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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[383]

No. 36. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Das Begegnen in der Oper.

Novelle von Amely Bölte.
(Schluß.)


Höchst seltsam nehmen sich diese vereinzelten Bestrebungen aus, und traurig und peinlich war der Eindruck, den sie hinterließen! Es war das Bild der großen Weltbühne, der Cultus des Ich in seinem Schmuck als Pantomime. Und der Mond, den man jetzt eben aufzog, die Wolken, die den Horizont nur dunkeln sollten, der Donner, den man eben sanft versuchte, das Alles paßte vollkommen in diese Schöpfung, die der Menschengeist erfunden.

Piat und seine Begleiterin eilten schnell durch diesen Bühnenjahrmarkt, ohne daß Jemand Zeit gefunden hätte, sie auch nur durch einen Blick auf ihrem Wege anzuhalten. Draußen schienen die Sterne hell. Auf diesen nackten Mechanismus der Kunst machte das einfache Walten der Natur, die scheinbare Ruhe bei der unendlichen Bewegung, die sich dem Auge nur durch den Gedanken verräth, einen wohlthätigen Eindruck. Es war eine laue Sommernacht. In den Straßen wurde es schon stille. Der Diener folgte mit einförmigem Tritte. Bald traten sie in den Park von St. James. Hinter dem Palaste der Königin zog eben die Mondscheibe herauf und warf ihr falbes Licht auf die ganze herrliche Umgebung. Die hundertäugigen Gasflämmchen erbleichten vor dem prächtigen Gestirne, und fügten sich darin, ihm zur Folie zu dienen. Der herrliche Thurm von Westminster aber, den kein Strahl getroffen, blieb in seine düsteren Farben gehüllt, und sprach zu dem blauen Nachthimmel mit ernster Mahnung von vergangenen Zeiten.

„Wie schön ist es hier;“ rief Susanne überrascht. „Der Park nimmt sich nie so gut aus, wenn die Sonne scheint und es hier von Menschen wogt.“

„Waren Sie nie zuvor des Abends hier? Wie viel entbehrten Sie da. Um Mitternacht hier zu wandeln, ist mein schönstes Vergnügen. Ich lasse dann oft sinnend die Abendgebete dieser zwei Millionen Seelen an meinem innern Auge vorübergehen und sehe da Himmel und Hölle, Liebe und Haß, Tod und Leben, in wunderbar buntem Gemisch. – Welche Contraste des Lebens, des Denkens, des Empfindens hausen da beisammen! – Sie sollten hier mitunter Abends einsam wandeln.“

[384] „Sie scherzen.“

„Keineswegs. – Warum auch?“

„Es würde sich ja nicht schicken.“

„Nicht schicken, im Angesicht der Sterne zu lustwandeln? Gütige Allmacht! Man sieht es wohl, daß deine Hand das Buch nicht schrieb, worin diese Gesetze verzeichnet sind. Nicht wandeln im Angesichte eines gestirnten Himmels? Wem da die Seele nicht groß wird, wem da der Busen nicht schwillt, der hat die Natur so klein angelegt, daß er nicht einmal staunen kann vor ihrer Größe! – Wie schade, daß die Pruderie des Jahrhunderts auch hier ihren Maßstab anlegen mußte!“

„Aber allen Ernstes, Herr Piat! Meinen Sie wirklich, ein Mädchen könnte am Abend allein spazieren gehen?“

„Und warum nicht? – Was sollte sie abhalten? Der Anstand? Sagen Sie selbst, ob ein Spaziergang nicht anständig ist. Dagegen die so viel Preis gebende Toilette, die wir eben in der ersten Logenreihe gewahrten, diese verstößt allerdings gegen den Anstand, aber Niemand findet daran zu erinnern, weil es so Mode ist. Solche Widersprüche bilden unsere Sittengesetze. Es ist unglaublich, zu welchen Absurditäten wir damit bereits gekommen sind. Aber, – ich will mir den Augenblick nicht damit verderben, diesen Punkt zu erörtern. Wir haben leider Ihre Wohnung gleich erreicht. Sagen Sie mir nun nur noch eilig, wie, wo, wann ich Sie wiedersehen darf.“

„Ich verlasse London übermorgen, um den Winter in Irland zuzubringen.“

„So bald schon? – Aber morgen – wo verbringen Sie den morgenden Tag?“

„Zu Hause, mit Packen.“

„Darf ich Sie besuchen?“

Sie schüttelte verneinend das Haupt.

„Den Besuch eines jungen Herrn anzunehmen, steht mir nicht zu. Ich lebe als Gesellschafterin bei einer irischen Dame, und die Regeln des Anständigen sind hier sehr eng zugeschnitten.“

„Ich muß Sie aber doch wiedersehen? So treffen Sie mich morgen Abend bei Signora Carlotti.“

„Thue ich recht, wenn ich eine solche Verabredung mit Ihnen treffe?“

„Welche kleine Bedenklichkeit!“

„Gut denn! So will ich um sieben Uhr dort sein.“

Die Hausthür stand schon weit geöffnet.

„Also Lebewohl denn für heute!“ rief Piat, ihre Hand ergreifend, und sah sie mit einem Blicke an, der ihr tief in die Seele ging. „Auch in der Ferne bleiben Sie mir noch, wachend und träumend; das Leben kann uns trennen, aber wiederfinden müssen wir uns, das steht fest in mir.“

Susanne erwiederte leise den Druck seiner Hand und schlüpfte in das Haus. Piat weilte noch eine Minute lang auf der Schwelle desselben, dann trat er langsam und sinnend seinen Rückweg an. –




„Susanne an eine Freundin.
Lisdof den 1. Januar. 

„Sie schelten, theure Anna, daß Ihnen auf drei Briefe keine Antwort geworden, während mir, bei der Einsamkeit, in der ich hier lebe, nicht einmal die Entschuldigung bleibe, daß es mir an Zeit zum Schreiben fehle. Sie haben Recht, ich habe keine Entschuldigung und verdiene Ihre Vorwürfe vollkommen. Ja, noch mehr, ich klage mich selbst auf das Härteste deshalb an, und habe dennoch, trotz dieses Bewußtseins meiner sich täglich mehrenden Schuld, nicht zu dem Entschlusse kommen können, die Feder zu ergreifen.

„Was ich Ihnen zu sagen hatte, war zu schmerzlich, als daß ich es mit Leichtigkeit in Worte zu kleiden vermochte. Und hätte ich mich auf Mittheilungen beschränkt, die das äußere Leben angingen, so hätten Sie zwischen den Zeilen gelesen, daß ein Schmerz an mir nage, und das Verschweigen desselben dem mangelnden Vertrauen zugeschrieben. Das hätte Sie gekränkt, und kränken wollte ich Sie nicht. So schwieg ich denn, bis ich Muth hatte zu reden.

„Wo nun aber anfangen? Mit Empfindungen oder mit Thatsachen? Ach! Sie ahnen auch jetzt noch nicht, was mich dieser Brief kostet! –

„Lassen Sie mich aber kurz sein.

„Es war im Juni des letzten Jahres, da traf ich in der Oper, in der sogenannten Künstlerloge, mit einem jungen Manne zusammen, der mir als höchst interessant in seiner idealen Auffassung des Lebens geschildert worden war. Er entsprach meiner Erwartung, ja, er übertraf sie, und Alles, was ich von dem harmonischen Zusammenschmelzen zweier Seelen geträumt hatte, fand sich hier verwirklicht. Er begleitete mich nach Hause und sein letztes Wort war ein Ausspruch, daß das Leben uns nicht mehr trennen könne.

„Wie ich mein Zimmer erreichte, welch ein Jubelgesang des Gebetes aus meiner Seele aufstieg, welche rosige Träume mich umwickelten, das will ich Ihnen nicht beschreiben. – Am folgenden Morgen berührten meine Füße den Boden kaum. – Ich sollte ihn am Abend noch einmal wiedersehen, hatte versprochen, ihn um sieben Uhr bei Signora Carlotti zu treffen, und schwelgte in dem Gedanken dieses Wiedersehens. – Trotzdem daß Alles schon verpackt war, mußte mein himmelblaues Kleid, das mir am besten stand, doch wieder hervorgesucht werden, und trotz der vielen Geschäfte, die sich häuften, konnte die Zofe grade heute mein Haar durchaus nicht nach meinem Geschmacke aufwinden.

„Zur bestimmten Stunde war ich an Ort und Stelle und horchte auf jeden schallenden Tritt. Minute nach Minute verrann, aber Niemand kam. Ich wurde bleich vor Täuschung und Angst. Um acht Uhr wollte mich Lady Hexter in ihrem Wagen abholen und er konnte sich verspäten. Was dann? – Oh! Ich konnte es nicht ausdenken. – Mit fieberhafter Angst folgte ich den Schlägen des Pendels und mein Puls diente demselben als beistimmender Pendant.

„Endlich schlug es wirklich acht und der Wagen fuhr vor. Ich hätte weinen mögen! – Und ich durfte nicht einmal sagen, was mich quälte, welche grausame Täuschung ich erfahren! – Lady Hexter wollte in die Oper fahren. Da saß ich nun neben ihr in der Loge und schaute hinüber nach dem Platze, wo ich gestern [385] so selige Stunden erlebt. Wer mochte heute meine Stelle dort einnehmen?

„Ich nahm mein Glas hervor und blickte genauer hin. Sah ich denn recht? Da saß ja Piat – und neben ihm eine Dame, mit der er sich eifrig unterhielt. O! Fluch über diesen Wankelmuth der Männer! Also auch er war nicht anders als sie alle; heute gefiel ihm die Eine, morgen die Andere. Aber unmöglich! – Seine Worte, die Wahrheit, die aus seinen Mienen sprach. – Ich lehnte mich weit vor, er sollte mich sehen, vielleicht kam er dann zu uns herüber. Aber er sah mich und – dennoch kam er nicht. Trostlos vergrub ich mich nun in den Schatten unserer Loge und Kopfweh vorschützend, nahm ich an nichts mehr Theil.

„Als wir endlich aufbrachen und ich mit weinenden Augen in den Wagen schlüpfen wollte, fühlte ich ein Papier in meine Hand gedrückt; woher es kam, konnte ich in dem Gedränge nicht unterscheiden. So wie ich nach Hause kam und mein Zimmer erreichte, entfaltete ich das Blättchen und fand mit Bleistift darauf geschrieben:

„Wo einmal Du vertrauest,
Da traue ohne Wanken.“ J. P.

„Das war von ihm, kein Zweifel! – Weinend sank ich auf meine Kniee und drückte schluchzend das Haupt in die Kissen, um endlich dem lange zurückgehaltenen Strom der Empfindung Luft zu gönnen. So war er doch noch derselbe! So hatte er mich nicht absichtsvoll täuschen wollen. – Warum aber war er ausgeblieben? – Warum sandte er mir nicht ein Wort der Erklärung? – Unter Zweifeln und Bangen, Hoffnung und Mißtrauen schwand die Nacht, und die Stunde der Abreise war da, ehe ich noch das Auge geschlossen.

„Nie war ich so ungerne von London geschieden, als eben heute! Er blieb ja dort. Nur ein Tag noch, und ich durfte hoffen, ihn zu sehen, ein Wort von ihm zu hören, das mich beruhigte; aber mit diesem Zweifel im Herzen zu scheiden, das war fürchterlich! –

„Wir kamen in Lisdof an. Der Kreislauf der gewohnten Tage begann, aber meine Gedanken waren ferne von meinen Beschäftigungen. Mechanisch verrichtete ich was mir oblag; aber Theilnahme und Interesse konnte mir nichts mehr abgewinnen. Ich legte schwarze Kleider an und trauerte, wie um einen Todten, um mein verlorenes Ideal. Die Menschen glaubten, es sei mir ein lieber Verwandter gestorben, und ließen mich gehen; was ich betrauerte, war leider mehr als todt für mich.

„Hier ist Ihnen nun das Räthsel meines langen Schweigens gelöst. Lassen wir die Sache hiermit aber beendet sein; jede Andeutung würde mir Schmerz machen, und der Rath und Trost, den Ihre Güte mir spenden möchte, könnte mir nur wehe thun. Also – sprechen wir nie mehr davon.

„Und nun leben Sie wohl, theure Anna, und schließen Sie mich in Ihr Gebet ein. – Daß ich heute nicht aufgelegt bin, zu gleichgültigen Dingen überzugehen, sondern hier schließe, werden Sie verzeihlich finden.

Ihre Susanne.“ 




Der Winter nahte seinem Ende. Schon schmückte das erste zarte Grün die fruchtbaren Gefilde des feuchten Bodens, da rollte der Wagen Lady Hexter’s, mit ihren schönen stolzen Rappen bespannt, rasch der Hauptstadt zu. Ein bleiches Mädchenantlitz, von einem schwarzen Krepphute überschattet, schaute zu einem der Wagenfenster hinaus. Es war Susanne, die heute zum ersten Male die Hauptstadt Irlands begrüßte, und mit achtsamem Blicke die Umgebung des reizend gelegenen Ortes musterte.

Lady Hexter wollte sich von der Langeweile ihres Landaufenthaltes erholen, willkommen war ihr daher die Nachricht, daß gerade heute ein ausgezeichnetes Concert stattfinde, in welchem der berühmte Sänger Peretti sich hören lasse. Billete zu den besten Sitzen wurden schnell noch bestellt und erhalten. Um acht Uhr fuhr der Wagen vor und als eben das erste Stück zu Ende war, trat Lady Hexter in Begleitung Susanne’s in den Saal, den bereits eine glänzende Gesellschaft füllte.

Kaum hatte man sich gesetzt, so drängte sich ein Kreis von Herren heran, um Lady Hexter zu begrüßen. So leise diese sich auch nahten, so wirkte deren Begrüßung dennoch störend, besonders für Susanna, die der Musik mit ganzer Seele zugethan war und sich ungern einen Ton entgehen ließ. – Die Concerte in England sind sehr lang. Das Publikum sieht immer noch zu sehr auf die Quantitat, ohne Einsicht der Unmöglichkeit, sein Ohr so viele Stunden lang ohne Anstrengung leihen zu können; und ein Concert soll ein Vergnügen und keine Arbeit sein. Die lange Pause, die die Hälfte der Stücke theilt, wird daher zu einer nothwendigen Wohlthat, ohne die man unfähig wäre, über die letzten Stunden hinauszukommen. – Eben war nun dieselbe eingetreten, und ein großer Theil des Auditoriums hatte sich entfernt, um Athem zu schöpfen, der Saal war daher vergleichsmäßig leer geworden und ein freier Blick über die Versammlung vergönnt. Susanna hatte ihr Auge träumerisch hier und dorthin gleiten lassen, ohne daß ein besonderes Interesse es irgendwo fesselte. Jetzt plötzlich färbte Purpurgluth ihre Wangen und ihre ganze Gestalt verlängerte sich. Was mochte ihr aufgefallen sein?

Wir folgen ihrem Blicke und bemerken hart an der Thüre, die in das Gemach führt, in welchem die Sänger sich aufhalten, einen bleichen jungen Mann gegen einen Pfeiler gelehnt, dessen Auge jetzt eben ihrem überraschten Blicke begegnet. Auch seine Wangen färbt jetzt Purpurgluth, er streicht sich das blonde Haar aus der hohen Stirne, steht einen Augenblick wie unschlüssig und tritt dann rasch vor. Susanne folgt seinen Bewegungen mit verhaltenem Athem. Ihr Sitz läßt einen freien Zugang zu; er steht jetzt neben ihr und bietet ihr seine Hand. Wer schildert das Glück dieser Minute? – Der Kummer eines ganzen Jahres, jeder Vorwurf, jedes Mißtrauen war mit einem Blicke dahin. „Susanne!“ sagte er mit einem Tone, der tief in ihre Seele drang, „Susanne, Sie haben mich nicht vergessen?“

Sie zitterte. „Was brachte Sie hierher?“ fragte sie bewegt.

[386] „Das Schicksal, meine Ahnung, mein guter Stern. Wir mußten uns ja wiederfinden.“

„Doch kamen Sie an jenem Abende nicht?“

„Mißtrauten Sie mir deshalb?“

„Ich läugne es nicht, ich zweifelte und trauerte um Sie.“

„Trotz jener Zeilen, die ich Ihnen am Wagen reichte?“

„Sie beruhigten mich nicht.“

„Susanne!“ sagte er vorwurfsvoll, „dann haben wir uns nicht verstanden.“

Sie sah beschämt vor sich herab. „Ich konnte nicht anders, Herr Piat,“ sagte sie schmerzlich. „Es hat mir viele kummervolle Stunden gekostet.“

„Und diese Trauerkleider?“

„Sie gelten dem Zweifel, der mein Herz beschlich.“

„Arme Susanne! Ich zweifelte nicht, und kam nach Irland in dem festen Glauben, Sie zu finden. – Habe ich mich in irgend einem Sinne getäuscht?“

„Nein!“ sagte sie fest und schaute ihm in das Auge.

„So werden Sie das Vertrauen gewinnen, das Ihnen das sociale Leben geraubt hat, und Ihrer innern Stimme wieder Gehör schenken lernen. Morgen früh komme ich zu Ihnen. Nennen Sie mir Ihre Wohnung.“

Die Musik begann von Neuem; das rückkehrende Auditorium trennte sie für jetzt und auch beim Hinausgehen konnte Susanne ihren Freund nur noch durch einen Blick begrüßen. Aber der kommende Morgen, der sollte ihn ja zu ihr führen und jedes Dunkel aufhellen. Trotz der Ermüdung der Reise war sie schon mit anbrechendem Tage wach und lange angekleidet, ehe noch das übrige Haus sich zu regen begann. Die Trauer war abgelegt, eine muntere Farbe hatte die Stelle vertreten und sich dem freudestrahlenden Gesichte angepaßt. So stand sie harrend am Fenster, jeder Männertritt auf der Straße trieb das Blut in ihre Wangen, jedes Klopfen an der Hausthüre vermehrte die Schläge ihres Herzens. Endlich um die zehnte Stunde wurde es draußen auf dem Gange laut und der Diener rief herein: „Herr Piat!“

Vierzehn Tage später in der Abendstunde sehen wir ein Schiff im Hafen von Dublin mit den Vorbereitungen zur Abreise beschäftigt. Passagiere gehen ungeduldig auf dem Deck auf und ab und harren des Zeichens, welches das Lichten der Anker bekundet. Am obern Deck stehen zwei Personen über den Rand gelehnt und schauen sinnig in die mit jeder Minute düsterer werdende Nacht hinaus. Der Herr hält die Hand der Dame in der seinigen, sein Blick leuchtet in hoher Befriedigung, während er sein Auge auf seiner Gefährtin ruhen läßt, die sich an ihn schmiegt, als wolle sie sich seiner Gegenwart noch erst recht versichern, indem sie der Küste den Abschiedsgruß zuwinkt.

„Noch ist es Zeit, Susanne,“ spricht eine tiefe, weiche Stimme. „Ein Wort der Reue oder des Bedenkens, und jenes kleine Boot führt Dich an das Ufer zurück.“

„Wie Du nur fragst, Julius!“ versetzt sie mit ruhigem Lächeln. „Wenn ich nun auch noch umkehren wollte, könnte ich denn, nachdem das große Wort: „und er soll Dein Herr sein,“ gesprochen?“

„Es ist eine Form, deren Sinn wir nicht mehr anerkennen.“

„Aber mein Herz sprach sein Amen dazu, und nimmt es auch jetzt nicht zurück. Und so laß uns denn getrost in Deine Wälder ziehen, mein Julius, und sei versichert, daß die Hütte, die Du mir bauest, stets meine liebste Heimath sein wird.“

Er zog sie sanft an sich und küßte sie leise. „Und Glauben und Vertrauen sei das Motto, das über unserer Schwelle geschrieben, und mit solchen Penaten trotzen wir einer Welt!“ sprach er feierlich, und blickte zu den Wolken auf, durch deren grauen Schleier eben ein Strahl des Mondes hervorbrach, um das Lächeln des Glückes zweier in Harmonie vereinigter Wesen aufzufangen.




Aus der Menschenheimath.

Briefe
Des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Eilfter Brief.
Der Kamm.

Wenn Du zu Deinem Nachbar, dem Schreiner oder zu dem Hufschmied des Dorfes gehst und ihnen ein Stündchen bei ihrer Arbeit zusiehst, so wird Dich’s ohne Zweifel wie mich unterhalten, zu sehen, wie sie bald dies, bald jenes Handwerkszeug zur Hand nehmen, um ihre Arbeit damit zu fördern, je nachdem ein jedes dazu geeignet ist. Kommt man aber nun erst in die Werkstätten einer großen Stadt, wo die Meister, wenn sie ihren Vortheil verstehen und nicht träge Stillstandsmänner sind, immer die neuesten vervollkommneten Werkzeuge haben, so staunt man oft über die sinnreichen Verbesserungen, die der Mensch ausgedacht hat, um sich seine Arbeit zu erleichtern und seine Gewerbserzeugnisse immer mehr zu vervollkommnen.

Unsereiner zerbricht sich da oft den Kopf, wozu wohl das oder jenes Werkzeug bestimmt sei, bis es der geschickte Geselle zur Hand nimmt und uns durch den Augenschein darüber belehrt.

Ueberhaupt die Werkzeuge sollten wir, die wir nicht damit arbeiten, und die dies thun erst recht, nicht so gedanken- und empfindungslos ansehen, als es meist geschieht. Mir giebt ein einfaches Instrument, ein [387] Hobel, eine Säge, eine Feile, gar oft Stoff zu stundenlangem Nachdenken und erweckt in mir die wohlthuendsten Empfindungen.

Sind nicht diese und andere allgemein angewendeten Werkzeuge Ehrendenkmale, welche sich die Menschheit auf ihrem langen Culturgange gesetzt hat? Stelle einen Menschen neben einen Baum ohne etwas Anderes als seine Hände – und dann gieb ihm Axt und Säge und Keil und Hobel und Hammer und Bohrer – und diese kleinen Helfershelfer vertausendfältigen die Kraft und Geschicklichkeit des vorher machtlosen Menschen, wie die Gnomen, die in Rübezahl’s Reich dem Bergmann beistehen.

Wie kommt es nur, mein Freund, daß die Menschheit mit einemmale so dankbar geworden ist, und jedem Tonsetzer ein Denkmal setzt? Kein Mensch kennt und ehrt den Namen des Mannes, der den Hobel ersann. Ich habe noch von keinem Denkmale für den Hobelmann gehört. Lache nicht! Ich meine es ernst. Es fällt mir freilich nicht im Traume ein, ein Denkmal für ihn zu beantragen. Ich will durch meine Worte nur Dein Nachdenken für diese Wohlthäter der Menschheit wecken.

Oder wäre diese Benennung: Wohlthäter der Menschheit, für die Erfinder der Werkzeuge unpassend und übertrieben?

Ich glaube es nicht. Du hast mir in früheren Unterredungen mit Theilnahme und innerer Zustimmung zugehört, wenn ich Dir zu beweisen suchte, daß unsere geistige Hälfte durchaus nur von äußeren körperlichen Dingen abhängt. Du wirst mir also beipflichten, wenn ich einen so hohen Werth auf die Erfindung und Vervollkommnung unserer Werkzeuge lege und für die Unbekannten, denen wir dieselbe verdanken, eine hohe Verehrung fühle.

Doch sind denn auch immer jene Erfinder wirklich die selbstständigen Erfinder gewesen? Hat nicht vielmehr oft ein Vorbild in der Natur sie auf ihre Erfindungen geleitet? Wenn wir auch Letzteres gewiß in manchen Fällen zugeben müssen oder wenigstens voraussetzen können, so schmälert dies Jener Verdienst nicht. Denn die Allen freundliche Mutter Natur hat für ihre Erzeugnisse keine Patente genommen.

Diese Beziehung zwischen den menschlichen Erfindungen und manchen Dingen in der Natur, glaubte ich den wenigen Worten vorausschicken zu müssen, welche ich zur Erklärung meines heutigen Bildchens hinzuzufügen habe. Der Mensch glaubt manches Werkzeug, manche zu Erreichung seiner alltäglichen Lebenszwecke erforderliche Vorrichtung, zuerst erfunden zu haben, während ihm hierin, von ihm ungeahnt, und daher seinen Erfinderruhm nicht schmälernd, die Natur Millionen Jahre vorausgegangen ist.

Der denkende und aufmerksame Beschauer der Natur und ihrer Formen findet nicht selten überraschende Vorbilder der menschlichen Erfindungen darin; und es scheint mir eine neue Seite der Naturwissenschaft, diese Beziehung zu sammeln, um einen neuen den tausend älteren Fäden hinzuzufügen, durch welche der Sohn Mensch an seine Mutter Natur geknüpft ist.

Sieh Dir jetzt einmal die ganz treue Abbildung an, die ich beigelegt habe. Das Ding, was Du abgebildet siehst, ist in Natur nicht größer als der Punkt hinter diesem Satze. Du wirst staunen und doch ist es buchstäblich wahr. Jede Spinne, welche ein Gewebe macht, hat am äußersten Ende jedes ihrer acht Füße eine solche Vorrichtung aus einem oder zwei zierlichen Kämmchen und vielen Borstchen bestehend, welche letztere zusammen einen lockeren Pinsel bilden. Du magst mit Deinen scharfen Augen einen Spinnenfuß ansehen wie Du willst, Du wirst die kleinen Dingerchen doch nicht erkennen; schon deshalb nicht, weil die Spinne dieselben, wenn sie sie nicht gerade anwendet, eingeschlagen trägt, ungefähr wie wir ein Taschenmesser, damit es sich nicht abstumpfe, in das Heft einschlagen; oder wie die Katze ihre scharfen Klauen zurückzieht, damit sie sich beim Gehen nicht abnutzen.

Du darfst das Ding nur ansehen, um zu begreifen, daß es ganz zweckmäßig dazu eingerichtet ist, um damit die Fäden des Spinnengewebes von anhängendem Staube und anderen Unreinigkeiten zu reinigen. Der große vordere Haken jedes Kammes dient ohne Zweifel dazu, um der Spinne das schnelle und sichere Hin- und Herlaufen auf den feinen Fäden des Gewebes möglich zu machen. Sie hakt sich dabei damit fest. Auch dienen sie der Spinne, um die Festigkeit der Fäden zu prüfen, denn wenn Du im Sommer darauf achten willst, so kannst Du leicht sehen, daß die Spinnen dann und wann ihre Gewebe förmlich begehen und untersuchen, und die einzelnen Fäden zuweilen dehnen und ausspannen, ob sie noch hinlängliche Festigkeit haben. Uebrigens sind an jedem der 4 Füße der einen Körperseite diese Kämmchen etwas anders gestaltet; ohne Zweifel weil jeder Fuß zur Instandhaltung des Netzes es etwas anders braucht. Die Kämmchen der entsprechenden Füße auf der andern Seite des Leibes gleichen dann denen der anderen vollkommen.

Wenn Du mein Bildchen ansiehst, was wie gesagt nach einer mit dem Mikroskop aufgenommenen vollständig naturgetreuen Abbildung gezeichnet ist, so macht es Dir gewiß Mühe, zu glauben, daß in einem mohnkorngroßen [388] Fußspitzchen einer Spinne zwei zwanzigzähnige Kämme und außerdem noch zahlreiche Härchen und Borstchen sein können. Das kleine Pünktchen in dem Kreise meines Bildchens giebt Dir, eher zu groß als zu klein, die natürliche Größe desselben an. Ueberhaupt das Mikroskop entdeckt uns nicht geringere Wunder und mehr verborgene Schönheiten als das Teleskop, durch dessen Hülfe die Astronomen eine Art Landkarte vom Monde gemacht haben. Im Kleinsten ist die Natur eben so groß, als im Großen und Gewaltigen.

Nicht alle Spinnenarten haben so ganz vollendete wahre Kämme an ihren Fußspitzen. Andere haben dafür blos mehrzähnige Haken und Klauen.

Sollte man nicht der verehrlichen Kammmacher-Innung empfehlen, eine Spinne auf ihr Innungs-Insiegel als Symbolum zu setzen?

Wo stecken nun die natürlichen Vorbilder für die Feile, Säge, den Hobel u. s. w.? Vielleicht kann ich Dir ein andermal etwas davon berichten.




Das Paradies in Central-Amerika.

(Aus dem Briefe eines in Nicaragua lebenden Deutschen.)

Du weißt, ich liebte stets schöne Natur, schöne Mädchen, schöne Kunst, aber nichts so treu und redlich, als das süße, holde Nichtsthun mit Cigarren dazu rauchen. Aber wo das dolce far niente, die süße Gewohnheit des Daseins (am Ende doch das Ideal und Ziel auch des fleißigsten Büffels) finden? Die Engländer haben zu viel zu thun, die Deutschen zu viel zu leiden, die Franzosen zu viel Purpur und köstliche Leinwand (auch bereits mit Baumwolle vermischt) zu bewundern. Unter diesen hielt ich es weder in Europa noch in Amerika aus. Alles ist Laden, Büreau, Geschäft, Schacher, Wucher, Geldmachen, Geldgeben hier wie dort. Ich sehnte mich nach einer Gegend, wo ich mit Ruhe ruhig sein könnte. So ich nicht arbeite, will ich doch essen und genießen, dachte ich. Ich war früher ganz anders, freilich; aber was kann ich dafür, daß mich die Schicksale in Deutschland und auf meinen Reisen so änderten? Ich bin nicht schuld, ich klage die Fleißigen an, daß ich so träge geworden bin. Nirgends kommt ein Mensch mehr zu sich vor lauter Arbeit, Plack und Qual. Nirgends hört man sein eigenes Wort vor all dem Maschinenlärm aus eisernen Rädern und von schwieligen Händen. In Amerika fand ich’s noch ärger wie in Deutschland. Ich dachte an Australien, aber nur eine Minute. Australien ist eben im Bau begriffen und Alles läuft und schreit und liegt durch einander und schneidet sich gegenseitig die Beutel, wohl auch die Hälse ab und steht bis an den Nabel in Schmutz und zerhackt die jungfräuliche Erdenhaut, um ihr das Gold auszuschneiden. Wenn Alles fertig ist, muß es wunderschön sein. Um etwas zu vollenden, muß man arbeiten. Ich aber wollte eine faule Bärenhaut, um von dem Lärm des Lebens auszuruhen und meine vielen innern Wunden zu heilen. Niemand darf sagen, daß man es mit solchen Grundsätzen nicht weit bringe in der Welt. Hab’ ich’s doch damit ziemlich weit gebracht, nämlich bis nach der Republik Nicaragua auf der andern, heitern, noch in seiner natürlichen Fülle und ewig lachenden Sonne mit dem süßesten Nichtsthun beschäftigten Seite Amerika’s, die sich im stillen Ocean spiegelt und immerwährend Confect, das die Natur bäckt und zuckert, dazu genießt. Wenigstens ist’s so bei mir zu Hause. Von Californien, Mexico und was sonst noch Alles auf dieser Seite liegt, rede ich nicht. Ich bin zu Hause, ich bin Bürger der Republik der Schlaraffen, wo man die gütigste, schönste Mutternatur beleidigen würde, wenn man etwas thäte, da sie in diesem Falle glauben könnte, ihre Gaben ständen uns nicht an. „Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder?“ Unsinn! Hier verblüht er niemals. „Pflücket die Rose, ehe sie verblüht?“ Wozu Rosen, die als Königinnen der Blumen in der Republik des Paradieses ohnehin Unruhe stiften und auf Umsturz der Verfassung duften könnten, da man hier das größte Treibhaus voll schönerer Blumen, Früchte, Vögel und anderer paradiesischer Thiere hat? Das Treibhaus, nicht mit einer Glas-, sondern mit der Himmelsdecke,[1] ist 3000 Geviertmeilen groß und die Republik Nicaragua selbst. Alles ist Garten, Blume, Duft und Frucht in einer stets luftigen Luft, die nie unter 18 Grad Réaumur sinkt und nie über 26 steigt. Letztere sind aber kaum so viel, als 18 in Deutschland, da der heiterste, lebenslustigste Zephyr stets von Westen kommt, er mag herkommen woher er will, nämlich stets vom Meere. Du mußt nämlich wissen, daß mein Paradies sich zwischen zwei Meeren hinzieht, dem stillen Ocean, an welchem Nichtsthun eine Cardinaltugend ist, und dem Nicaraguasee, der keine andere Beschäftigung hat, als dem Himmel, Sonne, Mond und Sternen als Spiegel zu dienen und die ganze Bevölkerung von Granada alle Morgen in seinen molligen Wassern herumplätschern zu lassen. Ich bin in der Regel auch dabei. Erst zögerte ich mit deutscher Tugend lange, mich der ländlichen Sitte anzuschließen; da ich aber bemerkte, daß ganz Granada, Alt und Jung, Arm und Reich (aber Arme giebt’s eigentlich nicht), Masculinum und Femininum mit der größten Naivetät und Anständigkeit in dem Wasser herumjauchzte und nur beim Ein- und Aussteigen überm Wasser von den Damen Stellungen angenommen wurden, die man an der medicäischen Venus bewundert [389] und durch verschiedene Beobachtungen sich als die wahrhaft unmittelbare erwiesen hat, trug ich nach kurzer Zeit kein Bedenken mehr, mich zu der üblichen Zeit Morgens dem Strome anzuschließen und dem kosmopolitischen Elemente anzuvertrauen. Ich erfuhr dabei, daß Rousseau eigentlich recht hat mit seinem Ausspruche, daß gerade die Bekleidung viele Schuld an der Demoralisation habe. Die Sünde ist hier weniger zu Hause als in irgend einer andern großen Stadt, obgleich das weibliche Geschlecht sich blos mit einem „Camisa“ (Hemd) von der feinsten Gaze und einem eben so unmateriellen Hüftenrock, mit Silber und Gold gestickt, bekleidet. Alles Andere, selbst der Hut erscheint überflüssig und lästig, nur daß die Füße in ein Paar farbigen, leichten Schuhen stecken. Zwar hat unsere Landsmännin aus Königsberg in Preußen, die mir gegenüber wohnt, eine Art Putzgeschäft etablirt und die Pariser Tracht einzuführen angefangen; sie dringt aber nicht in das Volk, schon wegen der Temperatur und dann auch, weil es zu viel Mühe macht, sich so einzuschnüren, zuzuheften und eine Menge Luxus mit Bändern und Stecknadeln zu befestigen. Die europäische Damentracht hat hier dasselbe Schicksal, wie die Bloomer-Costüme in England. Man lacht darüber und muß auch darüber lachen, da die hiesigen Damen sich gar nicht in dies Costüm finden zu können scheinen, darin furchtbar schwitzen und mit den Kleidern wedelnd die Straße fegen, als wären sie von Zucker, von welchem man immer die Fliegen wegfegen müßte. Charakteristisch ist’s, daß gerade die Damen, welche sich in europäischer Tracht sehen lassen, in schlechtem Rufe stehen. Im Anfange dachte ich, man könne die Damen in ihrer fabelhaft leichten Kleidung auch leichtfertig behandeln, überzeugte mich aber bald, daß auch hier „die Sittlichkeit, wie eine Mauer, umgiebt das zarte, leicht verletzliche Geschlecht,“ wobei ich natürlich blos an die wirklich gebildeten Kreise denke. Das männliche Geschlecht der ersten Klasse (Spanier, Regierung) trägt feine weiße Jacken, die zugleich das Hemd mit vertreten, eben solche Beinkleider, leichte gelbe Schuhe, einen feinen hohen Strohhut und eine blutrothe Schärpe um die Taille. Solch ein vornehmstes, vollständiges Costüm kostet nach Eurem Gelde etwa 21/2 Thaler. Die zweite Klasse, aus indianisch-spanischen oder indianisch-deutschen und anderen Mischlingen hestehend, trägt sich ebenso, nur ohne die rothe Schärpe, welche der Orden unserer Aristokratie ist. Die Indianer (dritte Klasse) begnügen sich mit Beinkleidern und Hut; alles Andere ist ihnen von Uebel; deren Frauen und Töchter vollenden ihre Toilette, indem sie ein weißes Tuch um die Hüften schlagen und einen Männerhut dazu aufsetzen. Kinder tragen bis zum 10., 11. Jahre gar nichts. Schneider und Kleidermagazine können also nicht hierher speculiren. Die Mädchen sind hier vom 11.–12. Jahre an Jungfrauen und die Knaben vom 13.–14. Jünglinge. Erstere heirathen oft schon im 12. Jahre. Meine schwarzäugige Nachbarin, die noch gar keine Toilette machte, als ich vor etwa vier Monaten hierherkam, trägt jetzt ihr Camisa und ihren goldgestickten Hüftenrock, denn sie ist Frau und feiert erst in etwa sechs Wochen ihren 14. Geburtstag. Die erste Klasse der Bevölkerung hier regiert und thut nichts, die zweite hilft regieren und thut auch nichts, die dritte nur läßt sich regieren und besorgt das Bischen Arbeit sehr heiter, fleißig und treu. Die Indianer und ihre Frauen und Mädchen bieten Früchte feil, Hunderte von kostbaren, süßen, duftigen Fruchtarten, von denen Ihr gar keine Ahnung habt, waschen und nähen, tragen Packete und Briefe, kehren und fegen und putzen, kaufen ein, schaukeln die Damen in ihren Hängematten, besorgen Pferde und Maulesel und was sich sonst für sie zu thun findet. Die zweite Klasse handelt. Fast in jedem Hause giebt’s etwas zu verkaufen, aber meist ohne Laden und Schild. Man kennt sich gegenseitig und Barthels weiß genau, wo er den Most holt. Unser Granada hat kaum 25,000 Einwohner in luftigen, größtentheils fensterlosen Lauben, die manchmal vergittert sind, größtentheils aber nur des Nachts mit vergitterten Läden geschlossen werden. Es ist Alles so offen und frei und durchsichtig, wie ich mir kaum einen größeren Gegensatz zu dem englischen Leben denken kann. Der ewig speculirende Engländer ist bis über den Hut hinaus, über das ganze Gesicht hinweg zugeknöpft und wohnt hinter Eisengittern in seiner stets verschlossenen Burg und hinter noch besonders verschlossener Thür und spricht entweder gar nicht, oder nur mit wenigen, einsilbigen, unarticulirten Stößen; wir Schlaraffen hier wohnen in offenen Gartenlauben, speculiren nicht und rauchen Cigarren dazu und sprechen so volltönig und wohlklingend gravitätisch, daß jedes Wort vokalreich einsetzt und austönt. Wir brauchen zu einem bloßen „Guten Morgen“ mehr Zeit und Worte, als der Engländer zu einem Geschäft um 100,000 Pfund. Er spricht nie, sondern stößt blos unwillig schauderhafte, unverständliche Töne aus; blos der Spanier weiß zu sprechen in der heitern, hellen Luft, die so liebenswürdig zum Müssiggange einladet. Karl der Fünfte hatte Recht, wenn er das Englische zur Unterhaltung mit Gänsen, das Spanische zur Audienz bei Göttern und das Deutsche zum Plaudern mit unsern Freunden empfahl. Deshalb schreibe ich republikanischer Spanier und Schlaraffe auch Dir, lieber Freund, in der reichen Muttersprache, die Du bereits in allen Höhen und Gegenden der Welt findest, wo Civilisation hingedrungen ist, und die jedenfalls das Organ aller Menschen für ihre geistigen und Herzensbedürfnisse werden wird, wie das Englische die Welt- und Geldsprache. Unser bequem und majestätisch austönendes Spanisch bleibt für die Götter der Erde, die holden, höhern Faullenzer von Profession und Genie.

Aber Du wirst nun fragen, was ich eigentlich hier mache? Wie gesagt: Nichts. Cartesius glaubte Wunder was zu sagen mit seinem „Cogito ergo sum“ (ich denke, folglich bin ich). Ich sehe mitleidig auf den großen Philosophen herab mit meiner Philosophie: „Ich bin, folglich brauch’ ich nicht zu denken. Ich bin, ich befinde mich.“ Wie? Das ist schon Luxus. Sich schlecht befinden, ist ein Mangel, sich wohl befinden ein Ueberfluß. Befinden! Befinden! Nichts als Befinden! Doch bin ich offen genug, Dir auch meine Schwachheiten zu bekennen. Ich habe nämlich [390] wirklich etwas gethan und sogar ein Amt bekommen. Es fehlte der Republik an großen Männern und so zog man mich verlornen Sohn Deutschlands aus der Sevilla-Straße in Granada hervor, setzte mich auf ein Pferd und führte mich durch einen prächtigen, 18 Meilen langen Garten voller Früchte und bunter, lärmender Vögel bis nach Managua, dem Regierungssitze des Präsidenten Frutos, und vor diesen selbst. Er trug keine Krone und keine Uniform mit Orden, sondern auch eine Leinwandjacke für 16 Neugroschen. Und doch jeder Zoll ein König mit der Cigarre im Munde! – Sollte ich eingesteckt oder ausgewiesen werden? Man strapazirt sich hier mit solchen Geschäften nicht ab. Nein der wunderschöne, majestätische Mann wies mit seiner Cigarre auf einen Stoß Papier und fragte mich, ob ich aus diesen letzten Congreßakten einen Auszug machen und in’s Englische übersetzen könne und wolle? (Ich erfuhr hernach, daß er der englischen Regierung ein Geschenk damit zu machen beabsichtige.) Meine Schwäche war so stark, daß ich die geheime Unterstaatssecretärstelle annahm und später auch einige Goldmünzen, die sich nachher in ungeheuer viel Silber verwandelten. Ich bin damit fertig und hatte nun ein Staatsgeheimniß in’s Englische zu übersetzen. Nur so viel will ich ausplaudern, daß es sich um das Stück Nicaragua an der atlantischen Seite handelt, welches die Engländer dem König der Mosquitoküste geschenkt haben. Das Aktenstück giebt durch die Blume zu versteben, daß es keine Kunst sei, Geschenke zu machen, wenn man sie vorher andern ehrlichen Leuten wegnähme, ohne sich hinterher wenigstens mit ihnen abzufinden. Frutos verlangt nun im Auftrage des Parlaments oder Congresses Ausgleichung von den Engländern. Was ich thun kann, um die Engländer zur Raison zu bringen, will ich gewiß thun trotz meiner grundsätzlichen Trägheit. Man muß sich doch um’s „Vaterland“ verdient machen. Nicaragua gehörte früher zu dem centralamerikanischen Polen, der berüchtigten Republik, die aus den jetzigen Republiken Guatemala, San Salvador, Honduras und Costarica bestand. Nicaragua’s Verfassung ist ganz der nordamerikanischen ähnlich. Und dieses anglo- sächsische Product scheint nun hier unter dem glücklichsten Klima selbst den Romanen zu bekommen. Das Land ist groß genug und hat auf seinen 3000 Geviertmeilen blos 260,000 Einwohner, so daß der Präsident blos halb so viel Menschen glücklich zu machen hätte als der Bürgermeister von Berlin, wenn Frutos solch ein Narr wäre, seine Urwähler glücklich machen zu wollen und die Urwähler noch größere Narren, ihr Glück nicht selbst zu besorgen und es lieber aus der Fabrik „Staat“ zu beziehen, der unter den besten Verhältnissen nicht ein so reiches Assortiment von Glückssorten fabriciren kann, um Jedes Geschmack zu befriedigen. Wenn jedem Narren seine Kappe gefallen soll, muß er sie selbst machen und nach seinem Willen schief, grade, links oder rechts, vorn- oder hintenüber tragen dürfen.

In Nicaragua (der Stadt, am See weiter im Norden) wohnen mehrere Deutsche und machen Chocolade, das Hauptgetränk der Bewohner (aber dünner gekocht und ohne Gewürz, welches zu sehr erhitzen würde). Ich beschloß, ihnen von Managua aus einen Besuch zu machen, miethete deshalb zwei Pferde und begab mich mit meinem Indianer als Wegweiser auf die Reise. Wir ritten immer durch üppige Wälder und wilde Gärten, die von Früchten und Thieren in allen Farben und Gestalten strotzten. Wenn wir in einem Gasthofe einkehren und „Einen nehmen“ wollten, streckten wir blos die Hand aus und rissen eine Frucht ab, besonders eine kokosnußartige, aber weit süßere, in die man ein Loch stößt, um sofort daraus die herrlichste Limonade trinken zu können. Hat man dabei noch Hunger, genießt man die haselnußartig-schmeckende, dicke Schale und sehnt sich dann nicht nach Braten und Kartoffeln. Fleisch wird hier überhaupt selten genossen, da man selten Appetit darauf bekömmt und es auch unter diesem Himmel bald wie Gift wirkt. Das gelbe Fieber ist eine Folge der Fleischnahrung und hitziger Getränke in heißen, besonders heißen und feuchten Ländern. „Ländlich, sittlich“ ist das erste Gesetz, besonders für die Diät.

Da wir auf unserer Reise durch verschiedene Lagunen und Sümpfe, die von der Regenzeit her noch nicht ausgetrocknet waren, zu Umwegen genöthigt wurden, waren wir nicht im Stande, Nicaragua vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Mein Indianer ritt mit mir deshalb nach einem Indianerdorfe, wo er gute Freunde hatte und auch ein Weißer „über dem großen Wasser drüben her“ wohnen sollte. Die Indianer saßen und lagen vor ihren Hütten um einen alten Mann herum, der wie Baumrinde aussah, und ihnen Geschichten erzählte. Gleich in der ersten Minute fiel mir der ungemeine Wohllaut seiner Worte auf. Es klang wie lauter Vocale ohne S’s und R’s und ohne alle Härten. Es war die musikalische Sprache der Mosquito-Indianer, von denen sich einige bis hierher gezogen hatten, um den Handel zwischen den Mosquitodörfern im Innern und Nicaragua zu vermitteln. Ich hörte hernach, daß der ganze Handel (mit Fellen, Vanille, Gewürzen u. s. w.) durch solche Stationen durch’s Land hindurch nach Häfen und die eingetauschten Sachen auf diesem Wege wieder ins Innere geschafft würden. Den Weißen fand ich bald aus der Dunkelheit heraus, obgleich er auch schon ziemlich wie ein abgegriffener Kupferdreier aussah. Wir freuten uns wie Brüder, die sich seit 20 Jahren eben zum ersten Male wiedersehen, und theilten uns unsere Schicksale mit. Es war ein tüchtiger Berliner (geboren in der Mulacksgasse, wenn ich mich recht erinnere). Mit den verunglückten preußischen Mosquitokolonisten war er bis nach einer Insel gekommen, dort ziemlich verhungert und endlich von Engländern nach dem Lande seiner Träume herübergebracht worden, um hier Felle abziehen und zum Export präpariren und trocknen zu helfen. Da es im Königreiche der Mosquito’s Sitte sei, zu große Freundschaft mit verheiratheten Mosquitonerinnen für jeden einzelnen Fall mit 2–3 Stück Vieh zu büßen und er als heerdenlos immer stärker in Schulden gerathen, wär’ er mit der schönsten unverheiratheten davongegangen durch dichte Wälder hindurch, und endlich hier mit seiner jungen Frau (durch den Segen eines Dorf-Aeltesten getraut) als Fell- und [391] Waarenpostpferd angestellt worden. Er hatte einen hübschen Garten vor seiner Thür und rühmte sich, auch Weißbierbrauer zu sein, was ihm besonders viel einbrächte. Er setzte mir denn auch wirklich ein Getränk vor, das wie Weißbier schmeckte, sogar noch viel saurer. Es war Frucht-Most, der gährend sich vom Schaum geläutert, zum Trank geworden, der Geist und Sinn erheitert. Für einen solchen Weißbierbrauer und Kuhhauttreiber war die Frau zu schön. Sie hatte etwas Rührendes in ihren Bewegungen, besonders wenn sie jedesmal, nachdem sie etwas zum Essen oder Trinken angeboten, die Arme kreuzweise über die Brust legte, ihre braunen Augen aufschlug, senkte und sich selbst dazu. So eine Verbeugung könnte in den feinsten Salons Furore machen, wenn sie so natürlich gelänge. Mann und Frau lebten seit etwa sechs Wochen zusammen in der größten Glückseligkeit, ohne daß sie mit einander sprechen konnten. Sie lachte jedesmal, wenn sie Berliner Deutsch nachsprechen sollte und es nicht über die Zunge bringen konnte, und er verwechselte die vielen Vokale ihrer Sprache so oft und verwirrend, daß sie aus dem Lachen nicht herauskam, wobei sie sich öfter zu seinen Füßen warf und ihm ihre schneeweißen Zähne und dunkeln, braunen Augen mit einem solchen glücklichen Uebermuthe zeigte, daß er Mulacksgasse und ganz Berlin und ganz Europa vergaß und es immer noch für einen Traum hielt, mit einer indianischen Schönheit, die mit ihm gar nicht sprechen konnte, so überglücklich zu sein.

Wir blieben zwei Tage bei ihm, auf dem Rückwege noch länger. In Nicaragua verlebte ich bei den republikanischen Chocoladen-Fabrikanten aus Hannover, Baiern u. s. w. auch recht glückliche Tage. Jeden Morgen ging es zu Pferde nach dem etwa ein Stündchen entfernten großen See, wo die Natur alle ihre Schönheit an Bäumen, Blumen, Thieren und Menschen enthüllte, wie in Granada. Doch eine dunkle (wenigstens Dir noch nicht bekannte) Sehnsucht trieb mich bald wieder nach Granada zurück durch böse Affen, bunte Vögel und besonders graziöse, neugierige Giraffen hindurch, die mich mit ihren kleinen Köpfen hoch von Oben beguckten, wenn ich zu Pferde an ihnen vorbei sauste. Es ging schnell; nämlich Du mußt wissen, daß ich verheirathet hin. Ich kam dazu, ich wußte selbst kaum wie, will Dir’s aber erzählen. Eines Morgens war mir das Planschen und Plätschern um mich herum vor Granada etwas zu bunt und dicht. So schwamm ich weit hinaus nach einer der 6 kleinen paradiesischen Inseln, die sich 1/2 bis 3 Stunden weit Granada gegenüber im Nicaraguasee wie große Blumen-Bouquets erheben. Kaum hatte ich die nächste Insel erreicht, so trat eine etwas in’s Bräunliche spielende, ganz lebendige medicäische Venus hervor und bat mich, wenn ich zurückgeschwommen, ihren Vater zu bitten, daß er einen Kahn herübersende; sie getraue sich nicht, wieder hinüber zu kommen, da sie wiederholt einen Krampf in den Fuß bekommen habe. Ich bot ihr an, ihr nachzuschwimmen und sie im Falle der Noth bei den Haaren über Wasser zu halten und so mit hinüber zu bugsiren. Der Einfall gefiel ihr. Sogleich löste sie ihr schönes Haar als den Rettungsanker im Falle der Noth, sprang von dem grünen Hügel hinunter in das blaue, tückische Wasser und ich ihr nach. Sie schwamm wie ein Fisch, so daß ich trotz aller Anstrengung weit zurückblieb. Endlich schrie sie auf und sank, ehe ich sie erreichen konnte, doch beim Auftauchen faßte ich sie, freilich nicht beim Haar, und in ihrer Besinnungslosigkeit klammerte sie sich an meine Füße an, daß ich unfehlbar mit ihr gesunken, wenn nicht vom Ufer her uns ein Mann zu Hülfe gesprungen wäre, der mich ganz kunstgerecht in gehöriger Entfernung bei den Haaren zu halten wußte. Die Geschichte war bald erzählt und der Schreck überwunden, so daß der Vater meiner Unglücksgenossin scherzhaft äußerte, ich müsse seine Tochter nun der Landessitte gemäß heirathen. Die Sitte verbietet nämlich jede Berührung beim Baden und wird ohne alle Polizei freiwillig unverletzt gehalten. Absichtliche Berührung gilt als Entehrung, die nur durch eine eheliche Verbindung gesühnt werden kann, selbst wenn auch in derselben Stunde die Scheidung wieder erfolgen sollte.) Dieser Scherz veranlaßte mich, seine Tochter etwas näher anzusehen. Auch folgte ich seiner Einladung, ihn in seinem Hause zu besuchen. So sah ich denn in Lyda bald eins der liebenswürdigsten Stückchen Erbsünde und erkannte in ihr zugleich den heitersten, gutmüthigsten Charakter. So standen wir eines Tages vor einer Art von Magistratsbeamten, dem wir unsere Absicht mittheilten. Er nahm seine Cigarre aus dem Munde, sagte, es sei gut und werde es heute noch in’s Buch eintragen. Mit diesem einfachen Processe war unsere Ehe geschlossen. Damit es aber nicht ganz an Feierlichkeit fehle, sagte der Vater der Stadt: „Mein hijo (Sohn), ich hoffe, Sie werden sie glücklich machen. Guten Tag, Usted!“ (Herr!) Wir bezogen unser eigenes Häuschen mit zwei Hängematten, einem Tische und ringsherum bankartig aufgeschichteten Teppichen (die sehr gut Stühle und Sopha’s vertreten) und einem treuen Indianermädchen, die Herrin des Hauses in der Wirthschaft des süßesten Nichtsthuns zu unterstützen. Außer der Ehe habe ich einen kleinen Handel mit Häuten und Gewürzen angefangen, mit gelegentlichem Uebersetzen für die Republik.




Blätter und Blüthen.

Ein Sturm in der Sandwüste. In den ausgedehnten Ebenen des nordwestlichen Asiens, wo sich weder Baum noch Strauch findet und nur selten eine geringe Erhöhung dem in die unendliche Ferne sich verlierenden Blick einen Ruhepunkt bietet, so wie in den dortigen Sandwüsten werden die Reisenden oft von Stürmen heimgesucht, die, besonders im Herbst und Winter, bisweilen eine so furchtbare Gewalt erlangen, daß sie Menschen und Thiere niederwerfen und sie unaufhaltsam über [392] die Fläche hinschleifen. Noch schlimmer aber, wenn die Betroffenen vom Sturme emporgehoben werden. Ihr Loos ist unfehlbar zerschmettert zu werden.

Zum Glück verkünden sich die heftigsten Stürme vorher und lassen den Bewohnern gewöhnlich noch Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Dann zeigt sich unter Menschen und Thieren erst eine wachsame Aufmerksamkeit und eine ängstliche Stille, die dann von dem wildesten Treiben und Drängen unterbrochen wird, sobald die Zeichen der hereinbrechenden Naturerscheinung als untrüglich erkannt werden. Aus der Nähe und Ferne eilen die Heerden und die zerstreut weidenden Thiere herbei, legen sich nieder und schließen sich so fest wie möglich zusammen, ohne Unterschied: Kameele und Schafe, Pferde und Rindvieh, so zahlreich sie immer vorhanden. Die Menschen beeilen sich, ihre Hütten niederzureißen und die Stäbe, Matten und Hausgeräthe so fest als möglich zusammenzubinden; andere haben während der Zeit Gruben gegraben, worin sich die Familien verbergen, wenn auf der Oberfläche der Widerstand nicht mehr möglich wird. So vorbereitet kann man den furchtbaren Druck noch ertragen. Wo aber im rasenden Sturme eine Windsbraut aufwirbelt, da reißt sie ihre Opfer in Masse vom Boden empor und führt sie mit zerbrochenen und zerstückten Gliedern auf ihrer tosenden Säule meilenweit in die Ferne hinaus.

Im Winter, bei eisiger Kälte und heftigem Schneegestöber, worunter sich die Augen krankhaft schließen, finden sich die zerstreuten Heerden nicht immer zusammen. Manche Hütte wird dann vom Sturme entführt, noch ehe es gelang, dieselbe niederzureißen. Die Menschen in ihren Vertiefungen und Gruben werden vom Schnee bedeckt, worunter sie, von der Kälte betäubt, in einen festen Schlaf versinken, aus welchem sie oft nie wieder erwachen. Doch findet hier in der Regel noch Rettung Statt. Aber wen das Unwetter ohne Vorbereitung auf der Sandwüste überkommt, den begräbt es unter schwerem Sande und Tod ist die unvermeidliche Folge.

Auf den Ebenen, wo vor Jahrtausenden die Wogen des kaspischen Meeres sich weithin nach Norden erstreckten und die jetzt zum Theil den zahlreichen Heerden der muhamedanischen Hirtenvölker, der Kirgisen, üppige Gras- und Kräuterweiden bieten, häufte sich an verschiedenen Stellen, durch die Kraft des Sturmes auf den ausgedehnten Flächen, der sandige Meeresgrund so hoch, daß auch ein mildes Klima nicht mehr im Stande ist, diese Dünen mit Gras zu bekleiden. Die Kirgisen müssen die Strecken oft durchwandern, um die jenseits derselben liegenden Weideplätze zu erreichen. Während meines Aufenthaltes unter ihnen – schreibt der Verfasser des Tagebuches, dem wir diese Mittheilung entnehmen – wohnte ich selbst einige Zeit in der Nähe einer solchen Sandfläche in einer aus Lehm und unbehauenen Steinen erbauten Hütte. In der Umgegend befanden sich mehrere Hirtenfamilien, zum Theil in ähnlichen Lehmhäuschen, größtentheils aber unter transportablen Zelten von rothen künstlich ineinandergefügten Stäben unter baumwollenen Decken. Ich ritt öfters einige Stunden in die Sandwüste hinein, und fand ein seltsames Vergnügen daran, mich von den, vom Sturme gebildeten wellenförmigen Bergen und Hügeln des zarten Sandes rings umgeben zu sehen, wie von einem Meere, welches im Augenblicke der größten Erregung seine Gewalt ruhen läßt und es dem Wanderer erlaubt, einige Zeit trockenen Fußes über seine aufgetürmten Wellen dahin zu eilen. Auf dem Sande sah ich oft eine Art Eidechsen mit Blitzesschnelle dahingleiten und vermittelst einer eignen zitternden Bewegung ihres Körpers in den Sand versinken, um spurlos darunter zu verschwinden. Eines Tages, als ich mich von einem weiteren Ausfluge heimkehrend auf dem Wege nach meiner Wohnung befand, bemerkte ich die Kinder eines meiner Nachbarn, einen Knaben und ein Mädchen, welche im Sande spielten. Der Knabe belustigte sich damit, auf die Eidechsen Jagd zu machen. Wo er wußte, daß sich eine unter dem Sande verborgen hielt, berührte er sie mit einem Stäbchen, welches er in den Sand steckte, worauf das Thier sogleich hervorkam, schnell entfloh, in einiger Entfernung aber immer wieder unter der Oberfläche verschwand. Eins von diesen Thieren, welches der Knabe aufscheuchte, entfloh nicht sogleich, sondern lief der Gefahr entgegen, tauchte in den Sand, um einem dort verborgenen Gefährten, vielleicht seinem Weibchen, ein Zeichen zu geben, worauf denn auch sogleich eine zweite Eidechse hervorkam und nun beide davon eilten. Ich ermahnte die Kinder, diese treuen Thierchen nicht ferner zu verfolgen, und setzte den Weg nach meiner Wohnung fort. Hier angekommen, traf ich meine Nachbarn, wie sie in ängstlicher Hast ihre Wohnzelte niederrissen, und erfuhr auf mein Befragen, daß wir einen Sturm zu erwarten hätten, welcher sich nach ihrer Meinung am äußersten Horizonte in einer dunklen Streifwolke verkündete. Für mein steinernes Häuschen hatte ich nichts zu besorgen. Ich eilte nach dem Zelte, wo die Eltern der Kinder wohnten, welche ich vor etwa einer Stunde in der Sandwüste verlassen hatte. Aber sie befanden sich auf den entfernten Weideplätzen ihrer Heerden, und weil alle Nachbarn mit der Bergung ihrer eigenen Familien und ihrer Habe beschäftigt waren, so ritt ich selbst in die Steppe zurück, um den Kindern zu Hülfe zu kommen.

Die grasbedeckte Ebene hatte ich bald zurückgelegt, allein im Sande konnte ich meinem Pferde keinen raschen Schritt abgewinnen. Doch sah ich die Kinder bald; sie kamen mir weinend entgegen, denn sie hatten die herannahende Gefahr bemerkt und waren im Begriff, ihrer Heimat zuzueilen. Mir schien die Gefahr noch gar nicht so nahe, auch hatte ich nur einen unvollständigen Begriff von der Größe derselben. Ich nahm bis jetzt nur eine beängstigende Schwüle wahr und einen besonderen Druck der Luft von oben herab. Plötzlich aber wurde mein Pferd unruhig und meiner ferneren Leitung ungehorsam; es lief mit mir um einen Sandhügel herum und legte sich hinter demselben nieder. In einer Entfernung von einigen tausend Schritten aber rückte eine wandelnde Mauer von Sand und Schutt, wie sie der tosende Sturm auf seinem Wege durch die Wüste aufgetürmt hatte, in furchtbarer Hast auf mein Versteck heran. Noch fühlte ich nur erst einige leise Rundbewegungen der Luft. Die Kinder waren höchstens hundert Schritte von mir entfernt, allein sie konnten mich nicht mehr erreichen. Ich selbst warf mich neben meinem Pferde zur Erde und wurde bald darauf unter dem furchtbaren Druck des Sturmes mit Sand und Steinen förmlich überschüttet.

Nach einiger Zeit war der erste Windstoß vorüber, mein Pferd schüttelte sich aus dem Sande hervor. Allein der Sturm war noch heftig genug und diese Luft dermaßen mit feinem Sand gefüllt, daß das Athmen kaum noch fortzusetzen war. Von den Kindern glaubte ich, sie müßten in meiner Nähe begraben liegen. Ich klopfte meinen Gaul, der auf der Kalmückensteppe seiner Heimath an ähnliche Erfahrungen gewöhnt schien, auf den Hals, rückte einigemal am Zügel und das treue Thier erhob sich. Wir drangen, mit dem Sturme kämpfend, vorwärts, um die Kinder in ihrer Noth zu unterstützen. Bei einem Versuche jedoch, meine Augen zu offnen, waren dieselben sogleich mit Sand gefüllt. Ich versuchte also den durchdringenden Schrei nachzuahmen, den der Sohn der Steppe gellend in die weite Ferne zu schicken versteht, allein der heulende Sturm verschlang den Ton vor meinem Munde. Unter solchem Unwetter könnte auch eine Mutter ihr Kind nicht retten und wenn es zu ihren Füßen mit dem Tode der Erstickung ränge.

An mein Pferd angeklammert, tappte ich noch eine Weile umher, nachgerade an meiner eigenen Erhaltung verzweifelnd. Da fühlte ich mich plötzlich von den zitternden Händen des Mädchens erfaßt, und als ich mit der Hand umhertastete, fand ich auch den Knaben auf, welcher seine Schwester fest umschlungen hielt. Ich ließ die Zügel meines Pferdes los, hielt mich an den Riemen des Steigbügels und überließ unser Geschick der Leitung des Thieres, denn ein Mensch ist nicht im Stande, sich aus der sturmerregten Sandwüste herauszuhelfen.

Nach langem Kampfe, von dem fliegenden Sand und Steinen an Gesicht und Händen zerpeitscht, erreichten wir endlich die grasbewachsenen Ebenen, wo wir etwas freier athmen konnten, und bald darauf meine Wohnung. Die Kinder, welche ich für heute beherbergte, versanken, todesmüde, bald in einen festen Schlaf und unser Erretter, der Kalmückengaul, gab durch ein munteres Wiehern und Nicken mit dem Kopf sein Selbstbewußtsein zu erkennen, als ich ihn nach seiner Anstrengung so reichlich und kostbar bewirthete, als es meinen Vorräthen nach irgend thunlich war.

Am andern Morgen hatte sich der Sturm etwas gelegt und die Eltern der beiden Geschwister waren in Todesängsten zurückgekehrt. Ihr Wohnzelt und Hausgeräth hatte ihnen der Sturmwind allerdings entführt, aber sie trösteten sich gern über den Verlust, denn ihre Kinder fanden sie wohlbehalten in meiner Hütte.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Und dem 11. Grade nördl. Breite gedeckt.