 Fuß Front und 64 Fuß Tiefe, mit einem schönen Portikus in der Mitte. Oben führt ein 55 Fuß langer, 10 Fuß breiter Corridor in einen Lesesaal, 40 Fuß lang und 241/2 Fuß breit, in die Bibliothek, Säle zu Vorträgen und physikalischen Experimenten. Ein Hörsaal in der zweiten Etage ist 80 Fuß lang, 60 Fuß breit und glänzend decorirt. [425] Solche Tempel baut hier das Interesse von freien Associationen der plastischen Volksbildung! Das neue Gerichtsgebäude mit einer 300 Fuß langen Façade und 125 Fuß Tiefe gehört zu den prächtigsten und solidesten Kunstbauten Amerika’s. Auch das neue Postgebäude kann sich darunter zählen. Alle diese erwähnten Paläste bilden in Rue de Notre Dame, St. James und St. François Xavier Street den lokalen und geistigen Mittelpunkt der Stadt, die mit ihren etwa 60,000 Einwohnern so riesige Fortschritte macht, daß sie in wenigen Jahrzehenden zu den mächtigsten und blühendsten Städten Amerika’s gehören mag.

Das Wunder aller Wunder wird die große Victoria-Brücke, über deren Breite von zwei ganzen englischen Meilen (mit den Theilen über Land) die Eisenbahn hoch über den schäumenden Wogen des Lawrence dahinbrausen soll. Sie ist ein Werk des berühmten Bau-Giganten Stephenson, des Engländers, eines ehemaligen gewöhnlichen Mechanikers, der vorher sogar gemeiner Kohlenbergmann war.

Die größte Themsebrücke (Waterloo) ist 1242 Fuß lang. Die Länge der großen Victoria-Brücke wird 10,560 Fuß betragen.

Als Mittelpunkt des kanadischen Holz- und Rauchwaarenhandels bietet Montreal einen fast unerschöpflichen Stoff von Schilderung und Material. Beide Handelszweige sind von weltweiter Ausdehnung und in Bezug auf letzteren giebt der Verkehr mit den Indianern einen so reichen Stoff von pikanten Lebensbildern, daß ich wohl an einem andern Orte darauf zurückkomme.

Ich möchte Ihnen noch Manches von meinen Erlebnissen auf der Montreal-, der Jesus- und andern kleinern Inseln mittheilen, die hier der ungeheuere, aus ewigen Wäldern strömende Ottawafluß mit dem Lawrence bildet, aber es mischt sich so Vieles durcheinander, daß ich nicht weiß, was ich ergreifen und festhalten soll. Nur noch so viel, daß ich einige Tage bei einem alten französischen Ritter zubrachte, der alle feudalen Rechte des Mittelalters genießt und all’ sein Land an Vasallen gegeben, die ihm mit Zehnten, mit Treue und Frohnden zugethan sind. Das französische Element hat sich hier in vorrevolutionärer Form ganz frisch erhalten, während in den Städten die Angelsachsen französische Sprache und Sitten immer mehr zurückdrängen, wie denn überhaupt in allen neuen und alten Welten, die für den Weltverkehr neu auftreten, englischer Geschäftsgeist mit seiner kurzen, leichten, von allen grammatischen und periodischen Schwierigkeiten und Formeln befreiten, zähen Sprache überall so entschieden als tonangebend auftritt, daß das Englische in hundert Jahren wahrscheinlich die eigentliche Weltverkehrssprache sein wird.




Etwas Naturgeschichte.
4. Zur Ehrenrettung des Bären.

Der Bär, sagt der bekannte Thierkenner Toussenel, ist das Symbol wilder ursprünglicher Gleichheit und deshalb der Aristokratie ein Gräuel, abgesehen hiervon aber ein armes, schändlich verleumdetes Thier, über welches der Haß und die Unwissenheit die abgeschmacktesten Märchen ersonnen hat. Es giebt keine Art von Schändlichkeiten, die nicht von Anekdotenjägern benutzt worden wären, um die Lebensgeschichte dieses unglücklichen Vierfüßlers zu beschmutzen. In einem fürchterlichen, vor etwa hundert Jahren ohne königliches Privilegium erschienenen Buche, steht die Geschichte der Gräuelthaten eines braunen Bären im Juragebirge, welcher lange der Schrecken des Landes gewesen war und zwar in Folge seines unmäßigen Appetites nach dem Fleische junger Mädchen. Die menschliche Bosheit hat sich nicht damit begnügt, dem Bären Verbrechen und Immoralitäten zuzuschreiben, an denen er unschuldig ist, sondern man hat das arme Thier auch lächerlich und zur Zielscheibe unzähliger Mystifikationen gemacht. Die alten und neuen Schriftsteller wetteifern förmlich mit einander, ihm recht hinterlistige Streiche zu versetzen. Aelian, der Grieche, ein Fabeldichter und eben so beschränkter Kenner des Thierreichs wie Conrad Geßner, geht so weit, daß er den Bären zu einem Mörder des niedrigsten Grades, einem gemeinen Meuchelmörder macht, welcher zu seinem Vergnügen mordet, was doch eine nichtswürdige Verleumdung ist.

Toussenel hat in den Reisebeschreibungen vieler glaubwürdigen Seefahrer eine Menge Thieranekdoten gelesen, die eben so drollig sind, wie Aelian’s, aber auch eben so unwahrscheinlich. Neulich, sagt er, erzählte mir ein junger Pariser, der so eben aus Amerika zurückgekehrt war, die folgende Geschichte, deren Echtheit ich natürlich durchaus nicht verbürgen mag. Mein Begleiter und ich durchwanderten die ungeheuren Tannenwälder Californiens, die so merkwürdig wegen der Todtenstille sind, die in dem Schatten ihrer gewölbten Zweige herrscht. Eines Tages, als wir an den Rand einer der weiten offenen Waldwiesen kamen, die sich hier und da durch diese düsteren Einöden hinziehen, hörten wir in sehr kurzer Entfernung einen grunzenden Ton, welcher über unsern Köpfen herunterzukommen schien und in welchem mein Begleiter, ein Yankee aus der alten Schule, sofort die Musik eines Bären erkannte. Wir duckten uns und schlüpften durch die Büsche, indem wir uns bemüheten, zu ermitteln, wo das Thier säße. Ein zweites Grunzen in einem zornigeren Tone als das erste, auf welchen ein drittes sehr zufriedenes zu folgen schien, lenkte unsere Aufmerksamkeit auf einen gigantischen Kirschbaum ungefähr zwanzig Schritt vor uns, unter dessen Zweigen und in dessen Schatten eben ein sehr lächerlicher Auftritt stattfand. Die zwei Personen des Drama’s, von deren Unterhaltung wir einige Bruchstücke erhaschten, waren ein Bär und ein Wildschwein. Der erstere, ein Exemplar der ersten Größe, saß auf dem starken Aste des Kirschbaums und war emsig beschäftigt, die Früchte zu pflücken. Da diese aber fast überreif waren und nur noch lose am Stengel saßen, so geschah es, daß bei der leisesten Bewegung, die der Bär auf seinem Aste machte, gerade der delikateste Theil der Früchte dicht wie Hagel auf den Boden fiel. Das dumme Thier verlor alle Geduld und stieß grollend eine Menge zorniger Verwünschungen hervor; aus demselben Grunde war dagegen das naschhafte Wildschwein, welches eben am Fuße des Baumes stand, hoch erfreut und gab sein Vergnügen durch ein beifälliges gut, gut! bei jedem neuen Kirschregen zu erkennen. In dem Augenblick, wo wir auf dem Schauplatze ankamen, war die Erbitterung des Bären schon zur Rothglühhitze gestiegen und es war leicht zu sehen, daß sie binnen Kurzem zur Weißglühhitze übergehen würde. „O, mir ist ein köstlicher Gedanke eingefallen,“ flüsterte mir mein Yankeefreund in’s Ohr. „Wenn wir die furchtbare Erbitterung dieser beiden Thiere gegen einander benutzen könnten, um sie in einen tödtlichen Kampf mit einander zu verwickeln!“ – „Aber wie sollen wir das anfangen?“ – „Das ist sehr einfach; ein Lauf Eurer Doppelflinte ist mit Schrot geladen; jagt diese dem jungen Herrn da in die weichste Stelle seines Körpers“ – und er zeigte mir mit dem Finger durch die Blätter hindurch den Theil des Bären, nach welchem ich zielen sollte. – „Ich kenne den Bären,“ setzte er hinzu, „und wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, so läßt er sich durch nichts wieder davon abbringen. Er ist jetzt sehr wüthend auf das Wildschwein und wird, wenn er sich getroffen fühlt, ganz gewiß glauben, das Wildschwein habe ihn geschossen. Ihr werdet sehen, wie er sich sofort auf seinen vermeinten Angreifer stürzt, um sich für diesen groben Scherz zu rächen. Ich verspreche Euch, daß wir viel Spaß haben werden.“ Gesagt, gethan. Ich zielte scharf nach dem zottigen Burschen und drückte ab. Kaum fühlte der Bär sich von den Schroten gekitzelt, als seine Wuth alle Grenzen überstieg und er wie eine Bombe auf das Schwein herunterplumpte, welches an dem Streiche eben so unschuldig, als über diesen unvermutheten Angriff verwundert war. Der Kampf dauerte nicht lange; der siegreiche Bär streckte seinen Gegner nieder, der ihm aber, ehe er starb, noch mit einem furchtbaren Ruck seiner Hauer, den Leib aufriß. Auch dem Bären entsanken daher bald die Kräfte und er taumelte und sank nieder auf die Leiche des erlegten Wildschweins. „Auf diese Weise,“ so schloß der Erzähler bescheidentlich seine Geschichte, „erwarb ich mir das Recht, mich zu rühmen, daß ich mit einer einzigen Ladung Hasenschrot einen schwarzen Bären und ein Wildschwein erlegt.“

[426] Die Fabeldichter und Sittenlehrer haben, ihrer Gewohnheit treu, sehr viel dazu beigetragen, eine unrichtige Meinung von dem Charakter des Bären zu verbreiten. So wird z. B. fast in jedem Kinderbilderbuche dem Bären nachgesagt, er habe einmal einem Freunde, der seines Handwerks ein Gärtner war, unter dem Vorwand, ihm eine lästige Fliege zu verscheuchen, einen Pflasterstein an den Kopf geworfen. Toussenel zieht diese Geschichte sehr in Zweifel und glaubt, der Bär sei einer solchen Ungeschicklichkeit nicht blos unfähig, sondern müsse vielmehr im Gegentheile als eins der gewandtesten und geschicktesten Thiere in der ganzen Schöpfung betrachtet werden. Unbeholfenheit und Grausamkeit sind zwei gegen den Bären vorgebrachte Beschuldigungen, von welchen die eine eben so ungegründet ist, als die andere. – Der Bär ist auch zum Sinnbild der Menschenfeindlichkeit, Schweigsamkeit, Mürrischkeit und Ungeselligkeit ausersehen worden, aber er ist nichts von allem diesen. Der Bär ist das Emblem der Wildheit oder des wilden Lebens, eben so wie der Elephant das Emblem des Edenismus oder der Periode in dem Leben unseres Planeten ist, welche der ersten Phase des Menschenlebens entspricht. Seine herrschende Leidenschaft ist die Liebe zur Unabhängigkeit und zu den Wäldern. In diesem einen Satze liegt die ganze Geschichte des Thieres.

Es ist eine bekannte Sache, daß der Wilde der abgesagteste Feind aller unangenehmen Mühe und Arbeit ist, weswegen ihn Toussenel keineswegs tadelt. Ein Wilder würde auf alle Genüsse der Civilisation verzichten, wenn er sie erst, wenn auch nur durch eine Stunde Arbeit hinter dem Webstuhle oder Pfluge verdienen sollte. Ganz dasselbe ist der Fall mit dem Bären. Die Reize eines Maskenballs sind nie im Stande gewesen, den Wilden zu verlocken und der einzige Begriff, den er vom Glück hat, ist eine vollständige und ununterbrochene Ausübung der sieben natürlichen Rechte des Jagens, Fischens, Früchtesammelns u. s. w. Dasselbe gilt vom Bären, der sich das höchste Glück nicht anders denken kann, als in der Ausübung der beiden natürlichen Rechte, sich seinen Unterhalt selbst zu verschaffen und frei zu sein von Sorgen. Nicht als ob der Bär gegen die Freuden des edlen Waidwerks und des Fischfangs unempfindlich wäre. Der weiße Bär z. B. würde sich sehr unglücklich fühlen, wenn er dieses letztern Vorrechts beraubt werden sollte. Ich will damit blos sagen, meint Toussenel, daß Pflanzenkost dem Temperament des Bären mehr zusagt, als jede andere, denn nichts geht ihm über Erdbeeren und Faullenzen. Der Bär weiß recht wohl, daß die Beschaffenheit seines Körpers ihn geeigneter macht, einen Baum zu erklettern, als ein Reh zu jagen und er verfolgt demgemäß eine Lebensweise, wie sie mit den Eigenschaften seines Wesens übereinstimmt. Da er seinen Appetit nach Früchten mit leichter Mühe befriedigen kann, so benutzt er diesen günstigen Umstand, um sich während des Herbstes tüchtig zu mästen und einen reichlichen Vorrath jenes Fettes anzuhäufen, aus welchem die unseren kahlköpfigen und bartlosen Stutzern wohl-bekannte sogenannte Löwenpomade bereitet wird. Ein sehr eigenthümlicher Einfall, den Leuten weiß zu machen, daß der König der Thiere seine dicke, prachtvolle Mähne dem täglichen Gebrauche des vorgenannten Haarwuchsmittels verdanke.

Es ist eine bekannte Sache, daß Meister Braun, nachdem er sich einen hinlänglichen Vorrath von Fett angefressen Hit, sich in eine Höhle zurückzieht, wo er die zwei schlimmsten Monate des Jahres verschläft. Fabeldichter und Naturforscher mögen daher reden, so viel sie wollen, ich werde nimmermehr glauben, daß ein Thier von solchem Charakter der Feind des Menschen sei. Ein Thier, welches während der Jahreszeit des Mangels und des Verbrechens schläft, und Honig und wilde Beeren vor einer Schöpskeule den Vorzug giebt, kann niemals als ein blutdürstiger Menschenfresser betrachtet werden. Der Bär ist ein wildes Thier, das giebt Toussenel zu, aber ganz gewiß einer der harmlosesten Fleischfresser, die es giebt – das heißt, der civilisirte Bär, der französische oder russische Bär, der Bär der Pyrenäen oder der Alpen, denn der graue Bär der nordamerikanischen Prairien und der weiße Bär der Polargegenden zerreißen, wenn der Hunger sie treibt, Alles, was ihnen in den Weg kommt. In Uebereinstimmung mit seiner Eigenschaft als Emblem der Wildheit ist der Bär von allen großen Fleischfressern derjenige, dem der Verlust seiner Freiheit am Meisten zu Herzen gehen muß. Und dies ist auch der Fall, denn von allen Gefangenen ist der Bär am Schwierigsten an seine Gefangenschaft zu gewöhnen. Er wird allerdings gezähmt, jedoch ohne daß er seiner Persönlichkeit oder seinen Rechten entsagte. Man sieht ihn zuweilen auf den Straßen das Handwerk eines Possenreißers treiben, um sich sein Brot zu verdienen, aber sein Herr weiß nicht, welchen Schmerz und Kummer das Bewußtsein dieser Entwürdigung ihm kostet, und welchen Grad von Philosophie er aufwenden muß, um schweigend an dem Zügel seiner Sklaverei zu nagen. Es ist schon mehr als einmal der Fall dagewesen, daß ein Bär, nachdem er seine Kette zerrissen, die Ausübung der wiedererlangten Freiheit mit der Ermordung seines Führers und dessen ganzer Familie begonnen hat. In der Geschichte der Volksrache kommen Thatsachen vor, welche mit diesen Bärenrevolutionen große Aehnlichkeit haben.

Wenn der gefangene Bär nicht mit Fressen oder Saufen beschäftigt ist, so denkt er über einen Fluchtplan nach. Die ganze Kraft seiner Phantasie ist auf diesen einzigen Gegenstand gerichtet, und seine fortwährende Aufregung verräth die Qualen, welche sein ganzes Sein verzehren. Dieser Kopf, dessen eintönige regelmäßige Bewegung, vor und rückwärts, das Auge des Zuschauers ermüdet, ist das Pendel einer fixen Idee, von welcher er sich in seinem Durste nach Freiheit nicht losreißen kann. Wenn der pyrenäische und der russische Bär den Wunden seines Grames nicht stets erliegt, wenn ihn nicht plötzlich vor Scham der Schlag rührt, während er auf offenem Markte neugierigen Gaffern zum Schauspiel dienen muß, so liegt der Grund darin, daß die Liebe zur Freiheit in seinem Herzen unzerstörbar ist, und daß die Hoffnung ihn niemals verläßt. Der Eisbär aber stirbt, sobald er die frische Luft seiner Heimath nicht mehr athmen kann, schon nach wenigen Monaten am Heimweh und lauem Wasser.

Besiegt, verfolgt, ohne Obdach und ohne einen bestimmten Erwerbszweig, hat sich der Bär, wie Mithridates, von Anfang an genöthigt gesehen, sich daran zu gewöhnen, mit jedem möglichen Futter vorlieb zu nehmen, und sogar alle Arten von Giften verdauen zu lernen. Daher ist der Arsenik, welcher für den Menschen ein ungemein heftiges Gift ist, den, Bären ganz unschädlich. Eine Dosis von einem Viertelpfund äußert gar keine sichtbare Wirkung auf ihn und ein Pfund vertritt blos die Stellung einer leichten Purganz.

Wenn der Bär durch den Hunger genöthigt wird, Menschen und Thieren den Krieg zu erklären, so legt er sich gewöhnlich in die tiefern Zweige eines dichtbelaubten Baumes oder hinter einem Felsenvorsprung in die Nähe einer Schlucht in den Hinterhalt, aus welchem er auf sein Opfer hervorstürzt, es beim Nacken packt und erwürgt. Die Muskelstärke des Bären ist ungeheuer und übertrifft die unserer stärksten Boxer. Man hat gesehen, wie ein Bär ein Pferd oder einen Stier mit einem einzigen Schlage seiner mächtigen Tatze tödtete. Wenn der Bär in seinen Zweikämpfen mit den Menschen selten die Oberhand hat, wie aus der großen Anzahl Bärmützen hervorzugehen scheint, welche unsere Grenadiere tragen, so beweist dies blos die Ueberlegenheit der Waffen des Menschen und die vollständige Unbekanntschaft des Thieres mit der edeln Fechtkunst. Da der Bär sich gewöhnlich auf seine Hinterfüße erhebt, wenn er den Jäger angreifen will, so stellt er natürlich seine Flanke dem Feinde blos, der dann nur einige Kaltblütigkeit und Gewandtheit zu besitzen braucht, um ihm mit einem Dolche oder einer Kugel das Herz zu durchbohren. Der Dolch ist die beste Methode, weil dadurch das Fell am Wenigsten beschädigt wird. In Eaux Bonnes in den Pyrenäen gab es einmal einen Bärenjäger, der nach und nach auf diese Weise sechzig Bären niederstach. Allerdings verfehlte er den einundsechzigsten, aber dieser nicht ihn.

Der Bär ist so wenig der Feind des Menschen, daß er niemals die Hand gegen ihn emporhebt, ausgenommen in den Ausnahmefällen des Hungers und der Selbstvertheidigung. Bärinnen treiben allerdings die Reisenden oft mit Gewalt aus der Nähe ihrer Jungen hinweg, aber wer würde es einer solchen Mutter zum Verbrechen anrechnen wollen, wenn sie die Gefahren, die ihren Kleinen drohen, übertreibt und für ihr Fell zittert, besonders im Hinblick auf den großen Verbrauch dieses Artikels, der schon durch das einzige Institut der Grenadiere verursacht wird? Dem Bann liegt eben so wie jedem andern Menschen von gutem Geschmack viel daran, daß diese lächerliche und nur zu lange schon in Ehren gehaltene Tracht endlich einmal abgeschafft werde.

Die außerordentliche Liebe der Bärin zu ihren Jungen ist ein Thema, über welches schon ungemein viel geschrieben worden ist. Wenn es eine steile Schlucht, einen ungestümen Strom oder

[427]

Varna
nebst dem Kriegsschauplatz zwischen der Donau und dem schwarzen Meere.

1. Der Fuß des Balkan. – 2. Die Donau, die Grenze bildend zwischen der Wallachei und Bulgarien. – 3. Die Wallachei. – 4. Bulgarien. – 5. Festung Rustschuck (20 Meilen von Varna). – 6. Giurgewo (11/3, Meilen von Rustschuk am andern Ufer der Donau). – 7. Olleniza (19 Meilen von Varna). – 8. Turtukai. – 9. Ziluria (16 Meilen von Varna). – 10. Schumla (8 Meilen von Barna). – 11. Fluß Varna.– 12. Varna-Brücke. – 13. Der Kai. – 14. Das Castel. 15. Griechische Kathedrale. – 16. Wohnung des Gouverneurs. – 17. Rathhaus und Gefängniß. – 18. Südliche Landspitze. – 19. Das schwarze Meer.
Eine ausführliche Beschreibung von Varna befindet sich in Nr. 28 und 29: „Bilder aus Varna von Julius von Wickede.

[428] sonst eine gefährliche Stelle zu passiren giebt, so pflegt die Bärin ihre Jungen unter beiden Armen zu tragen und in diesen Situationen entwickelt sie allerdings einen etwas unangenehmen und ungeselligen Charakter. Bärenjäger haben sehr häufig gesehen, wie diese Thiere friedlich ihren Höhlen zuwanderten, und dabei mit der größten Leichtigkeit unter jedem Arme ein Schaf trugen, gerade so wie wenn ein Advokat in einer schwierigen Prozeßsache mit einem Aktenstoß unter jedem Arm zur Abhaltung eines Termins auf’s Rathhaus geht.

Der wahre Feind des Bären – des Emblems der Wildheit und Gleichheit – ist das Pferd – das Emblem feudalistischen und aristokratischen Stolzes. Zoologen und Jäger haben schon lange, wiewohl vergeblich nachgeforscht, worin wohl der Grund dieser unversöhnlichen und tödtlichen Feindschaft liege. Die Sache ist aber sehr einfach, denn das Thier, welches ein Symbol der Liebe zur Unabhängigkeit und Gleichheit ist, muß nothwendig der geborene Feind des Thieres sein, welches den Ritter oder Edelmann, oder mit andern Worten den bevorzugten Stand repräsentirt, der die Besiegten ausbeutet, und sie für ihn zu arbeiten zwingt.

Der Bär, welcher fortwährend vor der Annäherung des Menschen zurückweicht, und die unbewohntesten Plätze zu seiner Wohnung wählt, bezeugt dadurch hinreichend seine friedlichen Absichten, so wie den Wunsch, einem Kampfe aus dem Wege zu gehen, in welchem er nicht gewiß ist, die Oberhand zu behalten. Der Mensch aber, der einen Vorwand braucht, um seinen Handel mit Pelzmützen und Bärenfett fortzusetzen, thut natürlich nicht als ob er an die Aufrichtigkeit dieser freundlichen Wünsche glaubte. Er leugnet sie keck im Interesse seines Geschäfts und setzt die Feindseligkeiten fort, die mit der Zeit leider ein Ende nehmen müssen, weil es auf der einen Seite keine Kämpfer mehr geben wird.

Einen großen Beweis von der Mäßigung des Bären findet man in der Geschichte der Spiele im römischen Cirkus. Die Römer, welche tüchtig mit Menschenblut gewürzte Schauspiele liebten, verwendeten, wenn sie Christen von wilden Thieren zerreißen ließen, dazu fast niemals Bären, weil ihnen diese zu human waren. Eine der Lieblingsbelustigungen des Kaisers Heliogabolus bestand bekanntlich darin, seine Gäste beiderlei Geschlechts betrunken zu machen und sie dann durch die behaarten Arme eines Bären aufwecken zu lassen; die Geschichte erzählt aber nicht, daß diese Scherze je von so ernsten Folgen begleitet gewesen seien, wie die des Kaisers Nero, welcher seine Freunde unter Rosenhaufen ersticken ließ.

Mit einem Worte, der Bär hat keine Freude am Blutvergießen, und wer ihn der Unbeholfenheit und Tölpischkeit beschuldigt, hat ihn niemals thätig gesehen. Auch ist er keineswegs ein Feind der Heiterkeit, ja es ist sogar der Fall vorgekommen, daß er durch das Uebermaß seiner Liebenswürdigkeit unangenehm geworden ist. Der Bär ist nächst der Katze und dem Affen vielleicht das lustigste und possirlichste aller vierfüßigen Thiere. Wie alle kluge Leute, ist er ein Freund des Müßigganges und des Tanzes; er ist ein von guter Laune überfließender Bummler und dabei ein Muster von Geschicklichkeit und Gewandtheit.




Blätter und Blüthen.

Der erste Mord im Kriege. Ein englischer Seemann in der Ostsee beschreibt in einem Briefe an seine Frau zu Hause unter „Pongo Roads den 22. Juni“ seine erste Kriegsthat in so ergreifender Weise, wie wir sie kaum in einem rührenden Romane erwarten. Sein erster Dienst bestand darin, in einem Boote mit einigen Seesoldaten zu landen, um ein kleines Fort zum Schweigen zu bringen und die Kanonen zu nehmen. „Wir zerstreuten uns am Gestade, um die Küste rein zu halten, während die Soldaten die Kanonen nahmen. Der Feind hatte den Vortheil einiger Waldung vor uns voraus, aus welcher einzelne Soldaten hervorschimmerten und vorwärts zu kommen schienen. Ich sah einen einzelnen Mann etwa 60 Yards weit, zielte fest auf ihn und schoß. Er fiel wie ein Stein. Zugleich sauste eine „breite Seite“ (alle Kanonen der einen Schiffsseite) vom Meere in den Wald, so daß der Feind rasch retirirte. Ich hatte noch nie auf einen Menschen geschossen. Ich konnte der Mahnung, zu meinem Mann zu gehen, ob er auch wirklich todt sei, nicht widerstehen. Ich ging. Da lag er ganz still; doch fürchtete ich mich jetzt mehr vor ihm, als während er vor mir stand als Feind auf Tod und Leben. Es ist ein seltsames Gefühl, das uns überkommt, zu sehen, man hat einen Menschen getödtet. Er hatte seine Jacke aufgeknöpft und preßte seine Hand gegen die Wunde in der Brust. Er athmete schwer und im Blute erstickend, das nicht nur aus seiner Wunde quoll, sondern auch mit jedem Athemzuge aus seinem Munde. Zu dem rothen Blute stach das todesblasse Gesicht fürchterlich ab, noch mehr die offenen Augen, die groß und angstgequält auf mich starrten. Ich werde das nie, nie vergessen können. Er war ein schöner, junger, kräftiger Mann von etwa 25 Jahren. Ich kniete neben ihm nieder mit einem Gefühle, als sollte mir das Herz springen. Was ich fühlte, kann ich nie sagen; aber ich glaube, ich hätte in diesem Augenblicke mein Leben gegeben, hätt’ ich das seinige damit retten können. Ich legte seinen Kopf auf meinen Schooß. Er hatte ein schönes Gesicht und sah gar nicht wie ein Feind aus. Er ergriff meine Hand und versuchte zu sprechen, aber statt der Worte kamen nur Blutbäche mit einem Geräusch, das mir das Herz zerschnitt. Ich glaube, mir war viel elender zu Muthe als dem Sterbenden. Er vergoß keine Thräne, wohl aber ich. Die Augen fielen zu, er röchelte qualvoll und immer schwächer. Ein Schuß vom Gestade mahnte mich zum Rückzuge. Er suchte aufzublicken, vermochte es aber nicht. Er zeigte nach dem Meere, wo das Boot eben Anstalt machte, mit den genommenen Kanonen abzustoßen, und dann rückwärts nach dem Walde, wo der Feind sich verbarg. Armer Kerl! Er sah es mir nicht an, daß ich ihn, den ich nie vorher gesehen und der vielleicht besser war als ich, niedergeschossen, als hätt’ er mich auf den Tod beleidigt. Ich begriff nicht, wie ich ihn jetzt verlassen könnte den Sterbenden und kein mitleidiges Auge über ihm. Einige Zuckungen, einige Blutstöße und sein Gesicht wandte sich, er drehte sich convulsivisch um und lag dann still, ohne Athem. Ich bin überzeugt, der Allmächtige hat seine Seele aufgenommen. Ich legte ihn sanft auf dem Grase zurecht und verließ ihn. Alles kam mir wie ein Traum vor, als ich mich das letzte Mal umdrehte, um ihn noch einmal anzusehen. Alles, was ich von Türken, Russen und Krieg gehört, ging mir durch den Kopf und erschien mir so weit weg und der todte Mann so nahe.“ – Das klingt Alles ganz gebildet menschlich und nicht wie Krieg, welcher im Großen und aus der Ferne mit weithintragenden Gewehren durch Pulverdampf arbeitet, so daß man die menschlichen Gesichter, die tausendweise die Augen schließen in einer Schlacht, nicht sehen kann. Das Todtmachen aus der Ferne, nicht von Angesicht zu Angesicht, macht unsere modernen Schlachten feig und grausam und gleichsam zu Rechnenexempeln, die man statt mit Zahlen, mit Todten, Verwundeten und Gefangenen zusammen rechnet, um das Facit, die Bilanz, zu ziehen. Strategisch genommen, klingt die Expectoration unseres Neulings im Kriege gar zu sentimental, aber es liegt auch eine große, schwere Wahrheit darin. Der Krieg ist ein gemachter, diplomatisch erkünstelter und hat mit den natürlichen, menschlichen Gefühlen und Stimmungen der Russen, Engländer und Franzosen so wenig zu thun, daß hier im Gegentheil alle mehr oder weniger ihren Ausdruck in der ergreifenden und einfachen Aeußerung dieses jungen Seemannes wiederfinden werden.




Literatur. In der Natur und in der Literatur ist es sehr weise eingerichtet, daß die Buchblätter kommen, wenn die Baumblätter fallen. Dieses Mal scheint der Herbst früh eintreten zu wollen, in der Natur sowohl wie in der Literatur. Auf den Bergen gilbt sich das Laub schon und in den buchhändlerischen Blättern und Circulairen wimmelt es bereits von Ankündigungen – alle auf den kommenden Herbst und Winter berechnet. Es scheint also, daß der Krieg auf die Spekulation der Geschäftsleute und die Phantasie der Autoren wenig Eindruck gemacht hat, denn man liest nur Anpreisungen von neuen Romanen und Gedichten, als ob keine Kriegsereignisse und keine Zeitungen mehr existirten. Theod. Mügge bringt einen zweibändigen Roman: „die Erbin,“ G. Kühne einen dreibändigen: „die Freimaurer“, Kurz einen dreibändigen: „der Sonnenwirth“, L. Storch einen dreibändigen: „die Herzogin von Gotha“, Willkomm zwei Bände Novellen, Fontana und Cl. Glümer: „Reiseskizzen aus London und den Pyrenäen“, ein Herr Bonner einen zweibändigen Seeroman: „die Rebellen von Lübeck“. Außerdem erscheinen noch „Memoiren der Senora Pepita“, in Lieferungen, wahrscheinlich eine sehr pikannte Lektüre, und ein Taschenbuch, „das Rheinische“, ist bereits vor vierzehn Tagen in alle Welt gegangen. Für Weihnachten hat der bekannte Verfasser des „Struwwelpeters“ (Hoffmann) ein neues Buch: „Bastian der Faulpelz“, angekündigt, das sicher wieder vielen Beifall finden wird. Von Hoffmann von Fallersleben sind „Lieder aus Weimar“ erschienen, darunter viele reizende Verse, die sich besonders zum Componiren eignen. Von dem Wislicenus’schen Buche: „die Bibel im Lichte der Bildung unserer Zeit“, ist endlich in Lübeck die letzte Lieferung ausgegeben und das Werk, dessen Erscheinen viele Hindernisse fand, nunmehr complet. Schließlich erwähnen wir noch, daß Ludw. Bechstein (Hofrath, Cabinetsbibliothekar, Archivar, Ritter etc., wie er sich auf der Ankündigung selbst ausschreit) eine „Wartburg-Bibliothek“ herauszugeben beabsichtigt, worin alle die Stoffe aufgesammelt werden sollen, welche in irgend einer Beziehung zur Burg oder zur Stadt Eisenach stehen. Beginnen soll das Werk mit „den geistlichen Schau- und Singspielen von den zehn Jungfrauen“ – vorausgesetzt, daß die Theilnahme seitens des subscribirenden Publikums eine so „umfängliche und werkthätige“ ist, daß überhaupt das Ganze erscheinen kann. In Thüringen speciell dürfte das Unternehmen schon deshalb wenig Anklang finden, weil der Name “Bechstein“ darauf prangt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Barcellona
  2. Vorlage: Auflockern
  3. Vorlage: Barcellona