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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[263]

No. 25. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Der Weber.

Was schaffst Du, liebes Mägdelein,
Zum Brautschatz Dir die Linnen
Mit ems’ger Hand zu spinnen? –
Hervor aus Deinem Kämmerlein,
Einen Weber will ich Dir zeigen
Dem alle Kunst muß weichen.

Er webt einen Teppich frisch und grün,
Drin wunderhell die Farben glühn,
Drin bunte Muster sprießen
Und goldne Lichter schießen.
Wo Du nur schaust in’s weite Land,
Ist auch der Weber Dir zur Hand:
In Blumen wirkt er und Bäumen,
In Herzen, wie in Träumen,
Das klingt und glüht
und webt und blüht,
Der Weber aber, der wird nicht müd,
Ein Brautkleid gibt’s zu säumen.

Und frägst Du, wer es sei? –
Es ist der Mai!
Gleich komm zum Garten,
Laß mich nicht warten:
Da sieh’, in seiner Bilder Reihn,
Von holdem Reiz umwallt,
Er webt Dich selber mit hinein,
Du holde Lenzgestalt!
Auf seines Teppichs Matten
Hascht er nach Deinen Schatten,
Faßt in spiegelnder Welle
Dein Antlitz lieblich helle;
Bald mit Lilien und Rosen
Wird er die Wangen Dir malen,
Dir aus den Augen strahlen
Komm, an heimlicher Stelle
Wollen wir sitzen und kosen!
 S. in D.


[264]

Veilchen.

Nach dem Leben.

In einem hübschen kleinen Zimmer saß auf einem Lehnstuhle eine bejahrte Frau. Die blendendweiße Haube bedeckte ihr Haar ganz. Sie hatte die Hände in einander gefaltet; ihre Augen waren geschlossen und ihre Lippen bewegten sich in lautloser Rede. Sie schien zu fühlen, daß ein Bote des Herrn in ihrer Nähe war. Unfern von ihr stand an die Wand gelehnt ein Mann, der in trübem Sinnen den Blick zur Erde kehrte.

„Glück in’s Haus! Ich bring’ Ihnen eine Enkelin, Frau Heinemann,“ sagte eine Frau, die, einen Säugling auf dem Arme, in die Stube trat; es war die Kindfrau.

„Wo, wo ist sie?“ fragte die Alte hastig und schien aufstehen zu wollen, aber kraftlos sank sie zurück, denn sie konnte nicht ohne Beistand stehen und gehen.

Die Hebamme reichte ihr das Kind, welches Frau Heinemann zärtlich küßte und an ihre Brust drückte. – „Ich danke Dir, Herr, für diese Freude in meinem Trübsal. Doch meine Augen sind trübe, sagt, was hat meine Enkelin für Augen?“

„Blau wie die Veilchen,“ erwiderte die Kindfrau.

„Veilchen! Ich hatte eine liebe Jugendfreundin dieses Namens; ihr zu Ehren soll meine Enkelin auch so heißen. Doch wo ist mein Sohn Ruben, daß er seine Tochter segne und sein Weib in ihrer schweren Stunde tröste, Moses?“

„Ich kann nicht begreifen, wo er bleibt,“ erwiederte dieser und schaute sorgenvoll zum Fenster hinaus. – „Widerwärtiger Handel!“

„Was für ein Handel?“ fragte seine Mutter.

„Leidige Geldsachen, wie sie alle Tage vorkommen.“ erwiederte der Sohn in einem gezwungen gleichgültigen Tone. – „Jetzt kömmt er wohl, ich höre Schritte auf der Treppe.“

Er trat in das größere Nebenzimmer, dessen Ausgang zum Vorsaale führte. Aber nicht Ruben erschien, sondern Levi, der jüngste der drei Brüder.

„Ist er noch nicht hier?“ fragte der Eintretende.

„Nein, und auch Du hast ihn nicht gefunden? Es wird mir wirklich bange,“ sagte Moses leise, nachdem er seinen Bruder gebeten, dasselbe zu thun.

„Er ist um zwei Uhr bei Reichardt’s gewesen und hat, wie ich vom Ladendiener gehört habe, mit seinem Herrn in dessen Stube gesprochen; dann ist er hastig fortgestürzt und niemand will ihn weiter gesehen haben.“

„Ich kann mich eines bänglichen Gefühls nicht erwehren. Es ist eine eigne Sache mit den Empfangscheinen. Ich traue Reichardt nicht. Gott vergebe mir, wenn ich ihm Unrecht thue.“

„Es läßt sich nichts sagen. Du weißt, wie Ruben ist. Er hat einen verschlossenen Charakter. Wollte man ihn fragen, würde er sich sehr gekränkt fühlen, weil er meint, wir mißtrauen seiner Cassenführung.“

Moses rieb sich in großer Aufregung die Hände und sagte: „Ich gäbe was andres um die Papiere! Es ist mir noch wie heute, daß Ruben damals hereinkam, froh, daß wir die paar tausend pünktlich gezahlt hatten. Er legte die Scheine auf den Tisch, um den Rock auszuziehen. Dann ging er hinein zur Mutter und ich verließ die Stube. Mehrere Wochen darauf sagt er mir erst, er könne die Papiere nicht finden und wolle sich von Reichardt noch einmal quittiren lassen. Ich wüßte kein Stück im Hause, das wir nicht durchsucht hätten. Und doch habe ich es erst heute Morgen bei etwas gethan, das unserer Forschung entgangen war, in unserer Mutter Amsterdamer Bibel. Mir träumte vorige Nacht, eine Lichtgestalt trete an mein Bett und sage: Erhebe dich, Levi, und schlage das Buch der Bücher nach, du wirst finden, was du suchst! Ich wachte auf und wollte der Weisung des Traumes folgen, aber ich bedachte, daß die Mutter beunruhigt würde und verschob es bis zum Morgen, wo ich denn nichts fand.“

„Wenn es bei Reichardt brennte oder er stürbe und seine Bücher wären nicht in Ordnung oder – er wäre ein Schurke, wir wären verloren,“ sagte Moses bebend.

Die Thüre des Nebenzimmers öffnete sich und die Amme mit dem Kinde trat heraus. Der jüngere Bruder begrüßte den Ankömmling ebenfalls zärtlich.

„Lassen wir die finstern Gedanken,“ sagte Moses, allein mit seinem Bruder. „Ruben hat einen Geschäftsfreund getroffen, ist mit ihm in’s Gespräch gekommen und hat Zeit und Ort vergessen. Doch jetzt vor allem Licht, es ist ja fast Nacht geworden.“

Als er die Thür öffnen wollte, geschah dies von außen. Die Magd mit einer Küchenlampe in der Hand zeigte sich. Mit einem lauten Schrei fuhr sie zurück und schlug die Thüre wieder zu.

„Was fällt Ihr denn ein, Hanne?“ fragte Moses unwillig, nachdem er die Magd hereingelassen hatte.

„Ach, nehmen Sie’s nicht übel, Herr Heinemann,“ sagte sie leise und sah sich mit einem verstörten Blicke halb um, – aber ich war selbst sehr erschrocken. Schon den ganzen Nachmittag ist’s immer gewesen, als sei jemand um mich herum.“

„Was macht meine Schwägerin?“ fragte Levi.

„Vorhin fragte sie alle Augenblicke nach dem Herrn, aber seit einer Viertelstunde ist sie ganz ruhig. Sie murmelt einmal vor sich hin, dann schweigt sie wieder, als spräche sie mit jemandem. Mir grauete, ich mußte heraus.“

Die Hausthüre unten öffnete sich, Stimmen und Tritte erschallten, man kam mit schweren langsamen Schritten die Treppe herauf, als trage man eine Last. Moses öffnete die Thüre, um Ruhe zu gebieten. Hinter ihm schaute Levi hervor. Aber beide erstarrten vor Entsetzen bei dem Anblicke, der sich ihnen darbot.

Auf dem Vorsaale dicht an den Stiegen hatten zwei Männer eine Tragbahre hingestellt. Auf derselben lag, von einem groben Linnentuch bedeckt, ein Leichnam. Die Decke hatte sich etwas verschoben und zeigte das bleiche aufgedunsene Gesicht Ruben Heinemann’s. Kleine Wasserströme, die von der Bahre ausliefen, zeigten, wie der Unglückliche geendigt hatte. Tiefes Schweigen herrschte. Plötzlich erschallte ein Schrei in der großen Stube. Gedankenlos wandte sich Levi und sah, wie seine Mutter in [265] der Thüre ihres Zimmers stand, von wo aus sie die Bahre erblicken konnte, und wie sie im Umsinken begriffen war. Er eilte herbei und fing sie auf; Moses gewann ebenfalls wieder Besinnung. Er winkte den Trägern, leise die traurige Last in’s Zimmer zu tragen und sandte dann Levi und die Magd nach Aerzten. Lange saß er vor der Leiche seines Bruders im finstern Brüten. Dann nahm er die Lampe und begab sich in die Krankenstube. Er fand die Amme nicht mehr vor. Mit einer bangen Ahnung trat er an das Bett der Wöchnerin; er neigte sich über sie – kein Athemzug – ihre Hand war kalt. Entsetzt holte er die an der Thüre zurückgelassene Lampe herbei: – seine Schwägerin war todt.

„Der Schrecken hat sie getödtet. Gott sucht unser armes Haus schwer heim,“ murmelte er und drückte ihr die Augen zu. Das Kind fing an zu wimmern. Er hob es auf und drückte es mit Thränen an seine Brust.

„Armes Wesen,“ sagte er mit gebrochener Stimme. – „Vater und Mutter hast Du schon beim Eintritte in die Welt verloren. Für die Mutter wird der Himmel sorgen, Väter sollst Du zwei haben.“

„Es ist vorbei,“ sagte Moses beim Eintreten in das Zimmer zu seinem Bruder, der ihm erwartungsvoll entgegentrat. – „Wir sind ruinirt. Reichardt hat geschworen, daß Ruben ihm nur den vierten Theil der Summe, also tausend Thaler gezahlt hat. Wir haben keinen Beweis, daß die ganze Summe abgetragen ist und müssen den Rest nachzahlen.“

Levi war unendlich bestürzt. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und sagte: „Ich hatte immer noch die geheime Hoffnung, daß Reichardt es nicht auf’s äußerste treiben würde, denn bei Gott! ich bin fest überzeugt, daß Ruben die ganze Schuld abgetragen und Reichardt einen Meineid geschworen hat.“

„Es drängte sich mir unterwegs ein Gedanke auf,“ nahm Moses mit zitternder Stimme das Wort, „den ich durchaus nicht bannen konnte. Du weißt, Ruben war am Morgen seines Todestages bei Reichardt; sollte ihn dieser nicht vielleicht durch das Ableugnen der empfangenen Zahlung zur Verzweiflung gebracht haben, so daß sich unser Bruder selbst –“

Sprich es nicht aus, das Schreckliche!“ fleht Levi. – „Auch ich habe in bittern Stunden daran gedacht. Gott allein kann hier das Wahre sehen und er läßt keinen Frevel ungerochen.“

„Jetzt muß vor allem unsere Sorge sein, unser ganzes Hab und Gut flüssig zu machen, denn Reichardt will den Rest seiner Forderung auf einmal und sogleich.“

„Wie!“ rief Levi, blaß vor Schrecken. – „Dreitausend Thaler sogleich bezahlen!“

„Nur durch meine dringendsten Vorstellungen, die selbst der Bürgermeister unterstützte, gelang es, wenige Wochen Aufschub von Reichardt zu erlangen. Wir müssen eben unsere Waaren, unser Hausgeräthe, kurz Alles zu Geld machen. Es ist besser, wir verkaufen selbst und behalten unsere Ehre, als daß man es uns verkauft und die Ehre auch verloren geht.“

„Weißt Du, Moses, die Mutter darf um Gottes willen nicht merken, daß wir – blutarm geworden sind; sie würde den Tod davon haben. Bei ihr muß alles bleiben, wie es ist.“

„Versteht sich. Sie muß ihre Chokolade Morgens forttrinken; sie ist von Jugend auf daran gewöhnt. Ich werde kein Bier mehr trinken.“

„Ich werde nicht mehr schnupfen und rauchen. Und unser armes Töchterchen, Veilchen? Sie braucht jetzt weiter nichts als die Mutterbrust, und die hat sie gefunden. – Höre, Levi, Du bist noch ein junger Mann, Du könntest heirathen, damit Veilchen eine rechte Mutter bekommt, die sie doch besser pflegen würde als unsere Base. Was meinst Du?“

Levi war roth geworden. „Nein, nein,“ sagte er, „das geht nicht. Aber warum willst Du nicht heirathen; Du bist nur fünf Jahre älter als ich und ein viel hübscherer Mann?“

„Du weißt, ich bin im Herzen kein Jude mehr; deshalb mag ich keine Jüdin. Eine Christin kann ich nicht heirathen, weil ich nicht getauft bin. Und das darf ich nicht, um unsere Mutter nicht tödtlich zu kränken.“

„Ist’s nicht bei mir dasselbe?“

„Einstweilen muß also Alles bleiben, wie es ist.“

„O, ich bin jetzt ganz getrost und muthig,“ sagte Levi etwas erheitert. – „Wir werden viel mit Schmerz entbehren, aber auch neue ungewohnte Freude kosten.“

„Gewiß, Levi. Doch wir müssen uns noch mehr einschränken. Unsere kleine Familie braucht wenig Platz, wir können die Hälfte unserer Wohnung abgeben.“

„Richtig. Auch die Magd ist übrig, eine Aufwärterin genügt.“

„Nun müssen wir auf einen Erwerb denken. Fällt Dir vielleicht etwas ein, Levi? Ich habe bei der Masse von Entwürfen, uns aus der gegenwärtigen Noth zu retten, noch nicht Zeit gehabt, an die Zukunft zu denken.“

„Unser bisheriges Geschäft können wir allerdings nicht fortführen; es fehlt uns an Capital und Credit. Wie wäre es, wenn wir ein Commissionsgeschäft errichteten? Die Leute kennen uns als rechtlich. Verdienen wir auch im Anfange nur wenig, so macht es sich wohl mit der Zeit, wenn man an uns einige Gewandtheit neben der Rechtlichkeit wahrgenommen hat.“

„Die Sache ist nicht übel. Wohlauf denn, in Gottes Namen, sie angegriffen!“

Sechzehn Jahre sind vergangen; sie sind für die wackern Brüder Heinemann dahin mit allen Sorgen, Anstrengungen, Entbehrungen und Aufopferungen. Es ist ihnen gelungen, ein ehrenvolles, wenn auch ärmliches Leben zu führen und – was ihr kindliches Herz mit Stolz und geheimer Freude erfüllte – ihre alte Mutter vollkommen in dem Wahne zu erhalten, daß sie wohlhabende Söhne habe. Wie viele Verlegenheiten freilich hatten sie zu überwinden, wie viele Nothlügen mußten sie über die widerstrebenden Lippen pressen! Erleichtert wurden diese Anstrengungen, den Schleier der Täuschung über den Zustand ihres Hauswesens zu werfen, durch den Umstand, daß die alte Frau seit jenem Schreckensabend ihren Lehnsessel nur mit dem Bette vertauschte und umgekehrt. Der Stolz der kleinen Familie war Veilchen; sie war die treue Pflegerin ihrer Großmutter und stand schon seit mehreren Jahren [266] dem Hauswesen fast allein vor. Dafür hütete die Alte sie auch wie ihren Augapfel und suchte sie nach Kräften zu entschädigen, daß sie ihr die Feierstunden opferte. Da erzählte sie ihr von den Wundern ihrer Vaterstadt Amsterdam, von den großen Kauffahrerschiffen und vom Meere; wie prachtvoll die Synagoge dort sei und wie groß die Zahl derer, die den wahren Gott verehren. Als die Kleine in das Alter trat, wo der Mensch gewöhnlich anfängt, für sein künftiges Leben zu lernen, verlangte Frau Heinemann von ihren Söhnen einen jüdischen Lehrer für ihre Nichte. Nur mit großer Mühe gelang es, sie davon abzubringen, Veilchen wurde wie andere Kinder in die Stadtschule geschickt. Nun mußte sie aber wenigstens aus der Religionsstunde wegbleiben, die Alte wollte sie selbst in ihrem Glauben unterrichten. Das arme Kind hatte doppelte Mühe, in der Schule mußte es das ABC lernen, und zu Hause sollte es bei der Großmutter die großschnörkeligen hebräischen Schriftzeichen unterscheiden. Nach der Mühe kam aber auch der Genuß, denn Frau Heinemann, die eine gute Erziehung genossen hatte, las mit dem Mädchen ausgewählte Stücke des alten Testamentes und erklärte die feinen Holzschnitte in dem Buche. Das waren denn gewöhnlich Feststunden für das gute Veilchen.

Es war ein trüber Novembernachmittag und die Dämmerung brach bereits herein. Veilchen hatte ihre Hausgeschäfte besorgt und setzte sich mit ihrem Strickzeuge zur Großmutter. Der Ofen, in welchem ein stattliches helles Feuer brannte, sang ein lustiges Lied und die Begleitung zu der Weise gab ein Topf mit brodelndem Kaffee, welchen Veilchen zur Erquickung der heimkehrenden ausgefrorenen Oheime beigesetzt hatte.

„Veilchen,“ sagte jetzt die Alte mit ganz veränderter Stimme, daß das Mädchen tief in ihr Herz hinein erschrack. – „Veilchen, ich muß euch jetzt verlassen; der Herr hat mich so eben zu sich gefordert. Aber bevor ich von dannen gehe, will ich Dich ermahnen: bleibe dem Glauben Deiner Väter treu und hüte Dich vor den Christen. Doch ich sehe es, sie werden Dich bereden. Meine Söhne sind wacker, aber ach! – ich verstehe die Welt nicht mehr – sie sind abtrünnig. Ich segne sie, doch Du, mein Herzblatt, höre nicht auf sie, wenn sie Dich verlocken wollen. Schwöre mir das zu, und Du wirst glücklich sein.“

Veilchen war aufgesprungen, aber das Entsetzen hatte sie der Sprache und des Gebrauchs ihrer Glieder beraubt.

„Fällst Du aber ab,“ fuhr die Alte mit ihrer geisterhaften Stimme fort, „so wird der Herr Dich strafen, wie – Deinen Vater. Ach, ich weiß es. Der Gott unseres Volkes wich zornig aus seinem Herzen und seine Stelle nahm Satan ein, der ihn in die Fluthen trieb. Bleibe dem Herrn der Heerschaaren treu, mein Kind. Die heilige Schrift, die mir einst mein Vater gab, als ich eine Jungfrau wurde und die stets mein Trost im Leben gewesen ist, sie sei Dein künftiger Führer. Und nun lebe wohl, mein goldenes Kind. Der Herr segne Dich und behüte Dich und halte seine starke Rechte über Dir immerdar und ewig.“

Veilchen hatte sich von der ersten Bestürzung erholt, aber sie konnte nichts thun, da die Großmutter ihre Hand krampfhaft fest hielt. Es wurde ihr immer länger und wehmütiger, und ihre Thränen flossen reichlich, während jene tief stöhnte. Endlich ließ die alte Frau ihre Hand los und machte eine Bewegung, als wolle sie jemanden umfassen, doch ihre Arme sanken sogleich schlaff herab. Ein letzter Seufzer und sie war verschieden. Jetzt übermannte das Entsetzen das junge Mädchen; sie verließ hastig das Zimmer und eilte die Treppe hinab, um ihre Oheime unten zu erwarten. Diese traten so eben zur Hausthüre herein. Wenige Worte genügten, sie von dem Geschehenen in Kenntniß zu setzen. Die wackern Söhne konnten weiter nichts thun, als ihrer Mutter den letzten Dienst erweisen, dann überließen sie sich ohne Zwang den Ausbrüchen ihres Schmerzes, den ihre kindlichen Herzen bei diesem schweren Verluste empfanden.

(Schluß folgt.)




G. G. Gervinus.

Es gibt wenig Namen, die, wie der Name Gervinus, seit mehr als zwanzig Jahren so eng mit deutscher Wissenschaft und deutschem Leben verwachsen sind; und wenn auch in Gervinus der Gelehrte größer ist als der politische Character, und zwar so, daß er als Gelehrter eine der ersten Zierden Deutschlands ist, so hat er sich doch auch als Politiker die allgemeine Achtung zu erwerben gewußt. Die bei tiefem und gründlichem Wissen stets vorhandene ruhige und leidenschaftslose Auffassung der Dinge fand sich bei ihm in hohem Grade, und mußte ihm selbst die Achtung seiner politischen Gegner – andere hat er nicht – zuziehen.

Geboren am 20. Mai 1805 zu Darmstadt sah sich Georg Gottfried Gervinus, seiner Neigung entgegen, von seinen Aeltern zum Kaufmann bestimmt und erhielt eine in diesem Sinne geleitete Erziehung. Er legte auch in seiner Vaterstadt die Lehrjahre zurück, und schien bereits mit dem Geschick ausgesöhnt, als der höhere Drang zum Studiren heftiger als je in ihm erwachte. Gervinus holte nun meist durch Selbststudium, das Versäumte nach und konnte bald darauf die Universität Heidelberg beziehen. Nach vollendeten Studien begegnen wir dem ehemaligen Kaufmannsdiener als Lehrer einer Erziehungsanstalt in Frankfurt a. M., in welcher Stellung er indeß nicht lange blieb, sondern nach Heidelberg zurückkehrte, um sich gänzlich dem akademischen Lehrberuf zu widmen. Eine außerordentliche Professur wurde ihm 1835 zu Theil, und schon im folgenden Jahre sah er sich als ordentlicher Professor der Geschichte und Literatur, an die Universität Göttingen berufen, wo er mit Dahlmann in ein inniges Freundschaftsverhältniß trat. Seines Bleibens sollte jedoch dort nicht lange sein, denn als der verstorbene Ernst August im Jahre 1837 den hannoverschen Thron bestieg und das bestehende Staatsgrundgesetz aufhob, befand sich Gervinus [267] unter den sieben Göttinger Professoren, welche gegen diesen Schritt protestirten, und wurde dafür durch Cabinetsordre vom 14. December 1837 seines Amts entsetzt, mit der Andeutung, binnen drei Tagen das Land zu verlassen.

G. G. Gervinus.

Schon damals hatte Gervinus seinen Ruf durch die im Jahre 1835 begonnene Herausgabe der „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen“ fest begründet, und während er von da ab, einige wissenschaftliche Reisen abgerechnet, abwechselnd in Darmstadt und Heidelberg lebte, umgab er durch das Erscheinen der „Neueren Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen“ seinen Namen mit neuem Glanz. Nach seiner abermaligen Anstellung als Professor an der Universität Heidelberg (1844), nahm er an den Bestrebungen der, heutigen Tages sogenannten Alt-Liberalen den lebhaftesten Antheil, und war es, der durch die bekannte Heidelberger Adresse im Juli 1846 ganz Deutschland für die Sache der Schleswig-Holsteiner in Bewegung brachte. Auch das vom König v. Preußen am 3. Febr. 1847 erlassene Patent, [268] womit die Verfassungsgeschichte Preußens beginnt, veranlaßte ihn die Feder zu ergreifen und sich über das Ungenügende des dadurch geschaffenen Zustandes auszusprechen. Noch mehr aber, ja fast ausschließlich, nahm ihn die Tagespolitik in Anspruch, als die badischen Liberalen im Juli 1847 die „Deutsche Zeitung“ gründeten, die unter seiner Leitung mit strenger Consequenz für das constitutionelle Repräsentativsystem und für eine festere einheitlichere Gestaltung des deutschen Bundesstaates kämpfte.

Um diese Zeit war Gervinus so sehr Politiker geworden, daß als die französische Februarrevolution erschütternd nach Deutschland herüber wirkte, er sich, von den Hansestädten gewählt, unter den, dem Bundestage beigegebenen Vertrauensmännern befand; auch nahm er an den Verfassungsarbeiten der Siebzehner Theil und nahm später einen Sitz im Parlamente der Paulskirche ein, aus dem er indeß schon im August 1848 trat.

Mißmuth über den Gang der Dinge und körperliches Unwohlsein bestimmten ihn gleichviel zu diesem Schritt, doch wandte er sich mit Ausgang des Jahres 1848 noch einmal mit aller Energie den öffentlichen Angelegenheiten zu, indem er in der deutschen Zeitung seine Stimme über die Verfassungsfrage vernehmen ließ. Die bald darauf eintretende Wendung der Dinge verleidete ihm die Politik so sehr, daß er dem publicistischen Wirken fast gänzlich entsagte, auch im Gegensatz zu seinen politischen Freunden, kein Vertrauen auf die durch Preußen eingeschlagene Politik, deren Ausdruck das Dreikönigsbündniß war, setzte, und sich ebenso wenig von den bekannten Verabredungen in Gotha versprach. Dessenungeachtet wurde Gervinus zu der Partei gerechnet, die man von da ab als „Gothaer“ bezeichnete, doch lebte er, dem politischen Treiben so ziemlich fremd, zurückgezogen in Heidelberg, und nur der schleswig-holsteinische Krieg (Juli 1850) sah ihn wiederum sich kraftvoll aber vergeblich für die Sache der Herzogthümer, mit der er seit Jahren sympathisirt, verwenden.

Als Gervinus alle seine Hoffnungen gescheitert sah, wandte er sich mit erneutem Eifer seinen wissenschaftlichen literarischen Arbeiten zu, als deren vieljährige Frucht sein geistreiches Werk über „Shakespeare“ in vier Bänden erschien. Von der politischen Bühne galt er dabei fast für verschollen, als plötzlich zu Anfang dieses Jahres sein Name auch hier wieder auftauchen sollte, und uns den Mann in ganz anderer Gestalt vorführte, seinen Freunden wie seinen Gegnern zur nicht geringen Ueberraschung. Wer hätte nicht von der „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ gehört, der wir hier gedenken müssen. Der Grundgedanke des Buches ist, daß der endliche Sieg der demokratischen Ideen unausbleiblich sei, und trotz der rein wissenschaftlich gehaltenen Ausführung dieses Satzes, zog es gleichwohl dem Buche in fast allen deutschen Bundesstaaten die Confiscation, und dem Verfasser in Baden einen Preßproceß zu, der, weil es sich um eine so bedeutende Persönlichkeit wie Gervinus handelte, allgemeines Aufsehen erregte. Gervinus wurde zu zwei Monate Gefängniß verurtheilt, dieses Urtheil jedoch vom Oberhofgerichte in Mannheim für nichtig erklärt, weil die auf Hochverrath lautende Anklage vor die Geschworenen gehöre, nicht aber vor das Hofgericht, das in dieser Sache ganz unbefugter Weise erkannt habe. War diese Wendung des Processes schon ganz unerwartet, so überraschte es noch mehr, als kurze Zeit darauf der Staatsanwalt ankündigte, wie er höherer Weisung zufolge die Anklage gänzlich zurückziehe, womit die Angelegenheit selbst ihre Erledigung fand.

Das, was wir als den Grundgedanken des genannten Werkes bezeichneten, ist nicht etwa neu, sondern wurde von den demokratischen Zeitschriften bereits in unendlichen Variationen durchgeführt. Neu dabei, und daher so großes Aufsehen erregend, war nur, daß ein Mann wie Gervinus, einer der hervorragendsten unter den sogenannten Gothaern, und der Erste unter den deutschen Geschichtsforschern, das Alles sagte. Das Buch selbst ist übrigens seinem Inhalte nach nur auf gebildete Kreise berechnet, und steht der größern Masse des Volkes, welche die rein wissenschaftlichen Forschungen seiner großen Denker erst in mundgerechter Weise zubereitet haben will, durchaus fern.




Mosenthin’s Riesenkorn.

Einer der rationellen Grundsätze der Landwirthschaft ist der, daß sowohl zur Verbesserung der verschiedenen Getreidearten als zur Erhaltung derselben in einem allgemein guten Culturzustande, ein Wechsel der Arten unbedingt nothwendig ist, und in Anwendung dieses Grundsatzes hat man daher schon seit geraumer Zeit das zur Aussaat bestimmte Getreide bald aus näher, bald aus ferner gelegenen Gegenden bezogen, und dadurch im Allgemeinen einen für die Landwirthschaft sehr nützlichen Tausch der Arten herbeigeführt.

In diesem Augenblicke taucht jedoch eine ganz neue Sorte Roggen auf, über deren ursprüngliche Heimath die nähern Nachrichten noch fehlen, die wir aber gewissermaßen schon als bei uns heimisch bezeichnen können, da eine dreijährige Cultur in hiesiger Feldmark die günstigsten Resultate ergeben hat. Mosenthin’s Riesenkorn, so genannt nach seinem Erbauer Mosenthin in Eutritzsch bei Leipzig, zeichnet sich vor unsern heimischen Getreidesorten vor Allem durch die größere Ertragsfähigkeit und durch die Größe und Klarheit (fast Durchsichtigkeit) der Körner aus. Die beigegebene Abbildung stellt das Riesenkorn in natürlicher Größe vor:

a, eine ganze Aehre. b, der Theil des Halmes unmittelbar unter der Aehre. c, der darauf folgende Theil des Halmes mit Blatt. d, ein unterer Theil des Halmes mit Schrägschnitt. e, eine Abtheilung der Aehre (allemal drei Körner tragend). f, der Same mit Ansicht des Nabels oder Anheftungspunctes. g, der Same mit Ansicht der Furche. h, der Same im Durchschnitt.

Das Riesenkorn hat, im Unterschied von unserm Getreide, breitere und längere Blätter von tiefdunkelgrüner Färbung. Der Halm (aus einem Korne entwickeln

[269]

Mosenthin’s Riesenkorn.

[270] sich deren 5–12, (ja man hat sogar schon 20 gezählt) wird nahe an sechs Fuß hoch, ist aber nicht ganz hohl, sondern markig, und liefert ein schönes gelbes Stroh, welches, wenig stärker als das gewöhnliche, zu landwirthschaftlichem Gebrauche sich seines Markes wegen besonders gut eignen dürfte.

Die Aehre wird mit den Grannen bis zu 13 Zoll lang, ohne dieselben 8 bis 9 Zoll. Die Blüthe, von Außen fast unbemerkbar, so daß sie vom Regen weniger leidet, tritt vierzehn Tage später ein als beim hier gebauten Roggen, wessenungeachtet aber der Same beider zu gleicher Zeit reift. Der Same ist 1/2 Zoll lang und, bei der Stärke von reichlich 1/8 Zoll, sehr klar, fast durchsichtig.

Die Ertragfähigkeit des Riesenkorns läßt sich am deutlichsten aus folgenden Angaben ersehen: Am ersten October 1850 wurde von Herrn Mosenthin in Eutritzsch das einzig vorhandene Samenkorn in’s freie Land gelegt. Es entwickelten sich aus demselben zwölf Halme, welche zusammen 409 Körner als erste Ernte ergaben. Von diesen wurden 1851 am zweiten October 370 Körner, wegen der vielen entstehenden Halme 3 Zoll von einander entfernt, gelegt, und, obgleich die Schnecken im Frühjahre 1852 einen Theil der Pflanzen vernichtet hatten, wurden gleichwohl noch 8 Pfund Samen (auf ein Pfund gehen 5000 Körner) gewonnen. Wenn auch weniger günstig im Ausfall als die erste Ernte, zeigt diese zweite doch immer noch eine hundertundzehnfache Vervielfältigung.

Da das Riesenkorn wegen der vielen aus einem einzigen Korne entstehenden Halme sehr dünn gesäet werden muß, so dürfte bei seinem reichen Ertrage der von einem Pfund gewonnene Same zur Bestellung eines sächsischen Ackers (gleich 21/6 Magdeburger Morgen) ausreichen. Uebrigens bemerken wir zum Schluß, daß das Riesenkorn nur Anspruch darauf macht, ein Wintergetreide sein zu wollen, wie es denn auch die bisherigen Erfahrungen die drei letzten Winter durch vollkommen kräftig aushaltend fanden.




Blätter und Blüthen.


St. Francisco und Californien. Gegen das Ende des Februar 1850 war die fieberhafte Aufregung der Amerikaner am höchsten gestiegen. Man sprach und träumte von Nichts als Goldminen und Californien. Selbst der einträglichste Erwerb sicherte nicht gegen die Ansteckung, und auch Henrich Herz, der berühmte Pianist, unterlag ihr. Er überließ es den untröstlichen Dilettanten der vereinigten Staaten, zu sehen, wie sie ohne ihn fertig würden, und vertraute seine Person der übeln Einrichtung und übleren Gesellschaft eines Auswandererschiffes an. Schiffe, welche Auswanderer nach Californien bringen, sind von allen ihrer Art die schlechtesten. Doctor Johnson beschreibt ein Schiff als ein „Gefängniß, in welchem man sein Leben durch Ertrinken verlieren kann“; aber diese Schiffe besonders sind Gefängnisse, in welchen der Tod durch Ertrinken, Verhungern, durch Vergiftung und Erstickung in Aussicht steht, und am Ziele der Reise lauert außerdem noch der Mord. Unser Reisender jedoch entging glücklich allen Gefahren, und die ausgestandenen Beschwerden wurden reichlich ausgeglichen durch den neuen und überraschenden Anblick, welcher sich ihm beim Einlaufen in den Hafen von St. Francisco darbot. Welch ein Wald von Masten mit den Flaggen aller Nationen der Erde, welches Treiben, welche Bewegung! Welch Gewirr von ausgeschifften Waaren! Welches Durcheinander von Rufen, von Sprachen, von Befehlen die sich kreuzen, von fröhlichen Gesängen und schrecklichen Flüchen! Wer nach dem vor seinen Blicken aufgehäuften Reichthum, nach der lebendigen Thätigkeit, nach dem endlosen, betäubenden Lärm schloß, hätte sich in dem Hafen von Liverpool oder mindestens von Marseille wähnen können.

Aber die Bewunderung, welche Henrich Herz im Hafen empfand, minderte sich mit jedem Schritt in die Stadt hinein. Die meisten Straßen waren ungangbar. Was man in St. Francisco eine Straße nennt, ist nichts als ein Kanal voll Schlamm, in welchem der Wanderer, wie man uns versichert, zuweilen knietief watet. Die Fußsteige, minder bequem als malerisch, bestehen aus Dielen, welche in sehr sorgloser Weise über leeren Kisten und Fässer befestigt sind. Die erste Sorge des Musikers war, eine Wohnung ausfindig zu machen, was zu St. Francisco nicht leicht ist. Die Gasthäuser waren abscheulich und über allen Begriff theuer. Nachdem er lange die Straßen durchwandert oder vielmehr durchwatet hatte, fand er endlich einen intelligenten Plebejer, welcher ihm in dem einzigen Zimmer, das er leer hatte, ein Unterkommen für sechs Dollars den Tag anbot. Es hatte freilich nicht mehr Raum als etwa ein Schilderhaus, aber dem Herrn Herz blieb keine andere Wahl. Im Grunde fühlte er sich zufrieden; war er doch der erste Pianist, welcher in diese entlegenen Gegenden vordrang. Es mußte wunderbar sein, die Wirkung der Musik auf die halbwilde Menge zu beobachten, welche vielleicht vor dem Piano auf die Kniee fiel, wie die Uramerikaner zur Zeit des Columbus beim Anblick der ersten Mondfinsterniß.

Als er da saß und diesem schmeichelnden Gedanken nachhing, ward an die Thür geklopft. Sie ging auf, und es zeigte sich ein junger Mann, dessen Aussprache, dessen schönes langes Haar hinreichend den Deutschen verrieth. Er fragte, ob er das Vergnügen habe, mit dem berühmten Henrich Herz zu sprechen, was natürlich bejaht wurde. Hätte aber der berühmte Mann ihn zum Eintreten einlassen wollen, so hätte er selbst zuvor zum Fenster hinaus das Gemach räumen müssen, da es nicht Zwei fassen konnte.

„Ich komme,“ sagte der junge Mann mit dem schönen Haar, „Sie zu veranlassen, Ihre Wohnung zu räumen. Ich räume ein, daß das Ameublement ganz schön ist und das Hotel ein prächtiges Ansehen hat; aber man muß gegen diese Häuser in St. Francisco auf seiner Hut sein. Sie werden zu rasch gebaut; bei der Grundlegung wird zu leicht verfahren, und daher ist es nicht selten, daß Leute, [271] welche in der Dachstube zu Bett geben, im Keller wieder aufwachen.“

Der Musiker riß die Augen auf, dankte für den guten Rath und fragte, wo er denn eine solide Wohnung finden solle?

„Ich kam,“ sagte der junge Mann, „Sie zu bitten, bei mir zu wohnen.“

„Sie sind also Besitzer eines Gasthofs?“

„Das nicht, Herr; ich bin ein Pianist.“

„Ein Pianist?“ rief Henrich, indem er zurückfuhr.

Ausländische Pianisten, welche sich in einem Lande, wie Californien, begegnen, begnügen sich nicht, wie Engländer in der Wüste, mit abgezogenem Hute an einander vorüberzugehen. Jedermann kennt die Geschichte von dem Engländer, welcher einen hohen Berg bestieg und sich den Ersten glaubte, der dieses Unternehmen vollbracht, als er aber die Hand in ein Felsenloch steckte, die Visitenkarte eines Landsmanns fand. Ungefähr eben so groß war das Erstaunen unseres Musikus, als er bereits einen Bruder Pianisten in Californien vorfand.

„Sind Sie schon lange hier gewesen?“ fragte er neugierig.

„Nein, erst ein Jahr. Es waren erst zehn oder zwölf Buden da, als ich ankam. Ich fand schon einen Italiener vor, der Unterricht und Concerte gab. Aber als er eines Tages mit einem seiner Schüler, der etwas jähzorniger Gemüthsart war, in Streit gerieth, wurde er getödtet, und mir fiel sein Piano und seine Kundschaft zu. Es geht mir hier ziemlich gut. Ich habe ein Haus gekauft, und ich würde der glücklichste Mensch in der Welt sein, wenn der berühmte Henrich Herz meine bescheidene Gastlichkeit nicht verschmähen wollte.“

Noch denselben Abend wohnte Henrich Herz mit seinem Kollegen unter einem Dache. Jedoch, obgleich er in dem besten Zimmer des Hauses einquartiert war, konnte er nicht schlafen. Er konnte die Leichtfertigkeit beim Häuserbau, von welcher sein junger Wirth gesprochen, nicht aus dem Kopfe bringen. Er hatte ein Vorgefühl der Gefahr und bat ernstlich, daß sein Bett in einem anderen Theile des Gebäudes aufgeschlagen werden möchte. Der junge Deutsche lachte ihn aus, gab aber doch nach, und Beide stellten das Bett um. Kaum hatten sie das vollbracht, als die Seite des Hauses, in welcher Herz geschlafen hatte, wich und mit donnerndem Geräusch einstürzte. Der junge Pianist war in Verzweiflung. Herz versuchte ihn zu trösten, indem er sagte: „Thut nichts, lieber Freund! Nichts ist verloren, so lange wir ein Piano haben.“ Aber auch das hatte er nicht mehr. Sein einziges Instrument war unter den Trümmern begraben, ein Piano von fünf Oktaven, von denen zwei freilich keinen Ton mehr gegeben hatten; dennoch hatte es ihn in den Stand gesetzt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Jedoch Henrich Herz hatte glücklicher Weise zwei seiner schönsten Piano’s nach St. Francisco vorausgeschickt, und mit ihnen beschloß er morgen ein Concert zu geben, von dessen Ertrag seines jungen Freundes Besitzthum wieder hergestellt werden sollte. Zu diesem Ende mußten zunächst die Piano’s nach dem Theater geschafft werden.

Herz ging aus, um Vorbereitungen zu seinem Concert zu treffen. Als er an einem Kaffeehaus vorüberkam, umringten ihn drei oder vier Unbekannte. Er kannte nicht einmal die Namen dieser Herren, deren Anzug mehr als nachlässig war; aber er hatte sie oft in der französischen Oper und im Café de Paris gesehen. Der Freundlichste derselben überschüttete ihn mit Artigkeiten und Dienstanerbietungen.

„Wollen Sie,“ sprach der Musiker, „die Güte haben, mir zu sagen, wo ich Jemand finde, der meine Piano’s nach dem Theater bringt?“

„Gewiß! Niemand soll sagen, daß wir einen Landsmann in Verlegenheit gelassen hätten. Kommen Sie, Vicomte, helfen Sie mir! Wir wollen des Herrn Piano tragen. Erlauben Sie mir, Ihnen den Vicomte de Faubourg vorzustellen, einen allerliebsten jungen Mann, der seinen Freunden gern gefällig ist.“

„Sie spaßen!“

„Durchaus nicht, ich versichere Sie! Nichts kann ernster gemeint sein. In Rom müssen wir thun, wie die Römer thun. Wenn Sie glauben, daß wir Beide nicht genug sind, so wollen wir auch noch den Marquis rufen.“

Aber der Marquis gab keine Antwort; er war drinnen beim Billard beschäftigt, die Points zu markiren.

Eine Stunde später waren die beiden Piano’s im Theater.

Herz kehrte zu seinem Wirthe zurück. „Sie haben weder Karren noch Wagen gebraucht, sondern meine Piano’s getragen. Und wie viel, meinen Sie, verlangten sie für ihre Mühe?“

„Wie viel denn?“

„Dreihundert Piaster!“

„Das ist der gewöhnliche Preis.“

„Den Teufel auch! Diese artigen Herren hätten mir sagen sollen, daß sie nichts als Lastträger seien.“

„Man verrichtet hier jede Arbeit, um leben zu können. In Californien würdigt sich Niemand herab.“

Jetzt mußten sie sich nach einem Orchester umsehen, das bald gefunden war. Es gab dort Musikanten aller Art, freilich einige mit kleinen Fehlern behaftet; der Klarinettist war blind, der das Cornet-à-Piston blies, unheilbar asthmatisch u. s. f. Diese Künstler verlangten jeder drei und vier Lstl. für den Abend; auf den Boulevards würden sie etwa zwei Sous erhalten haben. Herz, ohne auf ihre Mängel hinzudeuten, versprach, sie bei späteren Gelegenheiten zu verwenden. Er bedurfte nur ein Corps, um die Pausen zwischen den Abtheilungen auszufüllen.

Darnach forderte er seinen Wirth auf, ihn nach dem Bureau der Hauptzeitschrift zu führen, um die nöthigen Ankündigungen zu besorgen. Das fragliche Bureau befand sich in dem unteren Geschosse eines zweistöckigen Hauses. Zwei große Hunde heulten im Hofe und wurden mit Mühe von einer Negerin beschwichtigt, welche die Besucher zu einem großen, athletischen Manne führte, dem Hauptredacteur. Er trug einen gewaltigen, augenscheinlich nie von der Scheere berührten Bart, ein rothes Hemd und ungeheure Jagdstiefeln. Er schrieb, an einem Tische sitzend, einen Prügel und ein Paar Pistolen neben sich.

Der Zweck der Besucher war bald erklärt; sie wünschten das Blatt zur Ankündigung ihres Concerts zu benutzen.

„Gewiß! Die Gebühren für Anzeigen der Art betragen nur vier Dollars die Zeile.“

Henrich Herz erschrack ein wenig und hätte gern gewußt, [272] was man von solchen Preisen zu Paris denken würde. Aber er warf einen Blick auf den Redacteur, auf den Prügel und die Pistolen neben ihm, zog den Beutel und zahlte die verlangte Summe.

Der Tag des Concerts kam, und schon frühzeitig war das Theater von einer unermeßlichen Menge belagert. Wilde, schlimm aussehende, seltsam gekleidete Bursche erschienen mit jedem Augenblick, Karten fordernd, und waren sehr beleidigt, wenn man ihnen Plätze zweiten Ranges zu vier Dollars statt ersten zu acht anbot. Der Kassirer hatte eine Wage vor sich. Das Publikum defilirte an ihm vorüber, und Jeder gab ihm einen Beutel von schwarzem Leder in die Hand. Er öffnete denselben, nahm eine Prise Goldstaub heraus, wog sie und verabfolgte dann die Karte.

Das Concert begann und schloß zur rechten Zeit. Der Triumph des Künstlers war vollständig, wie der Lärm und der Aufruhr bewies, der keinem Londoner Publikum Schande gemacht hätte. In den Logen erkannte Herz eine Dame, welche früher in der Rue Vivienne einen Tabacksladen gehabt, und zwei französische Putzmacherinnen, die ihr Geschäft aufgegeben hatten. Hier lebten sie auf dem größten Fuße, daß man sie für Herzoginnen hätte halten können.

Beim Schlusse des Concerts brachte der Kassirer dem Künstler einen großen, mit gelbem Staube angefüllten Teller.

„Was ist dies?“ fragte er.

„Dies ist die Einnahme des Abends; es sind über zehntausend Franken.“

Henrich Herz gab vierzehn Concerte in derselben Weise; Zudrang, Erfolg, Ertrag war derselbe. Er fühlte sich allmählig mit St. Francisco ausgesöhnt.

Eines Morgens, während er sich rasirte, besuchte ihn ein Herr, der sehr höflich war und ganz besonders durch die Eleganz seiner Kleidung und seines Benehmens auffiel.

„Monsieur,“ sagte der Unbekannte, „ich bin ersucht, Sie zu fragen, ob es Ihnen paßt, in einem Privathause zu spielen?“

„Wie, ich weiß nicht – “

„Sie brauchen jeden Abend nur eine halbe Stunde zu spielen unter Bedingungen, die Sie selbst bestimmen. Ich bin bevollmächtigt, fünf bis sechstausend Piaster monatlich zuzugestehen.“

„Ihre Auftraggeber sind vermuthlich reiche Leute, welche die Musik leidenschaftlich lieben. Aber warum besuchen sie nicht lieber meine Concerte?“

„Sie gehen nicht aus, sondern bleiben zu Hause und amüsiren sich mit einer andern Art von Spiel. Aber Sie wissen, selbst Karten und Würfel wird man zuletzt überdrüssig, und nichts ist angenehmer, als während der Pausen des Spiels eine hübsche Musik zu hören.“

„Ich verstehe Sie vollkommen,“ sagte der unwillige Musiker. „Sie wünschen, ich soll in einem Spielhause spielen, um die Spieler zu unterhalten. Verlassen Sie sogleich das Zimmer, wenn Sie nicht mit all der Ehre die Sie verdienen, hinausgeleitet sein wollen.“

„Sie sind zu empfindlich,“ murrte der Unbekannte beim Weggehen. „Wir haben Künstler vom höchsten Ruf in Californien, die nicht verschmähen, in den Kaffeehäusern, den Spielhäusern und überall, wo sie bezahlt werden, sich hören zu lassen.“

Nicht willens, sich in dieser und mancher anderen Hinsicht den Gebräuchen St. Francisco’s zu fügen, begab sich Henrich Herz jetzt nach dem Sacramento. Dort fand er eine prächtige Aufnahme und wurde von allen Seiten gedrängt, Concerte zu geben. Er fragte zuerst, ob sie einen Concertsaal hätten. Gegenwärtig war keiner da, aber in acht Tagen sollte einer fertig sein. Der Künstler gab den Plan und die nöthigen Anweisungen und beschloß inzwischen die Gruben zu besuchen. Er versah sich mit den Geräthen und Kleidern, die ein Goldjäger bedarf, und miethete zwei Pferde und einen Führer. Halbtodt vor Hunger und Ermüdung kam er bei den Minen an und bezahlte eine unglaubliche Summe für ein Stück schlechten Zwieback und ein Glas abscheuliches Bier. Er erhielt Erlaubniß zu graben, arbeitete wie ein Neger und bezahlte das Bischen Gold, das er fand, der Uebereinkunft gemäß, an den Besitzer der Gruben. Er kam mit der Ueberzeugung nach dem Sacramento zurück, daß für ihn die wahren Goldminen in den Tasten des Piano lägen, und fand einen hübschen, eigens für ihn erbauten Concertsaal vor, wo er eine Reihe sehr glänzender und sehr einträglicher Concerte gab.

Sein Aufenthalt in Californien war eine lange Reihe von Triumphen. Ehe er es verließ, wollte er von St. Francisco Abschied nehmen. Es war der Abend des ersten Mai und das Wetter so schön, wie man es nur denken konnte. Das Abschiedsconcert war auf den nächsten Tag angekündigt, und die Piano’s waren schon nach dem Theater hingeschafft. Nachdem der Künstler dem wilden Journalisten seinen Besuch gemacht und die letzte Anzeige bezahlt hatte, ging er mit seinem jungen, schöngelockten Freunde aus.

Ganz plötzlich hören sie ein entsetzliches Geschrei, die Sturmglocke läutet, Rauchsäulen erheben sich über verschiedenen Theilen der Stadt; das Feuer greift furchtbar um sich. Das Theater ist in wenig Minuten in Asche verwandelt und mit ihm die schönen Piano’s. – Während die Flammen drei Viertel der Stadt verschlangen, schlossen die Maurer und Baumeister mit den Geschäftsleuten, statt daß sie die Zerstörung zu hemmen suchten, Contracte zur Wiedererbauung der Stadt und fertigten sie beim Scheine des Feuers auf Stempelpapier aus. Nichts kam der Kaltblütigkeit der Amerikaner bei diesem Unglück gleich; in manchen Spielhäusern wurde, wenn bereits der erste Stock in vollen Flammen stand, im dritten noch ruhig fortgespielt.

„Es ist eine Weisung des Schicksals,“ sagte Henrich Herz. „Was soll ich länger hier thun? Der Concertsaal verbrannt, meine Piano’s verbrannt: jetzt ist’s Zeit zum Abschiede!“

„Durchaus nicht,“ sagte der junge Deutsche. „In einigen Tagen haben wir eine neue geräumigere, regelmäßigere, schönere und festere Stadt wieder.“

Aber der entmuthigte Pianist ließ sich nur herbei, seinem Abschiede ein „Auf Wiedersehen!“ hinzuzufügen.

„Vergessen Sie mein Haus nicht,“ sagte sein junger Freund, „wenn Sie wiederkommen.“

„Fürchten Sie nicht! Aber untersuchen und befestigen Sie inzwischen die linke Mauer. Ihr Haus ist nicht ganz sicher.“

„Freilich wahr. Aber es ist das einzige Haus, das die Flammen verschont haben. Es ist feuerfest.“


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Schnellpressendruck von Giesecke & Devrient in Leipzig.