Die Gartenlaube (1853)/Heft 35
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No. 35. | 1853. |
Das Begegnen in der Oper.
Ein warmer Juliabend hatte sich auf Albion´s weite Metropolis herabgesenkt. Die Sonne, die heute glühende Strahlen versendet, neigte sich unter rothen Wolkendecken dem westlichen Horizonte zu, und Blumen und Blätter, die sich vor der Glut des Tages gebeugt, erhoben sich von dem frischen Athemzuge, der säuselnd durch die Atmosphäre strich. –
In den weiten Parks, die sich inmitten London’s ausbreiten, wurde es stiller und stiller. Die bunte Modewelt, zu Wagen und zu Roß, war heimgeeilt, ihr Mittagsmahl einzunehmen, und die Stiefkinder der launigen Fortuna, denen keine Pänaten ein Heim! zuriefen, waren bei dem ersten Dämmern des Abends die einzigen Gäste, die hier umherschlenderten. Oede und still war es auf den weiten, sonneverbrannten Rasenstrecken, - diesem Bette der Armuth, die ihr Nachtlager noch nicht aufgesucht; fast kein Laut war hörbar, als nur von ferne das ewige Rollen und Rasseln der Wagen in den endlosen Straßen, das dumpf, gleich einem fernen Meeresbrausen, das Ohr des einsam Wandernden berührte.
Ein schöner Sommerabend ist eine seltene Erscheinung in diesem Klima, und um so dankbarer zu begrüßen; aber wenige nur genießen diese Spende der Natur. Die Laden schließen sich, Handel und Wandel haben ihr Ziel erreicht, der Comptoirist verläßt seinen Posten, die Modistin setzt ihr Hütchen auf, und die Straßen London´s wimmeln von einer neuen Bevölkerung, als die war, welche der Tag gebracht. Es ist die Betriebsamkeit, die jetzt lustwandeln geht und in dem Garten des Herrn Athem zu schöpfen begehrt; aber nicht das Feld kann sie suchen und nicht die Flur; nicht den sprossenden Halm kann sie belauschen und nicht die keimende Saat; der Abend hat sich gesenkt, Tausende von Gasflämmchen ersetzen die Helle des Tages, und aus diesem endlosen Lichtmeer führt kein Pfad zu des Landmannes einfacher Hütte.
Räume sind es daher und immer wieder Räume, die diese abendlichen Lustwandler aufsuchen. Für die Grisette giebt es einen Ball, für den Commis einen Club, und für den kleinen Kaufmann Vauxhall und Cremome-Garten, mit Feuerwerk, Illumination und [374] Tanz. Wer sich höher versteigen will, besucht ein Theater in der Stadt und in seltenen Fällen sogar eine Oper. – Auch an Vorlesungen und andern Versammlungen zur Unterhaltung und Belehrung fehlt es allabendlich nicht. Das Ausgesuchteste aller Vergnügungen bleibt aber stets die italienische Oper in London, die ein Ensemble bietet, das seines Gleichen nicht kennt.
Auch im Jahre 1851 lag hier das Ziel alles weltlichen Begehrens. Lumley, der Director, hatte sich diesmal selbst überboten und einen Zusammenfluß von Talenten veranstaltet, die Alles übertrafen. Da war die Sonntag mit ihren Nachtigallentönen, da war Grisi, da war die kleine kugelrunde Alboni mit dem Glockenspiele ihrer reichen Altstimme, und würdig ihr zur Seite stand Ida Bertrand; da waren noch ein halbes Dutzend bedeutender Talente, um jede Nebenrolle zur Vollendung zu bringen und endlich erschien zum Schlusse die Tochter eines kleinen deutschen Landpredigers, Fräulein Cruvelli, – um sich die gesammte Künstlerwelt so wie das Publikum zu Füßen zu legen. Eine solche Norma hatte noch kein Theater gesehen, eine so umfangreiche Stimme, mit einer so reinen Höhe und Tiefe hatte nur allenfalls eine Catalani besessen; und dazu eine schöne Gestalt und 21 Jahre! – Dies ist die höchste Vollendung! rief Emanuel Garcia, dessen Urtheil in der musikalischen Welt für entscheidend gilt.
Der Vorhang war eben aufgezogen, die Cruvelli hatte die Scene betreten und athemlos horchte das zum Ersticken gefüllte Haus. Kein Laut regte sich, kein Hüsteln war noch vernehmbar.
Da wurde in einer kleinen Loge, die schon über der Bühne lag, leise angepocht, und ein Herr, der dieselbe bis dahin allein innegehabt, erhob sich, um der unwillkommenen Störung nachzuforschen.
„Ist dies die Theaterloge?“ fragte eine weibliche Stimme, und eine schlanke, jugendliche Gestalt in eleganter Morgentoilette trat ihm vor der jetzt geöffneten Thüre entgegen.
„Zu dienen, Madame!“ versetzte der so Angeredete und verneigte sich überrascht vor dem schönen Gaste.
„Dann habe ich mein Ziel erreicht,“ versetzte die holde Fremde und trat ein, um von einem Platze Besitz zu nehmen. –
Der Herr schloß die Thüre und folgte ihr dann in den Vordergrund der engen Loge, die nur zwei Stühle faßte. „Vielleicht geben Sie meinem Sitze den Vorzug, Madame?“ fragte er höflich, indem er mit artiger Handbewegung andeutete, daß ihr die Wahl zustehe.
„Ich bin vollkommen zufrieden mit meinem Platze,“ antwortete sie mit einer verbindlichen Verneigung des schönen Hauptes und nahm ihre Lorgnette hervor, um auf die Bühne zu schauen. Julius Piat setzte sich und versuchte ihrem Beispiele zu folgen, aber es wollte ihm kaum gelingen. Jede kleinste Bewegung seines vis-à-vis, ein Knistern des Kleides, eine Bewegung der Hand zog sein Auge von der Bühne, und er gewahrte dabei zugleich, daß sein Blick nur mechanisch dort geweilt und seine Gedanken sich neben seiner unbekannten Nachbarin verloren. Er wußte bereits, daß ihr Kleid himmelblau und ihr Haar lichtblond sei; er wußte, daß aus dem weiten hängenden Spitzenärmel eine kleine Hand in enganschließendem weißen Glacéhandschuh hervorsah; er wußte, daß jedes Lächeln eine Reihe Perlenzähne und die holdesten Grübchen hervorrief, in denen der kleine Gott selber zu wohnen schien. Warum also sich nicht freuen an dem Schönen, das ihm so nahe war? Nur fürchtete er, sie durch den dreist auf sie gerichteten Blick zu kränken, sonst wahrlich hätte er der Oper heute auch keinen Schein von Aufmerksamkeit mehr geschenkt.
Jetzt fiel der Vorhang, der erste Act war vorüber, und die Pause mochte Jeder nach Wohlgefallen ausfüllen. Der junge Mann sprang auf, lehnte sich über die Brüstung, musterte das Theater und maß jetzt mit bedächtigen Schritten einige Male die kleine Loge. Die junge Dame legte ihr Opernglas bei Seite, fächelte sich Kühlung und las dann den Theaterzettel. „Erlauben Sie, daß ich mich Ihres Textbuches einen Augenblick bediene, Herr Piat?“ redete sie den mit verschränkten Armen auf seiner Stuhllehne Ruhenden an.
Herr Piat? – So wußte sie seinen Namen? – Er starrte sie in sprachloser Verwunderung an, und einige Minuten vergingen, ehe er seiner wieder so weit bewußt wurde, um die erwartete Antwort zu ertheilen. – „Ja so! Sie wünschten das Textbuch,“ sagte er verlegen; „es steht Ihnen mit Vergnügen zu Diensten.“ Er lehnte sich über seinen Stuhl um es ihr zu reichen, war aber so ungeschickt, es fallen zu lassen. „Verzeihen Sie!“ stammelte er und bemühte sich, das kleine Heft vom Boden aufzuheben, „die Nennung meines Namens hat mich verwirrt gemacht. Ich begreife nicht, woher Sie ihn kennen.“
„Das ist ungalant,“ versetzte sie mit schelmischem Lächeln, während sie in dem ihr gebotenen Büchlein blätterte; „wir haben es gerne, wenn man uns ein klein bischen Allwissenheit zutraut.“ –
„Ich glaubte, Allmacht sei das Attribut, das schönen Frauen zukäme; und mit Recht. Können sie ja doch mit einem Blick beseligen und vernichten, – einen Himmel schaffen, oder den Unglücklichen, der nicht zu gefallen verstand, in die siebente Hölle verbannen. – Aber Allwissenheit? – Sie verzeihen, Gnädige! wenn ich Ihnen hier kein Vorrecht vor uns zugestehe.“
Sie lächelte und blickte schelmisch zu ihm auf. „Soll ich Ihnen sagen, warum Sie mir diese Eigenschaft absprechen?“
„Gern! und ich werde sehen, ob sich Ihre Allwissenheit auch dabei erweist.“
„Sie sind neugierig wie unsere Urgroßmutter. Es liegt Ihnen nur daran zu wissen, wie und wo ich Ihren Namen erfahren. Nicht so?“
„Ich kann Ihnen wirklich nicht widersprechen,“ sagte er lachend. „Ich begreife durchaus nicht, wie ich Ihnen bekannt sein konnte, ohne daß ich Sie je gesehen.“
„Das ist in der That höchst wunderbar, besonders da auch ich Sie nie erblickt, Sie mir also auch völlig unbekannt waren.“
„Aber mein Name? Sie nannten mich doch; – oder hätte mir das etwa geträumt?“
[375] „Wachend allenfalls, denn ich sprach ihn wirklich aus, Herr Piat.“
„Sie kannten mich also nicht und kannten mich doch?“ sagte er verwundert.
„Verzeihen Sie! Ich kannte Sie nicht, ich nannte Sie nur. Aber – um Ihrer Neugierde keine härtere Probe aufzuerlegen – Madame Carlotts hatte mit mir von Ihnen gesprochen und daß Sie diese Loge mitunter besuchten. Auch war sie es, die mir diesen Platz überließ.“
„Ach! Nun verstehe ich!“
„Wie sich das ganze wunderbare Räthsel in einfache Prosa auflöst. So geht es leider oft im Leben!“
„Leider!“ wiederholte er seufzend.
„Und doch will man den Augenblick nicht festhalten, will alle Räthsel gelöst sehen.“
„Nicht ich. Das trifft bei mir nicht zu.“
„Nicht?“ fragte die Dame gezogen mit einem schalkhaften Lächeln.
„Nicht im Allgemeinen; wirklich nicht. Ich bin ein Kind des Augenblicks, und freue mich des Scheines der Dinge, ohne ihrem Warum nachzuforschen. Ich bin kein praktischer Mensch, ich lebe in der Welt meinen Ideen und verlange von der Erde nichts als eine Seele, mich zu lieben.“
„Und hat die Erde Ihren Wunsch gewährt?“
„Noch nicht, aber sie wird es, ich zweifle daran nicht,“ sagte er und sah ihr tief in das Auge. Sie senkte erröthend den Blick und wandte ihn dann der Bühne zu, wo eben der zweite Act begonnen hatte. Die Cruvelli sang und spielte heute zu hinreißend, um nicht zu fesseln, und der Schluß dieses Actes fand das ganze Haus in Bewegung, Sträuße flogen von allen Seiten und nur eine Stimme des Beifalls war hörbar. Auch Julius Piat hatte sein Bravo ertönen lassen und seine Hände dem allgemeinen Sturme geliehen. Als jetzt eine Stille eintrat, bemerkte seine Nachbarin:
„Wunderbar! Wie dieses Mädchen einen Conflict von Leidenschaften darstellen kann, von denen ihr junges Leben keine Ahnung hat.“
„Keine Erfahrung, meinen Sie; denn darin liegt ja eben die Macht des Genies, daß es sich in alle Zustände zu versetzen weiß, bis es davon, wie von der Macht der Wirklichkeit, ergriffen wird. Der Dichter, der Künstler sind groß durch dieses Intuitive ihrer Natur. Nur wer nicht aus sich heraus kann, ist zum Geschäftsmanne tauglich, dem die Wahrheit einseitig vorliegen muß, der nur den eng vorgezeichneten Pfad verfolgen kann.“
„Und welcher Laufbahn haben Sie sich bestimmt, wenn ich so fragen darf?“
„Keiner. Ich tauge für Beide nicht. Mir fehlt die Form für die Erste und die Neigung für die Zweite. Ich kann mich freuen am Schönen, aber ich kann es nicht hervorbringen.“
„Glücklich für Sie, daß Sie nur genießen dürfen, daß kein „muß“ Sie zwingt, selbst schaffen und leisten zu sollen.“
„Meinen Sie mit dem muß die leere Börse, so möchte dieser Mahner wohl öfter vor der Thüre stehen, als mir lieb ist; aber ich leihe ihm ein taubes Ohr und lebe unbeirrt fort. Geht es dann in Europa nicht länger, so bieten mir die Wälder Amerika’s immer noch Freiheit, Luft und – Einsamkeit.“
„So glauben Sie wirklich, Sie könnten Europa eines Tages ein Lebewohl sagen und auf Alles verzichten, was Ihnen die Kunst bietet?“
„Gewiß! – nur nicht allein. Wie die Pflanze die Sonne erstrebt, so bedarf ich der Liebe. Finde ich das Wesen, das die Natur mich zu ergänzen geschaffen, dann wird die Natur der Tempel, wo ich opfere.“
„Aber ein großer Entschluß für ein Mädchen, in eine so fremde, ferne Welt hinaus zu ziehen.“
„Es ist ein Prüfstein ihrer echten Liebe. Gilt ihr auf dieser Welt noch etwas höher, als der Mann ihrer Wahl, dann taugt sie mir nicht, dann sind wir nicht für einander geschaffen, und unsere Liebe war eine Täuschung der Sinne. Würden alle Verbindungen unter diesen Bedingungen geschlossen, so wäre es wirklich wie im Himmel geschehen, und das tiefsinnige Sprichwort hätte seine rechte Bedeutung gefunden.“
„Sie scheinen der Meinung, daß die Natur für jeden Mann eine Frau geschaffen, und daß diese herauszufinden seine Aufgabe sei.“
„Allerdings! Und wie könnte es anders sein? – Nur das Gleiche sucht das Gleiche und gesellt sich zu einander.“
„Woran aber das Gleiche erkennen?“
„An der innern Beziehung. An dem Verstehen auch ohne Worte.“
„Und wenn man sich irrt?“
„Man irrt sich nicht, wenn man sich nicht irren will. Der Irrtum, wo er begangen wird, entsteht durch die befangenen Sinne; und sollen diese für uns über ein ganzes Leben entscheiden? – Der Mensch hat, indem er dies geschehen ließ, eine große Verantwortung, der Menschheit gegenüber, auf sich geladen. Die Folgen sind unberechnenbar.“ –
„Ich habe diese Theorie nie aufstellen hören.“
„Und findet dieselbe in Ihrer Brust ein Echo, das ein Amen dazu ruft?“
„Ich glaube ja.“
„Dann verstehen wir uns.“
Die junge Dame wurde verlegen und fächelte sich Kühlung zu. „Sehen Sie die unvergleichliche Stellung der Cruvelli! Wir haben uns Beide den Vorwurf zu machen, nicht achtsam genug auf das uns Nächstliegende gewesen zu sein. Wir kamen die Oper zu sehen, und verplaudern die Vorstellung.“
„Sie haben sich in diesem Augenblicke noch einen andern Vorwurf zu machen, der härter trifft.“
„Und welcher wäre das?“ fragt sie überrascht durch den Ernst seines Ausdruckes.
„Sie sind nicht wahr gewesen.“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie wissen es. Sie wissen, daß unser Gespräch Sie näher anging, als die Vorstellung der Cruvelli. Sie konnten sich und mich nicht täuschen wollen.“
Sie errötete tief. –
„Sie sind mir so fremd, Herr Piat, daß die Wendung, die unsere Unterhaltung nahm, mich in Verlegenheit [376] setzte. Ich wünschte daher davon abzubrechen, und verfuhr vielleicht nicht ganz geschickt dabei, wie Ihr Mißfallen mir andeutet.“
„Sie folgten der Mode. Sie sprachen wie die Welt es lehrt; wer aber eine höchste Wahrheit erkennt und sucht, der darf in diesem Tone nicht reden.“
„Ich gestehe das zu, aber – läßt es sich denn vermeiden, so lange man in der Welt lebt, nicht unwahr zu sein? – Die Höflichkeit ist meistens doch Lüge.“
„Die Höflichkeit der Welt – nicht die des Herzens, und das bleibt doch die erste Höflichkeit. – Außerdem giebt es aber für die Frauen noch so manche Regeln des Schicklichen, die alle in das Gebiet der Lüge streifen; darf ich Sie bitten, in Bezug auf diese über sich zu wachen?“
„Der Einzelne muß mit dem Strome schwimmen, Herr Piat.“
„Sagen Sie, der Einzelne darf nicht gegen den Strom schwimmen, so gebe ich Ihnen recht. Lassen Sie uns aber keins von Beiden thun, sondern am Ufer sitzen und von da aus in die Fluthen schauen.“
„Ist es aber nicht unsere Mission, das Leben mitzuleben, ein Glied in der großen Kette zu sein, Herr Piat?“
„Gewiß! – Aber das Glied kann einen stärkeren oder kleineren Ring haben, es kann sich bilden, wie es will.“
„Oder wie die Umstände es wollen.“
„Nicht doch, Verehrteste – wie soll, wie darf ich Sie nennen? Sagen Sie einen Namen, bei dessen Nennung ich mir Ihr Bild zurückrufe.“
„Nennen Sie mich Susanne.“
„Und weiter?“
„Reicht das nicht hin?“
„Nicht ganz. Schriftlich würde ein Vorname keine Dienste leisten.“
„So nehmen Sie meine Karte!“ sagte sie lächelnd, indem sie ihm ein Blättchen aus ihrem Etuis reichte und sich zugleich erhob, um die Loge zu verlassen.
„Sie gehen schon?“ sagte Piat und sah ihr mit vorwurfsvollem Blicke zu.
„Ein muß treibt mich von hinnen,“ sagte sie seufzend.
„Man muß nur das, was man zugleich aus Neigung thut,“ versetzte er einwendend.
„Meine Erfahrung hat mir leider immer das Gegentheil bewiesen, vielleicht aber geht es den Männern hierin besser. Vielleicht müssen Sie nur, wo sie auch wollen.“
„Und warum sollte eine Frau dies nicht ebenso können?“
„Sie kann es, aber sie wird ein Paria der Gesellschaft.“
„Aber doch nicht deshalb, weil sie die Oper eine halbe Stunde später verläßt, als Sie so eben beabsichtigen?“
„In meinem Falle, gewiß. Der Diener wartet meiner; um eilf Uhr kann ich mit Anstand heimgehen, um zwölf Uhr nicht.“
„Da habe ich wieder etwas gelernt,“ versetzte Piat mit leichter Ironie. „Also auch die Zeit hat ihr Sittenregister. Sei es denn! Sie haben dieses unerbittliche Gesetzbuch ja nicht entworfen, so muß ich Ihnen die Grausamkeit wohl verzeihen, die mich um eine schöne Lebensstunde ärmer macht. Vielleicht darf ich aber den Weg mit Ihnen zurücklegen? – “
„Gern, wenn Ihre Füße damit einverstanden sind.“
„Sie wurden nie berufen, mir einen lieberen Dienst zu leisten,“ versetzte Piat und bot der jungen Dame den Arm, um sie die enge Stiege hinab zu führen, die durch die Maschinerien der Coulissen hinter die Bühne führte, die man durchkreuzen mußte, um den Ausgang zu gewinnen. Hier sah es jetzt bunt aus. Man war mit Vorbereitungen zum Ballet beschäftigt, von allen Seiten her hüpften Nymphen und Götter und eilten der Bühne zu, um im Hintergrunde derselben noch einmal die Stellungen zu probiren, die das Publikum bewundern sollte. Niemand dachte dabei an den Andern, Jeder hatte augenscheinlich nur sich im Sinne, war nur auf seinen Erfolg bedacht und wenig bekümmert um das Ganze.
Der Sund.
Die jüngsten Verwickelungen im Orient gaben uns in Nr. 24 der Gartenlaube Gelegenheit, auf die Bedeutung der Dardanellenstraße und des Bosporus hinzuweisen: heute führen wir den Leser an eine andere Meerenge, den Sund, der, wenn auch weit entfernt von dem Schauplatze, wo die türkische Frage spielt, doch für dieselbe eine nicht geringe Bedeutung hat. Sollte nämlich Rußland wegen der Türkei früher oder später in einen Kampf mit dem europäischen Abendlande verwickelt werden, so müßte es, um sich völlig frei bewegen zu können, vor irgend einer feindlichen Diversion in der Ostsee gesichert sein. Das Erscheinen einer bedeutenden feindlichen Seemacht in diesem Meere würde nicht nur die russischen Operationen zu Lande bedeutend hemmen, sondern auch die gesammten Küstenstädte, ja selbst die Hauptstadt St. Petersburg, ernstlich bedrohen. Der Schlüssel zur Ostsee ist nun aber der Sund, und nur durch diesen können die Feinde Rußlands in die Ostsee gelangen. Es ergiebt sich demnach, von wie großem Interesse es für Rußland ist, seine Politik in Dänemark, in dessen Händen sich der Sund befindet, zum entschiedenen Uebergewicht zu bringen, was ihm bisher auch vollständig gelang.
Der Sund, eigentlich Öresund, zieht sich zwischen
[377][378] der dänischen Insel Seeland und der schwedischen Landschaft Schonen als neun Meilen lange Meerenge hindurch, welche die Ostsee mit dem von der Nordsee gebildeten großen Meerbusen, das Kattegat, (also die Ostsee mit der Nordsee), verbindet. Der Sund ist die gewöhnliche Durchfahrt für die Schiffe, welche aus dem einen dieser Meere in das andere segeln; doch ist er nicht die einzige, denn außer durch ihm stehen beide Meere auch durch den kleinen und großen Belt in Verbindung. Der kleine Belt, der die Insel Fünen von Jütland trennt, verengert sich bei Friedericia bis auf eine Viertelmeile, so daß ihn diese für uns Deutsche so verhängnißvoll gewordene Festung vollkommen beherrscht. Der sich bis zu 21/2 Meile erweiternde große Belt trennt Seeland und Laaland von Fünen und Langeland. Beide Belte aber sind ihrer vielen Sandbänke und der heftigen Strömung aus der Ostsee wegen höchst gefährlich zu befahren, so daß sie für die Schifffahrt so gut wie nicht vorhanden sind und höchstens zur Vermittelung des Küstenverkehrs dienen.
Der Sund kann mithin eigentlich als die einzige Verbindungsstraße zwischen der Ostsee und Nordsee betrachtet werden, und wird als solche auch, so wie die beiden Belte, seit den frühesten Zeiten von Dänemark beherrscht. Dieses benutzte den ihm von der Natur gebotenen Vortheil von jeher zur Erhebung des bekannten Sundzolles, der an dem Zollhause zu Helsingör von allen durchgehenden Handelsschiffen, dänische nicht ausgenommen, zu entrichten ist. Ueber die Rechtmäßigkeit des Sundzolls ist seit Jahrhunderten gestritten worden, und wenn ihn Dänemark überhaupt erheben kann, so hat dies seinen Grund nur darin, daß der Sund an der schwedischen Seite zu seicht ist und mithin alle Fahrzeuge nahe an der dänischen Küste passiren müssen. Im Laufe der Zeit ist der für den Handel so drückende Sundzoll durch verschiedene Verträge mit den europäischen Mächten anerkannt worden. Es geschah dies nicht etwa, weil Dänemark im Besitz des Sundes selbst die Macht gefunden hätte, seinen Ansprüchen Geltung zu verschaffen, sondern weil es die ihm aus dem Sundzoll zufließende Einnahme als eine durchaus unentbehrliche Finanzquelle geltend zu machen wußte. Der Sundzoll, der dem Staate jährlich mehr als 1 Million Thaler einbringt, ist nicht für alle Nationen der gleiche. Die Franzosen, Engländer, Holländer und Schweden zahlen 1 Procent vom Werth ihrer durchgeführten Waaren, die übrigen Flaggen zahlen 11/4 Procent; am Lästigsten ist die Durchsuchung, welcher alle fremde Schiffe von Seiten der dänischen Zollbeamten ausgesetzt sind. Die Zahl der jährlich passirenden Schiffe beträgt ca. 20,000. Verhandlungen über den Sundzoll haben bis in die neueste Zeit herein stattgefunden, und namentlich hat Preußen einige, doch nicht wesentliche Modificationen zu erlangen gewußt.
Bei Helsingör oder Elsenör, einer Stadt von 8000 Einwohnern, wo der Zoll erhoben wird[1], verengert sich der Sund bis aus eine halbe Meile. Noch einige hundert Ellen schmäler ist er bei der in der Nähe Helsingörs auf einer Landspitze stehenden Festung Kronborg oder Kronenburg, welcher gegenüber die schwedische Festung Helsingborg liegt. Durch Kronborg, das mit starken Wällen und breiten Gräben umgeben ist und ein regelmäßiges Viereck bildet, wird der Sund beherrscht. Die Festung wurde in den Jahren 1577–85 angelegt und hundert Jahre später erweitert und stärker befestigt, nachdem ihr in der Zwischenzeit einmal von den Schweden unter Wrangel am 6. Sept. 1658 der Jungfernkranz entrissen worden war.
Wir haben im Anfange auf die militärische Wichtigkeit des Sundes für Rußland hingedeutet, was gleichzeitig die Wichtigkeit dieser Meerenge für Dänemark selbst in sich schließen muß. Der Sund erinnert uns hierbei an die Dardanellenstraße, mit der er sich überhaupt zu manchem Vergleich eignet. Wenn wir schon sagten, daß durch Jenen Rußlands Feinde müssen, um in die Ostsee zu gelangen, so müssen sie hinwiederum durch letztere Straße, um in das schwarze Meer zu kommen. Wie ferner aus dem mittelländischen Meere eine feindliche Flotte nur unter dem mörderischen Feuer der Dardanellenschlösser weg nach Konstantinopel segeln kann, so führt für feindliche Schiffe der Weg aus der Nordsee nach Kopenhagen nur unter den Kanonen Kronborgs vorüber. Die ganz besondere Bedeutung dieser letztern Position wäre übrigens nur in der Neutralität zu suchen, welche z. B. Dänemark beim Ausbruch eines Kampfes zwischen England und Rußland für sich in Anspruch nehmen würde, und England geneigt wäre, eine solche Neutralität vollständig zu respektiren, in welchem Falle einzig und allein Rußland für seine Ostseeländer nichts zu fürchten hätte. Die Passage durch den Sund selbst zu wehren, vermögen aber im andern Falle die dänischen Geschütze in Kronburg nicht. Die Erzwingung der Durchfahrt hat allerdings ihre Mißlichkeiten, wie denn schon die bloße Befahrung des Kattegat eine höchst beschwerliche ist, daß jedoch dessenungeachtet durch den Sund zu kommen ist, haben die Engländer bereits zweimal bewiesen.
Als der Frieden von Luneville 1801 geschlossen wurde, blieb England, das die Friedensbedingungen verwarf, als alleiniger Gegner Napoleon’s übrig. Es ging dabei so weit, den zwischen Rußland, Dänemark und Schweden geschlossenen Neutralitätsvertrag als eine ihm gemachte Kriegserklärung zu betrachten, weshalb der berühmte Nelson den Auftrag erhielt, die Fahrt durch den Sund zu erzwingen. Er that dies auch, ohne große Gefahr zu erleiden, und erschien am 2. April 1801 mit zwölf Linienschiffen auf der Rhede von Kopenhagen, wo er der dänischen Flotte eine blutige, doch unentschiedene Schlacht lieferte. Nach dem Frieden von Tilsit (Juli 1807), welcher Rußlands und Frankreichs Einigung zu Stande brachte, sah sich England abermals ohne Bundesgenossen in dem Kampfe gegen Napoleon. Eine Erörterung, von welchen Gründen die englische Politik damals geleitet wurde, gehört nicht hierher, genug der englische Admiral Gambrier fuhr im September 1807 abermals durch den Sund, bombardirte Kopenhagen vier Tage lang und führte die ganze dänische Flotte mit sich fort.
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Man braucht mithin keinen allzugroßen Respekt vor dem Sunde zu haben, und sicherlich würden wir bei einem Kriege, wie er sich in jüngster Zeit entspinnen zu wollen drohte, die Passage des Sundes abermals von den Engländern erzwungen sehen. Die große im Hafen zu Spithead versammelte, mehr als 1000 Feuerschlünde zählende Dampfflotte war auch allem Anscheine nach hierzu gegebenen Falles bestimmt, und von dem Pulver, das sie vor einigen Wochen in großartigen Manövres blindlings verpuffte, hatten die alten englischen Seewölfe wohl einen ganz andern Gebrauch zu machen gehofft.
Wanderungen durch die Sternenwelt.
Wir haben im vorigen Artikel von der Anzahl, der Eintheilung und der Bezeichnung der Fixsterne gesprochen. Bevor wir zur Beantwortung der Frage übergehen: wie weit sind jene Sterne von der Erde entfernt, sei erlaubt, noch auf einige eigenthümliche Erscheinungen am Sternenhimmel aufmerksam zu machen.
Daß unter der Beschaffenheit jener Sonnen eine außerordentliche Mannigfaltigkeit stattfinden muß, das lehrt vor Allem die mannigfache Farben-Pracht, die freilich erst durch bedeutende telescopische Hilfe dem Beschauer sichtbar wird. Das Licht der Sterne ist keineswegs bei allen weiß oder gelblich, wie es dem unbewaffneten Auge erscheint. Es giebt eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Fixsternen, die in allen Farben und Farbenschattirungen glänzen. Wir haben orange, grüne, blaue, violette, ja selbst purpurrothe, granatfarbene und aschgraue Sterne. Fast die Hälfte der Sterne leuchtet in gelblichem Lichte mit theilweise schwacher farbiger Schattirung. Die Anzahl der in vollkommenem Silberlichte strahlenden beträgt ungefähr ein Fünftel. Eben so groß ist die Anzahl der orangefarbenen. Für die übrigen Farben bleibt daher nur ein schwaches Zehntheil übrig. Der jüngere Herrschel giebt ein Verzeichniß von 76 rubinfarbenen Sternen des Südhimmels. Einige erscheinen wie Blutstropfen. Bisweilen findet man z. B. im Sternbilde des südlichen Kreuzes – über hundert Sterne von rother, blauer, grüner Farbe so zusammengedrängt, daß sie, durch große Fernröhre betrachtet, wie ein Geschmeide von bunten Edelsteinen prangen. – Man hielt früher diese verschiedenen Sternenfarben für eine optische Täuschung; spätere Forschungen haben jedoch bewiesen, daß diese Farben jenen Himmelskörpern eigenthümlich sind. Ein Beweis dafür ist auch, daß es Sterne giebt, die im Laufe der Jahrtausende – freilich in anderem Sinne als im politischen Leben der Menschen – ihre Farbe gewechselt haben. So kennt das hohe Alterthum z. B. den Sirius als einen rothen Stern – die Römer nannten ihn darum canicula rubra – während er heutzutage in vollkommen weißem Lichte strahlt.
Aber nicht blos ihre Farbe, hauptsächlich auch ihre Lichtstärke ändern die Fixsterne mit der Zeit. Es giebt manchen Stern, der früher weit heller funkelte als gegenwärtig, und wieder manchen, der jetzt heller leuchtet als früher. So ist z. B. der Stern Atair im Bilde des Adlers erst in den letzten Jahrhunderten zu einem Sterne erster Größe emporgewachsen. Ein noch auffallenderes Beispiel bietet der bekannte Himmelswagen. Alle sieben Sterne haben in gar nicht zu langen Zeiträumen ihre Lichtstärke geändert und zwar in so hohem Grade, daß jener Radstern, welcher den drei Deichselsternen zunächst steht und der uns als Stern dritter Größe erscheint, früher zu den hellleuchtendsten gehörte; also um eine volle Sternenlichtgröße gesunken ist.
Eine nicht minder merkwürdige Erscheinung am Fixsternhimmel gewähren eine Anzahl Sterne, deren Lichtwechsel vollkommen periodisch, deren Lichtab- und Zunahme von den Astronomen auf das Genaueste berechnet und die deshalb veränderliche Sterne genannt werden. Solche Sterne kennt man bis jetzt einige zwanzig. Einer der merkwürdigsten dieser Gattung befindet sich im Sternbilde des Wallfisches und er führt seiner wunderbaren Erscheinung wegen auch den Namen Mira, der Wunderbare. Dieser Stern glänzt bisweilen als Stern zweiter Größe, leuchtet allmälig schwächer und schwächer, bis er dem unbewaffneten Auge unsichtbar wird. Hat er sein kleinstes Licht erreicht, steigt er wieder zur frühern Größe. Die Zeit seiner Abnahme dauert gewöhnlich 66 Tage; seine Zunahme etwa 40 Tage. Doch haben in der Ab- und Zunahme Schwankungen stattgefunden. So brauchte er im Jahre 1840 61 Tage, um von der sechsten zur zweiten Größe aufzusteigen und 50 Tage, um zur größten Kleinheit herabzusinken. – Ein anderer Stern mit periodischem Lichtwechsel ist ein Stern der zweiten Größe, Namens Algol im Sternbilde des Perseus. Dieser hat das Eigenthümliche, daß er binnen 69 Stunden nur 8 Stunden lang eine Verdunklung erleidet. Die Abnahme, wo er von der zweiten Größe zur dritten herabsinkt, dauert vier Stunden, die stärkste Verdunklung währt nur achtzehn Minuten; dann steigt er binnen vier Stunden wieder zur frühern Größe, in welcher er ungeschwächt bis zur nächsten Verfinsterung leuchtet.
[380] Die Astronomen haben mehrere Muthmaßungen aufgestellt, wodurch sie diesen periodischen Lichtwechsel zu erklären suchen. Sie sagen: die veränderlichen Sterne sind wahrscheinlich Sonnen, die sich wie die unsre um ihre Axen drehen und ähnliche Flecken in ihrer Lichthülle zeigen. Kehren sie uns die fleckenlose Seite zu, müssen sie natürlich glänzender erscheinen; und lichtärmer, sobald die dunklere Seite hervortritt.[2] Alsdann nimmt man dunkle Körper an, die nach Art unserer Planeten sich um jene Sonnen bewegen und sobald sie zwischen unser Auge und den Centralkörper treten, denselben zeitweilig verfinstern. Eine dritte Ansicht geht dahin, daß jene periodischen, lichtwechselnden Sterne keine Kugel-, sondern Linsengestalt hätten und darum uns bei ihrer Axendrehung bald die volle, bald die schmälere Seite zukehrten. Diese Meinung gilt jedoch für sehr gewagt.
Eine noch wunderbarere Erscheinung aber als selbst die periodisch veränderlichen Sterne bieten die sogen. neuen Sterne dar. Obschon nur selten, – von 1500 bis 1800 sind nur acht beobachtet worden – leuchten urplötzlich große, zeither unbekannte Sterne auf, die eine Zeitlang prachtvoll strahlen, in der Regel einem Farbenwechsel unterworfen sind, nach einiger Zeit schwach und schwächer werden, bis sie den Augen entschwinden. Der merkwürdigste dieser Sterne erschien im Jahre 1572. Der große Astronom Tycho de Brahe kehrte eines Abends von seinem chemischen Laboratorium heim. Plötzlich gewahrt er zu seinem nicht geringen Erstaunen einen zeither völlig unbekannten großen, herrlichen Stern im Bilde der Cassiopeja. Sein Glanz kam dem der Venus in ihrem stärksten Lichte gleich, so daß scharfe Augen ihn selbst am Tage erkannten. Tycho de Brahe, als er diesen Stern zuerst erblickte, glaubte seinen eigenen Augen nicht zu trauen. Er rief einige Leute herbei. Alle sahen den Stern. Derselbe nahm bereits im selben Jahre von seinem Lichtglanze ab, bis er nach siebzehn Monaten völlig unsichtbar wurde. Er unterlag während seines Erscheinens dem merkwürdigsten Farbenwechsel. Im Anfang strahlte er in silberweißem Lichte, ging dann durch das Gelbliche ins Rothe über und nahm vor seinem Verschwinden wieder eine schwache Silberfarbe an. Man hielt ihn daher früher für eine in Flammen auflodernde Welt. Später hat eine freundlichere Ansicht Platz gewonnen. Es ist nämlich nicht ganz unwahrscheinlich, daß dieser Stern in gewissen periodischen Zeitläufen schon früher da gewesen. Man hat sogar eine Periode von dreihundert Jahren ausfindig gemacht. Demnach müßte er noch im Laufe dieses Jahrhunderts wiederkehren und würde alsdann den veränderlichen Sternen von längerer Periode beizuzählen sein. Eine höchst merkwürdige und noch nicht erklärte Erscheinung bei den neuen Sternen ist ihr urplötzliches Aufflammen und zwar im höchsten Glanze, während die Lichtabmahme nur nach und nach stattfindet.
Alle Weltkörper, die wir am Himmel erblicken, Sonne, Mond, Fixsterne, Planeten und Kometen, stehen in der Wirklichkeit nicht an dem Orte, an welchem wir sie sehen, sondern stets etwas tiefer. Nur diejenigen Sterne, die grade über uns, im Scheitelpunkte leuchten, erscheinen fast an dem Punkte, den sie im Weltraume wirklich einnehmen. Diese Erscheinung erklärt sich folgendermaßen. Unsere Erdkugel ist bekanntlich mit einer Lufthülle, die wir Atmosphäre nennen, umgeben. Die Lufthülle besteht aber aus zahlreichen Luftschichten von abnehmender Dichtigkeit; je weiter sie sich von der Erde entfernen, desto dünner werden diese Schichten. Nun denke man sich einen Stern, der Millionen Meilen draußen im Weltall steht, also weit erhaben über unserer Lufthülle, die ungefähr zu sechs Meilen Höhe angenommen wird; er sendet den Lichtstrahl nach unserer Erde. Dieser Lichtstrahl, sobald er auf die äußerste Luftschicht trifft, wird nach einem bekannten physikalischen Gesetze gebrochen; ebenso wie das Licht eines Stabes gebrochen wird, den man in eine klare Wasserfläche hält. Bei der nächsten Luftschicht erfolgt eine abermalige Brechung und so durch all die verschiedenen Schichten, daß der Lichtstrahl, ehe er unser Auge trifft und Kunde von der fernen Welt giebt, in den unterschiedlichen Luftschichten eine gekrümmte Linie beschreibt. Wir sehen nun natürlich den Stern in derjenigen Richtung, welche sein Lichtstrahl in der uns zunächstgelegenen Luftschicht genommen hat. Fällt der Strahl jedoch senkrecht auf unser Haupt und Auge herab, dann kann er sich nicht brechen und darum erblicken wir die Sterne im Zenith fast in ihrer natürlichen Stellung. Die Abweichung des scheinbaren Standpunktes von dem wahren nimmt ab, je mehr sich der Stern dem Horizonte nähert und sie erreicht unmittelbar am Horizonte ihre größte Ausdehnung, wo sie einen halben Grad oder eine Vollmondsbreite beträgt. Befinden wir uns also auf dem Meer oder in einer Ebene, wo der Horizont weder durch Berg noch Wald verdeckt ist und der Mond oder die Sonne stehen mit dem untersten Stande ihrer Scheibe grade auf der Horizontlinie, so sind beide Himmelskörper in der Wirklichkeit noch nicht aufgegangen. Sie würden sofort verschwinden, wenn eine allmächtige Hand urplötzlich die Lufthülle oder Atmosphäre hinwegziehen wollte; denn eben der Strahlenbrechung in dieser Lufthülle verdanken wir es, daß wir die himmlischen Lichter beim Aufgange ein paar Minuten früher erblicken und beim Untergange länger genießen. Für die Bewohner der Polargegenden ist diese Strahlenbrechung von wesentlichem Nutzen. Da bei ihnen die Sonne sich geraume Zeit am Horizonte entlang bewegt, so bekommen jene Völkerschaften das Sonnenlicht wochenlang früher zu Gesicht, ehe die Sonne in Wirklichkeit über ihrem Horizonte steht, und genießen es wochenlang noch, wenn die Sonne in Wirklichkeit schon untergegangen ist, durch welche wohlthätige Einrichtung der Natur die lange Polarnacht wesentlich verkürzt wird. – Die Berechnung des wahren Standes der Sterne bei den mannigfachen Strahlenbrechungen in den verschiedenen Luftschichten gehört aber zu einer der schwierigsten Aufgaben der Astronomie.
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Blätter und Blüthen.
Weiße Sklaven in England. Onkel Tom und die großartige Petition der englischen Damen hat einzelne Männer und Zeitungen auf den Gedanken gebracht, zuzusehen, ob es innerhalb der weiten Grenzen englischer Besitzungen nicht auch etwas abzuschaffen gäbe und ob alle englische Unterthanen wirklich so frei seien, daß man sich schon genöthigt sähe, sich um die Freiheit in andern Welttheilen zu bekümmern.
Da ist’s denn bald herausgekommen, daß England in seinen indischen Besitzungen allein wenigstens zwanzigmal so viel Sklaven habe als Amerika. Ein Mann in Manchester, Mr. Bright, hat in einer öffentlichen Rede bewiesen, daß auf jeden englischen Sklaven in Indien jährlich blos eine halbe Elle Kattun komme, in Amerika auf jeden schwarzen Sklaven 10 Ellen. In Amerika behandle man die Sklaven wenigstens als Hausthiere und als Arbeiter, die Geld machen und deshalb gut gehalten werden müssen. Die Engländer in Indien dagegen nähmen den unterjochten Indiern Alles, was sie eben kriegen könnten, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß man ihnen auch künftig wieder etwas nehmen könne.
Doch das ist zu weit gegangen. England hat innerhalb seiner engern Grenzen in Europa auch mehr weiße Sklaven als Amerika schwarze. Dahin gehören fast alle Fabrikarbeiterinnen und Mädchen, die mit der Nadel arbeiten, auch viele Pächter, Buchhalter und Kaufmannsdiener, vor Allem aber die Londoner Omnibuskutscher mit ihren Conducteurs. Wenigstens 3000 Omnibus (ohne die Cabs und Droschken, die bis zu 12,000 steigen) durchkreuzen die ungeheuren Ausdehnungen Londons alle Tage von 8 Uhr Morgens bis 12 Uhr des Nachts. Jeder Omnibus beschäftigt durchschnittlich 3 Personen. Manche Omnibus-Eigenthümer haben 4–800 Pferde. Zu jedem Omnibus werden 12–14 Pferde gehalten. Jedes Pferd macht durchschnittlich nur eine große Tour durch London und hat außerdem wöchentlich einen Ruetag. Die Pferde, mit theurem Gelde bezahlt, werden gut behandelt, aber die Kutscher und Conducteure, die umsonst zu haben sind, ohne Ruh und Rast abgequält, bis sie vor Krankheit und Alter nicht mehr können. Dann steigen andere auf ihren Platz und Niemand bekümmert sich mehr um sie. „Ruhen Sie aus, wenn Sie todt sind!“ gab ein Omnibus-Eigenthümer einem seiner Kutscher zur Antwort, als er ihn um einen „Sonntag“ zum Ausruhen bat. Jeder Omnibus befördert durchschnittlich 300 Menschen täglich, 2000 die Woche, alle 3000 also 6 Mill. wöchentlich oder 300,000,000 im Jahre, ein Drittel so viel, als die ganze Erde Bewohner hat. Die Einnahmen daraus betragen jährlich etwa 28 Millionen Thaler, die ein Kapital von etwa 210 Millionen Thalern repräsentiren. Ungefähr 11,000 Menschen sind die Sklaven dieses so angelegten Kapitals, die Meisten mit Weibern und Kindern, mittelbar also 30–40,000 Sklaven in einer einzigen Geldverwerthungsanstalt einer einzigen englischen Stadt. Viele Männer sehen ihre Kinder Jahre lang blos schlafend, im Bett.
Die Omnibuskutscher werden von „Zeithaltern“ (time-keepers) controlirt. Der Time-Keeper ist ein Mann, der Jahre lang alle Tage ohne Ausnahme von 9 Uhr Morgens bis 11 Uhr Nachts ununterbrochen an einer bestimmten Straßenecke steht oder auch zuweilen sitzt und die Zeit verzeichnet, in der jeder Omnibus vor ihm vorbeifährt. Er frühstückt, ißt Mittag und Abendbrod immer auf der Straße, an derselben Ecke, immer allein, ohne Unterschied, mag die Sonne auf seine Schüssel brennen oder Regen und Schnee hineinfallen. Auf seine Familie, seine geistigen Bedürfnisse, seine Ansprüche als Mensch wird nie die geringste Rücksicht genommen. So ist’s mit dem Kutscher, so mit dem Conducteur.
Der Begriff der Sklaverei ist sonach in dem freien Lande sehr vollkommen ausgebildet und verwirklicht.
Wären die Leute Geld werth, wie die Pferde, der Eigenthümer würde sie wohl ziemlich eben so menschlich behandeln, wie diese Pferde; er würde finden, daß die Leute besser gedeihen, wenn man ihnen zuweilen einen Ruhetag gönnte. Aber da sie kein Geld werth sind (finden sich doch zu der Stelle jedes unbrauchbar Gewordenen ganz umsonst Dutzende – ), so verbraucht er sie ohne die geringste Rücksicht auf die Folgen, denen die Opfer unterliegen.
Die Heiligung des Sabbaths ist in unserer modernen Zeit eine Heuchelei, ein Spott geworden; die Nothwendigkeit des Sonn-, Feier- und Ruhetags aber um so ernster und dringlicher. Die einförmige Berufs- und Fabrikarbeit zerstört den Menschen geistig und körperlich, wenn er sich nicht öfter erholen, erheben und an der Fülle des Lebens mit andern Bildern, als denen seiner dunkeln Arbeitshöhle, bereichern kann. Ein Volk ohne Sonn- und Feiertage muß bald moralisch und materiell versinken. Jeder muß in bestimmten Fristen eine Zeit leben, wo er seinen von Arbeit gekrümmten Rücken erheben, sein müdes Auge aufschlagen kann zum blauen Himmel und weiden auf der grünen Erde. Er muß sich erholen, erheitern und Welt und Leben überschauen können, um nicht zu erblinden und zu verdummen in einem ewigen, einförmigen Arbeitskäfig.
Aber freilich selbst der eifrigste Sabbatharianer wagt es dieser industriellen, dampfbeschwingten, golddurstigen Zeit gegenüber nicht mehr, auf eine absolute Sonntagsfeier zu bestehen. Einige und zwar nicht wenige, müssen auch Sonntags arbeiten, wenn diese moderne Welt nicht jeden Sonntag so aus den Fugen gerathen soll, daß man allemal die ganze Woche zu thun hätte, sie nur wieder in Ordnung zu bringen. Dienstboten, Bäcker, Zeitungssetzer, Postbeamte, Seeleute, Aerzte werden immer auch des Sonntags arbeiten müssen. Man wird nun allerdings auch nicht
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Aber kann London ohne Omnibus an Sonntagen bestehen? Es könnte vielleicht an Sonntagen, aber dann nicht an den Wochentagen. Ohne Omnibus wären Tausende von Menschen nicht im Stande, in die freie Luft zu kommen, sich zu erholen. Ohne Erholung würden sie während der Woche unter ihrer Arbeit erliegen.
Also keine Erlösung für diese 11,000 Menschen? Vom „unchristlichen“ Standpunkte wäre man bald fertig und verlangte einfach Stellvertreter, wenn die Andern ausruhen. Der christliche Engländer ist aber damit nicht zufrieden und verlangt für jeden Christen einen christlichen Sonntag, nicht blos einen Ruhe- und Erholungstag. Es ist ächt englisch, wie man sich hier zu helfen sucht.
Ein englisches Blatt sagt: Warum haben starkgläubige Juden so gern christliche Dienstboten? Weil diese ohne Gewissensbisse an ihren Sabbathen arbeiten können. Nun warum machen wir’s nicht ebenso? Laßt uns an Sonnabenden für die Juden arbeiten, damit die Juden an unsern Sonntagen unsere Arbeit thun. „Die Juden haben ihre weltgeschichtliche Aufgabe noch nicht gelöst, sonst wären sie längst als solche verschwunden, wie andere Völker. Es ist noch etwas Grünes an ihnen, aus dem Blätter und Früchte hervorbrechen wollen. In ihnen steckt noch ein Geheimniß, das aufbewahrt wird für einen bestimmten günstigen Zeitpunkt. Ein Theil dieses Geheimnisses ist ihr Sabbath. Er wird mit dem christlichen Sonntage einen Bund schließen und die Sonntagsarbeit übernehmen, während die Christen es sich zur Pflicht machen, Sonnabends für die Juden zu arbeiten.“
Das ist, wie gesagt, ächt englisch, gut hochkirchlich, wird aber wohl schwerlich zu dem Rufe hoher Weisheit kommen. Mit solcher christlichen Genialität befreit man weder schwarze, noch weiße Sklaven.
Wir wollen hier auch nicht mediciniren, sondern schildern. Mit den Juden geht’s nicht, so lange die christlichen Engländer noch alle Tage, und besonders an Sonntagen, überall wie hungrige Raben über die Omnibusse herfallen, um hinein oder hinauf zu kommen, ehe sie „voll“ sind. Die Omnibus-Eigenthümer befriedigen nur ein starkes Bedürfniß des Publikums, indem sie Tag für Tag so billig als möglich überall Omnibus laufen lassen.
Die Schuld der „Sklaverei“ liegt also nicht in den Omnibusherren, sondern in der ganzen englischen christlichen Gesellschaft. Sie „machen“ alle eben so rücksichtslos gern „Geld,“ wie die Amerikaner und die ostindische Kompagnie, die als Bestandtheil der englischen Regierung 60 Millionen Sklaven viel schlechter behandelt, als die Amerikaner ihre wenigen. In Amerika drüben ist man nur ehrlicher. Der Engländer ist in seiner Gläubigkeit viel feiger, und nirgends giebt es so viele Heuchler, als unter den Engländern. Die Omnibusherren, statt ehrlich vor die Oeffentlichkeit zu treten oder sich zu bessern, suchten nur „den Schein zu retten“ und als Sklavenbesitzer zugleich gute Christen zu bleiben.
Unlängst erschienen Zeugnisse von Omnibuskutschern und Conducteurs in den Zeitungen mit einer schweren Menge Unterschriften zu Gunsten der Omnibusherren. Wir haben die besten Herren, die beste Behandlung, die beste Bezahlung, hieß es darin, wir sind glücklich mit Weib und Kind und danken es unsern Brodherren. Möge der Himmel sie dafür reichlich belohnen!
Diese Zeugnisse hatten sich die Omnibusherren selber geschrieben. Die zahlreichen Unterschriften dazu bekam man von den freien Männern auf folgende Weise.
An den Endpunkten der Omnibuslinien sind fast ohne Ausnahme Bierhäuser mit mehreren Zimmern. Wenn nun ein Omnibus angekommen war, wurden Kutscher und Conducteur in ein solches Zimmer gerufen und ihnen der Wunsch geäußert, das besagte Zeugniß zu unterschreiben. Es stehe ganz in ihrem Belieben, ob sie wollten oder nicht; aber wenn sie die Gefälligkeit nicht hätten, würden sofort ein anderer Kutscher und ein anderer Conducteur vom Omnibus draußen Besitz nehmen.
Die freien Kutscher und Conducteure sahen im Geiste ihre bleichen Frauen, ihre vor Hunger schreienden Kinder und – unterschrieben.
Der amerikanische Schwarze hat 10 Ellen jährlich von eurer Baumwolle, der englische Unterthan in Indien eine halbe, und die Hälfte der Fabrikarbeiter im Mittelpunkte des Reichs ihren ersten Ruhetag am ersten Tage ihres Todes.
N. S. Die jüngste Arbeitseinstellung der Londoner Droschkenkutscher (nicht zu verwechseln mit den hier geschilderten Omnibuskutschern), welche durch eine die Fahrpreise herabsetzende Parlamentsbill hervorgerufen wurde, hat übrigens in ihrem Verlaufe und Ausgange gezeigt, daß wenigstens dieser Theil der Londoner Kutscher seine Unabbängigkeit zu wahren wußte und vielmehr dem Parlament und gesammten Publikum in gewisser Weise ihre Sklaverei ihm gegenüber zu fühlen gab. D. Red.
- ↑ Fast alle Seehandel treibende Nationen sind deswegen hier durch Consuln vertreten.
- ↑ Auch die eben besprochene nicht periodische Ab- und Zunahme des Sternenlichts will man durch Anhäufung oder Verminderung von dunkeln Stellen – ähnlich unsern Sonnenflecken – in der Lichtatmosphäre jener Welten erklären.