Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[381]

No. 33. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Der Schutzgeist des Hauses.
(Fortsetzung.)

Arnold, der sich diesen Anfall erklärte, näherte sich seiner Schwester, zog ihre Hände vom Gesichte und trocknete ihre Thränen, indem er sprach: „Weine doch nicht, liebe Schwester. Ich kenne nun den Wunsch Deines Herzens und Du darfst auf dessen Erfüllung zählen. Ein Mädchen wie Du ist doch ganz was Anderes, denke ich, als so eine hergelaufene Person, die Niemand angehört, und die schön sein muß, um ihr Brot zu gewinnen. Entweder wird der Rausch bei Alfred wie ein anderer vorübergehen, oder ich werde diese Schlingen zu zerreißen wissen, in denen sich sein Herz verfangen. Dafür bürge ich Dir mit meinem Kopfe. Ich hasse dieses Weib, das eine Störung in unsern friedlichen Kreis gebracht, damit die Schwester und den Freund leiden macht. Es muß mit dieser Geschichte ein Ende gemacht werden“, setzte er kaum hörbar hinzu.

Seit dieser Scene arbeiteten die Gedanken Arnold’s an einem Plane, wie Alfred von Adele loszureißen und mit seiner Schwester zu verbinden sei, wodurch nach seiner Ueberzeugung Beiden der erheblichste Dienst geleistet würde. Und bald schritt er zur Anwendung eines Mittels, das er ersonnen, um diesen Zweck zu erreichen.

Der wohlmeinende Freund Alfred’s begab sich zu Delphine’s Bruder, Herrn Thomas Flaireau, rue des bons enfants Nr. 11. Er fand einen jungen verlebten Mann „mit Runzeln und grauen Haaren“, mit verloschenen blauen Augen, die wüst aus tiefen Höhlen hervorblickten, von blasser Gesichtsfarbe, die in’s Graue spielte, in einen Schlafrock gehüllt, der nichts als schwache Erinnerungen an glänzende Zeiten bewahrt, am Kamine sitzend, mit nichts weiter beschäftigt, als ein lebhaftes Feuer zu unterhalten, sich zu wärmen und Rauchwolken, die er aus einer Cigarre zog, von sich zu blasen.

„Herr Flaireau?“ sprach Arnold, als er in die Stube trat.

„Der bin ich!“ antwortete eine tonlose Stimme.

„Ich habe mit Ihnen über eine Angelegenheit zu sprechen.“

„Sie sehen mich zu Ihren Diensten. Belieben Sie Platz zu nehmen.“

Arnold, nachdem er dieser Einladung gefolgt, sieht einen Moment den Bewohner der Stube prüfend in’s Gesicht.

„Sie haben Unglück auf der Börse gehabt“, begann er hierauf.

„Politische Ereignisse“, gab der Andere zurück, „die sich unmöglich vorhersehen ließen, haben mich zu Grunde gerichtet. Das beweist aber nichts gegen mich, eben so wenig als bewiesen ist, daß Napoleon kein großer Feldherr war, weil er die Schlacht bei Waterloo verloren, wo Blücher eintraf, anstatt daß Grouchy hätte eintreffen sollen. Wenn Sie also Kapitalien haben, die Sie durch geschickte Operationen verdoppeln, verdreifachen wollen, können Sie sich keines geeigneteren Mannes, als ich bin, bedienen.“

„Es handelt sich um ein Geschäft, Monsieur Flaireau, das seinen Nutzen sicherer abwirft, als eine Börsenspekulation“, sagte lächelnd Arnold.

„Ich bin zu jeder Unternehmung bereit, bei der was heraussieht“, versetzte hierauf Thomas. „Man muß vielseitig sein, will man es heutzutage zu etwas bringen. Findet man einen Weg verrammelt, so daß man nicht weiter kann, ist es natürlich, daß man einen andern einschlägt. Der Mensch kann dies vom ersten besten Strome lernen.“

„Ich glaube, daß wir uns verständigen werden“, sagte lächelnd Arnold.

„Lassen Sie gefälligst hören, um was es sich handelt.“

„Sie kennen den Grafen Worsakof?“

„Ich habe die Ehre.“

„Der Mann ist außerordentlich reich?“ frug Arnold. „Aber nicht unternehmend“, erwiederte Thomas. „Auch kein Mann von Genie; er begnügt sich mit dem, was er hat. Und dieses beweist immer eine Beschränkung des Geistes; mag nun das, womit man sich begnügt, eine Million oder fünftausend Franken sein. Ein bedeutender Mann ist und hat nie genug. Das ist mein Grundsatz.“

Arnold lächelte wieder als er sagte: „Sie sind sehr ehrgeizig, Monsieur Flaireau. Doch um wieder auf den Grafen Worsakof zu kommen. Ihre Schwester gefällt ihm?“

„Auch das wissen Sie?“ frug der Börsenspieler, indem er seinen Besuch mit großen Augen ansah.

„Wie kommt es“, fuhr Arnold fort, ohne diese Frage aufzunehmen, „daß Sie hier wohnen in der kleinen Stube der rue des bons enfants?“

„Das kommt daher“, versetzte mit einiger Heftigkeit Thomas, „weil meine Schwester das eigensinnigste Geschöpf ist, welches jemals einen Weiberrock getragen. Glauben Sie, ich kann von ihr erlangen, daß sie dem russischen Nabob nur Hoffnung macht? Unmöglich, ob dieses gleich vollkommen hinreichend wäre, nur einen großen Einfluß auf den Grafen zu gewinnen, was von unberechenbarem Nutzen werden könnte.“

„So!“ sagte Arnold überrascht. „Wie ist es aber zu erklären“, setzte er hinzu, „daß sich Ihre Schwester so hartnäckig erweist?“

„Du lieber Himmel, Launen, nichts als Launen! Sie wissen doch, wie die Weiber sind, und daß kein Philosoph und kein Schafskopf aus ihnen klug werden kann. Bald sind sie verschwenderisch, [382] bald geizig, bald großmüthig und bald grausam, bald nachgiebig und bald unbeugsam. Sie können den Gang der Kometen, aber nicht die Gedanken eines Weibes berechnen. Für mich ist meine eigene Schwester ein Räthsel, das –“

„Uebermorgen ist der neunzehnte März und der Geburtstag Ihrer Schwester“, fiel Arnold ein, um den Betrachtungen des Spielers ein Ende zu machen.

Morbleu, Sie sind ja in unsere Familienangelegenheiten so gut eingeweiht, wie ein Concierge aus der Nachbarschaft. Es hat ganz den Anschein, als wären Sie ein verkippter Onkel aus Amerika, der uns prüfen will, bevor er uns seine Millionen an den Hals wirft“, scherzte Thomas.

„Würde Ihre Schwester ein kostbares Geschenk, das ihr der Graf zu diesem Festtag machte, annehmen?“

„Warum denn nicht. So weit geht ihre Tollheit nicht, dem Kosaken eine Auslage ersparen zu wollen, die er gar nicht spürt. Doch glauben Sie, daß dieser auch nur daran denkt, meiner Schwester etwas Werthvolles anzubieten? Ueber einen Blumenstrauß um zehn Franken erhebt sich seine Freigebigkeit nicht.“

„Wie wäre es“, meinte Arnold, „wenn Sie den Grafen auf den Vortheil einer solchen Zuvorkommenheit und auf den Fortschritt, den er auf diese Weise in dem Herzen Ihrer Schwester machen werde, hinwiesen?“

„Dadurch würde ich mir bei ihm Alles verderben“, erwiederte Thomas. „Sie glauben gar nicht, wie schwer der Barbar zu fassen ist und welche Vorsicht man anwenden muß, um von ihm nicht durchschaut zu werden. Glauben Sie mir, ich habe meine Proben.“

Nachdem sich Arnold einige Augenblicke besonnen, sagte er: „Wenn es so nicht geht, könnten Sie doch jedenfalls im Namen des Grafen Ihrer Schwester ein Geschenk überreichen.“

„Wie ist das ? Ich im Namen des Grafen?“ frug Thomas, indem er sich den Sinn dieser Worte klar zu machen suchte.

„Die Sache, dächte ich, sei ganz einfach“, erklärte Arnold. „Ich übergebe Ihnen ein Geschmeide, ein Halsband oder Ohrringe oder sonst was. Ist Ihnen noch daran gelegen, daß Ihre Schwester freundlich sei, so übergeben Sie es als eine Sendung des Grafen und bemerken, daß zwar der Geber unerrathen bleiben will, daß Sie aber diesen schönen Zug des Russen nicht ungekannt lassen wollen.“

Ueber das fahle Gesicht des ehemaligen Spekulanten blitzte ein Ausdruck der Zufriedenheit, so wie ihm dieser Antrag verständlich wurde. Doch war dieser Ausdruck verschwunden, als er an seinen Besuch die Frage richtete: „Und welcher Vortheil erwächst mir aus dem Dienst, den Sie verlangen?“

„Ihnen kann es doch nur erwünscht sein, wenn der Graf Ihrer Schwester näher rückt“, versetzte Arnold.

„Woraus schließen Sie, daß mir dieses erwünscht sei?“ warf Thomas mit der größten Gleichgültigkeit hin.

„Das vermuthe ich blos. Doch außerdem erhalten Sie fünfhundert Franken für die Arbeit, wenn sie gut gethan ist“, gab Arnold halb spöttisch, halb verächtlich zurück.

„Meine Bürgschaft?“

„Ich könnte Ihnen diese Frage mit mehr Fug zurückgeben, da Sie doch einen kostbaren Schmuck in die Hände bekommen, allein ich schenke Ihnen alles Vertrauen. Hier eine Tratte auf Fould und Oppenheim, zahlbar vier Tage nach Sicht. Erfüllen Sie die angenommenen Bedingungen nicht, so komme ich, um Schmuck und Tratte zurückzufordern.“

„Eingeschlagen!“ versetzte Thomas, besah prüfend das ihm eingehändigte Papier, faltete es zusammen und legte es in ein Portefeuille, das er aus dem Fach eines Schreibpultes nahm.

„Noch Eins“, sagte Arnold, „und dieses gehört zu den Hauptbedingungen des Honorars: Sie müssen dafür sorgen, daß Mademoiselle Adele an ihrem Geburtstage mit dem betreffenden Juwel geschmückt ihre Besuche empfange.“

„Ich verpflichte mich, dieses durchzusetzen. – Nun, bevor Sie gehen, erlauben Sie mir aber zwei Fragen, die Sie gewiß nicht indiskret nennen werden: Wer sind Sie und was kann es Ihnen verschlagen, ob sich meine Schwester an ihrem Geburtstage mit oder ohne Schmuck sehen läßt?“

„Davon ein ander Mal“, versetzte Arnold. „Morgen bin ich bei Ihnen mit dem Geschmeide. Adieu, Herr Flaireau. Auf Wiedersehen!“ Und er ging.

Allein gelassen, sann und grübelte der Börsenspieler, um für das seltsame Benehmen des fremden Mannes einen Grund zu finden. Da er nichts Stichhaltiges auffinden konnte, nahm er, wie um seinen Gedanken nachzuhelfen, die Tratte aus dem Pult, und las noch einmal auf der Kehrseite: „Zahlen Sie an die Ordre des Herrn Thomas Flaireau die Summe von fünfhundert Franken. Paris, 17. März 1842. Arnold Granier.“

Doch auch das Dokument gewährte dem Forschen des Spielers weiter keinen Anhaltepunkt.


IV.
Am Tage nach dieser Unterredung erhielt Alfred einen Brief von unbekannter Hand ohne Namensunterschrift, folgenden Inhalts:
„Mein guter Herr!
„Haben Sie schon die Einkäufe für den Geburtstag Ihrer herrlichen Adele gemacht? Nehmen Sie sich wohl zusammen, denn Sie haben einen reichen und freigebigen Rivalen zu überbieten. Mit Blumen, wie es die Liebe schenkt, dürfte es in vorliegendem Falle kaum abgethan sein. Wenn Sie morgen Ihren Besuch bei Adelen machen, werden Sie Gelegenheit haben, die blinkenden Edelsteine an einem Halsband zu bewundern und zu erfahren, wie reichlich ein russischer Graf beschenkt. Wofür? Wer beantwortet diese Frage. Im Falle, daß Sie ein Kenner von Juwelen sind, können Sie dem Mädchen Ihrer Leidenschaft einen Dienst erweisen, indem sie ihr den Werth des Schmuckes und zugleich auch den des Grafen genau abschätzen; denn es ist doch immer gut, zu wissen, was man besitzt.
N. N.

„Paris, 18. März 1842.

Alfred las und las wieder und fand dieses Schreiben jedes Mal entsetzlicher. Hatte er sich lange genug gequält, sagte er sich zwar zu seiner Beruhigung, daß man Unrecht habe, auf ein anonymes Schreiben irgend ein Gewicht zu legen, da hinter demselben stets entweder ein Verrath oder im besten Falle eine Feigheit steckt; allein die Wirkung dieser Trostgründe war jedoch nur gering und vorübergehend.

„Wer mag das geschrieben haben?“ dachte er. „Irgend eine Neiderin etwa? Wen aber beneidet die Neiderin?“ Hier stieß er wieder auf eine Vorstellung, an der sich alle Beschwichtigung zerschlug. – „Sollte etwa Lamon, der um meine Begünstigung weiß und sich ärgert, daß er so schlimm abgewiesen wurde, diese kleinliche Rache suchen? – Oder hofft vielleicht Jemand, der den Grafen oder mich haßt, durch dieses Mittel einen Kampf auf Tod und Leben zwischen ihm und mir herbeizuführen? Der hätte sich jedenfalls verrechnet. Ich bin wahrlich nicht der Thor um ein Weib zu kämpfen, das nicht einen Tropfen Blutes, geschweige denn ein Menschenleben werth ist. – Wenn es aber irgend ein redliches Gemüth wäre, von dem dieser Brief herrührt, und der keine andere Bestimmung hätte, als mich aufzuklären, zu warnen? Warum aber sich mit so löblicher Absicht in Dunkel hüllen? Was braucht ein gutes Werk das Licht zu scheuen?“ – Er wollte nicht weiter daran denken und dachte immer und immer daran. Er wollte nicht weiter rathen, da er doch den nächsten Tag Gewißheit erlangen würde und hörte doch nicht auf, sich mit Vermuthungen zu erschöpfen. Er verfiel, wenn er sich ihnen auf Augenblicke entzogen, auf’s Neue den Zweifeln, den quälendsten Vorstellungen. Es blieb dem jungen Mann nichts weiter übrig, als bis zum nächsten Tage zu warten, um sich von der martervollen Ungewißheit zu befreien.

Er brachte eine schlaflose Nacht hin, und auch der Morgen brachte keine Erheiterung, keine Erquickung. Es trieb ihn zu dem Besuch bei der Meisterin, allein er hatte noch genug Ueberlegung behalten, um sich zu sagen, daß der Zweck desselben verfehlt wäre, wenn er zu früh käme, bevor sich Adele in vollen Staat versetzt. Er mußte noch einige Stunden voll banger Ungeduld warten.

Es war um Mittag, als er in der heftigsten Bewegung an die Thüre des kleinen Salons in der rue Mazagran klopfte, in welchem sich nach der Angabe der Magd Adele befand. Mit dem Gefühle eines Menschen, der auf Tod und Leben angeklagt, den Richterspruch erwartet, der frei spricht oder verurtheilt, öffnete er schwankend zwischen Hast und Zaudern und trat ein. Er findet Adelen in der Gesellschaft des Grafen Worsakof, der ihre beiden [383] Hände in den seinigen hält, und ihr in der herzlichsten Weise Glück, wünscht. Zugleich blitzen ihm die Edelsteine von dem Geschmeide am Halse des Mädchens, die Augen blendend, entgegen. Er bleibt, angewurzelt wie eine Bildsäule stehen und starrt, ohne zu grüßen, ohne ein Wort zu sprechen, den Schmuck an. Adele, die Hände des Grafen verlassend, nähert sich ihm, heißt ihn auf’s Freundlichste willkommen, reicht ihm die Hand, bittet ihn lächelnd, die Thüre zu verlassen; er aber hört nicht und bleibt unbeweglich, den Blick unverwandt auf den Schmuck gerichtet. Endlich besinnt er sich und stürzt fort, als wäre er von Furien verfolgt. Im Herzen Marter, auf den Lippen Fluch.

Auf der Straße angekommen, hält er an, um seine Gedanken zu sammeln, denn er weiß nicht, was er beginnen, wohin er die Schritte lenken soll; da klopft ihn Jemand auf die Schulter. Er wendet sich und Arnold steht vor ihm. Erwünschte Begegnung! Rath und Hülfe verlangend, schüttet der in seinem tiefsten Innern Verwundete das überfüllte Herz in die Seele des Freundes aus. Arnold macht sich alsdald mit warmer Theilnahme zum geistigen Krankenwärter des Leidenden; er richtet dessen Muth auf, tröstet ihn und sucht allerlei Balsam für die brennende Wunde. Wem thut eine sorgsame Pflege nicht wohl! Er kam fast gar nicht von der Seite des Freundes und suchte auf jede mögliche Weise ihn zu zerstreuen, ein Geschäft, bei welchem ihm Delphine sehr behülflich ist. Man las, man musizirte, man machte Spaziergänge. Was sich ausfindig machen ließ, das wurde gegen die Schwermuth Alfred’s in Anwendung gebracht. Wenn man sie auch nicht so schnell zu heilen vermochte, zu ihrer Milderung trugen die Geschwister jedenfalls sehr viel bei. Nach einigen Tagen schlägt Arnold dem Freund als das beste Mittel der Genesung die Ehe vor.

„Du nimmst ein gutes frommes Weib“, sagt er zu ihm, „das Dir treu ergeben, das Dich durch seine Hingebung rührt, das Dich mit ihren Sorgen umgiebt, das an Deinem Glück und Wohlergehen still geschäftig arbeitet, das Deine Dankbarkeit erwirbt, Dein Herz beschäftigt, und am Ende Deine Liebe gewinnt. Glaube mir, der Bemühung eines so edlen aufopfernden Wesens widersteht Dein Schmerz nicht lange. An so einem vollen, treuen Herzen wirst Du genesen und vergessen.“

Alfred griff mit Hast nach dem Gedanken, den der Freund in ihm angeregt, und dessen Verwirklichung nach mehreren Richtungen hin Befriedigung versprach. Er glaubte Adelen nicht besser als durch diesen Schritt zu beweisen, wie rasch und ganz er sich, von ihr losgerissen, und er fand in ihm die einzig mögliche Genugthuung, eine Art von Rache. Dieser Bruch mit der Möglichkeit einer Wiedervereinigung entsprach vollkommen seinem Sinn, seiner Verfassung.

„Wo aber finden ein frommes Herz, ein Herz, in welchem keine giftige Schlange nistet?“ frug er mit hämischer Bitterkeit.

„Delphine!“ warf Arnold hin.

Der Klang dieses Namens verlieh dem Vorschlag des Freundes ein neues Gewicht. Eine Verbindung mit diesem Mädchen, das er kannte, das er ehrte, versprach mehr als die Befriedigung seiner verletzten Eitelkeit, die er für den Augenblick suchte; an diesen Namen mochte der im „Innersten Verwundete“ die Hoffnung auf eine glückliche heitere Zukunft knüpfen. An seiner Einwilligung konnte es da nicht fehlen; eine Bedenklichkeit anderer Natur jedoch drang sich ihm auf. „Wie“, lautete sein Einwurf, „wird das liebe Mädchen die undankbare Rolle des Arztes übernehmen? Wird sie Alles bieten wollen, um nichts zu empfangen? Wird sie den perlenden Labetrank ihrer Jugend zur Arzenei eines kranken Herzens mißbrauchen lassen? Dürfen wir ein solches Opfer von ihr verlangen?“

„Sie liebt Dich, wie edle Seelen lieben. Das Glück, welches sie Dir bereitet, schlägt in ihr eigen Herz zurück. Sie wird aufjubeln bei dem Gedanken Dir zu gehören. Du magst sie selber fragen.“ So lautete die Antwort Arnolds.

Delphine, welche von all’ dem, was seit ihrem indirekten Geständniß vorgegangen, nicht das Geringste erfahren, jubelte in der That auf, wie es Arnold vorhersagte, als sich ihr Alfred mit seinem Antrag näherte. Er erzählte ihr seine Geschichte nur als er sie frug, ob sie es denn wagen wollte, mit ihm, dem Unvollkommenen, dem Zerrütteten, durch das Leben zu gehen, und ihr feierlich versprach, daß er sich nach Kräften herstellen und bemüht sein wolle, ihr das Leben zu schmücken und zu versüßen, da weinte sie Thränen der Freude, und sprach das einzige Wort: „Ich gehöre ja Ihnen.“ Und Alfred empfand es tief, daß ihm aus dieser Verbindung viel des Heilsamen entspringen würde. Er segnete den Freund und segnete die Freundin, welche ihm, wie er sagte, das Leben gerettet.

Wenige Tage nach der gegebenen Einwilligung Delphine’s ward ohne alles Geräusch die Hochzeit gefeiert und gleich nach der Feierlichkeit reiste das junge Ehepaar in den Süden von Frankreich, um daselbst den Rest des Frühlings und den Sommer zuzubringen.

Am 7. April schrieb Delphine Folgendes an ihren Bruder zu Paris:
„Nimes 7. April 1842. 
„Mein lieber Arnold!

„Unsere Wohnung ist wunderschön, am Abhang eines Hügels gelegen; der Frühling, welcher hier bereits in vollster Entwickelung begriffen ist, lacht uns zu den Fenstern herein. Wir haben das Rauschen des Waldes, das Singen der Vögel, den Duft der Blumen von erster Hand. Zu dem Häuschen, das wir gemiethet, gehört auch ein kleiner Garten mit einer dichten schattigen Laube, wo wir bei schönem Wetter unser Frühstück einnehmen. Trotz der schwermüthigen Stimmung in meinem jungen Haushalt, bin ich glücklich. Es ist Alles so friedlich, so feierlich um mich her. Alfred sucht und findet Trost bei mir. Er liebt mich nicht, doch er will mich lieben. Könnte man einem Herzen befehlen, das Seinige gehörte mir ganz. Sein guter Wille dünkt mir schon viel, besonders da ich weiß, wie er mir freundschaftlich zugethan ist. Unsere Ehe gehört gewiß nicht zu den alltäglichen. Sie enthält mehr Spannung und Thätigkeit, als jede, die ich bisher gesehen. Alfred giebt meiner Liebe so viel zu schaffen, zu beobachten, entgegenzukommen, zu beschwichtigen, zu opfern, kurz zu beweisen, wie viel sie werth ist, wie viel Beisatz von Selbstverläugnung sie enthält. Es giebt Augenblicke, wo ich eifersüchtig auf diese Unbekannte bin, die auf Alfred eine solche Wirkung hervorgebracht. Doch geht das bald vorüber und ich denke lediglich der Aufgabe, meinem Manne einen Ersatz für den Verlust zu bieten. Nach diesem Ziel arbeite ich hin. Ich vergesse mich und er ist mir Alles. Was meinen Alfred betrifft, fühlt er das Kleinste, was ich aus Rücksicht für ihn thue oder unterlasse, so klar und lebhaft, und ist so erkenntlich, daß ich stets dafür belohnt bin. Ich suche seine geheimsten Wünsche zu erlauschen und zu erfüllen und das wirkt wohlthuend auf sein Gemüth, wie auf seinen Geist. Ich bin voll Muth und Hoffnung.“

Ein Schreiben Delphine’s an ihren Bruder vom 19. April enthielt folgende Zeilen.

„Ich mache täglich mehr Fortschritte in seinem Herzen. Gestern sagte er mir, daß ich ihm wie Luft und Licht zum Dasein unentbehrlich sei, daß es sein tobendes Blut besänftigt, wenn ich mit meiner sanften Stimme zu ihm spreche, und daß es sein erhitztes Gehirn abkühlt, wenn ich mit meiner weichen Hand die Wolken von seiner Stirn wische. In den ersten Tagen unseres Aufenthaltes hier vertiefte er sich oft für ganze Stunden allein in den angrenzenden Wald. Jetzt will er mich immer um sich haben; ich sei ihm lieber als die Einsamkeit, sagt er; denn ich sei nicht zudringlicher, nicht unbequemer als diese und habe vor ihr Theilnahme und Mitgefühl voraus. Ich weine oft, wenn ich denke, was der arme Mensch gelitten haben muß, ja noch leidet, und bin dann stolz auf mich selbst, wenn ich mir sagen kann, daß es meiner Sorgfalt gelungen, seinem Schmerz den Stachel abzubrechen. Welches Weib kann sich noch eines solchen Sieges, eines solchen Triumphes rühmen!“

In einem Schreiben der Schwester an den Bruder vom 27. April kam diese Stelle vor:

„Alfred ist gegen mich mindestens von eben so viel Zuvorkommenheit, wie ich gegen ihn. Was mir nur irgend angenehm sein kann, wird durch ihn um jeden Preis herbeigeschafft. Er studirt meine Wünsche und Liebhabereien, wie ich die Seinigen. Bald finde ich Lilien gepflanzt in unserem Garten, weil er weiß, daß die Lilie meine Lieblingsblume, bald kommen Arbeiter, ohne daß ich sie erwartet und richten ein Zelt vor dem Hause auf, von dem ich im Vorbeigehen gesprochen; bald finde ich in meinem Zimmer ein Meubel, das zur Zierde oder Bequemlichkeit dient. Und da ich bemerke, daß es ihm eine gewisse Genugthuung gewährt, mir Freude zu machen, gebe ich ihm dazu häufig Gelegenheit. Ich äußere den Wunsch bald nach einem Buch, bald nach einem Bilde, [384] bald nach einem Musikstück, einem Kleiderstoff, nach einem Ausflug in der Gegend. Und ich sehe es deutlich, welches Vergnügen es ihm macht, mir gefällig zu sein. Wie sollte ich nicht zufrieden mit meiner Lage sein! Alfred ist eine der edelsten, zartesten Naturen und ich begreife gar nicht, wie ich Jemanden lieben sollte, wenn nicht ihn.“

Am 2. Mai schreibt Delphine:

„Was war das gestern für ein schöner ungetrübter erster Mai. Alfred und ich, wir Beide zusammen nahmen Theil an dem Blüthenfest der Natur. Unsere Herzen freuten sich mit den Kindern, welche auf den Wiesen Kränze flochten und sich dann, die frischen Kronen auf den blonden Köpfchen, lachend und singend umhertrieben mit den Mailüftchen um die Wette. Ich kann es nicht aussprechen, welche Stimmung uns Beide überkam inmitten dieser Auferstehungsfreuden der neubelebten Welt. Wir sagten uns nichts, allein wir fühlten Jeder, was der Andere sagen wollte und nicht konnte. So zärtlich war Alfred noch niemals mit mir gewesen, wie an diesem Tage. Er sah leidend aus, es drang wohl durch die glänzende Feier der Natur und der Geschöpfe manche böse Erinnerung auf ihn ein, die er abzuwehren hatte. Der stille lautere Abend, welcher dem rauschenden sonnigen Tage folgte, stimmte Alfred schwärmerisch. Wir saßen in dem Zelt vor dem Hause. Die Sonne war hinter die Berge gesunken und die Nacht zog sich wie ein schwarzer Flor hin über den Wald; sie gebot ringsumher Schweigen und Ruhe. Die Blumen schloßen ihre Kelche, die Vögel gewannen ihre Nester, die Käfer suchten ihr Nachtquartier. Nur die Nachtigall wachte und sang. Alfred schmiegte sich an mich, ergriff meine Hand und schwur, daß er mir nie den frommen Dienst in dem Heiligthum seines Herzens, nie mein inniges Walten um ihn her vergessen werde. Es war so tief gefühlt, was er sprach, daß ich bis zu Thränen gerührt ward. Was konnte ich erwiedern auf so gute, liebe Worte? Ich schwieg.“

Ein Brief Delphine’s vom 5. Juni:

„Wenn Alfred mich traurig sieht, weiß er gar nicht genug Mittel aufzubieten, um mich heiter zu stimmen. Wie liebenswürdig ist er mit dieser Beflissenheit und was macht es mir für Freude, ihn so bekümmert und ängstlich um mich zu sehen. Wie oft wünsche ich mir traurig zu sein, wenn ich es nicht bin, nur um Alfred um mich besorgt zu sehen. Und doch ist mir nicht möglich, ihm diese Comödie vorzuspielen. Jedem andern Manne gegenüber hätte ich mir wahrscheinlich aus diesem weiblichen Kunstgriff kein Gewissen gemacht. Wie aber könnte ich Alfred, in welcher Art es auch sei, hintergehen! Ihn, der so offen und aufrichtig ist wie ein Kind.

„Vor einigen Tagen wurde ich von einem geringen Unwohlsein befallen, da hättest Du seine Unruhe, seine Geschäftigkeit und Sorgfalt sehen sollen, mit welcher er meiner wartete. Wie hätte ich da nicht genesen sollen. Ich habe im Stillen die Krankheit gesegnet. Kann es eine herrlichere Ehe geben, als die unserige? Wie viel des Glückes gewährt sie, und wie viel läßt sie noch hoffen. Sie ist sparsam, sie verpraßt nicht in einigen Tagen ihren ganzen Reichthum, aber sie ist nicht geizig. Nicht einen Augenblick ist mein Herz unbeschäftigt oder auch nur ohne Bewegung. Die Tage enteilen mir wie Stunden; ich frage mich, wo sie dann hingekommen. Ich habe den Begriff von Langerweile verloren und doch wende ich kein äußeres Mittel der Zerstreuung an. Die Bücher, welche ich hier habe, bleiben ungelesen; auch Musik treibe ich wenig und ich spiele nur, wenn Alfred seine Lieblingsstücke verlangt. Wo soll ich Zeit für solche Nebendinge hernehmen?

Am 21. Juli schrieb Alfred an Arnold:
Mein bester Freund!

„Mir fehlte bisher die Stimmung Dir zu schreiben. Ich schämte mich meines schwankenden Zustandes Deinem sichern festen Wesen gegenüber. Nun da ich wieder einen Willen und ein Streben gewonnen, kann ich mich mit Dir über Gegenwart und Zukunft unterhalten. Wie gut hast Du mir gerathen! Ich bin durch den traulichen Verkehr mit meiner Delphine ein neuer würdigerer Mensch geworden. Meine Bekümmernisse, Wünsche und Hoffnungen erheben, erweitern mich und meinen Charakter. Ich lebe ganz und gar in der heiligen Umgrenzung der Familie und finde das Gebiet so weit, so schön, so fruchtbar; es ist mein Paradies, das Alles Wilde in mir zähmt und besänftigt. Wie entsetzlich, wenn eine zürnende Gottheit mich aus demselben verjagte. Was ist Deine Schwester für ein Weib, wie werth jedes Vorzugs, einsichtsvoll und zart, freigebig und genügsam; mild und unerschütterlich. Und doch glaube ich ihrer würdig zu sein. Habe ich nicht Alles gewonnen? Du wirst mit mir zufrieden sein, Arnold. Wie steht es mit Deiner Unternehmung, die Dich in Paris zurückhält? Wird sie Dich nicht auf einige Tage frei lassen, damit Du uns besuchen kannst? Du würdest Dich sehr wohl bei uns, mit uns fühlen und wir wären Dir für das Vergnügen Deiner Gegenwart dankbar. Trachte doch den kurzen Besuch möglich zu machen.

„Deine Schwester erwartet Dich so wie Dein Bruder
Alfred.“

Arnold konnte, von seinen Geschäften zurückgehalten, Paris nicht verlassen und sein Briefwechsel mit den Neuvermählten, von welchem wir nur einen Theil als zu dieser Geschichte gehörig mitgetheilt, dauerte bis Anfangs Dezember fort, da diese wieder aus ihrem Stillleben in das große lärmende Paris zurückkehrten.

(Schluß folgt.)




Aus der Menschenheimath.
Briefe des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Fünfundzwanzigster Brief.
Das Mikroskop in der Haushaltung.
1. Leinen und Baumwolle.


Wenn Du schon eine Frau hättest, mein lieber Freund, so würde ich sagen, daß dieser nebst einigen folgenden Briefen weniger an Dich als an diese gerichtet seien. Da aber der Redensart zufolge „was nicht ist noch werden kann,“ so will ich es ansehen, als läse meine Briefe ein fleißiges Hausfrauchen und säße dabei hinter dem rebenunkränzten Fenster, welches aus Deiner Unterstube über Dein kleines Gärtchen hinweg in die reizende Berglandschaft blickt, in der Dein Dorf liegt.

Nachdem ich Dir schon so Mancherlei erzählt und abgezeichnet habe, wovon ich nur durch das Mikroskop Kunde erhalten haben konnte, so wird es Dich ganz gewiß nicht Wunder nehmen, wenn ich Dir sage, daß die Wirksamkeit dieses wichtigen Instrumentes sich auch bis in das Bereich der Hauswirthschaft erstreckt. Ueberhaupt ist es bei der Bedeutung unserer fünf Sinne für unser ganzes Sein sehr natürlich, daß einem Instrumente, welches den edelsten unserer Sinne schärft, gewissermaßen vervielfältigt, ebenfalls eine hohe Bedeutung zuerkannt werden müsse.

Hoffentlich wird bald auch in Deinen Mauern darüber debattirt werden, ob eingekauftes Leinen, Wollenzeug oder ein seidenes Halstuch auch wirklich reines Leinen, reine Wolle, reine Seide und nicht etwa mit Baumwolle verfälscht sei. Jetzt kümmert Dich dies freilich noch wenig. Aber warte nur, das kommt schon noch! Wenn Dir einmal eine sorgliche Ehehälfte in der Stadt für Dein schweres Geld zu etwas feineren Hemden eine Webe-Leinwand eingekauft haben wird, so wird sie gewiß mit einem kleinen haushälterischen Bangen ausrufen: „ja wenn ich nur gewiß wüßte, ob die Leinewand reines Leinen sei!“

Leider hat in neuerer Zeit die einst so zuverlässige und deshalb in hohen Ehren stehende deutsche Leinenweberei viel von ihrem Credit eingebüßt, weil man dem Leinen so viel Baumwolle beimischt und den Betrug durch künstliche Mittel der Zubereitung zu bemänteln wußte. Diese Täuschung ist oft so vollkommen, daß es nur ein Mittel giebt, dahinter zu kommen, und dieses Mittel ist eben das Mikroskop. Die Chemie erwies sich leider hierin als unzureichend. Es ist vor kurzer Zeit der Fall vorgekommen, daß ein Leinwandhändler in’s Gefängniß gesteckt wurde, weil die Chemie [385] die von ihm für rein verkaufte Leinwand für baumwollenhaltige erklärt hatte, und das Mikroskop ihn wieder in Freiheit setzte, weit es die Leinwand vollkommen rein fand.

Vielleicht wendest Du mir hier ein, ob man denn dafür stehen könne, daß in diesem Falle das Recht oder vielmehr die Wahrheit auch wirklich auf Seite des Mikroskopes und nicht doch vielleicht auf Seite der Chemie sei? Ich antworte darauf mit der zuversichtlichsten Bestimmtheit Nein, denn Du sollst Dich selbst überzeugen, dafern Du anders die Treue meiner Zeichnungen nicht in Zweifel ziehst, daß Leinenverfälschungen durch Baumwolle vom Mikroskop ganz unzweifelhaft dargethan werden, eben so wie Baumwollbeimischungen in wollenen oder seidenen Stoffen.

Die Chemie kann hier deshalb nicht entscheiden, weil die Flachsfaser und die Baumwollenfaser chemisch gleich gebildet sind; beide bestehen aus dem Zellstoff, der Cellulose, wie man den Stoff nennt, der im ganzen Pflanzenreiche die Zellen, wenigstens ihrem wesentlichen Bestande nach, bildet.

Es ist also die Form, nicht die chemische Beschaffenheit, wodurch sich diese zwei wichtigen Arten der Pflanzenzelle unterscheiden, welche milliardenfach zusammentreten, um das ganze menschliche Geschlecht mit Kleidern zu versorgen.

Du mußt Dich daran erinnern, daß beide am Pflanzenkörper ganz verschiedene Stellen einnehmen und unter ganz verschiedenen Verhältnissen sich entwickeln. Die Flachsfaser ist eine echte Bastzelle und liegt in der innern Zellenschicht der Rinde des Leinstengels, während die Baumwollenfaser dem Samenkorn der Baumwollenstaude, Gossypium herbasceum, innerhalb der Samenkapsel als Hülle dient. Das hat die nächste Folge für die Gewinnung beider, daß die Baumwolle fertig aus der aufspringenden Frucht der Baumwollenstaude hervorquillt und nur noch von den Samenkernen, an denen sie fest sitzt, gesondert zu werden braucht; während es bekanntlich viel Arbeit und Mühe kostet, die Flachsfaser aus der Rinde des Flachsstengels rein darzustellen.

So wenig Baumwolle und Flachs, ich meine beide in dem Zustande, in welchen, sie versponnen werden, zu verwechseln und zu verkennen sind – denke nur an die aus krausen feinen Fäserchen bestehende Watte und an den glänzenden Schopf am Rocken, so schwer sind beide in einem Gewebe zu unterscheiden, wenn es namentlich dabei auf eine Täuschung abgesehen ist. Auch ein Faden weißen Leinenzwirnes und feinen baumwollenen Strickgarnes sind kaum zu unterscheiden.

Laß uns nun beide unter dem Mikroskope betrachten, wobei wir Folgendes zu beobachten haben.

Ein Zwirn- oder Garnfaden ist, je nachdem er stark oder fein ist, seiner Dicke nach wohl aus hundert neben einander liegender langen Zellen zusammengesetzt und wenn wir einen ganzen Faden unter das Mikroskop bringen würden, so würden wir ihn zwar so stark wie ein Schiffstau sehen, nimmermehr aber die Beschaffenheit der einzelnen Zellenfasern aus denen er besteht. Wir nehmen also ein Falzbein oder den Rücken eines Messers und zerfasern ihn auf dem glatten Tische, daß er sich an der Spitze in einen langen, zarten Faserpinsel auflöst. Das sind eben die einzelnen, mehr als haarfeinen langen Zellen. Wir bringen nun beide, von einem flächsenen und einem baumwollenen Faden unter das Mikroskop und zwar zwischen zwei Glasplättchen in etwas Wasser, in welchem die Zellen sich klar und schön ausbreiten. Sollten uns dabei zwischen den Fasern Luftbläschen im Wasser stören, so vertreiben wir sie durch Hitze, indem wir mit einem Zängelchen, man nennt es in der Gelehrtensprache eine Pincette, beide Plättchen, zwischen denen sich die Fäden befinden, über eine kleine Spiritusflamme halten, bis das Wasser zwischen den Glasplättchen siedet und die Luft ausstößt.

Die beigegebene kleine Zeichnung soll Dir das Mikroskop ersetzen. Ich habe sie genau nach dem, was mir das Instrument zeigte, gemacht und zwar in zweihundertmaliger Vergrößerung. Du mußt Dir also die auf meinem gezeichneten mikroskopischen Sehfelde erscheinenden Parthien von Baumwollen- und Flachsfasern zweihundert Mal kürzer und schmäler denken, so hast Du ihre natürliche Größe. Ich brauche Dir nicht erst zu sagen, daß Du nicht die ganze Länge von den Zellen siehst, sondern etwa den vierzigsten Theil derselben. Du siehst auch nur einige wenige der unmittelbar nebeneinanderliegenden Zellen der beiden aufgefaserten Fäden, links 8 von dem Zwirnfaden und rechts 6 von dem Garnfaden. Alle erscheinen übereinstimmend glashell und vollkommen durchsichtig und man könnte leicht versucht sein, die Flachsfasern für feine gesponnene Glasfäden zu halten. In der Gestalt finden wir nun aber zwischen beiden erhebliche Unterschiede. Die Zellen des Flachses (F) sind immer straff und gerade, entweder ganz einfach einem feinen Glasfaden gleichend oder innen der Länge nach mit zwei ziemlich dicht nebeneinander verlaufenden Linien bezeichnet.

Was diese zu bedeuten haben, sage Dir die mit dem Sternchen bezeichnete quer durchschnittene Zelle oder Faser – denn die letztere Bezeichnung wird wohl praktischer sein. Du siehst auf dem Querschnitt den inneren Hohlraum der Faser als kleinen Kreis bezeichnet, von dem aus jene zwei Linien durch die ganze Faser verlaufen. Diese Linien sind also die durchscheinenden Grenzen des feinen Kanals, welcher die Faser durchläuft. Dieselbe Faser zeigt Dir auch, daß der durchsichtige glashelle Zellstoff fast die ganze Flachsfaser bildet und nur einen geringen Hohlraum inwendig übrig läßt. Auf diesem Umstande beruht die Festigkeit und Haltbarkeit und auch die Schwere, welche reines Leinen vor baumwollenem Zeuge voraus hat. An vielen Leinenfasern bemerkt man feine Querlinien, welche meist ein wenig schief und in ziemlich regelmäßigen Abständen von einander stehen. Die Bastzellen, als welche ich Dir bereits die Flachsfaser bezeichnete, entstanden im Rindenzellgewebe aus einer Reihe übereinanderstehender kurzer Zellen und jene Querlinien rühren von diesem Ursprunge der Bastzellen her. Fast immer sind auch äußerlich kleine Höcker zu bemerken, welche jenen Querlinien entsprechen. Diese Eigenschaften der Flachsfaser findest Du stets, mögest Du sie nun aus einem neuen Faden Heftzwirns oder aus einem Tischtuch Deiner Urgroßmutter nehmen, was schon tausendmal gebrühet, gewaschen, gebleicht, getrocknet und gemandelt worden ist. Sie ist eben zu fein und fast unzerstörbar, um von den genannten wirtschaftlichen Mißhandlungen verändert werden zu können. Du kannst mit dem Mikroskop heute noch ganz bestimmt entscheiden, daß in frühern Zeiten Leinen eben reines Leinen war. An den Enden laufen die Flachsfasern sehr fein aus und die eine verbindet sich mit der andern zu einem langen feinen Fädchen so, daß sich beider lange feine Enden an einander legen, was Dir die neben dem Buchstaben [386] F stehende Faser zeigt, wo die kleinen Kreise (o) die Enden zweier sich an einanderlegenden Fasern bezeichnen. Ich bemerke Dir noch, daß die seitliche Verbindung vieler Flachsfasern in der Bastschicht des Flachses sehr innig und fest ist und daß darauf die Schwierigkeit guter Flachsbereitung beruht. Wenn Du einen grauen Zwirnsfaden aufdrehst, so sind die einzelnen feinen Fädchen desselben noch nicht die einzelnen Flachsfasern, sondern es sind darin deren drei, vier und mehrere noch zusammengeklebt, wie sie es in der Bastschicht der Flachsrinde waren.

Nun laß uns damit die Baumwollenfaser vergleichen (B). Auf den ersten Blick siehst Du, daß dies keine runden Fasern, sondern zarte Bänder sind, welche sich an mehreren Punkten schraubenförmig umdrehen. Die querdurchschnittene mit dem Sternchen bezeichnete Faser belehrt Dich, daß man sie noch richtiger zarte breit gedrückte Schlauche nennen und einem leeren Spritzenschlauche vergleichen könnte. Sie haben stets einen beträchtlichern Hohlraum als die Flachsfasern, der natürlich ebenfalls breit gedrückt ist. Sie enden ebenfalls, siehe die Zelle neben B, in ein sehr langes und sehr feines Ende. Stets fehlen ihnen die Querlinien und stets sind sie auch etwas breiter als die Flachsfasern.

Es bedarf keiner weiteren Erläuterungen; der Augenschein sagt Dir hinlänglich, wie verschieden die Baumwollenfaser von der Flachsfaser ist, und daß man von der völligen Reinheit bis zu jedem Grade der Verfälschung die Güte der Leinwand mit dem Mikroskop ganz sicher entscheiden kann. In meinem nächsten Briefe will ich Dir dieselbe Beweiskraft der mikroskopischen Untersuchung an der Wolle und Seide zeigen.




Ein Tag im Krystall-Palaste in Sydenham.[1]

Wenn bei dieser Julihitze die graden, langen Straßen noch dazu, wie Peter Schlemihl, keinen Schatten haben, wird die Sehnsucht nach dem Luftigen und Grünen, nach dem Schatten kühler Denkungsart zur brennenden Tagesfrage. Also hinaus, hinaus in’s Weite um jeden Preis, wenn’s nicht zu theuer ist! Und wo könnte man die weite, weite Welt in ihrer Schönheit näher und wohlfeiler haben, als im Krystall-Palaste? Nun denn zunächst hinunter nach der Themse, die uns fortwährend mit Tausenden à ein Penny die Person, per Dampf vom West- nach dem Ostende, der London-Brücke, der gewaltigsten Verkehrsschlagader Londons, hinuntertreibt, denn zu Fuße durch die Stadt käme man auf dem Eisenbahnhofe nur halb an: die andere, vielleicht bessere Hälfte würde rein verschwitzt sein. In der vielthorigen Stadt des Brighton-Eisenbahnhofes müssen wir bis zum äußersten Südende vordringen, wo immer blos Geld genommen und nichts herausgegeben wird, also vielleicht dem einzigen Punkte auf der Erde, wo man sich durch das Gesetz souverainster Selbstbestimmung gegen jeden „Wechsel“ verbarrikadirt hat. Man muß grade achtzehn Pence haben, um einen Paß dritter Klasse zur Eisenbahn des Krystall-Palastes, zu ihm selbst und für den Rückweg zu kaufen. Hat Jemand ein größeres Stück Geld, bekommt er eben auch nur den Paß dafür: herausgegeben wird nichts: „no change given“ (hier wird nicht herausgegeben) hängt mit großen, dicken Buchstaben vor der Billet-Verkaufs-„box“, die, fortwährend umwogt von dem wüthenden Wellenschlag der Menge, wie ein Fels im Meere trotzig dasteht, und zu dem Oceane der Menschen zu sagen scheint: Ich bin das Thor zur höchsten irdischen Seligkeit und ein Monopol! Also müßt Ihr Euch Alle nach mir richten! Wozu brauch’ ich Euch denn Geld herauszugeben? Ihr kommt ja doch! Ihr seid ja schon glücklich, wenn Ihr im wüthenden Gedränge einen Platz in den fortwährend hin- und herrasenden Zügen erwischen könnt! Ihr müßt kommen, denn dies ist der einzige Weg zum höchsten Stolze der Kultur dieses Jahrhunderts.

Richtig, da sieht man mit einem Blick, was für ein Despot das Monopol ist, wo es auch auftrete. Menschlicher und richtiger stellen wir uns wohl das ganze Unternehmen in seiner Kindheit in der Lage des Goethe’schen Zauberer-Lehrlings vor: „Die Geister, die ich rief, die werd’ ich nun nicht los!“ Die Kultur-Genien aller Zeiten und Zonen hier vereinigt, bilden eine solche Anziehungs-Gewalt, daß sie den Direktoren über den Kopf wuchs. Im Innern, in Placirung, Anordnung, Vollendung, überall Krisen der Verlegenheit aus der Fülle des Stoffs, im Aeußern sogar finanzielle Verlegenheit, Fallen der Actien unter Pari, weil zu viel Besucher zugleich zu wenig sind. Zwar sausen die Locomotiven mit langen, vollgepfropften Zügen ununterbrochen hin und her, aber sie können’s nicht leisten. Stets bleiben Hunderte und Tausende zurück, die dann, wie Wahnsinnige, auf den nächsten Zug los- und sich mit Todesverachtung über ihn her- und hineinstürzen, ehe er zur Ruhe kommt. Obgleich er nun gleich wieder umkehrt und vor drei-, vier, fünf andern Zügen, die neue Massen holen, vorbei saust, stehen doch immerwährend unabsehbare Schaaren umher, die immer wieder bis zum nächsten warten müssen. Der Fehler ist freilich sehr einfach und man arbeitet schon stark an gründlicher Heilung. Die eine Doppeleisenbahn reicht eben nicht hin. Man eröffnete insofern zu früh, als man die andere Bahn für die Bewohner des Westendes nicht zur rechten Zeit vollenden konnte. Im nächsten Jahre ist aber dieser Schaden geheilt, und da das Parlament unlängst Oeffnung der Museen, Galerien, Vergnügung-und Erholungsanstalten und Schließung der Branntwein- und Biertempel an Sonntagen (bis auf einige Stunden) beschlossen hat, ist die kleine finanzielle Krisis so gut wie ganz vorüber. Die Verwaltungskosten des Krystall-Palastes sind auf 52,000 Pfund Sterling veranschlagt. Und diese bringt grade oder wenigstens das Sonntags-Publikum: 40,000 Besucher durchschnittlich auf jeden Sonntag vorauszusetzen, ist der Gewalt und Schönheit des Volks-Tempels gegenüber eine sehr mäßige Wahrscheinlichkeits-Rechnung. Der unerschöpfliche Inhalt von Erheiterungs-, Kultur- und Veredelungs-Material erhebt den Krystall-Palast über alle jene „Sehenswürdigkeiten“, die man eben mit einer Inspektion abgethan zu haben glaubt. Man darf ihn entweder nie besuchen, oder muß zum zweiten Male kommen. Und wer ihn zweimal genossen, ist schon verloren für stumpfes Zuhausesitzen, und die Frohndienste unter der faulen, absoluten Herrschaft des Alkohol und Porter-Gambrinus, unter der kein Volk der Erde so tief gesunken ist, als das englische.

Die Eröffnung der Erholungs- und Bildungsanstalten an Sonntagen ist der erste, große, für englische Verhältnisse weltgeschichtlich wichtige Sieg des hohen Krystall-Palastes über die Hochkirche und die Aristokratie. Zwar glaubt man den Sieg theuer erkauft zu haben durch Erweiterung der Magistrats- und Polizeigewalt über das Volk, das sich nun schon um eilf Uhr Abends aus den Trinkhäusern treiben lassen muß, wenn’s nämlich gehen will; aber der Preis ist deshalb nicht zu theuer, weil man ihn wahrscheinlich gar nicht zahlen wird, insofern in ihm eine willkürliche Polizeigewalt liegen würde. Massen-Petitionen, die sich organisiren, werden die zwölfte Stunde retten, die nach der ganzen Oekonomie des englischen Volkslebens unentbehrlich ist für den Tag, und im Uebrigen werden Krystall-Palast, Museen u. s. w. schon selbst dafür sorgen, daß sich das Volk nicht mehr bis Mitternacht in Bier und Gin wegwirft. Die Moral als blühende Polizeitreibhauspflanze gehört eben gar nicht in das sittliche Pflanzenreich: sie ist aus der Fabrik von Draht und farbigem Kattun.

Diese moralische Betrachtung ist schon zu lang für den kurzen Weg bis zum Aussteigen unter der mächtigen Glashalle des Krystall-Palastes, der uns ganz dicht an der Eisenbahn zuerst mit der (noch sehr kahl aussehenden) „geologischen Insel“ begrüßt. Wie klein die vorsündfluthlichen Ungeheuer in den großen Umgebungen aussehen? Sind es Copien von den kolossalen Originalen in ein Zwölftel Größe? Nein, es sind dieselbe selbst, zwölf Mal so groß, als sie aussehen. Ein Paar lebendige Pferde in der Nähe, die nicht größer wie Hasen erscheinen, berichtigten sogleich die optische Täuschung.

Durch verschiedene, in Terrassen sich erhebende Seitenflügel steigen wir endlich in dem eigentlichen Seitenflügel des Palastes hinauf, vor industriellen Ausstellungen, wohlfeilen Eß- und Trink-Anstalten, [387] verschiedenen Abtheilungen der französischen Chokoladen-Compagnie u. s. w. vorbei, bis uns abenteuerliche Landschaftsbilder, von verschiedenen Thier- und Menschenracengruppen bevölkert, hoch überragt von einer Giraffe, und hoch, hoch und in’s Weite, Weite ätherische Melodien von Glas und Eisen und hängenden Gärten und winkenden Statuen und Palmen verkündigen, daß wir in das eigentliche Hauptschiff eingetreten sind. Doch übersehen wir nicht das Nächste, Erste und Wichtigste für einen englischen Kultur-Tempel, die sich an riesigen, langen Marmortafeln zwischen der Giraffe und der englischen Regenten-Halle von Westminster ausdehnende Haupt-Erfrischungs-Anstalt, an welcher am Eröffnungstage für 10,000 Thaler Speisen und Getränke die Feierlichkeit dieses Tages vom Gaumen und Magen aus rühmlich erhöhen halfen. Seitdem ist im Durchschnitt jeden Tag für 6–7000 Thaler Roastbeef, Hummersalat, Pastete, Rheinwein-Gelee, Sherry, Burgunder, Bier und Eis gebraucht worden, um den geistigen Genüssen der Gäste ein materielles, englisch-solides Gegengewicht zu geben. Groß ist der Ruhm der ästhetischen Fülle und Pracht des Krystall-Palastes, aber in seiner Weise das Vollendetste ist die Kunst der Direktoren, für zwei Schillinge à Person Jedem so viel Geflügel, so viel Hummersalat, so viel Pastete, so viel Fisch und Fleisch u. s. w. und so gut verabreichen zu lassen, als man gar nicht wagt, es zu erwarten, so daß der Profit hier nur darin liegen kann, daß die meisten Gäste in ihrem Anstandsgefühl – und dies ist in England in dieser Beziehung bis tief herab ziemlich ausgebildet – von ihrem Rechte, des Guten und Besten so lange zu genießen, als sie irgend Platz dafür im Magen finden, nur den beschränktesten Gebrauch machen. Was uns Deutsche betrifft, so denken und handeln wir in jeder Beziehung selbstständiger und freier, als der Engländer. Der Hummersalat allein, den Jeder von uns gebildeten Berlinern verzehrte, war unter Brüdern seine 1 Thaler 20 Neugroschen oder 5 Schillinge werth. Es war nicht unsere Schuld. Warum war er so geschmeidig und verführerisch in seiner italienischen Eiersauçe zubereitet worden? Und warum meinte es der brave, blühende Deutsche aus dem Lande Mecklenburg, der hier als manager der großen, klassischen Erquickungsmarmortafeln eine dankbarere Anstellung fand, als einst in Baden – so gut mit uns, daß er uns, gerührt durch das Band gemeinsamer Leiden von ehemals, eines gemeinsamen Vater- und Mutterlandes und einer gemeinsamen Sprache, mit guter, alter, mecklenburgischer Treuherzigkeit die feinsten Delikatessen so derb vorlegte, als wären wir homerische Helden nach einer Schlacht mit den Trojanern oder wenigstens Scheffeldrescher. Unserm Werthe nach für das praktische Leben gelten wir zwar nicht so viel, als der letzteren einer, aber wir aßen mindestens so viel. Und letzteres Bewußtsein hat auch sein Gutes.

Man sagt wohl mit dem Franzosen: „Mit dem Essen kommt der Appetit“; ich habe aber immer gefunden, daß er durch Nichtessen noch mehr kommt. Wir hatten nämlich bereits „die große Tour“ durch den Krystall-Palast gemacht, ehe wir zu dem angedeuteten Epikuräismus herabsanken. Solch’ eine „große Tour“ ist aber eine Fußreise um die Welt im Kleinen. Ist doch sogar die eine große Galerie eine ganze englische Meile lang. Die zwei darüber und eine dritte kleinere mußten auch bereist werden wegen der wundervollen weiten Aussichten über das reiche, wellige, waldige, grüne, von Farms und Palästen und Schlössern und Dörfern und Städten dicht besternte Land, diese gefrorne und übergrünte und überkultivirte Musik der Meereswogen. – Das Parterre mit seinen Kunst- und Industrie-Hallen, seinen Tausenden von Statuen und Portrait-Büsten aller großen Männer aller Zeiten und Zonen, seinen kleinen Industrietempeln (als Läden gebraucht), seinen Pflanzen und Blumen, seinen Kolossen und Heroen zu Fuß und zu Pferde aus der realen und idealen Welt, seinen arbeitenden Maschinen am Haupteingange u. s. w. mußte dreimal in der gewaltigsten, geistigen Anstrengung und tropischen Hitze durchwandert werden. Auch der Paxton-Tunnel, die noch im Werden begriffene Stätte für große, arbeitende Maschinen und die warme Blut-Cirkulation für die Pflanzen und die Heizung im Winter bedurfte einer Inspection. So hatten wir etwa gute acht englische Meilen im Innern des Palastes zurückgelegt, als wir uns todtmüde und an Leib und Seele verschmachtet den kühlen, erquickenden Marmortischen, deren Kasse unser Mecklenburger menagirt und deren dienstbare Geister er regirt, am Eingange näherten. Man wird nun begreifen, warum ich diesem wunderbaren Kolosse von unerschöpflicher Speise-Anstalt den ersten und wohl gar den Hauptplatz einräume. Ich thue dies zunächst aus Dankbarkeit im Allgemeinen, zweitens als Engländer, der einen guten Tisch weit über alle Herrlichkeiten der Erde stellt, und drittens weil man mit der Zeit alt wird (meine Frau hat mir neulich ein reell graues Haar aus dem Barte gezogen) und somit den Geschmack an idealer Pegasus-Ritterlichkeit verliert, um als gebildeter Philister den Dingen, wie sie sind und schmecken, mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Endlich wäre diese Auffassungsweise auch im Sinne unserer materialistischen Zeit. Ging doch neulich ein ehemaliger tapferer Hanauer so weit, die Leute vor der idealistischen und enthusiastischen Beurtheilung des Krystall-Palastes zu warnen, da er nichts sei als „Humboldt’s Kosmos, übersetzt in ein Universal-Kaffeehaus“.

Nach dem Essen raucht der gebildete Deutsche eine Cigarre mit möglichst gutem Kaffee. Jetzt begann eine lange Leidensgeschichte für uns. Das Departement des Kaffee’s lag in einem ganz fernen Welttheile des Krystall-Palastes, gleichsam unter den Antipoden. Von Sherry und Eiswasser erquickt, traten wir unsere Reise an, entdeckten endlich das Land der Bohne und fanden, daß der Kaffee selbst hier schlecht war, wie in ganz England. Und wie schlecht wurde er erst, als wir die Schreckenskunde vernahmen, daß nicht nur überall in der großen, weiten Welt des kosmopolitischen Kunsttempels oder Kosmos-Kaffeehauses das Rauchen verboten sei, sondern auch in dessen zweimeiligem Umkreise, d. h. wenigstens auf den Terrassen draußen. Octavio neben mir blickte schmerzvoll gen Himmel, und ich fühlte eine Armee in meiner Faust, welche die schon abgebissene Cigarre so krampfhaft hielt, daß sie knickte und Seitenlust bekam. Dies vermehrte nur meine Bosheit! Ein Sohn Germania’s und nach Tische nicht rauchen! Das Rauchen im Freien verboten, im freien, großen England mit der baltischen Flotte! Alle subversiven Tendenzen meiner thörichten Jugend wachten in mir auf und ich beschloß endlich, etwas für die Unsterblichkeit zu thun. „Hier vollend’ ich’s, die Gelegenheit ist günstig, dort der Hollunderstrauch verbirgt.“ – Also heimlich rauchen? Nein, die Sonne oben und die 40,000 Menschen auf den Terrassen draußen und auf den Außengalerien oben und die Statue des „Zollvereins“ (zärtliche Mutter mit zwei allerliebsten Kindern, den „kleinen Bambergern,“ wie mein Leidensgefährte sagte) seien Zeuge meiner ersten Heldenthat. Aber wo die Cigarre anstecken, und den Brand der Empörung in Zug bringen? Wir hatten weder Schwamm noch Schwefelhölzer und von allen Völkern, allen Namen, die gastlich hier zusammen kamen, kein Einziger mit einer brennenden Cigarre. Ich bitte hier um stilles Beileid, bis ich durch des Opernguckers weithintragendes Rohr in der Ferne unten ein Rauchwölkchen aufsteigen sah. Das war die Wolke, die den herannahenden Sturm verkündete. Wir schossen hinunter über den herrlichen grünen Rasen weg (der alle Tage tausendfältig betreten und belagert, doch immer grün bleibt, wie aller englischer Rasen) und verfolgten den Raucher unten, als hätt’ er uns das beste seidene Taschentuch gestohlen. Athemlos fiel ich ihn an: „Will you be so obliging, Sir“ – „Sehr jerne. Bedienen Se sich meiner Lunte un schießen Se los!“ Also ein Berliner, vielleicht vom Molkenmarkt. Begeistert schlossen wir uns an dieses Stückchen deutsches Vaterland an. Wir wurden bald Freunde, die den dazu nöthigen Scheffel Salz zusammen gegessen, indem wir durch das attische Salz von Spree-Athen das gemeine Kochsalz zu ersetzen suchten. Wenn ich in gerechtes Pathos ausbrechen wollte über die in ganzer Breite vor uns aufblühende Hauptfaçade des ätherischen Kolosses, streuten diese schnöden geborenen Berliner, denen nichts heilig ist, jedem Vogel des Aufschwungs Salz auf den Schwanz. „Herr Jotte doch ja,“ sagte der Berliner, „das is Allens janz richtig, deß das jroßartig is. Un wenn mir des berliner Museum jehören thäte un desselbige hier stehen thäte, würde ich ’n Nachtwächter bei Dage dabei fixiren, deß et mir hier Keener instechen thäte. Un ’n Jensd’armenthurm von Berlin hier wäre so kleene, deß ich mit Spaß darüber weg springen könnte, so jrausam jroßartig fühl’ ick mir hier in diese reendlliche Jegend.“

Der „gemüthliche“ Leser verzeihe mir und ihm. Jeder Mensch ist nicht nur Sohn einer Mutter (Töchter natürlich ausgenommen), sondern auch einer Gegend. Dazu hat der Berliner, wenn man ihn nur in anständiges Deutsch übersetzt, vollkommen Recht. Die Großartigkeit spürt man nämlich mit furchtbarer Gewalt: sie raubt [388] uns den richtigen Maßstab für Raumformen und Kunstwerke, die namentlich bei den Griechen mit feinster Rücksicht auf den Raum und die Umgebung, für die sie bestimmt waren, gestaltet und abgegrenzt wurden.

Hier im Krystall-Palaste fallen die Kunstwerke aller Zeiten und Größen unter den einzigen, beispiellos großen Maßstab, so daß wenigstens viel Abstractionskraft dazu gehört, jedes einzelne gleichsam nur durch sich selbst zu messen. Doch man soll mich hier nicht „gelehrt“ finden und ich fahre deshalb mit meiner in Rauch aufgehenden Revolution fort. Wir rauchten also alle drei kühn die Terrassen herauf, vor schönen und häßlichen Menschengruppen auf dem Rasen und auf Stühlen und zwischen Bäumen, vor Nymphen und Göttern der Fontainen vorbei, als wären wir wie gute Menschen in ihrem dunkeln Drange uns des rechten Weges wohl bewußt, angestaunt von schönen und nicht schönen Augen und durch Lorgnetten verfolgt, weil Jeder den Moment, wenn uns der strafende Arm der Gerechtigkeit träfe, persönlich beobachten zu wollen schien. Selbst auf der obersten Terrasse lebten wir noch und wagten es noch zu leben und dazu zu rauchen. Wir betrachteten uns mit dem Blick der berühmten charlottenburger Kritik die großen Originalstatuen von Monti und Danton, die Türkei schwermüthig am Barte hinunterblickend, neben Griechenland, das seeräuberisch kühn in die Ferne späht, die halb nackte Australia mit der Springratte neben sich und einer Ente (keiner Zeitungsente) auf dem Kopfe, die wild und kräftig mit hochgeschwungenem Goldklumpen in die Welt hinaus jauchzende California, den langen Speer und den Pfeil in der Linken; wandten uns dann durch das dichte Publikum vor der Haupttreppe, um auf der andern Seite der obersten Terrassenballustrade die Italia, die weinumrankte Hispania, die Personifikationen von Lyon, Mühlhausen, Glasgow, Manchester, Belfast, Sheffield, Birmingham, dem Zollvereine und Holland zu betrachten, ohne die Cigarre dabei ausgehen zu lassen und ohne in Anfechtung zu fallen. Auf dem Rückwege zur Wange der Haupttreppe mit der kolossalen Sphinx wurden wir von einem stolzen Spanier aufgehalten, der den Arm seiner braunen, glühäugigen Dame verlassend, uns um etwas Feuer bat. Kaum hatten dies ein Paar Franzosen gesehen, baten sie uns mit jener eigenthümlichen, lebhaften Grazie, durch welche man den Franzosen aus hunderttausend Engländern heraus deutlich unterscheidet, um dieselbe Gefälligkeit. „Der Aufruhr wächst in meinen Niederlanden?“ Die Flamme der Empörung griff nun rasch um sich. Bald steckte sich ein Engländer mit meiner Cigarre sogar seine nationale kurze Thonpfeife an. Hiermit schien der Geist der Widersetzlichkeit seine erste siegreiche Invasion in’s englische Geblüt gemacht zu haben. Ueberall in Näh’ und Ferne stiegen aus den malerisch zerstreuten Gruppen leichte Rauchwölkchen in die klare, frische, vom atlantischen Oceane herüberathmende Luft, Weihrauch für den Sieg unserer gerechten Sache.

Freilich dürfen wir aufgeklärten Leute vom Continente noch nicht die Hände in den Schooß legen. Noch bleibt uns die Mission, den Engländern beiderlei Geschlechts zu zeigen, wie man mit Anstand und Gemüth im Freien sitzen muß, in Gartenlauben um Tische herum raucht, strickt, häkelt, Kaffee trinkt und Kuchen einstippt und dazu wirklich spricht und heiter herauslacht. Davon hat man hier noch keine Ahnung. Essen und Trinken ist ihnen eine ernste Arbeit bei verschlossenen Thüren. O sie haben weder ein Wort noch eine Sache für unser deutsches „Gemüth.“ Es ist entsetzlich, wie die Damen immer sehr ungeschickt auf den Stühlen sitzen und den Sonnenschirm halten. Von zwei bis sieben Uhr nichts thun, als da sitzen und den Sonnenschirm halten, wobei die Herren ganz gehaltlos erscheinen – diese 20,000 Stühle all überall umher ohne Spur von Tisch und einem Töpfchen Bier – das ist ein unerträglicher socialer Zustand für Männer, die neuen Hering mit frischen Kartoffeln jemals im Freien genossen haben. Aber der blauduftige Krystall-Palast und die brennende Cigarre sind auch hier das Morgenroth einer schönern Zukunft für die anglo-sächsische Race, der wir vom Osten her Civilisation und Gemüthlichkeit beibringen wollen, während es ihr so schwer fällt, im Kampfe „westlicher Civilisation mit östlicher Barbarei“ eine respectable Rolle zu spielen, so daß „während die Völker hinten in der Türkei auf einander schlagen,“ nur immer noch als Philister zu Hause sitzen und uns verzweiflungsvoll zum 199sten Male fragen, was nun eigentlich aus der Geschichte werden soll. Viel Ideale sind zerronnen, viel Glaube ist erloschen, aber der Glaube an eine große, culturhistorische Weltmission der Deutschen, den ich bescheiden hier in der Cigarre glimmen sah, während wir, auf den grünen Terrassenteppich neben der Treppenwange hingelagert, ihn triumphirend aus den achtzig Blasinstrumenten der deutschen Schallehn’schen blau uniformirten, goldrandmützigen Musikgesellschaft mit Mozart’schen, Beethoven’schen, Weber’schen u. s. w. Schöpfungen gewaltig und meisterhaft ringsum weit über Tausende hin verklingen hörten, wobei ich noch in der Zeitung las, daß man sich in der Türkei hauptsächlich nur vermittelst der deutschen Sprache zwischen Türken, Engländern, Franzosen u. s. w. verständlich machen könne und in Amerika die „Know-nothings“ (Nichtswisser d. h. die gegen den deutschen Einfluß vereinigten, nationalen Yankees) sich vergebens bemühten, den Stolz ihres Nichtwissens und Geldhabens gegen „deutsche Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft,“ geltend zu machen, – dieser Glaube ist eine bereits in unzähligen Firmen durch die ganze Welt etablirte und geschäftige Thatsache. Im stolzen Bewußtsein hier eben als Missionär derselben einen Sieg erfochten zu haben, schlief ich neben Freund M. ebenfalls ein, wie auf Lorbeeren ruhend. Weit aus der blühenden Ferne eilte der erquickende Wind über uns hin, während Canova’sche Statuen von der Hauptfontaine her in den schläfrigen Blick hereinglänzten und klassische, heimische Melodien die horchenden Tausende weit umher fesselte, so daß man bei Pianostellen die Fahnen oben auf dem Krystall-Palaste im Winde flappen und klappen hören konnte. Das wäre einer der Augenblicke gewesen, zu dem ich gesagt haben würde: „Verweile doch, du bist so schön!“ wenn M. nicht zu stark geschnarcht und der Berliner vom Molkenmarkte nicht auch im Schlafe zuweilen versucht hätte, einen Witz zu machen. – Die große Glocke innen ruft: „sieben Uhr und Schluß.“ Alles stürzt sich herunter nach der Eisenbahn und kämpft bis neun Uhr um Plätze in einer Weise, deren wilde Erhabenheit kein Pinsel malen und kein Dichter würdig besingen kann.[2]
B. 
[389]
Die Eigenwärme des menschlichen Körpers.

Der menschliche Körper erzeugt in seinem Innern, so lange er lebt, fortwährend eine Wärme (d. i. die Eigenwärme oder thierische Wärme) von etwa 28–30°R. oder 95–991/2° F. oder 35–371/2° C.[3], und zwar deshalb, um die zum Leben unentbehrlichen Prozesse, besonders den Stoffwechsel im gehörigen Gange zu erhalten, da dies nur bei Wärme möglich ist. Die hauptsächlichste Quelle dieser Wärme ist, wenn auch der Körper durchaus nicht mit einem Ofen verglichen werden kann, doch wie in diesem ein Verbrennungsprozeß, der ebenfalls zu seinem Zustandekommen des Feuerungsmateriales und des Sauerstoffes benöthigt ist. Wie bei der Verbrennung im Ofen, so auch im Körper, wandelt sich durch das Verbrennen das Feuerungsmaterial in verschiedene theils luftförmige, theils wässerige und feste Stoffe um, die dann noch zu bestimmten Zwecken weiter verwendet werden. – Es wechselt übrigens der Grad dieser Eigenwärme, aber nur um ein Weniges, an verschiedenen Stellen des Körpers (innere Theile sind wärmer als die äußern), nach Tageszeit, Alter, Blutgehalt des ganzen Körpers und einzelner Organe, Ernährungsweise, Gesundheits- und Krankheitszustand; jedenfalls richtet sich derselbe auch nach der Beschaffenheit der Stoffe, welche innerhalb des Körpers gerade vorzugsweise verbrannt werden (wie das Brennen harten Holzes auch mehr Wärme als das von weichem Holze verbreitet). Am meisten steigt die eigene Wärme des Körpers bei fieberhaften Zuständen, wo sie bis zu +35° R. oder +40–44° C. gefunden wurde und hier wahrscheinlich die Schuld an den unangenehmen Fieber-Empfindungen (Eingenommenheit des Kopfes, Kopfschmerz, Schwindel, Gefühl von Abspannung, Durst) trägt. – Stammt nun die Eigenwärme vorzugsweise von Verbrennungsprozessen, so fragt es sich: Was wird verbrannt? wo wird Etwas verbrannt? und was wird aus und mit dem Verbrannten?

Daß auch in unserm Körper zum Verbrennen von Stoffen (s. Gartenlaube Nr. 30) der Sauerstoff (s. Gartenl. Jahrg. I. Nr. 28) ganz unentbehrlich ist, zeigt der Athmungsprozeß (s. Gartenlaube Nr. 16), durch dessen Hülfe fortwährend Sauerstoff aus der eingeathmeten atmosphärischen Luft dem Blute zugeführt wird. Ebenso muß auch dem Feuer im Ofen die gehörige Menge Luft (Sauerstoff) zugeführt werden, wenn es ordentlich brennen und Wärme entwickeln soll. So wie nun der Ofen den gehörigen Zug braucht, soll in ihm das Verbrennen des Feuerungsmaterials vollständig vor sich gehen, so scheint auch innerhalb unseres Körpers nach der Menge des Sauerstoffs im Verhältnisse zum Verbrennungsmateriale der Grad der Verbrennung verschieden zu sein. Es wäre nicht unmöglich, daß sich bei einer unvollständigen Verbrennung im menschlichen Körper, die in einem Mißverhältnisse zwischen Sauerstoff und Verbrennungsmaterial, vielleicht entweder in einer zu geringen Menge von Sauerstoff oder in einer zu großen Menge von Verbrennungsmaterial, ihren Grund haben könnte, – solche Verbrennungsprodukte bildeten, welche durch ihre Anhäufung im Blute Krankheiten zu erzeugen im Stande wären. So bildet sich z. B. beim unvollständigen Verbrennen von Kohlen im Ofen das sehr schädliche Kohlenoxydgas (s. Gartenlaube Jahrg. I. No. 48), während das vollständige Verbrennen derselben Kohlensäure erzeugt. Aehnliches scheint auch im menschlichen Körper vorkommen zu können, wenn sich z. B. durch unvollständiges Verbrennen von gewissen alten abgestorbenen Gewebebestandtheilen anstatt des Harnstoffs die Harnsäure bildet, welche den Grund zur Gicht legt. Vielleicht könnte alles Verbrennungsmaterial in unserm Körper unter gewissen Bedingungen falsch verbrannt werden, so daß sich alsdann, wenn wir den Vergleich mit dem Ofen fest halten wollen, Rauch, Asche, Ruß von schädlicher Beschaffenheit erzeugte.

Das Verbrennungsmaterial, welches innerhalb unseres Körpers und zwar, wie erscheint, innerhalb des Blutstromes mit Hülfe des eingeathmeten Sauerstoffs verbrannt wird, ist dreifacher Art; es besteht nämlich aus stickstofflosen (fettigen und fettbildenden) Nahrungsmitteln, aus abgestorbenen Gewebsbestandtheilen und aus jungen Bildungsstoffen. Die stickstofflosen Substanzen (s. Gartenlaube Jahrgang I. No. 39), welche wir mit unserer Nahrung in den Körper und das Blut einführen und zu denen Fette, Oele, Stärke, Zucker, Pflanzenschleim und Pflanzengallerte, Gummi und Alcohol gehören, werden nämlich eines Theils in Fett umgewandelt und als solches benutzt, zum andern Theile aber im Interesse der Wärmeentwicklung wahrscheinlich sofort verbrannt. Ohne Zweifel genießt man deshalb im Winter und in kalten Klimaten, wo sich der Körper gegen die äußere Kälte durch innere Wärme besser schützen muß, eine größere Menge dieser Nahrungsstoffe, als bei wärmerer Lufttemperatur. Ist die Zufuhr dieser Stoffe zu gering oder ganz aufgehoben, dann scheint, um doch die zum Leben nöthige Wärme zu behaupten, zuerst das Fett unseres eigenen Körpers verbrannt zu werden, denn dieses schwindet zusehends. Sodann dürften aber auch die abgestorbenen Gewebebestandtheile und jungen Bildungsstoffe mehr als sich gehört, zur Verbrennung dienen und dadurch die allgemeine Abmagerung des Körpers zu Stande kommen, wobei natürlich die Eigenwärme immer mehr sinkt. Bei der vollkommenen Verbrennung dieser, nur aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff zusammengesetzten, stickstofflosen Substanzen bildet sich zuletzt Kohlensäure und Wasser, nachdem sich vielleicht vorher Milch-, Butter-, Essig-, Ameisen- und Kleesäure daraus gebildet hatte. Die Kohlensäure wird hauptsächlich in der Lunge aus dem Blute und durch das Ausathmen aus dem Körper entfernt, des Wassers entledigt sich der Körper durch die Nieren, Haut und Lungen. Eine unvollkommene Verbrennung dieser Substanzen würde vielleicht anstatt bis zur Bildung von Kohlensäure und Wasser zu gelangen blos Zucker (aus der Stärke), Kleesäure oder eine andere dergleichen Säure erzeugen und dadurch den Körper krank machen. Noch ist aber ein solcher abnormer Verbrennungsprozeß und daraus erwachsender krankhafter Zustand des Blutes und Körpers nicht weiter erforscht. – Die alten abgestorbenen Gewebebestandtheile oder Mauserschlacken, welche ein zweites Feuerungsmaterial abgeben, sich beim Stoffwechsel in Folge des Thätigseins der Organe fortwährend bilden und in flüssiger Form durch die Haargefäßwände wieder in den Blutstrom gelangen, sind entweder stickstofflose (fettige) und werden dann wie die vorigen Substanzen schließlich zu Kohlensäure und Wasser verbrannt, oder es sind stickstoffhaltige (eiweißartige) und wandeln sich durch die Verbrennung schließlich in Kohlensäure, Wasser und Harnstoff um, nachdem sich wahrscheinlich vorher Fleischstoff (Kreativ), Fleischbasis (Kreatinin) und Fleischsäure (Inosinsäure), Harnoxydul und Harnsäure gebildet hatten. Der alte Blutfarbstoff oder das Blutroth, dürfte in Gallen- und Harnfarbstoff, sowie in schwarzen Farbstoff verbrannt werden. Die Verbrennungsprodukte der stickstoffhaltigen Schlacken werden vorzugsweise durch die Nieren mit dem Urin ausgeschieden. Eine unvollkommene Verbrennung der stickstoffhaltigen Feuerungsstoffe scheint das Blut reich an Harnsäure zu machen und dadurch zur Gicht Veranlassung zu geben. Durch vermehrtes Thätigsein der Gewebe und Organe bildet sich natürlich eine größere Menge solchen Verbrennungsmaterials aus Gewebsschlacken und deshalb entwickelt sich bei stärkeren Körperbewegungen mehr innere Wärme. – Die jungen Bildungsstoffe, welche als Eiweiß und Fett mit dem Speisesaft [390] und der Lymphe in den Blutstrom gelangen und aus dem Blute endlich in das Gewebe des Körpers übertreten, werden erst mit Hülfe des Sauerstoffs (also durch eine Verbrennung) in gewebsbildende Substanzen umgewandelt und zwar so, daß aus dem Eiweiß sich Faser- und Käsestoff, Leim und Harnstoff hervorbildet, aus dem Fette aber die verschiedenartigen und eigenthümlichen Fettsorten des Körpers hervorgehen. Auch bei diesen Verbrennungen (von denen die stickstoffhaltiger Substanzen eine geringere Menge Sauerstoff als die stickstoffloser verlangen) bildet sich Wärme und es wäre nicht unmöglich, daß wenn sie unvollständig vor sich gingen, solche Stoffe erzeugt würden, welche Gewebe zu bilden unfähig wären und als krankhafte Substanzen sich hier und da im Körper aus dem Blute ablagerten (wie Tuberkel- und Krebsmasse). Der zur Gewebsbildung nicht zu verwendende Ueberschuß an Eiweißsubstanzem scheint ebenfalls zu Harnstoff verbrannt zu werden.

Das Bilden und Zerfallen der Bestandtheile unseres Körpers (d. i. der Stoffwechsel ist sonach die Hauptquelle unserer Eigenwärme und es wird also nicht blos eine Portion in unsern Körper mit der Nahrung eingeführten Feuerungsmaterials, sondern auch unser eigener Körper verbrannt. Es leuchtet deshalb gewiß auch ein, daß sich bei Hunger und Ruhe weniger Eigenwärme, als bei kräftiger Kost und Bewegung entwickeln muß, und daß sich ein großer Einklang zwischen unserer Wärme und dem Stoffwechsel findet, so daß die Eigenwärme als ein Maaß des Lebens angesehen werden kann. Darum das Sinken der Wärme bei herannahendem Tode. – Außerdem dürfte sich in unserm Körper aber auch noch auf andere Weise Wärme entwickeln können und zwar durch gewisse chemisch-physikalische Vorgänge, welche mit dem Stoffwechsel in engem Zusammenhange stehen und beständig im Gange sind. So entsteht Wärme, wenn sich ein Salz (eine Verbindung einer Basis mit einer Säure) bildet oder ein Mittelsalz in ein basisches umwandelt. Dies findet besonders statt, wenn kohlensaures Natron durch Milchsäure, Harnsäure, Fleischsäure oder Phosphorsäure zerlegt wird und wenn die Phosphor- und Schwefelsäure, welche durch das Verbrennen schwefel- und phosphorhaltiger eiweißartiger Substanzen sich gebildet hat, Salze bildet, in welchen Natron oder Kali vorherrschen. Ferner entwickelt sich dadurch auch noch Wärme, daß die durch Verbrennungen entstandene Kohlensäure von den Flüssigkeiten des Körpers verschluckt wird, so wie in Folge der steten Benetzung und Tränkung aller festen Gewebe mit wässeriger Flüssigkeit, weil dabei das Wasser in den feinsten Räumchen verdichtet wird. Sodann ist noch jede Bewegung im Körper als eine Quelle von Wärme zu betrachten.

Hiernach sind also die Wärmequellen im menschlichen Körper sehr mannigfaltige und es dürfte wohl niemals genau ergründet werden können, wie viel von Wärme jeder Quelle entströmt. Jedoch bleibt es gewiß, daß die verschiedenen Verbrennungsprozesse die meiste Wärme liefern und daß durch zweckmäßige Unterhaltung derselben willkürlich einiger Einfluß auf die Wärmebildung ausgeübt werden kann. Bedenkt man nun, daß nur bei dem gehörigen Wärmegrade die Lebensprozesse ordentlich gedeihen können, so wird man auch stets auf das richtige Maaß von Wärme im Körper halten, in manchen Fällen dasselbe zu erhöhen, in andern zu erniedrigen suchen müssen. Deshalb ist die richtige äußere und innere Anwendung von Wärme oder Kälte, von Hunger oder solchen Nahrungsstoffen, welche die Verbrennungsprozesse besser oder schlechter unterhalten, von Ruhe oder Bewegung u. s. w. von großer Wichtigkeit bei Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit. Mit derartigen Hülfsmitteln werden aber die Aerzte sobald noch nicht kuriren, weil dazu mehr gehört als Arzneimittel und Receptformeln auswendig zu lernen. (Ueber Erwärmung, Abkühlung und Erkältung s. später.)
B. 




Pariser Bilder und Geschichten.
Die unbekannten Gewerbe.
Manufaktur angerauchter Pfeifen. – Der Rebus-Auflöser. – Ameisenzucht. – Der Katzen-Vertilger.

Nicht weit von der Rue des Anglais besteht ein Gewerbe, wie Sie es in Deutschland wahrscheinlich vergebens suchen würden. Es ist die Fabrik angerauchter Pfeifen. Zwei Geschäftsmänner, die schon zu den Gelehrten gehören, haben eine geistreiche, geniale Erfindung gemacht; ihre Werkstätte könnte in einigen Stunden die ganze Armee des Orients mit angerauchten Pfeifen versorgen.

Dieses Anrauchen der Pfeifen hat einer Klasse kleiner Gewerbsleute den Todesstoß gegeben, die im Kleinen das Anrauchen betrieben. Wenn man längs der Quais der Seine spazieren ging, sah man sonst eine ganze Legion von Zigeunern (was man in Paris so nennt, Bohémiens), die ernst und behaglich in der Sonne saßen und den Duft ihrer Pfeifen einschnüffelten. Sie würden sich vielleicht gefragt haben, wie diese pariser Lazzaroni es anfingen, mitten in ihrem Schmutz und Lumpenstaat ihre Zeit mit Tabakrauchen zubringen zu können, also eigentlich mit Nichtsthun. Ihre Beschäftigung bestand gerade im Rauchen: Ein Unternehmer gab ihnen eine neue Pfeife, Taback für 40 Centimes (4 Sous) und 20 Centimes Lohn. Dafür mußte er eine gut angerauchte Pfeife geliefert erhalten. Sie konnten also zwei Meisterstücke in Einem Tage ausführen, nämlich sie profitirten für zwei Pfeifen 40 Centimes (8 Sous) und damit bestritten sie die Tagesauslagen auf folgende Weise:

 Ein Harlekin (Fleischbrocken mit Gemüse u. dergl. gemischt)   2 Sous
 Ein Canve (Glas) von etwas Violettem, genannt Wein 4  
 Brot oder Erdäpfel im Hemd (im Schlafrock) ein Pfund 2  
 Nachtlager in einer allgemeinen Schlafstube, auf einem Eiderdun
  von 3 Schuh (auf Stroh)
2  
Summa 8 Sous.

Man kann unmöglich das materielle Leben auf geringere Proportionen reduziren. Aber, mein Gott, das ist nun ein todtes Gewerbe! Die Industrie hat es umgebracht. Man kann heutzutage in Pfeifen rauchen, die mittelst eines chemischen Prozesses angeraucht werden. Dieser besteht darin, daß man die Gypspfeifen in einen Tabacksud taucht, nachdem man sie vorläufig etwas erwärmt hat.

Diese Pfeifen sind eben so parfümirt, als die nach der ursprünglichen Methode hergestellten; sie sind sogar eleganter, regelmäßiger angeraucht und besonders reinlicher. Dieses seltsame Gewerbe beschäftigt zehn Arbeiter, die täglich fünf Francs verdienen und zwanzig Arbeiterinnen mit täglichen drei Francs. Täglich werden davon fünf bis sechs Kisten, jede zu 1000 Stück in die Provinz geschickt und Paris selbst verbraucht ihrer ebensoviel.

Nun aber führe ich Sie zu einem ganz anders kuriosen Specialisten; ich meine einen Menschen, der sich sein Brot damit verdient, Räthsel, Rebusse u. dergl. aufzulösen, die man in gewissen Zeitungen zur sogenannten geistigen Unterhaltung der Abonnenten auftischt. In denjenigen Stadttheilen von Paris, wo die kleinen Rentner wohnen, giebt es Kaffeehäuser, Estaminets und Pensionen, Kosttische, die von einer allgemeinen Aufregung ergriffen werden, sobald in dem Morgenblatte eine solche geistige Aufgabe erschienen ist. Jeder glaubt sie dann gelöst zu haben.

Man spricht, schreit, wettet, erhitzt sich die Köpfe und disputirt sogar; zuletzt wendet man sich an die aufgeklärte Einsicht des Wirthes. Man kann sich nun leicht die Verlegenheit dieses Herrn vorstellen, der durch eine einzige positive Erklärung die Schwierigkeiten schlichten soll. Zum größten Glück für ihn hat sich ein Industrieller gefunden, der die zügellose Leidenschaft der kleinen Rentner für die Rebusse begriff und seine Existenz darauf zu bauen beschloß.

Er hat sich also als allgemeiner Oedip etablirt. An den Tagen der Rebusse läuft er frühzeitig in der Stadt herum, besucht alle solche Anstalten, giebt dem Wirthe eine schriftliche Erklärung des Räthsels und zieht dann mit seinem Honorar ab, das fünf Sous beträgt. Zuerst beschränkte sich seine Kundschaft auf das Stadtviertel aux marais, aber allmälig hat sie sich auf die übrigen Quartiere ausgebreitet. Jetzt ist er genöthigt, einen Mann aufzuwenden, um die Austheilung seiner papierenen Lösungen zu besorgen. Damit verdient er nun bei einem Rebus 50 Francs: nun erscheinen deren aber wöchentlich drei, so daß er monatlich 600 Francs verdient.

Das Seher-Talent dieses Specialisten hätte vor einigen Jahren [391] den Nachbarn eines Hauses sehr nützlich werden können, das in der Bichat-Gasse liegt. Diese Nachbarn wurden buchstäblich aufgefressen; sie hörten nicht auf, sich zu kratzen, die Haut und die Oberhaut ging damit zum Teufel, als wenn der Aussatz in diesem Winkel der Stadt ausgebrochen wäre. Es fand eine Untersuchung statt, und man entdeckte endlich, daß jenes gefährliche Haus einzig und allein von einem Fräulein Rosa bewohnt würde, die sich der lobenswerthen Zucht von Ameisen gewidmet hatte.

Mademoiselle Rosa ist 42 Jahre alt und sieht fürchterlich aus; ihr Gesicht und ihre Hände sind braun gefärbt, als wenn sie ein geschickter Chagringerbergesell hergerichtet hätte; sie trägt eine wahre Rüstung wie der Armbrustschütze in der Ballade, denn sie selbst leidet unter den Bissen ihrer Zöglinge, undankbares Volk! Aber sie ist endlich auf einen solchen Punkt von Unempfindlichkeit angelangt, ihr Leder ist so hart geworden und verschrumpft, daß sie mitten unter ihren Waarensäcken ihr Bett aufgeschlagen hat, und der Stich und Biß der kleinen Bestien keine Gewalt mehr über sie hat. Als daher die Polizei ihre Werkstätte untersuchte, schien sie sehr überrascht zu sein und sagte:

„Wie kann man sich auch über diese Thierchen beklagen! Sehen Sie, ich lebe mitten unter ihnen und befinde mich deswegen nicht übler. Man muß mir in der Nachbarschaft aufsässig sein. Die Leute sind doch sehr böse!“

Nichtsdestoweniger wurde sie genöthigt, ihre Industrie in ein Haus zu verlegen, das ganz isolirt ist und außerhalb der Stadt liegt.

Fräulein Rosa hat Correspondenten in der Provinz, wo es große Wälder giebt; jedem ihrer Angestellten zahlt sie täglich 2 Sous; selbst im Elsaß hat sie ihrer. Täglich bekommt sie wenigstens 10 Säcke zugeschickt, die groß sind wie Mehlsäcke.

Ich habe mit Fräulein Rosa gesprochen; sie ist auf ihren Geschäftszweig ganz stolz.

„Ich bin,“ sagt sie, „die einzige Person, welche diese Industrie gehörig betreibt; denn ich allein habe die Sitten und Gebräuche dieser kleinen Geschöpfe studirt. Wie ich will, müssen sie Eier legen, und zwar zehn Mal mehr, als sie im gewöhnlichen Naturstande zur Welt brächten. Zu diesem Zwecke bringe ich sie in ein Zimmer, wo ich beständig einen eisernen Ofen glühend heize und lasse sie ihre Nester anlegen, wo sie nur wollen. Man muß sie nicht ärgern; sie müssen gut gehalten werden. Je sorgfältiger Ihr sie pflegt, desto mehr tragen sie Euch ein.“

„Aber was zum Teufel machen Sie denn mit all’ den Eiern, die Sie mit so viel Mühe einsammeln?“

„Ich verkaufe sie an die Apotheker, an den botanischen Garten von Paris und an alle Fasanerien der Umgebungen von Paris. Die jungen Fasanen sind sehr lüstern darnach.“

„Und was verdienen Sie dabei?“

„Tausend, meine Herrn, jetzt noch gebe ich meinen Tagesverdienst, reinen Gewinn für 30 Francs. Aber der Handel ist sehr heruntergekommen. Zur Zeit „des Adels,“ als meine Mutter, meine Vorgängerin noch das Geschäft führte, war das ein weit besserer Stand. Aber was kann man heutzutage mit den Bürgerlichen profitiren. Die wissen zwischen einem Fasan und einem Haushahne gar keinen Unterschied zu machen. Ah, reden Sie mir nicht von Revolutionen!“

Der alte Matagatos ist das gerade Gegentheil von Fräulein Rosa. Das ist ein wirklicher Pangloß, dem Alles ganz recht zu sein scheint wie es auf Erden ist. Er ist heiter, gutmüthig, harmlos und lacht gern. Auf den Pyrenäen geboren, kam er aus Neugierde nach Paris und verliebte sich in diese Stadt. Aber in Paris muß man arbeiten um zu leben, gerade so wie anderswo. Der alte Matagatos, der das freie Leben, den langen Schlendrian und Mondschein gern hat, wurde Lumpensammler, aber gerade nur um sich einen Stand zu geben, und um einen Buckelkorb zu tragen, die Lumpen verachtet er ganz ordentlich. Sein eigentliches Geschäft besteht darin, die Katzen zu vertilgen; daher kommt auch sein Zuname, der aus zwei katalanischen Wörtern besteht. Wer auch nur selten Abends in den Gassen von Paris herumschlendert, muß den Mann schon gesehen haben. Er ist groß, stark, trägt einen schwarzen vollen Bart und die Haare wie ein Puritaner geschnitten; immer singt er etwas zwischen den Zähnen und trägt dabei mit einem wahren Stolze seinen Lumpenhaken. Neben ihm trotten beständig zwei englische Windspiele von der schönsten Raçe. Dies sind seine Lieferanten. Er hat sie abgerichtet, alle nachtwandelnden Katzen wegzuschnappen, die ihm in den Weg gerathen. Ralph bringt seine Beute nie lebendig herbei, Sobrono ist viel großmüthiger, bei diesem blutet sein Opfer gar nicht einmal, die Katze lebt noch, wenn er sie seinem Herrn und Meister bringt und Ralph giebt ihr erst den Garaus.

„Die Katzen haben das Sonderbare,“ sagt der Alte, „daß an ihnen Alles gut ist. Das Fell kann man den Kürschnern verkaufen, die Zobelmarder daraus fabriziren und das ist ein Modepelzwerk heut zu Tage, wo eine wahre Muffmanie herrscht und jede Frau, von der großen Dame bis zur kleinen Nähterin einen Muff haben will. Im Punkte des Pelzwerkes kommt der Katze nur das weiße Kaninchen gleich, wenn man schon ernsthaft reden will, das man seit einigen Jahren Hermine getauft hat. Was aber das Katzenfleisch betrifft, so weiß ich es zu placiren; ich kenne die guten Plätze. Aber da muß man behutsam sein, die Theaterschreiber haben die Barrierenkunden in dieser Beziehung sehr vorsichtig gemacht. Das Publikum geht in seinem Argwohn so weit, daß es immer die Köpfe sehen will, ehe es sich seine Portion um 6 Sous kauft.“

„Diese Vornehmthuerei muß Ihrem Geschäfte Eintrag thun, denn Nichts sieht einem Kaninchenkopfe so unähnlich als ein Katzenschädel?“

„Das war ein Uebelstand, ich kann es nicht leugnen, aber man hat demselben abzuhelfen gewußt. Ah! Ihr wollt Köpfe haben um Kaninchen zu essen, die Euch ganz hergerichtet nicht mehr als 2 Franks 50 Centimes (1 Fl. C. Mze.) kosten sollen, wovon ich 1 Franks beziehe, wissen Sie. Ah! wohlan, meine lieben Leute, Ihr sollt ihrer haben und zwar mehr Köpfe als Ihr braucht. Also habe ich, den Handel mit Kaninchenfellen von Haus zu Haus angefangen, habe mich mit allen Köchinnen des Stadttheiles in’s Einvernehmen gesetzt, wo ich zum Schein mein Lumpensammlermetier ausübe und ich kaufe ihnen alle Felle ab, aber unter Einer Bedingung, nämlich daß sie mir das Fell mit dem Kopfe liefern müssen. Sie verstehen nun was ich mit diesen Kaninchenköpfen mache. Jede Katzenlieferung ist von einem Kaninchenkopfe begleitet. Daher kommt nun das absolute Vertrauen, das in einigen Barriererestauranten, die ich versehe, die Kunden in die Kaninchenbraten setzen. Wie viele Leute essen da von dem Wilde, das ich gejagt habe, ohne daß ihnen auch nur der geringste Zweifel kommt. Ich kann nichts dafür, ich bin zum Jäger geboren. Daheim in meinen Bergen habe ich Bären und Füchse gefangen, in Paris giebt es von Allem dem Nichts. Holla, Ralph, da schau Sobrono … Diese Burschen versorgen ihrem Herrn sein elendes Leben und tragen ihm jeden Morgen etliche 15 Francs ein. Aber warten Sie, weil Sie sich gerade um All das interessiren, so will ich Sie zu einem meiner Freunde führen, der in der Cité St. Maur wohnt; kommen Sie, sehen Sie sich seine Werkstatt an.“




Blätter und Blüthen.

Abdul-Medschid. Wie gerecht und tolerant der jetzige Sultan gegen seine Unterthanen verfährt, davon nur ein Beispiel: „Nicht weit von Bebek, einem niedlichen Dorf am Bosporus, wohnte noch im Frühjahr 1830 ein armenischer Kaufmann, der sich ein ansehnliches Vermögen erworben hatte und beträchtlichen Einfluß in seiner Gemeinde besaß. Die Gegenstände, mit welchen er handelte, waren solche, die nur einen geringen Raum einnehmen: Juwelen, Rosen-Essenz, Parfüms, kostbare Droguerieen, Stickereien, Kaschemir-Shawls und dergleichen, von welchen er in der erwähnten Zeit sein Haus voll hatte. Dieser Mann war veranlaßt worden, die Predigten der Missionäre in Bebek zu hören, die eine so große Wirkung auf ihn hervorbrachten, daß er sich von der armenischen Kirche lossagte und Protestant wurde. Die Priester seines früheren Glaubens thaten Alles, was in ihrer Macht lag, ihn durch Ueberredung, Schmeichelei, Drohungen, Bitten von seinem Vorsatz abzubringen – vergebens: der Kaufmann hatte die Wahrheit erkannt und war entschlossen, sie nicht zu verläugnen. Man wandte sich an den Patriarchen. Bekanntlich giebt es nicht nur einen griechischen, sondern auch einen armenischen Patriarchen, der dieselben Mittel gegen den Abtrünnigen versuchte, die seine Untergebenen gebraucht hatten, ohne aber ein besseres Resultat zu erzielen. Seiner fruchtlosen Bemühungen überdrüssig, gab er endlich Befehl, den unglücklichen Kaufmann in den Bann zu thun und ihn vom Altar herab als eine exkommunizirte Person zu verkünden. Einige [392] Tage darauf versammelte sich eine zügellose Rotte von Griechen und Armeniern, bewaffnet mit allen möglichen Werkzeugen der Zerstörung, vor dem Hause des Schuldigen, verjagte die erschreckte Familie, die sich größtentheils bei ihrer Annäherung geflüchtet hatte, riß das Gebäude dann von Grund aus nieder und machte ein Freudenfeuer aus den Geräthen und Waaren.

Der Mißhandelte begab sich zum Großwesir, um über die Zerstörung seines Eigenthums Klage zu führen und Gerechtigkeit zu fordern. „Ich sehe nicht ein“, erwiederte der Wesir, „Was ich dabei thun kann. Wenn ich mich einmische, so wird es ein außergerichtliches Verfahren sein und denjenigen eine Handhabe geben, welchen schon Alles, was sie Neuerungen nennen, zuwider ist. Die Alt-Türken nennen mich bereits Diaul(Teufel-) Pascha, was würden sie erst sagen, wenn ich mich zum Richter zwischen Christen aufwürfe?“ Indessen schien es doch, als ob der Vorgang mit dem Armenier den Wesir auf einen neuen Gedanken gebracht habe. „Komm morgen wieder“, sagte er, „und obgleich ich selbst Dir nicht helfen kann, will ich Dich zu Einem führen, der es vermag.“ … Am folgenden Morgen lag eine Kaika bereit, und zu des Kaufmanns Schrecken fand er sich bald in der „Allerhöchsten Gegenwart“. Der letzte Theil des vorhergehenden Tages war zu einer genauen Untersuchung verwandt worden, und der Minister hatte einen Bericht über den Vorgang an den Sultan abgestattet, der, wie ein wahrer Harun-al-Raschid, die Sache selbst in die Hand zu nehmen beschloß. Sobald der Armenier seine Unterthänigkeit bezeugt und seine Freude darüber ausgedrückt hatte, daß man ihn der Ehre gewürdigt, den Bruder der Sonne und den Monden zu erblicken, stürzte der Großherr sich augenblicklich in medias res. „Man berichtet mir“, begann Se. Hoheit, „daß die Armenier in Bebek und der Nachbarschaft Dein Haus zerstört und Dein Eigenthum verbrannt haben. Das ist sehr unrecht, sehr unrecht; aber sage mir nun auch, was Du ihnen gethan hast, denn ohne Ursache reißt Niemand das Haus eines Anderen nieder. Welches Verbrechen hast Du begangen?“ – „Geruhen Ew. Hoheit“, erwiederte der Armenier, „ich habe kein Verbrechen begangen: ich verließ nur, was sie den Glauben nennen.“ – „Es ist ein schlimmes Ding“, sagte der Sultan, „den Glauben zu verlassen; aber welchen Glauben hast Du verlassen?“ – „Ich verließ den Glauben, der mir befahl, mich vor der Panagia (der Jungfrau Maria) und den Heiligen zu verbeugen und sie anzubeten.“ – „Was? jene gelb gemalten Dinge, von denen man mir sagt, daß die Christen sie verehren?“ – „Ja, Ew. Hoheit, aber es sind nicht Christen, welche sie verehren. Seitdem ich ein Christ bin, habe ich mich nicht mehr vor der Panagia gebeugt.“ – „Du thust ganz recht; es giebt nur einen Gott, und Muhammed ist sein Prophet.“ – Der Kaufmann verneigte sich ehrerbietig bei den Worten den Sultans, obwohl ohne Zweifel mit einem stillen Vörbehalt; allein Niemand darf es wagen; dem Beherrscher der Gläubigen zu widersprechen. Abdul-Medschid fing nun an, sich über die Einzelnheiten des Vorgangs genau zu erkundigen, und da er fand, daß die Aussage des Armeniers vollkommen mit dem übereinstimmte, was der Wesir gemeldet hatte, so ward der Kaufmann entlassen, und es erging ein Befehl an den Patriarchen der armenischen Kirche, sich am nächsten Tage zu derselben Stunde in Beschiktasch einzustellen.

Mit Furcht und Zittern erschien zur bestimmten Zeit der Prälat. Der Sultan war augenscheinlich übler Laune: er wartete kaum, bis die stereotypen Kniebeugungen vorüber waren, als er ihm zurief: – „Was soll das bedeuten, daß Eure Leute die Habe meiner Unterthanen verbrennen und ihre Häuser niederreißen? Bin ich nicht der Sultan-ad Din? Untersteht man sich, meiner Gewalt zu spotten?“ Der bestürzte Patriarch versuchte eine Erklärung zu stammeln. „Nichts!“ schrie der Sultan, „ich weiß Alles, was vorgegangen, und habe meinen Entschluß gefaßt.“ – „Möge es Deiner Hoheit gefallen –“ „Es gefällt mir nicht, und deshalb eben habe ich Dich rufen lassen. Nun höre, was ich zu sagen habe. Ich verfolge keinen wegen seiner Religion und will nicht erlauben, daß Du es thust. Gott ist groß; Ihr aber betragt Euch nicht besser, als die Schweine. Dieser Mann setzt sein Vertrauen in Gott und ruht in unserm Schatten; er soll nicht beraubt werden. Vernimm nun“, fuhr Abdul-Medschid fort, von dessen Gesicht alle Spuren von Zorn verschwunden waren, „dieser Kaufmann muß für seinen Verlust entschädigt werden. (Der Patriarch erblaßte.) Da der ihm zugefügte Schaden von meinen Unterthanen herrührt, so muß meine Schatzkammer denselben vergüten. Niemand soll Uns vergeblich um Schutz gegen Unterdrückung anflehen.“ – Se. Heiligkeit schöpfte wieder Athem. „Deine Hoheit ist die Quelle des Trostes und die Rose der Gerechtigkeit“, fing er an. – „Ohne Zweifel bin ich das. Demzufolge muß ich auch alles Unrecht wieder gutzumachen suchen, das gegen diejenigen begangen wird, die unter dem Schatten des grünen Banners ruhen. Bliebe ich jedoch hierbei stehen, so würden alle wahren Gläubigen mich anklagen, da ich ihnen dann eine Last auflegen würde, um die Verbrechen von Hunden und Ungläubigen zu sühnen. Wenn ich also den Kaufmann entschädige, so mußt Du mich entschädigen.“ Jede Spur von Farbe verschwand bei diesem Ausspruch vom Gesicht des Patriarchen. Er öffnete den Mund, vermochte aber nicht, ein Wort hervorzubringen. Es war auch nicht nöthig; der Sultan machte ihm ein Zeichen, daß er zu schweigen habe. „Künftige Woche um diese Zeit wird dem Armenier sein Schaden ersetzt werden; an demselben Tage in der darauf folgenden Woche wirst Du den Betrag an Unsere Schatzkammer einzahlen, und dann wird Dir, sobald Du willst, Unsere kaiserliche Erlaubniß und Ermächtigung ertheilt werden, die Uebelthäter, welche durch Dich, o Vater des bösen Raths! zu diesem Vergehen aufgestachelt wurden, Deinerseits zum Schadenersatz anzuhalten. Jetzt habe ich nur noch die Summe anzugeben, um deren Wiedererstattung es sich handelt; der Kaufmann schätzt seinen Verlust auf achtmal hunderttausend Piaster (ungefähr funfzigtausend Thlr.); da jedoch in der Eil und Verwirrung, die von einem solchen Vorfall unzertrennlich sind, viele werthvolle Gegenstände seinem Gedächtniß entfallen sein müssen, so wollen wir diesem Betrage noch die Hälfte hinzufügen und ihn auf zwölfhunderttausend Piaster feststellen, was den Gekränkten einigermaßen für die Leiden entschädigen wird, die er unschuldigerweise erduldet. Unser Schatzmeister wird ihm künftige Woche 1,200,000 Piaster auszahlen, und in der folgenden wirst Du uns diese erstatten.“ – Noch einmal versuchte Se. Heiligkeit zu sprechen, aber der Sultan klatschte in die Hände. „Es ist genug!““


Der Ocean auf dem Tische. Es wird jetzt mit der Zeit unter den gebildeten Familien, denen es auf ein paar Thaler nicht ankommt, immer mehr Mode werden, sich nicht nur mit geschmackvollem, sondern auch mit wissenschaftlichem Luxus zu umgeben. Zu den neuesten Dekorationen letzterer Art gehört in England bereits das Aquarium, d. h. die vergrößerte und wissenschaftlich construirte Goldfisch-Terrine, gefüllt mit Leben aus der Tiefe des Meeres, das man nun darin in seinem ganzen, tiefen, geheimnißvollsten Reichthume auf dem Tische studiren kann, im Schlafrock und Pantoffeln. Der Engländer Philip Henry Gosse hat jetzt ein wahres Prachtwerk mit vielen colorirten Kupfertafeln unter dem Titel: „Aquarium oder Enthüllung der Wunder der Meerestiefe“ veröffentlicht, worin er zeigt, wie man solche Aquarien einrichten, halten und studiren muß und was für merkwürdige Wesen man darin in ihren Sitten und Gebräuchen beobachten kann.

Das Prinzip, auf welchem das Aquarium beruht, besteht in gehöriger Erhaltung von Pflanzen- und Thierleben innerhalb des gläsernen, durchsichtigen Wassergefäßen, da die Thiere von dem Sauerstoff abhängen, welchen die Pflanzen entwickeln, während letztere ohne Stickstoff und Kohlensäure, welche von ersteren ausgehen, nicht bestehen können. Mit dem lebendigen Seewasser muß man natürlich auch etwas Sand und Steine zur Bequemlichkeit des Lebens darin einfüllen. Um die innere Wand des Glasgefäßes, die sich stets mit Myriaden von kleinen Algengewächsen u. s. w. zu bedecken suchen, rein zu halten, stellt man eine Portion kleine Thiere an, welche die Wissenschaft „trochus“ nennt, und die Engländer „periwink’s, slavies und common tops“ nennen. Diese tops (Kreißel) treiben sich fortwährend an den innern Wänden umher und lecken mit ihren fleischigen, reibeisenartigen kleinen Rüsseln jeden Tag in regelmäßigen Zwischenräumen Alles weg, was die Durchsichtigkeit stören würde. Die Zunge dieser kleinen Reinlichkeitsbeamten ist ein wahres Meisterstück von Besen oder Fensterlappen und wird von Mr. Gosse mit vielem Enthusiasmus beschrieben. Unter den seltsamen Bewohnern des Meerwasser-Aquariums macht sich der Kopffuß (Kephalopodos) oder die Sepiola vulgaris besonders interessant. Anfangs verräth das Thierchen viel Unruhe, nimmt aber mit der Zeit mitten im Wasser eine ruhige Stellung an, um nur noch aus den weit hervorstehenden Augen und durch seine tausendfach und plötzlich sich ändernden Farben zu verrathen, was für ein reichen Leben in ihm pulsirt. Die Farben erscheinen in den verschiedensten Formen und Tinten, bald in dunkeln, bald in hellen Schichten, bald in Flecken, bald in Ringen u. s. w., stets farbiges Gefühl, stets sichtbar werdendes Seelenleben. Daß die Farbenmusik und ihre verschiedenen Gestalten von den Stimmungen des Thierchens abhängt, wird bald klar. Da schwebt eins ruhig und gedankenlos und deshalb farblos. Ein College von ihm schießt über ihn hin: sofort übergießt sich sein Körper mit dem schönsten Purpur, „wie die Wange eines in Scham erglühenden Mädchens.“ Wer weiß, was für rührende Liebesgeschichten alles in der Tiefe den Meeres vorkommen! Aber freilich giebt’s auch Kannibalen darunter, z. B. den schwarzen Goby, drei Zoll lang und sich gern unten versteckend, wie alle Räuber und Mörder, in Sand und Sumpf. Zuweilen schießt er auf, schnappt seine Beute und kehrt wieder in den Schlamm zurück. – Die Erdbeer-Krabbe (wegen der Farbe so genannt) klettert träge auf den Seegewächsen herum, und macht dabei ganz die Bewegungen des Orang-Utang. – Die Seemaus, welche zu dem schönen wissenschaftlichen Namen der Liebesgöttin „Aphrodite“ gekommen, ist besonders interessant durch die geschäftliche Lebendigkeit, womit sie stets unten umher pusselt, noch mehr aber durch ihren schönen Farbenwechsel, bei künstlichem Licht in Roth und Orange, am Tage meist in Grau und Blau. Die Farben kommen hier von Lichtbrechung, bei der Sepiola aber aus innerer Leidenschaft. Nähere Untersuchung der Construction der Seemaus zeigt eine Menge der seltsamsten Bildungen, unter welchen die merkwürdigste die Nase oder der Athmungsprozeß ist, der sich im Schwanze befindet. Sie athmet stets Wasser aus und ein, wie wir Luft. – Auch die „Soldaten-Krabbe“ ist ein interessanter Unterthan des Meeres. Sie hat kein hartes Fell und keine Waffen, und da sie sich’s doch gern bequem macht, zieht sie in jedes beliebige Haus, das sie leer findet, Schnecke oder Muschel. Spaßhaft ist’s, wenn’s ihr zu eng im Schloß wird und sie sich nach bessern Wohnungen umsieht. Auf dem Dache der Soldatenkrabbe wächst in der Regel eine Anemone, ein säulenartiges Pflanzenthier, und mit ihr zusammen inwendig wohnt fast ohne Ausnahme die Nereis bilineata, ein wunderschön gefärbter Wurm, der, wenn die Soldatenkrabbe etwas gefangen hat, unter ihm hervorschießt und ihm das Futter thatsächlich vor der Nase wegreißt, ohne daß es der wahre Eigenthümer besonders übel zu nehmen scheint. Der Wurm, der sich nirgends im Freien halten und selbst kein Brot verdienen zu können scheint, ist eine der größten Delicatessen für Fische, weshalb auch Angler und Fischer ihn mit dem größsten Erfolge als Köder brauchen. Man findet ihn stets in den Wohnungen der Soldaten-Krabbe. – Unter den Pflanzenthieren scheinen einige Sorten von Strahlenmuscheln wahrhafte gymnastische Künstler zu sein, obgleich sie in der Regel wie angewachsen umherfaullenzen. Mr. Gosse warf einmal einige Exemplare der knolligen Strahlenmuschel, der größten Sorte ihres Stammes, in eine Schüssel, da sie es lieben, zuweilen an die Luft gesetzt zu werden. Während die Familie nun ruhig am Tische saß, und sich vorlesen ließ, entstand plötzlich unter den Thieren ein schrecklicher Lärm, der mit Reibungen und Schlägen von Flintensteinen auf einander große Aehnlichkeit hatte. Sie zankten und stritten sich wüthend unter einander, als wollte Jede seinen Kopf behaupten, obgleich keine Einzige einen hatte. Es war in der That der kopfloseste Aufruhr.

Mit der Zeit wird die Tiefe des Meeres, durchsichtig auf unserem Tische, uns noch manche seltsame Naturgeschichte erzählen.



  1. Vergleiche Nr. 5 von 1854 und Nr. 27 von 1853 der Gartenlaube.
  2. Wir haben diesen Brief ohne Abänderung und Fragezeichen abdrucken lassen, weil wir das liebenswürdige Capriccio unsers alten Freundes und Mitarbeiters nicht zerstören wollten. Aber wir bitten doch freundlichst, die späteren Artikel über den Krystall-Palast etwas weniger flanirend und spielend zu bearbeiten. Das Hummersalat-Dejeuné und die großartigen Civilisations-Wirkungen einer glimmenden Cigarre sind selbst für den gemüthlichen Gartenlaubenleser zu – gemüthlich.
    Die Redaction. 
  3. An jedem Thermometer (Temperatur- oder Wärmemesser) müssen zuvörderst zwei feste Punkte genau angegeben sein, von denen der eine die Temperatur des schmelzenden Eises bezeichnet und der Eis- oder Gefrierpunkt heißt, während der andere die Temperatur des siedenden Wassers anzeigt und der Siede- oder Kochpunkt genannt wird. Der Raum zwischen diesen beiden Punkten (der Fundamentalabstand) ist nun von Celsius, Reaumur und Fahrenheit in eine verschiedene Anzahl gleicher Theile (Grade) abgetheilt worden. Die Abtheilung (Scala) von Celsius, auch die Centesimal- oder hunderttheilige Scala genannt, enthält zwischen dem Eis- und Kochpunkte, von denen der erstere mit 0 bezeichnet ist, 100 Grade, so daß dem Siedepunkt der hundertste Grad (+100°) entspricht. Die Grade über dem Eispunkte nennt man Wärmegrade und bezeichnet sie mit +, die unter diesem Punkte heißen Kältegrade und man setzt – davor, ihr Zeichen ist C. Die Réaumur’sche Scala enthält zwischen dem ebenfalls mit 0 bezeichneten Eis- und dem Siedepunkte nur 80 gleiche Grad, ihr Zeichen ist R.. Bei der Fahrenheit’schen Scala sind vom Gefrier- bis zum Siedepunkte 180 Grade angenommen und der 0 Punkt steht um 32° tiefer als der Gefrierpunkt, so daß dieser also mit +32, der Siedepunkt mit +212° bezeichnet ist; das Zeichen dieser Scala ist F. In Deutschland und Frankreich bedient man sich bei wissenschaftlichen Untersuchungen der Celsius’schen Scala, in England der Fahrenheit’schen.