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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[363]

No. 34. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Die Geisterbeschwörer in Berlin.

(Wirkliche Begebenheit aus den dreißiger Jahren.)

Die Religion der alten Aegyptier, d. h. die göttliche Verehrung alles Geheimnißvollen, zieht sich noch immer mächtig durch das Jahrhundert der Eisenbahnen, electrischen Telegraphen und Gaslaternen hin. In allen Ständen liebt man noch Geheimräthe, geheime Künste des Wahrsagens, Tischklopfens und Geisterbeschwörens. In einer so nüchternen Zeit als der unsrigen hat das Mystische sogar Aussicht auf besonders gute Geschäfte. Der Mensch liebt es, sich zuweilen einmal zu „graueln,“ wie er gern einmal Einen über den Durst trinkt, zumal wenn Wasser und Bier und Gesellschaft und Geschäfte schal sind. So nur erklärte ich mir die glänzenden Equipagen, die so oft in der Linienstraße zu Berlin vor der Wohnung des ehemaligen Schneiders Sohn, dem Wahrsager, und früher vor dem alten Hause in der Markgrafenstraße hielten, wo berühmte Geisterbeschwörerinnen ihr wunderbares Wesen trieben. Das Haus war gut gewählt: die Sage hatte es geweiht und mit einer mystischen Atmosphäre umgeben. Verschiedene Geschäfte und Juden waren darin, der Sage nach, seit Jahrhunderten immer unglücklich gewesen, zuletzt ein böhmischer Glasfabrikant, der mit einem Geheimnisse Spiegelgläser machte, wie Niemand in der Welt. Er machte die glänzendsten Geschäfte, hing sich aber doch eines Nachts mit seinem Geheimnisse auf und brachte das Haus so in Verruf, daß es 13 Jahre lang leer stand, bis es zwei geheimnißvolle alte Jungfern, die Niemand kannte, mietheten und schon dadurch allein in dem Heiligenscheine des Grauelmachenden erschienen.

Oft hieß es beim Weißbiere und einem kleinen Kümmel, daß sie mit dem russischen Gesandten in Verbindung ständen und mit völlig unbekannten Tropfen allerlei Krankheiten heilen könnten. Endlich wollte man wissen, daß sie Todte auferwecken und leibhaftig citiren könnten, so daß sie gefragt, mit hohler Stimme Antwort gäben.

Bald war in allen Kreisen von den Geisterbeschwörern die Rede, und als es hieß, ein citirter Verstorbener habe einen lebendigen Verwandten durch die Enthüllung, daß ihm die letzten 10,000 Thaler mit falschen Karten abgewonnen worden seien, die nun ihm, dem Ueberlebenden, gehörten und bei dem Schuldiger in Breslau abgeholt werden könnten, wirklich zu diesen [364] 10,000 Thalern verholfen, schwammen die beiden Geisterklopferinnen überall ganz oben in den Stadtgesprächen. Alle Tage vermehrte sich die Liste ihrer Wunder. Ein Tischler sollte sogar durch diese „Media“ von seinem verstorbenen Großpater das geheime Recept zu einer vorzüglichen Politur erfahren haben. Daß einige subalterne Postbeamte mit den geheimnißvollen Damen in Verbindung stehen sollten, von denen Einer 5000 Thaler von einem citirten Verstorbenen ausgezahlt bekommen habe, erhöhte noch den Reiz der Absurdität. Des heiligen Augustinus Glaubenssatz: „Credo quia absurdum“ (ich glaube, weil es Unsinn ist) ist gar nicht so absurd, als er scheint.

Während die beiden Damen in der Blüthe ihres Ruhmes standen und einige Geistliche Sonntags nicht undeutlich auf dieses verdammte Satanswerk anspielten, wurden wir, d. h. ich und ein sehr liebenswürdiger und reicher anderer Student von hoher Familie mit einem noch anderen Studenten aus russisch Polen bekannt, der Petermann hieß und die Damen und ihre alte, wieder aufgefundene Kunst hartnäckig gegen uns Spötter vertheidigte und in seiner Weise den ganzen Proceß des Geisterbeschwörens auch zu erklären verstand. Er sagte: es giebt eine geheimnißvolle Flüssigkeit über dem Magnetismus und der Electricität, in der die Geister leben. Nun haben die Damen eine andere Flüssigkeit entdeckt, welche auf diese, worin die Geister leben, so wirkt, daß sie sich zusammenzieht und die Geister mit. Wer dann gerufen wird, zieht sich rasch aus den verschiedenen Luftarten, aus denen alle körperlichen Gegenstande chemisch zusammengesetzt sind, vermittelst seiner befreiten höhern Macht rasch einen Körper und die nöthige Kleidung dazu zusammen und – erscheint. Es machte uns unendlich viel Spaß, mit dem höhern Geisterkleidermacher zu disputiren. So wurden wir immer bekannter und ließen uns endlich bereden, uns durch die Damen eine Frage an das Schicksal frei zu machen.

Heinrich, mein liebenswürdiger, reicher Freund, hatte einen Bruder als Lieutenant in Breslau, von dem Petermann und die Damen nichts wissen konnten, von dem aber wir durch einen Brief erfahren, daß er sehr fidel und wohlauf sei und mit Glück spiele. Heinrich überredete mich, den Damen und den Gläubigen und besonders den höhern polnischen Flüssigkeiten Petermanns einen Possen zu spielen. Wir verkleideten uns und gingen Abends 8 Uhr stracks auf das „verwunschene“ Haus, wo die Verstorbenen alle erscheinen mußten, wie gut dressirte Hunde, denen man pfeift, mit dem Plane los, den „längstverstorbenen“ Bruder Heinrichs, den lustigen Hazardspieler und Lieutenant in Breslau, aus seinem Grabe rufen zu lassen, während er beim Spieltische und Champagner sich göttlich des Lebens freuen mochte in echt lieutenantischer Weise.

Ein grauhaariges, grauliches, grauenhaftes weibliches Wesen, nicht unähnlich einem vollkommenen Viereck, öffnete uns halb die Thür zu dem Geisterhause. Sie musterte uns sehr scharf, führte uns dann durch einen dunkeln Corridor in ein hinteres Zimmer mit drei Thüren und sehr geisterhaft aussehenden Meubles. Nur die Lampe schien dem gegenwärtigen erleuchteten Jahrhundert anzugehören und konnte sogar von dem Erfinder der höhern Lampenputze, Herrn Löff, sein.

Die beiden Geisterbeschwörerinnen ließen nicht lange warten und traten mit feierlicher Höflichkeit ein. Die eine schien ein deutsches, die andere ein slavisches Gesicht zu haben, aber Beide sahen sehr complicirt und schlau aus hinter ihrer Feierlichkeitsmaske.

Heinrich erzählte seine Geschichte mit einem so täuschenden Ausdruck von Schmerz und Trauer, als wär’ er einer der talentvollsten Tragödienspieler. Nachdem er geendet, fragte die slavische Dame sehr scharf: „Sind Sie auch ganz sicher, daß Ihr Bruder todt ist, ganz überhaupt?“

„Ganz, ganz sicher,“ antwortete Heinrich mit einem tiefen Seufzer, bei welchem er sich bald verrathen hätte, so schwer konnte er das Lachen bergen. Und mit hohler, feierlicher Stimme fragte sie jetzt, jedes Wort langsam und einzeln betonend: „Fühlen – Sie – Muth – genug –, junger Mann –, einem – dahingeschiedenen – Geiste – zu – begegnen –, ihm – in – das – Auge – zu – sehen –, zu – ihm – zu – sprechen – und – zu – vernehmen – seine – Antwort?“

„Bin’s,“ antwortete Heinrich wie ein Jaromir im letzten „Bins.“

„So will ich ihn rufen,“ antwortete sie, feierlich, kalt, eintönig; „mein Planet hat heute Macht. Doch vernehmen Sie vorher meine Warnung. Was Sie auch hören und sehen, schweigen Sie zu Allem und beschränken Sie sich lediglich auf die Worte, die Sie an den Dahingeschiedenen richten wollen; Sie können nicht wissen und wir eben so wenig, welche ungehörige Laute das feine Gewebe der Gesetze, welche hier durch eine alte, durch Fasten und Beten wieder aufgefundene Wissenschaft aufgerufen werden, etwa stören könnten. Folgen Sie mir!“

Wir folgten mit der Miene furchtsamer Handwerksburschen, deren Kleidung wir angezogen. Die andere Dame zog ein seltsames Buch aus der Tasche und setzte sich bei die Lampe. „Ich lese während jeder solchen Thätigkeit meiner Freundin Gebete,“ sagte sie und blieb zurück.

Die Thür schloß sich wie von selbst hinter uns, was jedenfalls mit zum „Geschäft“ gehörte, und wir befanden uns in einem blos mondscheinerleuchteten Raume. Vor uns sahen wir eine Art von Theater mit einer Todtenurne vorn und einer großen Vase. Die Dame ergriff letztere, goß eine Flüssigkeit in die Todtenurne, aus welcher sogleich mit seltsamem Geräusch eine stark riechende blaue Flamme, die bei mysteriösen Gelegenheiten nie fehlen darf, prasselnd aufloderte und das Theater erleuchtete. Es schien eine unendliche Perspective zu haben, wenigstens verlor sich das Auge in ein ganz unbegrenztes Dunkel. Wir hatten Beide ziemlich viel Chemie getrieben und glaubten die Gerüche aller möglichen chemischen Processe zu kennen. Dieser hier, der zum „Zusammenziehen“ der Geister gehörte, war uns absolut fremd.

Jetzt breitete die dunkele Dame ihre Hände gegen die blaue Flamme aus und forderte den Geist in einer uns ganz unbekannten Sprache auf (wenigstens dachten [365] wir so), zu erscheinen. Sie wiederholte die Worte dreimal, beugte sich dreimal und sank dann auf die Kniee. Sofort hörten wir ein dunkles, unterirdisches Stöhnen und sahen auf einer dunkeln Fläche Lichter und Schatten spielen, die sich wie auf einen Blitz in die deutlichste, lebensgroße Gestalt von Heinrichs Bruder verwandelten. Die Aehnlichkeit war sprechend und erschreckte uns bis in’s Innerste mitten in unserem Unglauben. Er trug die Uniform seines Regiments, an der man jeden Knopf zählen konnte.

Heinrich zitterte. Die Dame rief in scharfem Tone: „Sprich zu Deinem Bruder im Namen des alten Glaubens!“

Er versuchte zu sprechen, aber er, der Ungläubigste, der sich blos einen Spaß hatte machen wollen, war jetzt von der Gewalt der Gegenwart des Mystischen, Unerklärlichen so erschüttert, daß er keine Worte herausbrachte.

Der Geist in preußischer Offizier-Uniform bewegte sich etwas und rief dann mit einer dünnen, hohlen Stimme, wie aus einer tiefen Höhle, ohne seine Lippen zu bewegen: „Warum beunruhigst Du den Todten? Ist Dir noch nicht bekannt, daß ich vor 3 Tagen im Zweikampf mit dem Capitän M. blieb, nachdem ich ihm seinen letzten Thaler abgewonnen und er mich beleidigte? Geh’ und führe ein besseres Leben als ich.“ Geist und Flamme verschwanden und der Mond schien wieder herein, als wär’ er bei der Sache stark betheiligt gewesen.

Schweigend öffnete die Dame das Zimmer, schweigend gingen wir hinaus, nur von dem viereckigen auf der Flur aufgehalten, das die Herren in der Regel immer nachher bezahlten. Heinrich gab ihr schweigend die 10 Thaler, die der Sage nach das übliche Honorar waren, und ging draußen schweigend neben mir hin. „Wo ist nun Dein Spaß?“ sagte ich. „Wie kannst Du Dich von einem solchen offenbaren, wenn auch gelungenen Schwindel nur einen Augenblick bethören lassen?“

„Wir hatten nicht beachtet,“ antwortete Heinrich, „daß mein Bruder in mehreren Briefen erwähnte, wie gespannt er mit dem Capitän lebe und daß er sich noch mit ihm zu schießen hoffe, da er beim Spiel in der Regel sehr anzüglich werde und Offizier-Ehre keinen Hauch vertragen dürfe. Wir wollen sehen. Ich fürchte: die Geisterwelt ist nicht verschlossen.“

All’ mein Lachen, Spotten und Trösten half nichts. Er nahm von mir schwermüthig Abschied.

Am nächsten Morgen ward ich von Heinrichs Stiefelwichser auf meinem Wege in’s Colleg beinahe umgerannt: so athemlos stürzte er mit einem offenen Briefe auf mich zu.

Da! Richtig. Die officielle Nachricht, daß Heinrichs Bruder im Duell geblieben.

Jetzt war’s auch mit meinem Rationalismus aus, noch mehr, als ich Heinrich im wahnsinnigsten Fieber traf und phantasiren hörte. Das machte Aufsehen, und zwar so viel, daß die beiden Damen (man sagt: auf Geheiß der Polizei) schon am folgenden Tage es für’s Beste hielten, spurlos verschwunden zu sein.

Unter seiner Mutter Pflege erholte sich Heinrich wieder so weit, daß er mit ihr eine Reise durch die Schweiz, Italien und Frankreich machen konnte. Auch ich wurde Reisender und zwar als eine Art Hauslehrer, Dolmetscher und Gesellschafter einer Familie, die sehr bedeutend an Reichthum, Trägheit und Hypochondrie erkrankt war.

Wir reisten durch halb Europa und ich entdeckte in den meisten großen Städten Spuren von der Wirksamkeit der beiden Geisterbeschwörerinnen. In Rom hatten sie Wunder gethan, in Paris gewahrsagt, in Wien Liebes-Elixire und Mittel gegen Gicht, Rheumatismus, kurzes Gedächtniß und chronische Schwerbegreiflichkeit verkauft. In Petersburg waren sie gänzlich verschwunden.

Von Heinrich hörte ich nur, daß er nach Vollendung seiner Reisen angefangen hatte, Astrologie, Nekromantie und allerhand schwarze Künste zu studiren. Für alte, zerfressene Bücher hatte er fast sein ganzes Vermögen hingegeben.

Etwa 15 Jahre später traf ich ihn wieder in Berlin, ohne ihn sogleich zu kennen. Er sah aus wie ein alter, halbverhungerter, vergessener Privat-Docent. Wir berührten unser Abenteuer nicht und er vermied mich sichtlich. – Ich pflegte meine Cigarren in einem kleinen Laden, in welchen ich einmal zufällig gekommen war, immer wieder zu kaufen, denn die alte dicke graue Hexe darin schien mir die genaueste Aehnlichkeit mit der zu haben, die uns das Thor zu unserm Abenteuer geöffnet hatte. Sie bestritt zwar Alles, so viel ich ihr auch bot, denn ich war überzeugt, sie könne mir endlich einen rationellen Schlüssel zu dem Abenteuer verschaffen. Was Geld nicht vermochte, gelang mir durch Erschütterung ihres Gewissens, als ich sie eines Abends spät ziemlich krank fand. Und so bekannte sie denn endlich, um ihre Seele zu reinigen, daß sie durch eine lange Röhre die Worte des Geistes gesprochen und dieser durch Vergrößerung eines Miniaturbildes, welches Petermann meinem Freunde Heinrich vom Zimmer gestohlen, entstanden sei (in der Weise der Nebelbilder), das war auch richtig. Heinrich hatte das Miniatur-Portrait seines Bruders vermißt, als er wieder von seinem Fieber zur Besinnung gekommen. Petermann war einer der Helfershelfer gewesen. Durch einen Polizeibeamten, der mich ärztlich zu Rathe zog, erfuhr ich später, daß die beiden Betrügerinnen hätten arretirt werden sollen, aber durch ihre Spione davon bei Zeiten benachrichtigt, sich vorher aus dem Staube gemacht und ihre Maschinerie im Stiche gelassen: Copiermaschinen, große Massen von copirten Briefen, eine Sammlung von Petschaften und Apparaten zum Abdrücken von Siegeln, kurz ein sehr vollständiges „schwarzes Cabinet.“ Daß mit ihnen fast gleichzeitig ein subalterner Postbeamter das Weite gesucht, brachte jene Nacht voll blauer Flammen und Wolfsschluchtmondschein vollständig an’s Licht und zum Verstande.

Mit diesen Mitteln curirte ich Heinrich vollständig. Er gab seine Versuche, den Schlüssel zum Göthe’schen „Hexeneinmaleins“ zu finden und auch seine astrologisch-nekromatische Bibliothek auf und setzt jetzt in seinen alten Tagen den Kleinkrämergeistern, die wie Holzwürmer in Tischen ihr Wesen treiben und ihn [366] von allen Seiten auffordern, mit Hand aufzulegen, eine stoische Verachtung entgegen.

Er hat den citirten Geist leibhaftig gesehen und sprechen hören, und wurde doch mitten in der Blüthe seiner naturwissenschaftlichen Gelehrsamkeit auf’s Schändlichste betrogen (d. h. er betrog sich) und sollte jetzt der feigen Stümperei mit Meubelziehen, unbeholfenem Buchstabiren und holzwurmartigen Ticken und Tücken die geringste Beachtung schenken? Diesem geistlosen, nüchternen Schwindel aus Amerika ohne Spur von blauen Flammen und von dem ganzen höhern, wirklich durchdachten Gepräge der geheimnißvollen Damen aus Petersburg?

Wir Beide blicken mit einer Art von Stolz auf die moderne Geisterwirthschaft herab, einer Art von Schafskopfspiel; wir ließen uns doch wenigstens auf eine geistreiche Weise betrügen. Der niedrigste Taschenspieler in Dorfschenken (Erwachsene 1 Sgr., Kinder die Hälfte oder eine halbe Metze Kartoffeln) leistet mehr, als der höchste Tischklopfer in seinen glücklichsten Stunden.




Aus der Gewerbswelt.

Mitgetheilt von Friedrich Georg Wieck.
Die Brütmaschine des Cantelo.

Man hat in alten Büchern und neuen Reisebeschreibungen von der künstlichen Ausbrütung des Geflügels in China und Aegypten gelesen. Die Einen erzählen uns von der wunderbaren Gewandtheit der Chinesen, junge Enten in’s Dasein zu rufen, und fabeln zugleich von einer Entengattung, die alle ihre Eier in ein Nest unter dem Wasser lege, und hinabtauche, um darauf zu brüten. Andere sprechen von den ägyptischen Mammellen oder Brütöfen, wissen aber nichts Anderes davon, als was sie sich von Anderen haben verdollmetschen lassen. Sie vermuthen dahingegen sehr stark, daß jenes ägyptische Brütverfahren als Familiengeheimniß Jahrtausende lang bewahrt worden sei, und deuten entfernt darauf hin, daß die Hühnereier wie die Straußeneier in der Sonne ausgebrütet würden. Letztere werden aber in der That eben so gut von der Straußhenne ausgebrütet, wie ein Hühnerei von der Henne. Nur Eier von kaltblütigen Thieren, wie von Fischen und Amphibien, kriechen in Folge der Einwirkung von Luft und Licht aus. - Cantelo, ein praktischer Naturforscher in England, hat sich die Vorgänge bei der natürlichen Ausbrütung der Eier des Geflügels zu einem langjährigen Studium gemacht, und dessen Ergebnisse zur Aufstellung eines Verfahrens und Zusammenstellung eines Geräths behufs der Ausbrütung durch künstlich erzeugte Wärme benutzt. Er zeigte ein solches Geräth, eine Brütmaschine, unter dem Namen „Hydro-Incubator“ zur Zeit der Ausstellung in London auf Leicester Square, und ich habe selbst damals die Maschine im Gange gesehen. Cantelo empfiehlt die Ausbrütung von Geflügel aller Art, zahmen und wilden, als ein gewerbliches Geschäft; und dem Vernehmen nach, wenn auch bis diesen Augenblick noch nicht unzweifelhaft glaubwürdige Berichte darüber vorliegen, sollen in der Gegend von London, in Paris und in Wien Apparate in Thätigkeit sein. Theophil Weiß in Prag baut, Zeitungsnachrichten zufolge, ebenfalls Brütmaschinen. Auf eine desfallsige Anfrage bin ich aber ohne alle Antwort geblieben, was eben nicht sehr zu Gunsten der Sache zu sprechen scheint. Das soll mich inzwischen nicht abhalten, hier einige Worte über das Verfahren der künstlichen Brütung zu sagen, da Cantelo’s Bericht darüber und seine Anweisung dazu, welche in der deutschen Gewerbezeitung, I. Heft 1853 in größter Ausdehnung zu lesen ist, von einem, die Natur durchdringenden Geiste zeugt und die Thatsächlichkeit jener Brütung außer aller Frage stellt. Ich kann hier nicht, als meiner Aufgabe zu weit ab liegend, auf naturwissenschaftliche Bemerkungen eingehen, auch nicht die Geheimnisse des Hühnerhofs und der Hühnerzucht zu enthüllen unternehmen, sondern ich will mich auf Festhaltung des technischen Gesichtspunktes beschränken, und daher einfach beschreiben, was ich in London sah. – Mehrere ähnliche Apparate wie derjenige ist, den wir in unserer Abbildung veranschaulichen, befanden sich in einem geräumigen Zimmer aufgestellt. Die Apparate waren von Tischhöhe und hatten große Aehnlichkeit mit einer langen Kommode. Zu beiden Seiten aber wird man die auszubrütenden Eier bemerken. Sie liegen unter wasserdicht eingekitteten Glasplatten, über welche fortwährend warmes Wasser hinwegläuft. Dieses Wasser wird in stets gleicher Temperatur durch eine Heizvorrichtung gehalten, deren obere Bedeckung in Form eines Topfes man in der Mitte des Apparats bemerken wird. Jene Wasser-Heizvorrichtung kann man sich wie einen mittels Spirituslampe warm gehaltenen Theekessel, oder wie einen durch glühende Holzkohlen beheizten Samavar (russischer Theekessel) vorstellen. Eine zu regelnde Gasflamme leistet gleiche Dienste. Die Eier liegen auf einem Springfederkissen, so daß kleine und große Eier nicht mehr und nicht weniger von der Glasplatte gedrückt werden. Auch können sie, in einer Schublade liegend, zum Behufe der Untersuchung und zur Entfernung der ausgekrochenen Küchlein, hervorgezogen werden. Diese finden ihren warmen, mit weichem Molton ausgefütterten Platz zunächst oben rund um den Heizcylinder. Dann werden sie in die untern Fächer eingesetzt, durch [367] welche Warmwasserröhren geführt sind, unter die sie kriechen, um sich zu wärmen, grade wie unter die Flügel der Glucke. So werden die kleinen Hühnchen nach und nach herangezogen und vorne auf der Klappe, wie man auf unserem Bilde sieht, gefüttert. Ebenso war es in Wirklichkeit. Ich sah mehrere Eier, aus denen die Küchlein auszukriechen im Begriff standen. Schon etwas erwachsenere Hühnchen liefen in der Stube umher. Die schöne Einrichtung der Brütmaschine von Cantelo liegt darin, daß sie von oben brütet, wie die Henne, und den Küchlein Wärme und Behaglichkeit gewährt, als befände es sich unter den Flügeln der Mutter.

Höchst unterrichtend sind Cantelo’s Mittheilungen über die Entwickelung des Hühnchens im Ei. Er sagt: „Viele Leute halten hartnäckig an der Meinung fest, daß die Brüthenne zu bestimmter Zeit die Eierschale zerbricht, um dem Küchlein herauszuhelfen; ja Einige gehen sogar so weit, dies gesehen haben zu wollen. Aber Alles ist Täuschung! Die Natur hat das Küchlein selbst mit einem passenden Werkzeug versehen, sich aus der Schale loszumachen. Und wenn nur der kleinste Theil der Eierschale durch eine äußere Gewalt zerbrochen wird – selbst dann, wenn sich das Küchlein schon ein Loch durchgearbeitet hat, wird sich dasselbe meistens verbluten, da die ganze innere Fläche der Schale mit zarten Aederchen und Blutgefäßen bedeckt ist, welche dazu dienen, dem noch unentwickelten Thiere Nahrung zuzuführen.

Brütmaschine von Cantelo

Hat das Küchlein die Schale durchbrochen, so liegt es etwa 12 Stunden lang ruhig, um Stärke aus der Luft zu ziehen und die Lungen an’s Athemholen zu gewöhnen. So wie es kräftiger wird, treten die seither außenliegenden Organe, die Eingeweide, in den Leib des Thieres, das Aderngewebe, womit die innere Fläche der Eierschale bedeckt war, findet seinen Platz im Hühnchen. Sobald diese Schale nun rein ist, macht das kleine Thierchen eine Wendung, während der Kopf unter dem rechten Flügel gebogen, der Schnabel auf den Rücken gelegt ist und die Füße vorgestreckt sind. Diese leichte kreisförmige Wendung hat zur Folge, daß eine kleine scharfe Spitze des Schnabels nach und nach die Schale zerschneidet. Wenn dies auf drei Viertel der Länge des Eis rundum geschehen ist, zerbricht auch der übrige Theil; das Ende der Schale öffnet sich wie der Deckel einer Büchse und das Küchlein schlüpft endlich heraus. In wenig Stunden ist es im Stande, zu stehen und zu laufen. Das übergebliebene Dotter und Eiweiß, was nicht zu seiner Bildung verwendet wurde, dient zu seiner Nahrung, bis es sich selbst helfen kann.

Das Ausbrüten des zahmen und wilden Geflügels durch künstliche Wärme kann in gewissen Fällen naturhistorisch und auch gewerbswirthlich von Nutzen sein. Kaum glaube ich aber, daß es im landwirthschaftlichen Betriebe Vortheile gewähren würde, obgleich Viele der Ansicht sind, daß, umsichtig geleitet, die Federviehzucht [368] viel einzubringen vermöge. Mir hat es immer geschienen, als ob Hühner, Enten und Gänse so nebenher auf den Gütern mit aufgezogen würden und sich ihr Futter im Hof und Garten selbst suchen müßten. Wenn man daher nicht wie in London 20 Neugroschen für ein junges Huhn oder ein Hähnchen erhalten kann, so ist wohl kein Geschäft zu machen. Sollen wir hier aber 20 Neugroschen für ein Backhändel geben, dann würde Niemand Geld haben, selbst „alte Henne mit Allerlei“ zu bezahlen.




Jean Paul Richter.

Ein Bild aus alter Zeit.

Die dem Volk in diesem Blatt bereits vorgeführten Schilderungen der Persönlichkeit zweier seiner edelsten Freunde, die von Gervinus und die „des alten Arndt,“ veranlassen mich, bis jetzt noch nicht veröffentlichte Beiträge zur Schilderung eines Mannes hier niederzulegen, der, wiewohl er zur Zeit dem eigentlichen Volke noch wenig bekannt und zugänglich geworden, dasselbe doch so tief im Herzen getragen als irgend einer unserer berühmten Landsleute; denn, unmittelbar aus demselben hervorgegangen, hat er es in der glänzendsten Epoche seines Lebens und Wirkens nie verläugnet, selbst als die vornehme Welt um sein Lächeln buhlte und ihn ausschließlich für sich in Anspruch zu nehmen suchte.

Ich sah Jean Paul zum erstenmale in Dresden als Student während der Osterferien 1822, als derselbe zu einem Frühlingsbesuche in das schöne Elbthal gekommen war, meine Familie ihm die Wohnung daselbst eingerichtet und, da seine Frau mit den Kindern in Baireuth zurückgeblieben war, während seiner Anwesenheit für seine gewohnten häuslichen Bedürfnisse sorgte. –

Es war auch damals und dort, wo er für mich die herzliche Theilnahme faßte, welche er mir bis auf seinem Todbette bewahrt hat, und die Veranlassung dazu ist zu charakteristisch für ihn, als daß ich dieselbe nicht an die Spitze dieser neuen Darstellung seiner Persönlichkeit stellen sollte.

Einer seiner Schwäger, mein Oheim somit ebenfalls, war August Mahlmann, der bekannte Dichter der so schönen Umschreibung des Vaterunsers und des satyrisch-burlesken Schauspiels Herodes vor Bethlehem. Derselbe, zugleich nach meines bereits 1805 verstorbenen Vaters Tode zu meinem und meiner Geschwister Vormund ernannt, war seitdem, namentlich in Folge des Besitzes der in den Kriegsjahren von 1813 Hauptquelle der Nachrichten vom Kriegsschauplatze gewordenen Leipziger Zeitung nicht nur ein sehr reicher, sondern, unter Anderm als Meister vom Stuhl der Leipziger Freimaurerloge, auch ein sehr einflußreicher Mann geworden. Dies glänzende Emporkommen und die mehr oder weniger offiziellen Verhältnisse, zu denen er dadurch gelangt, hatten ihm eine gewisse ängstliche Berücksichtigung dessen, was damals für gesellschaftlichen Anstand galt, aufgedrungen, und er wollte solchen auch von seinem Neffen und Mündel, für dessen spätere Versorgung er thätig zu sein allerdings geneigt war, auch während dessen Universitätsjahre beobachtet wissen. So hatte er mir sein Haus in der Weise geöffnet, daß ich wöchentlich zweimal an seinem Familientische aß, und wir hatten so lange im besten Vernehmen mit einander gestanden, als ich, von dem eigentlichen Studentenleben unberührt geblieben, in meinem Aeußern nichts von der gewöhnlichen Sitte Abweichendes an mir hatte. Ein gegen Ende des ersten Halbjahres in Halle gemachter Besuch hatte jedoch, da ich dort meine ehemaligen Schulfreunde in der auch von Arnold Ruge damals besuchten, zur „Deutschen Quelle“ umgetauften Resource gefunden, eine förmliche Umwälzung in mir hervorgebracht. Als ein ganz veränderter Jüngling nach Leipzig zurückgekommen, hatte ich namentlich meine Halsbinde weit von mir geworfen und war, ohne Arges zu ahnen, mit bloßem Halse und einem übergeschlagenen weißen Kragen zu Tisch zu dem Verfasser des Herodes von Bethlehem gegangen. Doch so wie ich in sein Zimmer getreten, hatte mich derselbe mit Vorwürfen deshalb überhäuft, daß ich es wage, „in einem solchen Aufzuge“ zu ihm zu kommen, hatte mir erklärt, wie ich an seinen Tisch nicht gelassen werden könnte, wenn ich nicht sogleich eines seiner mir dargereichten Halstücher umlegte, und ich hatte da augenblicklich das Haus des reichen und einflußreichen Vormundes verlassen; ein völliger, nie wieder geheilter Bruch war die Folge davon gewesen.

Dieser Bruch war nun von meiner Familie Jean Paul mitgetheilt worden, und als er mich in seine Wohnung beschieden, um mein Sein und Wesen näher zu prüfen, hatte er zuvörderst die umständliche Erzählung des Halstuchereignisses verlangt. So wie ich der Zumuthung gedacht, ein solches augenblicklich im Beisein des Vormundes anzulegen und dann mit demselben bei ihm zu essen, hatte sich Jean Paul von seinem Sitze mit der im fast drohenden Ton ausgesprochenen Frage erhoben:

„Und Sie haben es doch nicht umgebunden?“ Erst als ich erwiederte: „O nein!“ hatte er sich beruhigt wieder auf das Sopha zurückgelehnt mit den Worten: „Das hätte Sie ja auch erwürgen müssen?“ – Und von diesem Augenblicke hatte ich an ihm einen väterlichen, tief in meinen Lebensgang eingreifenden Freund.

Zu jener Zeit war Jean Paul schon seinem sechzigsten Jahre nahe und die frühere hagere Gestalt mit dem offenen Halse und den zopflosen flatternden Haaren – welche ihrer Zeit das Aergerniß der ganzen [369] Stadt Hof im Voigtlande gewesen (und deshalb seine Entrüstung über das was mir Aehnliches widerfahren), – hatte längst schon einer gewissen Rundung in Antlitz und Körper Platz gemacht, die mehr einen Braumeister als einen Dichter, ja wohl, wegen der schlichten und bequemen Kleidung, einen Landwirth aus dem südlichen Deutschland angedeutet hätte. Jedoch was bei näherer Betrachtung dieser Gestalt unverkennbar den Stempel des Genius und des hochherzigen Menschenfreundes aufdrückte, das waren die überaus hohe und gewölbte Stirn, die feingebogene Nase und besonders ein überaus feiner und kleiner Mund, um welchen ein so gutmüthiges und wohlwollendes Zauberlächeln spielte, daß namentlich Frauen oft auf den ersten Anblick unwiderstehlich wie von einem Magnet zu ihm hingerissen wurden. Von einer solchen magischen Wirkung dieses Lächelns war ich auch damals in Dresden Zeuge.

Eines Tages nämlich ward er von uns zu einer, einen Weinberg zwischen Dresden und Meißen bewohnenden Familie geführt, deren Hauptzierde zwei geistreiche und anmuthige Schwestern waren. So wie er nur in das Zimmer getreten, mit jener unendlich edlen Kopfverbeugung, die er sich den Großen gegenüber angeeignet und bei welcher er keinen Zoll seines Rückgrates krümmte, so daß der in all seiner Würde hoch aufgerichtet vor ihnen stehen blieb, – in demselben Augenblick flog die jüngere beider Schwestern mit ihren Lippen an die seinigen. Es sei ihr unmöglich gewesen, so entschuldigte sie nachher die etwas zu rasch erschienene Bewegung, einen solchen Himmel überschwänglicher Menschenliebe in einem Antlitz zu sehen, ohne sich gewissermaßen in ihn hineinzustürzen.

Und auch auf die heftigsten und rohesten Menschen übte, wie wir schon in Dresden mehrfach erfuhren, seine bloße Gegenwart oft eine wahrhaft magnetische Wirkung. Ich gedenke unter Anderm eines Briefes meiner Mutter an die Frau Jean Pauls über die Vorkommenheiten des damaligen Besuches in Dresden. Er war in einer Art von Garten-Pavillon, in den Anlagen der Neustadt gelegen, untergebracht worden, und dessen Eigenthümer wegen der jähzornigen Behandlung seiner Frau in der ganzen Nachbarschaft berüchtigt. Diese arme Frau hatte goldene Tage, so lange sie Jean Paul zum Miethsmanne hatte. „Ein wildes Thier von Ehemann,“ schrieb da unter andern ähnlichen Zügen meine Mutter, „ist sanft geworden, wie ein Lamm, seit er in seinem Hause wohnt.“ – In der That gab er grade in dieser Wohnung einen sehr merkwürdigen Beweis von der in ihm wohnenden magnetischen Kraft, die er durch vielfältige Beschäftigung mit dem animalischen Magnetismus in sich entdeckt. Einige wenige Striche von seiner Hand linderten augenblicklich meiner jüngsten, mitten in einer Nacht zu ihm geführten Schwester ein Uebel, das ihr bis dahin entsetzliche Schmerzen verursacht hatte.

Auch sonst war der damalige Aufenthalt Jean Pauls sehr reich an sein eigentlichstes Wesen bezeichnenden Vorfällen; denn so reich und verschwenderisch in der Austheilung von Liebe er war, wo er solche und edle Gesinnung fand, so streng, ja so grausam zeigte er den innerlich erzürnten Menschen, wo er Unlauteres und Unedles zu bemerken glaubte. So haßte er damals besonders Adolf Müllner, weniger wegen der ihm verderblich erscheinenden Tendenz seiner Schicksalstragödien als wegen der von ihm in seiner Mitternachtszeitung damals wieder an die Tagesordnung gebrachten bissigen und boshaften literarischen Streitigkeiten. Müllner, während Jean Pauls Anwesenheit nach Dresden kommend, war zu ihm geeilt in seidenen Strümpfen, Schuhen und kurzen Beinkleidern, und erhielt eine sehr trockne, für immer ihn abweisende Antwort auf seine Anmeldung. Noch schlimmer erging es Mahlmann, der ausdrücklich nach Dresden geeilt war, um seinen Schwager zu begrüßen, wiewohl er dessen Anwesenheit bei Familientafeln und Parthien dulden mußte.

Die in den Fächern seiner Bücherregale aufgehäuften Papierstöße strotzten von Beweisen des Eindrucks, welchen seine in seinen Schriften überall so klar hervortretende Persönlichkeit auf seine Leser bis in die entferntesten Gegenden von Deutschland hervorgebracht. Kaum ist es je vor ihm und nach ihm wieder da gewesen, daß eine so große Anzahl von Lesern und Leserinnen in Herzensangelegenheiten, bei Familienkummer und Zwisten, bei Zweifeln über eine zu wählende Laufbahn oder über das wirkliche Vorhandensein eines Talentes und aus ähnlichen rein persönlichen Beweggründen sich an einen Schriftsteller gewendet, mit jenem unbedingten Vertrauen, welches die katholische Lehre den Gemeinden zu deren Beichtvater vorschreibt. Und stets unterzog er sich der Aufgabe, ein persöhnlicher Rathgeber seiner Leser zu sein, mit einer, durch keine Zudringlichkeit erschöpften Geduld; überall griff er tröstend, beruhigend, mildernd ein, oder mit zürnender Strenge Immoralitäten oder Ungerechtigkeiten zurückweisend. – Eines Tages war ich zugegen, als ein Mann aus der Umgegend herbeikam, um ihn von einer Beschwerde zu unterhalten, die er gegen das Landgericht hatte, und ihm die Eingabe mitzutheilen, die er einzureichen sich vorgenommen. Die letztere war fast das Werk eines Unsinnigen: so ungeschliffen, so drohend war sie gehalten. Gar Mancher hätte einem solchen Bittsteller die Thüre gewiesen; doch nichts beschreibt die Milde, die Sanftmuth, mit welcher er dem Wüthenden das Zwecklose und Widersinnige des beabsichtigten Schrittes vorhielt. Aus einem Briefe meiner Tante, die mich dabei wohlgefällig beobachtet, ersah ich später, wie mein ganzes Gesicht vor Freude geleuchtet und von bewunderndem Mitgefühl für einen solchen Berather. – Von jungen Dichtern, die sich in wahrer Verzweiflung mit ihrem Erstlingsprodukte und mit der Erzählung einer Jugendgeschichte mit tragischem Ausgange an ihn gewandt und von ihm tröstend aufgerichtet wurden, nenne ich nur Ernst Große, der später Griechenlieder mit Heinrich Stieglitz herausgegeben. Von den Ehepaaren, die ihre Zwistigkeiten vor seinen Richterstuhl brachten und von seinem schiedsrichterlichen Ausspruche die Wiederherstellung ihres häuslichen und Herzensfriedens erwarteten, ist mir besonders eines zweier Gatten in Königsberg in Preußen im Gedächtniß geblieben.

Bei mündlichen Berathungen vermehrte der Ton [370] seiner Sprechstimme um Vieles den besänftigenden Eindruck seines Wortes. Derselbe war in seiner Milde nicht nur ganz das Echo der Milde seiner Seele, sondern erhielt auch noch etwas Trauliches mehr durch einigen Anklang an den voigtländisch-baierischen Dialekt, wie z. B. Mound für Mond. War man, wie ich, nur Haus- und Tischgenoß, so fühlte man sich um so leichter bei ihm einheimisch, als er nie in seiner Lebensweise sich wesentlich von der frugalen und einfachen Gewohnheit seiner dürftigen Jugendjahre entfernte. Er aß nur die gewöhnlichste landübliche Hausmannskost, und was namentlich sein vorgebliches ungebührliches Weintrinken betrifft, so war das zu seiner Zeit eine der unverständigsten Verleumdungen, die je über einen bedeutenden Mann verbreitet worden sind.

Die anspruchslose Einfachheit aber, mit welcher Jean Paul in den schönen und in seinem „Siebenkäs“ für alle Zeiten verherrlichten Umgebungen von Baireuth umher wandelte, rief selbst der bekannte Nachfolger Hegels, der damalige Rector Gabler, der mit mir an dem offnen, von Fackeln umgebenen Grabe des Dichters stand, den Anwesenden in die Erinnerung zurück, hindeutend auf den Blumenstrauß im Knopfloch des schlichten Hausrockes, auf die Jagdtasche mit Manuscripten, mit Büchern, dem Schreibzeug und einigem Mundvorrath, während Ponto, sein weißer Pudel, sein beständiger Gefährte in dem Hause, wo er die Aufmerksamkeit seines Herrn mit dessen Laubfröschen und Canarienvögeln theilte, so wie außer demselben freudig vor ihm hersprang.

So zog namentlich an dem ersten schönen Frühlingstage Jean Paul zu jener, auch in weitern Kreisen schon bekannten Frau Rollwenzel, einer sehr schlauen Bauerfrau, die gar bald inne geworden, welchen Vortheil sie, gegenüber den nach Baireuth kommenden Fremden, von dem Umstande ziehen konnte, daß „der Herr Legationsrath – bekanntlich ein vom Herzog von Hildburghausen dem Dichter gegebener Titel – in ihrem, am Ende der nach der Eremitage führenden Allee gelegenen Schankhause ein Stübchen gemiethet, wo er den Rücken des geliebten Fichtelgebirges und den Colm bei Neustadt, wo sein frommer Großvater gestorben, ganz vor Augen hatte und wohin er arbeiten ging. Freilich unterhielt er sich oft und gern mit der dicken, untersetzten und sehr rothbäckigen Wirthin, die oft, nach der Weise der dortigen Gebirgsbewohner, allerlei originelle und komische Bemerkungen im Landesdialect machte. Indeß war es aber die Landleuten oft sehr eigenthümliche Schlauheit bei ihr, wenn sie dem Fremden zu verstehen geben mochte, daß Jean Paul so oft ihrer Person wegen dort seinen Arbeitstisch aufgeschlagen. Es war nur der Anblick auf das Gebirge, den er am Besten aus dem Stübchen in ihrem Hause gewann, der ihn dazu vermochte; und hier bietet sich denn die natürliche Gelegenheit, an einem von mir selbst erlebten, von mir herbeigeführten, ja für meine ganze Lebensrichtung entscheidend gewesenen Vorfall darzulegen, welcher Naturanbeter Jean Paul war und welche magische Wirkung die bloße Wortbeschreibung großartiger, von Andern empfundener Natureindrücke auf ihn machen konnte.

Es war Ende Juni 1825, als ich, von einer in die Schweiz gemachten Fußreise zurückkommend, wieder vor den so geliebten Bergen und Hügeln, dem Schneeberge im Fichtelgebirge und dem Sophienberge vor Baireuth stand. Wie immer bei meinem Erscheinen bei ihm, sammelte ich mich eine Zeitlang vor der Stadt, ehe ich hinein und auf sein Haus zuging, zumal diesmal, wo ich ihn kaum vor fünf Wochen auf meinem Hingange nach der Schweiz erst gesehen. So ließ ich die erhabendsten der eben erst erblickten Naturbilder vor meiner Seele vorübergehen. Zwei derselben hatten einen besonders tiefen Eindruck in mir hinterlassen. Als ich nämlich von einer vorspringenden Anhöhe im Badischen die Alpenkette in der Ferne zum erstenmale und dieselbe wie mit den Wolken zusammenfallend gesehen, hatte ein fast physischer Schmerz meine Brust auseinandergerissen, als ob das plötzlich auf sie eindringende Riesenbild mit Gewalt sich darin erst Platz machen müsse. Den andern Hauptaugenblick meiner Alpenfahrt hatte mir die Rigikuppe gewährt, wo ich die Nacht geblieben war, um dem Sonnenaufgang dort beizuwohnen. Ich ward dabei auf das Schönste begünstigt. Während nämlich die bereits aufgehende Sonne die Spitzen der Gletscher noch vergoldete, hatte der Mond noch am Himmel geweilt und sich im Vierwaldstättersee wiedergespiegelt. Der Eindruck dieser großartigen Scene war so überwältigend gewesen, daß ich ihm fast erlegen und mich in das Rigihäuschen hatte zurückziehen müssen.

Die Seele erfüllt von solchen Bildern, war ich Abends in die Familienstube eingetreten, fand dort Jean Paul, von den Seinigen umgeben, auf dem Sopha sitzen, und fuhr erschreckt von seinem Anblick zurück. Während meiner fünfwöchentlichen Abwesenheit war eine erschütternde Veränderung mit ihm vorgegangen. Ohne daß man es noch muthmaßte, hatte die allmälige Auflösung seiner Kräfte, die vier Monate später schon vollendet sein sollte, ihre Verheerung bereits begonnen. – Er war erstaunlich abgemagert und sein Auge bereits so verloschen, daß er sich vorlesen lassen und seine Briefe diktiren mußte, dieselben nur noch mühsam mit seinem Namen unterzeichnend. Doch bei der lebhaften, enthusiastischen Rede, mit der ich Alles von ihm ausströmen ließ, was ich in der Seele trug, bei den erhabenen Naturbildern, die ich bei ihm vorüberführte, richtete er sich, wie wundersam gestärkt, immer mehr empor, er, der nie die so heiß ersehnten Alpen und die italischen Seen seines Albano zu sehen vermocht, er so vorzugsweise der Verherrlicher des Frühlings! Kaum hatte ich so eine halbe Stunde unter den Seinen gesessen, als er plötzlich Punsch verlangte. Lautes Jubelgeschrei seiner Kinder ertönte bei diesem Verlangen. Dasselbe war immer das Anzeichen höchster Herzensbefriedigung gewesen, und es war so lange her, daß er ein solches Verlangen nicht geäußert!

Und von diesem Abende an beschloß Jean Paul, mich für die Dauer seines Lebens an seiner Seite zu haben. Nachdem ich noch ihm seine damaligen Bedenklichkeiten bei einer ihm angetragenen Herausgabe seiner sämmtlichen Werke beseitigt und ihn dazu ermuthigt, erhielt ich, nach Dresden zurückgereist, sehr bald von [371] ihm folgende, auf jenen Abend meiner Alpenerzählung hindeutende Zeilen:

„Was Sie auf dem Stuhle gesäet und ich auf dem Canapee, fängt schon an zu grünen, und meine sämmtlichen Werke sollen daraus hervorgehen. Meine Frau wird Ihnen sagen, in wie weit Sie ferner dabei eine hilfreiche Hand leisten können. Möge Ihr Leben immer mehr Ihrer Alpenreise gleichen, wo die Mühen ebenso zu den Schönheiten gehörten, als die Aussichten auf den Berggipfeln.“
Ihr Jean Paul Fr. Richter.  

Gewiß, dies hochherzige, milde, so oft zu den Sternen aufblickende Wesen hat die Erde leicht gefunden, als die Stunde, sie zu verlassen, ihm bald darauf schlug.




Spanische Reisebriefe.

Von
E. A. Roßmäßler.
VII.
Murcia.
Murcia.  

Nachdem ich seit dem 1. Mai in dem Garten Murcia die jungfräulichen Reize eines südspanischen Frühlings-Erwachens genossen habe, will ich versuchen, Ihnen ein Bild von dieser wunderschönen Stadt und ihrer Umgebung zu malen, und von dem Wege, der mich hierher geführt hat.

Wäre ich aus Deutschland durch Zauberei plötzlich nach la Granja versetzt worden, durch welches mich mein Weg von Alicante hierherführte, ich würde geglaubt haben, in eine Scene aus Tausend und einer Nacht versetzt zu sein.

Doch ich bitte Sie, sich mit mir neben den Majoral auf den Bock der Diligence zu setzen; an die Stelle, wo mir zur Linken ein junger, steifer Engländer saß, der den Auftrag übernommen zu haben schien, umringt von unnennbaren Reizen der Natur eine Geschichte Napoleons (des Großen) zu lesen.

Elche, die erste Stadt, durch die wir kamen, ist selbst in Spanien berühmt, wegen ihres Reichthums an Palmen. Ich hatte schon viel von den Palmenwäldern Elche’s gehört, hatte aber nicht geglaubt, daß das Wort Wald so buchstäblich zu nehmen sein würde, wie es wirklich zu nehmen ist. Der Weg läuft buchstäblich eine Zeit lang im Schatten zahlloser Palmen, die trotz ihrer kahlen schlanken Stämme doch ein fast undurchsichtiges Dickicht bilden, weil die Bäume von allen Größen sind, und die niedrigen sogar fast noch üppigere Kronen haben, als die hohen. Von Elche an blieb uns lange Zeit die mächtige buntfarbige Sierra de Crevillente zur Rechten, während die Sierra Callosa sich quer vor unsern Weg legte, als wollte sie mir ihrer finsteren Miene uns den Eintritt in das Paradies wehren, welches im Süden dicht hinter ihr beginnt. Sie verläuft ziemlich genau von Ost nach West. An ihrem östlichen Ende, etwa eine kleine Stunde noch von ihr entfernt, liegt la Granja, dann kommt Coj[1], dann Callosa. Wir durchflogen mit unseren fünf Mauleseln diese Strecke in wenig mehr als einer Stunde, und während derselben glaubte ich die Bilder einer Zauberlaterne, erfunden von der glühenden Einbildungskraft eines morgenländischen Dichters, an mir vorübergleiten zu sehen. Es ist schwer, einem derselben vor den übrigen den Vorzug zu geben, doch steht la Granja am lebendigsten vor meiner Erinnerung. Es ist ein kleiner Ort, von mehr italienischer als spanischer Bauart, d. h. die Häuser haben nicht platte, sondern sichtbare niedrige Dächer mit mächtigen hellfarbigen Hohlziegeln gedeckt. Die meist kleinen Häuser überragt die blaue Azujelos-Kuppel der Kirche. Azujelos sind kornblumenblaue, glacirte Dachziegel. An jedem Hause fast schien ein Gärtchen zu sein, denn zahlreiche Palmen und Cypressen, oft ziemlich von der Größe unserer Pappeln, ragten überall empor. In naher Ferne senkte die düstere kahle Sierra Callosa die phantastischen Felsen ihres östlichen Fußes herab. Rechts die Sierra Crevillente und links die Ebene des Rio Segura – dies zusammen bildete ein Bild, wie meine an schönen Bildern so überreiche Reise bis jetzt kein schöneres geboten hat.

Bei Callosa überschritten wir den Fuß der gleichnamigen Sierra, der sich links am Wege noch einmal zu einem von einem Castell gekrönten Felsen erhebt; und nun waren wir in dem glücklichen Bereiche eines rastlos spendendem Wohlthäters. Dieser Wohlthäter ist der Rio Segura. Er macht eine ungeheure Strecke Landes zu einem Garten, welche ohne ihn eine unbewohnbare Oede sein würde. Es ist schwer, sich einen Begriff von der Sorgsamkeit und raffinirten Wasserausbeutung einer Vega oder Huerta zu machen, wie man die bewässerten Distrikte nennt. Ohne Zweifel ist diese wunderbare Meisterschaft in der Bewässerung ein Erbstück der Mauren, eins der sehr wenigen, welche christlicher Fanatismus nicht zerstört hat. Bei Alicante sah ich auf den staubigen oder steinharten Feldern nur verschmachtende nothreife Halme, – hier unabsehbare Fluren, das lebenspendende Wasser schlürfender Feldfrüchte. Der Regen hat hier eine völlig andere Bedeutung als bei uns in Deutschland. Er ist hier fast nur der Milderer der sengenden Sonnengluth. Ja ich möchte im Ernste glauben, daß der murcianische Landmann es dem Regen wenig Dank wissen würde, wollte [372] er ihm die Unterhaltung seiner Acequias und Azarbes (zu- und abführende Bewässerungsgräben) ersparen – weil er ihm zugleich seine Wege unfahrbar machen und ihn zum Wegebau zwingen würde. Das ist eine ganz eigene Sache. So weit ich die Vega von Murcia durchfahren und durchwandert bin, nirgends habe ich ein Steinchen von der Größe einer Haselnuß gesehen. Die tischgleiche Ebene ist eine mächtige Schicht bräunlich-grauen aufgeschwemmten (Alluvial-) Bodens, umhegt von den Sierra’s und Montaña’s (niedrigen Bergketten) und hier und da von einem Felskegel durchbrochen, wie eine Wiese von Maulwurfshügeln. Der fast gänzliche Mangel des Regens macht die gänzliche Vernachlässigung des Wegebaues – ausgenommen den camino real, eine prächtige Landstraße – wenig fühlbar, obgleich man im Staube aus einem Loche in das andere gehoben wird; wenn es einmal tüchtig regnet, so ist aber auch nicht fortzukommen.

Meine Besuche der Vega haben mir durchaus den Eindruck gemacht (schon auf meiner Fahrt von Callosa bis hierher, aber mehr noch aus meinen Ausflügen), als lebe hier das Geschlecht der Menschen in einem früheren Jahrtausend. Alles ist einfach und schlicht, ja sogar das große Murcia leidet an hunderterlei Bedürfnissen deutscher und französischer Lebensgewohnheit bitteren Mangel. Wohl zehnmal schon habe ich im gastlichen Hause meines Freundes, der zu den reichsten Murcianern zählt, von uns unentbehrlichen und nicht unnothwendigen Dingen die Erwiederung gehört: das können Sie in Murcia nicht bekommen. Der Pflug, der dem Bauer sein weiches Feld umkehrt, ist noch ganz das alte römische Aratrum. Man bat hier keine Ahnung davon, daß in England und Deutschland die zweckmäßigste Einrichtung der Ackergeräthe in hunderterlei Weise eine förmliche Wissenschaft ist. So groß Murcia ist, es zählt mit der natürlich dünn bevölkerten Vega über 50,000 Einwohner, so ist es doch nur eine Ackerbau und mit den Erzeugnissen desselben Handel treibende Stadt.

Die Stadt liegt am linken Ufer des Segura; mit ihr ist durch eine steinerne Brücke eine kleine Vorstadt, Barrio de San Benito, verbunden. Wie gewöhnlich in großen katholischen Städten wimmelt Murcia von Kirchen und Geistlichen. Auf die Beschreibung der ersteren lasse ich mich aber nicht ein, denn sie gehören nicht zu Natur und Menschen, die allein den Gegenstand meiner Mittheilungen ausmachen.

Das französische Element, welches in Barcelona so sehr hervorstach, ist hier, ausgenommen die Tracht der Männer in der Stadt, zumeist verschwunden. In einer Gesellschaft vornehmer Murcianer, in welcher ich eine Landpartie nach einer Posada der malerischen Montaña del Puerto de Cartagena machte, konnte ich mich mit meinem Freunde französisch unterhalten, ohne unberufene Zuhörer zu haben; nur Einer verstand etwas von der Weltsprache!

Die Frauen tragen durchgängig die Mantilla. Ich habe nur zwei französische Damenhüte gesehen, denn diese nationelle Bezeichnung muß man wohl denselben geben. Aber höchst abenteuerlich ist die Tracht der Bewohner der Huerta. Wenn man eine Gesellschaft derselben nach Deutschland versehen würde, so würden alle Kinder jubeln, daß wieder einmal – Seiltänzer bei ihnen eingezogen seien. Ihre Kleidung ist so leicht und luftig, wie nur möglich. Auf dem Felde tragen sie über dem weißen Hemd blos eine buntfarbige Weste von deutschem Schnitt, mit großen kugelförmigen, silbernen Knöpfen an kleinen Kettchen, eine rothe Schärpe und schneeweiße Leinwandhosen. Letztere reichen bis an das Knie und sind so weit, daß es aussieht, als haben die Leute das Hemd zwischen den Schenkeln mit einigen Stichen zusammengeheftet. Unter dem nackten Knie tragen sie bis an die Knöchel reichende Strümpfe ohne Socken, und die Füße sind mit echt antiken Sandalen, Alpargata, aus Hanfgeflecht bekleidet. Außer der Arbeit tragen die Landleute eine deutsche, meist dunkelblaue Tuchjacke und die malerische Manta. Als Kopfbedeckung eine kegelförmige, schwarzsammtne Mütze, die ringsherum etwa 4 Finger breit in die Höhe gekrämpt ist. Die Frauen und Mädchen, meist von untersetzter Gestalt, während die Männer kräftige, hohe Gestalten sind, lieben bunte Farben und tragen das Haar, namentlich am Domingo, Sonntag, in breiten Flechten auf dem Hinterkopfe mit silbernen Nadeln festgesteckt. Von den berühmten spanischen Tänzen habe ich nur erst einen, die Malagueña[2], tanzen sehen. Mehr als der ohne Grazie ausgeführte Tanz unterhielt mich das meisterhafte Castagnettenspiel – hier Castañuela – und der schreckliche Gesang, mit welchem eine alte Frau zu einer Guitarre die Tanzenden begleitete. Dennoch beneidete ich die Leute um den Tanz, gegenüber unserem deutschen Rasen auf den „Tanzböden,“ den Gräbern der Sittlichkeit und der Gesundheit.

Diese Huertabewohner sind unermüdet beschäftigt, nach fest bestimmter Reihenfolge, ihre Gärten, denn das sind sie mehr als Felder, zu bewässern und zu bearbeiten. Weizen und Bohnen (nämlich die sog. Sau- oder Pferdebohne, Vicia Faba) herrschen vor. In die Weizenstoppel säen sie noch Mais – der bei uns als Hauptfrucht nicht reif wird. Auf den Getreidebeeten stehen außerdem noch zahllose Maulbeerbäume, denn die Seidenzucht Murcia’s ist sehr bedeutend. Ueberall mischen sich die graurindigen knorrigen Feigenbäume dazwischen. Diese reiche Belaubung giebt der Huerta von einem hohen Punkte der Stadt aus gesehen ein ungemein heiteres Ansehen. Zwischen den genannten Bäumen ragen hier und da, namentlich um die ansehnlichen Landgüter der reichen Murcianer, die schlanken Palmen und Cypressen hoch empor. Und dennoch schleicht ein finsterer Dämon durch dieses Eden – das Wechselfieber, welches die zahllosen Gräben aushauchen.

In diesem Augenblicke hat die Huerta für den Ununterrichteten einen sonderbar traurigen Anstrich: fast vor jedem Hause sieht man – eine weiß behangene Todtenbahre stehen. Es sieht aber blos so aus; es sind die Gestelle für die eben auskriechenden Seidenräupchen.

In meinem nächsten Briefe, den Sie wahrscheinlich aus Granada erhalten werden, will ich Ihnen Einiges über spanisches Leben mittheilen.


  1. In beiden Namen lautet das j wie ein raues ch, hinten im Gaumen ausgesprochen; Coj also Koch; la Grangcha.
  2. Der Buchstabe ñ, den der Spanier, deutsch ausgesprochen, énnie nennt, hat man nni auszusprechen: Malaguénnia. Das i ist sehr kurz und klingt etwas wie unser j.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.