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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[251]

No. 24. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Die kleinen Schuhe.

Am 6. Januar 1776, dem Feste der Erscheinung, bot das Hinterdeck des französischen Kriegsschiffes „der Reiher“ den Anblick einer kleinen Scene dar, die anziehend genug ist, um wieder erzählt zu werden.

Alle Officiere, welche der Schiffsdienst nicht anderswo fesselte, ergingen sich rauchend und plaudernd auf dem Verdecke, als plötzlich ein junger Seecadett die Treppe, welche zu der Kajüte des Capitains führte, herauf gesprungen kam und ausrief „Hut ab, meine Herren! Ihre Majestät die Königin!“

Aber Marie Antoinette hatte Versailles nicht verlassen, mit Hülfe der Königsschlange oder mit der Gabe, Doppelgänger zu schauen, wie sie die Bergschotten besitzen, würde man sie in diesem Augenblicke, aller Etikette, ihrer tödtlichsten Feindin zum Trotz, in einem abgelegenen Flügel des Schlosses auf der Familienbühne erblickt haben, mit ihrem Schwager, dem Grafen von Artois im lebhaften Dialoge begriffen, während dessen Bruder, der Graf von Provence, soufflirte. Sie gab die Hauptrolle im „Wahrsager“ und sang:

„Verloren hab’ ich meinen Retter,
Verloren hab’ ich all’ mein Glück!“

Worte, die sie später manchmal zu wiederholen Veranlassung hatte, – ohne zu singen, – diese arme Königin, die bereits der Geschichte anheim gefallen ist, und die bald dem Drama anheim fallen wird, ein ebenso poetischer und schöner, aber ein reinerer Charakter, als Maria Stuart.

Wer war die kühne Prätendentin, welche zwölf Hundert Meilen von Versailles sich das Scepter anmaßte, das die rechtmäßige Königin für einen Augenblick mit dem Schäferstabe vertauscht hatte?

Weder Betrug, noch Hochverrath war hier im Spiele. Die königliche Majestät, welcher die Schiffsmannschaft des Reihers huldigte, war keine andere, als die unschuldige und flüchtige Majestät der Bohne. Die Gunst des Schicksals hatte eine liebenswürdige kleine Creolin von der Insel Martinique, eine Verwandte des Capitains, damit bekleidet. Sie machte die Reise unter dem Schutze einer alten Tante, wie die Virginie des Bernardin de Saint-Pierre, um in der Hauptstadt entfernte Hoffnungen auf ein großes Vermögen und eine Erbschaft zu verfolgen.

Und es war in der That Schade, daß die junge Königin nur eine Bohnenkönigin war, denn sie unterzog sich ihren hohen und neuen Pflichten mit einer Würde und Anmuth, um die Catharine II. und Marie Theresie sie beneidet haben müßten.

„Knie nieder, schöner Page!“ sagte sie zu dem jungen Cadetten, der ihr Erscheinen verkündigt hatte, „siehst Du nicht, daß ich meinen Handschuh habe fallen lassen?“

„Zum Conseil, meine Herren Minister, und lachen Sie [252] nicht; denn der Fall ist ernst. Sie müssen wissen, ich liebe mein Volk, und ich wünsche, daß mein Volk mich liebt. Sie mögen nun erwägen, ob eine blaue Schleife oder eine weiße Schleife an meinen Schuhen bessere Dienste leisten werde, um meinen Füßen seine Huldigungen dargebracht zu sehen. Aber wie? Sehe ich recht? Mein erster Leibarzt wagt es, der Nase seiner souverainen Herrin gewaltige Tabackswolken als Weihrauch zuzusenden?“

„Es möge sofort einer der Herren Gesandten den Hippogryph besteigen, um im Monde nachzusehen, ob nicht diesen Morgen nach dem Frühstück die Vernunft des guten Doctor’s denselben Weg gegangen ist, wie die des seligen Roland?“

Und tausend unschuldige Scherze, tausend drollige Einfälle folgten einander und brachten die wackern Seeleute so herzlich und so anhaltend zum Lachen, daß ihnen darüber ihre großen Pfeifen unter den Händen ausgingen.

Wer sich aber am allermeisten über die Triumphe des liebenswürdigen Kindes zu freuen schien, das war ein alter Matrose aus der Bretagne, Peter Hallo, der mehr Narben als Runzeln an sich trug. Er hatte gerade an diesem Tage als späten Lohn langer und treuer Dienste eine Ehren-Medaille erhalten, und war in dessen Betracht von dem Capitain zur Tafel gezogen worden, an welcher die beiden Damen, die Creolin und Verwandte des Capitains, die Ehrenplätze einnahmen. Maria Rosa, so hieß das junge Mädchen, hatte schon seit längerer Zeit mit großer Bewunderung von den ausgezeichneten Thaten Peter Hallo’s erzählen hören. Sie hatte ihn unter Schmeicheleien beglückwünscht, und das Herz des rauhen Greises, dem solche Gefühle ganz neu waren, hatte bei den Liebkosungen des Kindes ebenso laut geklopft, als bei dem Empfange der Ehrenmedaille.

Er allein war es, der sich ganz ihrem Dienste geweihet hatte, und er allein war es auch beinahe, der über sie wachte; denn die Tante Maria Rosa’s, eine gute Alte, welche von der Gicht an den Stuhl gefesselt war, beschäftigte sich den ganzen lieben Tag lang mit der Lectüre des heiligen Augustinus und unterbrach sich nur dann und wann durch den Ausruf: „Ici Minette! ici Marie-Rose!“ wenn sie etwa wahrnahm, daß ihre Katze einer Maus in den Schiffsraum nachlaufen, oder daß ihre Nichte, sobald ein Sonnenstrahl sich blicken ließ, auf das Verdeck springen wollte.

Aber Maria Rosa, die, wie die meisten Kinder in den Colonien, in großer Unabhängigkeit aufgewachsen war, hörte es nicht oder wollte es nicht hören. Bald stieg sie in’s Takelwerk und schaukelte sich an den Tauen – dann nahm Peter Hallo unten seinen Stand und war bereit, sie, wenn sie etwa auf das Verdeck fallen sollte, mit seinen großen Händen aufzufangen, wie er ein vom Fluge müdes Vögelchen aufgefangen haben würde, oder, wenn der Wind sie in das Meer geführt hätte, sie schwimmend herauszufischen; bald vergnügte sie die müßige Schiffsmannschaft durch Tanz und Gesang – dann stand Peter Hallo mit gespannter Aufmerksamkeit da, und es schien, als ob ihm plötzlich ein Sinn aufgegangen sei, für das Verständniß ihrer Verse und ein neues Gefühl, um die Anmuth ihres Wesens zu würdigen.

Am andern Tage nach dem Feste und ihrem kurzen Königthume sah das liebenswürdige Kind sehr traurig und niedergeschlagen aus, und der alte Meerwolf stellte sich besorgt und schweigend vor sie hin, wie eine Pudelhündin, die ihren Herrn weinen sieht. Sie konnte es nicht über sich gewinnen, den guten Alten auf diesen rührenden fragenden Blick ohne Antwort zu lassen, und machte ihn zu ihrem Vertrauten.

Eine alte Maron-Negerin[1], die für eine Zaubererin galt, und welcher Maria Rosa heimlich Brod in den Wald hinaus zutrug, hatte ihr eine seltsame Wahrsagung gemacht, die ihr das Köpfchen eingenommen hatte, und die sie ihrem ganzen Wortlaute nach wieder zu geben wußte:

Gute, kleine Herrin, ich haben sehen in der Wolke einen großen Condor steigen, sehr hoch, sehr hoch, mit Rose in seinem Schnabel. Du sein Rose. Du sehr unglücklich – dann Du Königin; dann großer Sturm und Du sterben.

„Gestern war ich Königin,“ fügte sie hinzu, „und nun, denke ich, muß der Sturm kommen, der mich im Meere begräbt.“

„Sein Sie nicht ängstlich, liebes Fräulein,“ erwiederte ihr Hallo, „wenn dem Reiher ein Unglück widerfahren sollte, so greifen Sie fest in die Seite meines Gürtels herein – so, hieher, – und mit Hülfe Gottes und meines Schutz-Patrons (das war ein großer Heiliger, sehen Sie, denn er ging auf dem Wasser, ohne hineinzusinken, und das ist, auf Seemannswort, ein schönes Wunder,) sollen Sie sanft anlanden, wie eine Goëlette, die von einem Dreimaster bugsirt wird.

Maria Rosa, die wieder etwas Muth schöpfte, belohnte die Hingebung des wackern Mannes dadurch, daß sie ihm eine Romanze vorsang, die noch Niemand von ihr gehört hatte. Sie enthielt ihre Klagen und ihr Lebewohl, wie es, als die Abreise entschieden war, ein junger Creole, ihr Nachbar, in Verse gebracht und in Musik gesetzt hatte:

Brich’ Negerknabe, mir zur Krone,
Der Blüthenfluren Schmuck und Wonne;
Die Negerin, die in Waldesnacht
 Entflohne,
Verhieß mir zehnmal Königs-Pracht
 Und Macht.

Was ist es, daß der Knabe zittert?
Hat er den Nordwind schon gewittert,
Der nur auf’s Neue jetzt das Haupt
 Erschüttert?
Mir all’ mein blühend Glück entlaubt
 Und raubt?

Schon müssen meine Thränen rinnen;
Leb’ wohl! das Meer sollt’ ich gewinnen
Für dich, du mein Drei-Insel-Land,
 Darinnen
Die kleine Barke, licht am Strand,
 Mir stand.

Leb’ wohl, muß ich, vom Wind enttragen,
Der Heimath und der Schwester sagen.
Der Blume Stern sinkt, wo ihr Stern
 Sollt’ tagen.
Ich ruht’ am Herz Dir, Schwester fern,
 So gern!


Aber es gibt ein Alter, in dem alle Schmerzen leicht und flüchtig vorüberrauschen, wo die Thräne, die Abends [253] Schwermuth weinte, mit dem Thautropfen des Morgens vertrocknet, und Maria Rosa war in diesem Alter. Am andern Morgen tanzte sie wieder. Tage und Wochen verflogen, ohne daß ihre übersprudelnde Fröhlichkeit einen Abbruch erlitten hätte. Aber nicht so war es mit ihren niedlichen Schuhen. Mit dem letzten Sprunge in einer Farandole flogen die letzten Trümmer derselben auf und davon. Unglücklicher Weise war die Garderobe der Damen nichts weniger als überflüssig ausgestattet; sie waren im Begriffe, nach Paris zu gehen, und hatten es für ihre Pflicht erachtet, die Anschaffung des Nöthigen aufzuschieben, bis sie die Befehle der Mode an dem Orte ihrer Residenz einholen könnten.

Maria Rosa war bald dahin gebracht, unbeweglich an der Seite ihrer Tante sitzen zu bleiben, um die bloßen Füßchen unter dem Kleide zu verbergen. Und wie sie da saß, in dem fieberhaften Drange nach Bewegung, den Kopf und den Leib hin und her wiegend, und sich doch nicht zu dem Wagestücke entschließen konnte, einen Schritt vorwärts zu thun, da glich sie jener Daphne in den Tuilerien, die mit der Büste noch lebt, während die Füße schon im Boden festwurzeln. Die kleine Königin spielte die Trauergestalt einer bezauberten Prinzessin, die auf den irrenden Ritter harrt, der sie befreien soll.

Der irrende Ritter kam, es war Peter Hallo. „Diese liebenswürdigen Füßchen nackt zu lassen,“ sagte er zu sich selbst mit dem Ausdrucke der tiefsten Indignation, „das hieße so viel, als nicht für zwei Pfennige Herz besitzen.“ Aber wenn der Dichter gesagt hat, „Indignation mache Verse,“ so ist damit nicht gesagt, daß sie Schuhe mache. Peter Hallo sann nach, rieb sich die Stirne, schlug sich vor den Kopf; er warf das Stück Kautabak, das er nach Seemannsart im Munde hatte, von der einen Seite zur andern und machte seinen Schuster – es ist ein schlechtes Wort, aber man mag mir verzeihen, es gibt kein anderes Wort, um die Sache auszudrücken, und die Sache ist zu wichtig, wenn es sich um Seemannssitten handelt, als daß ein gewissenhafter Erzähler sie verschweigen könnte. Der Schuster ist für den Gedanken des Matrosen das, was der Weiser für die Uhr ist; wenn der Gedanke im Gang ist, dreht sich der Schuster herum. Freilich hatte er sich auch eine Aufgabe gestellt, die für einen Anfänger in der Mathematik von großer Schwierigkeit war, nämlich: „Etwas aus nichts zu machen,“ ein Problem, das Gott allein zu lösen vermochte.

„Ein Stück Leder! Meine Pfeife und meine Medaille für ein Stück Leder!“ sagte er mit derselben Kraft der Verzweiflung, mit welcher Richard II. ausgerufen hatte: „Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!“ Gewiß alle Netze im Schiffe würden sich im Augenblicke in das Meer versenkt haben, wenn er die Geschichte vom Ritter Don Quichotte gelesen gehabt hätte, er durfte ja dann hoffen eine eben so glückliche Hand zu haben als Sancho Pansa, der seine Angel nach Forellen auswarf und ein paar alte Schuhe anbeißen sah. Er durchsuchte und durchstöberte jeden Winkel und stürzte Alles um; wo auch nur eine Maus hätte hinschlüpfen mögen, da war seine Hand geschäftig. Endlich! – er stieß einen Freudenschrei aus, ähnlich dem des Harpagon, als er seine Geldkasse wieder gefunden, oder dem J. J. Rousseau’s als er sein Wintergrün erblickte. Es war keine Blume, es war kein Schatz, was Peter Hallo, entdeckt hatte, es war etwas viel Kostbareres und Herrlicheres, es war ein alter Stiefel! Der Stiefel eines Soldaten, der beim Entern getödtet worden war; er war, Gott weiß, wie? in einen Winkel des untern Raums hinabgerollt, und seitdem hier liegen geblieben, um seinen Zwillingsbruder, der im Meere versenkt oder im Bauche eines Haifisches begraben lag, trauernd, und nunmehr gleich der Ratte Lafontaine’s wohl zu dem Glauben gekommen, daß er mit den Dingen hienieden nichts mehr zu schaffen habe. Aber Peter Hallo beschloß es anders. Er wußte seinen Dolch als Ahle und Kneif so trefflich zu gebrauchen, und damit zu schneiden und zu stechen, daß er in weniger als einer Stunde – ja, daß ich sagen könnte, ein Paar Schuhe zu Stande brachte, oder ein Paar Stiefelettchen, Sandalen, Halb- oder Schnürstiefeln, Socken oder Cothurnen, Babuschen, Mocasins – nein, es war von dem Allen nichts; es war im Fache der Fußbekleidungskunst ein durch und durch originelles Werk, etwas Phantastisches, Romantisches, ein Ding ohne Namen. Aber schlüßlich, das Ding ohne Namen konnte doch zur Noth als eine Art Schutzwehr dienen, welche sich zwischen die Oberhaut eines menschlichen Fußes und den Fußboden hinein schieben ließ. Nun lief der wackre Hallo spornstreichs in die Kajüte Maria Rosa’s, und nachdem er nicht ohne große Mühe und unter dem schallenden Gelächter des jungen Mädchens ihre nackten Füßchen in diese drolligen Hüllen gehörig eingeschachtelt und eingebunden hatte, richtete er sich auf, kreuzte die Arme triumphirend über die Brust, und sagte. Wie nun?

Eine Stunde später tanzte die Bajadere wieder; sie tanzte mit einem Gewichte an jedem Fuß und unter Beifallsbezeigungen ihres Parterres, auf welche sie diesmal einen doppelten Anspruch hatte; denn ihr Tanz zeigte von zwiefacher Virtuosität; in Kunst und Kraft; in diesen zwei Beinchen lebten schon eine künftige Mademoiselle Taglioni und Madame Saqui, Beide zugleich.

Endlich, nach einer langen Ueberfahrt, ertönte es, vom Mastkorbe herab: Land! und es fand nun, wie ich versichern kann, eine rührende Scene zwischen dem alten Matrosen und der jungen Creolin statt. „Ich werde mich immer Deiner erinnern und Deine Schuhe will ich wie ein Andenken, wie ein Heiligthum aufheben,“ sagte Maria Rosa, um den armen Peter Hallo zu trösten, der sich mit dem Rücken seiner schwieligen Hand die feuchten Augen abwischte. „Ach,“ erwiederte er, mit dem Kopfe schüttelnd, „Sie gehen nach Paris, und unter neuen Freunden werden Sie bald den armen Peter Hallo aus den Gedanken verlieren und ihn ganz vergessen.“ „Ich denke Deiner immer! „Immer!“ wiederholte sie noch einmal, während ihre Tante sie mit sich fortzog. Er folgte ihr lange mit den Augen, sie wandte sich oft nach ihm um, und er konnte schon nichts mehr von ihr verstehen, als sie noch immer, mit dem Schnupftuche winkend, ausrief: „Immer, Hallo, immer!“ –

Peter Hallo konnte nicht wissen, ob das junge Mädchen Wort hielt; denn er kam selten an’s Land und wurde im amerikanischen Kriege getödtet.

Und Maria Rosa –

Aber siehe! mitten durch meine Erzählung hindurch fluthet der große Strom der französischen Revolution; ein Strom seltener Art, – man weiß nicht, welchen Namen [254] man ihm beilegen soll. Ist’s der Pactolus, mit dem Goldstaube? oder der blutgekrönte Simois? oder der lorbeerumgrünte Eurotas? Gieb mir die Hand, drücke die Augen zu und wir wollen darüber hinwegspringen.

Wohl, so wären wir denn mitten in das Kaiserreich hineingefallen, und wir befinden uns in Malmaison, dem Ruhesitze der edlen und unglücklichen Josephine, der Wittwe des noch lebenden Napoleon, – nach legaler Scheidung – aber der noch immer von allen Franzosen angebeteten Kaiserin, denn die Franzosen hatten den Ehebund im Herzen auch mit abgeschlossen, und die Franzosen hatten die Scheidungsacte nicht mit unterschrieben.

In ihrem Cabinet, auf ein geöffnetes Pianoforte gestützt, hörte sie lächelnd eine Deputation junger Mädchen an, die zu ihrem Hausstaate gehörten, und welche schüchtern um die Erlaubniß baten, im Schlosse Sprichwörter aufführen zu dürfen. „Sehr gern, lieben Kinder, antwortete die gute Josephine, und ich selbst werde für die Kostüme Sorge tragen. Dank der Großmuth des Kaisers, meine Garderobe wird euch deren im Ueberflusse darbieten. Nehmt hier, was Marchand mir in diesem Augenblicke überbracht hat.“

Und sie stieß nachlässig ein kostbares Pelzwerk, welches über den Teppich hin ausgebreitet war, mit dem Fuße zurück. Dieses Putzstück war so schön, daß Fräulein S. R., die jüngste der Abgesandten, sich nicht enthalten konnte, indem sie voller Verwunderung ihre weißen Händchen zusammenschlug, auszurufen: „Gott! wie glücklich sind Ew. Majestät!“ „Glücklich,“ sagte Josephine leise für sich, „glücklich!“ Sie schien einen Augenblick nachzudenken, ließ ihre Finger zerstreut über das Piano irren und schlug einige Accorde aus der Romanze an, die wir schon kennen:

Der Blume Stern stirbt, wo ihr Stern
 Sollt’ tagen.
Ich ruht’ am Herz Dir, Schwester fern,
 So gern!

Dann der Erinnerungen, die sie niederdrückten, sich erwehrend, erhob sie sich. „Wer mich lieb hat, folgt mir; kommt, Fräulein; ihr möget Euch die Anzüge betrachten, und nach Gefallen auswählen.“

Und, dem jungen wilden Schwarme voranschreitend, begab sie sich in die Garderobe. Nun blickten wohl alle die jungen Mädchen mit verwunderten Augen um sich, wie der Sohn des Holzhäuers, als er zum ersten Male in die Höhle Ali Baba’s hinabgestiegen war.

Da sah man Gaze-Kleider, so leicht, daß sie davon geflogen sein würden, hätte das Gewicht der Edelsteine, mit denen sie besetzt waren, sie nicht niedergehalten; da gab es spanische Mantillen, italienische Mezzaros, Odalisken-Mäntel, noch ganz durchhaucht von den Parfümerien des Harems und dem Puder von Abukir, endlich Madonna-Roben, so schön, daß die heilige Jungfrau von Loretto selbst sich ehedem nur am Tage der Himmelfahrt damit geschmückt haben würde.

„Nun sucht euch heraus, Kinder,“ sagte die gute Kaiserin, „und macht euch vergnügt. Ich überlasse euch alle diese Herrlichkeiten, bei deren Anschauen ihr so große Augen macht, nur mit Ausnahme einer einzigen. Diese ist zu kostbar und mir zu heilig, als daß sie berührt werden dürfte.“ Und als sie bei diesen Worten die lebhafteste Neugier von allen Augen leuchten sah, fügte sie hinzu. „Indeß kann ich euch diesen Schatz sehen lassen.“

Wie da die Einbildungskraft, diese „tolle Hausgenossin“ und – Herrscherin, bei einem Alter von funfzehn Jahren – in den jugendlichen Köpfen ihr Spiel trieb.

Was mußte dies für ein Wunder sein, daß sie es nicht einmal berühren sollten, während sie in all’ den Wundern hier nach Belieben herumwühlen durften?

Eine Robe, modefarben, aus der Sonne oder dem Monde, wie im Märchen von der Eselshaut? Jenes Vogelei, das nach den arabischen Märchen ein Diamant ist und unsichtbar macht? Ein Fächer aus den Flügeln eines Schutzgeistes von Alhambra? ein Feenschleier? oder etwa ein noch kostbareres Stück, das der Kaiser von einem seiner vertrauten Dämonen, dem kleinen rothen Mann, oder dem kleinen grünen Mann herbeibringen lassen? Was in aller Welt mochte es sein?

Endlich hatte Josephine Mitleid mit der ungestümem Neugier, die sie selbst in unschuldiger Bosheit entflammt hatte. Sie suchte in einem Winkel der kaiserlichen Garderobe, und – was brachte sie zum Vorschein? Nicht ein Angebinde Napoleon’s, nicht ein Meisterstück des Genies – es war das Werk und Angebinde des Bretagner Matrosen Peter Hallo, es waren die Schuhe Maria Rosa’s.

Wer hätte es nicht schon errathen, die Kaiserin Josephine und die Tänzerin mit den nackten Füßchen sind eine Person und ein Herz. Als Napoleon mit seinem Degen Europa wie einen Kuchen zerschnitt, war Josephine Maria Rosa Tascher de la Pagerie die Glückliche, sie bekam die Bohne und die Krone. Sie war lange Zeit Herrscherin. Aber, siehe! eines Tages erhob sich ein gewaltiger Sturm in Europa, die Schneewolken Rußlands stiebten empor, um als weißes Leichentuch auf französische Krieger niederzufallen, die vier Winde wehten feindliche Lawinen zu, und es kamen über Frankreich unter dem Blitzen der Schwerter und Kanonen und unter dem schweren Dröhnen der Schlachten Erdbeben, – ebenso furchtbar, als die der Antillen.

Und als endlich der Himmel wieder blau wurde, da war die Prophezeiung der Negerin ganz in Erfüllung gegangen.

Der große, vom Blitze zerschmetterte Condor, – er hatte die Rose fallen lassen, – und die Creolin von den drei Inseln war zweimal Königin geworden; dann war der Sturm gekommen und sie war gestorben.

O. L. H. 


Die zwölfte Stunde des türkischen Reichs.

So verhängnißvoll auch die Eroberung von Konstantinopel durch Mahomed II. am 29. Mai 1453 im ersten Augenblicke für das ganze christliche Abendland schien, so legte gleichwohl dieses Ereigniß die Keime zu einem Umschwung, an dem die damals so gefürchtete Macht des aus Asien eingedrungenen Volkes mit der Zeit brechen sollte [255] und der in unsern Tagen die Catastrophe herbeiführen zu wollen scheint. Bei all der trostlosen Zerrüttung des griechischen Kaiserreichs in seinen letzten Tagen hatte nämlich Konstantinopel dennoch den letzten Schatz altgriechischer Schulweisheit, Bildung und Kunst zu bewahren gewußt, und die Träger derselben gaben, als nach dem Falle Konstantinopels ihnen, den Flüchtigen, das europäische Abendland eine neue Heimath gewährte, den Anstoß zu einem reichen Geistesleben, welches Europa aus seiner Halbbarbarei aufrüttelte, die Pflege der Wissenschaften hervorrief und Schritt um Schritt jene Civilisation gebar, durch die später das türkische Reich allmälig mindestens eben so erdrückt wurde und noch wird als durch seine politischen Feinde.

Das Dardanellenschloß Kum-Kalesi.

Zwar hatte nach dem Falle Konstantinopels Europa sich noch mehr als zwei Jahrhunderte lang gegen das Anstürmen der wilden Osmanlis unter einer Reihe von kraftvollen Herrschern zu wehren, ehe ihrem letzten Vordringen im Jahre 1683 unter den Mauern Wiens ein Ende gemacht wurde; von da ab zeigt aber das gewaltige Reich in schneller Aufeinanderfolge dieselben Anzeichen innerer Zerrüttung und äußern Verfalles, wie sie nicht anders die letzte Periode des griechischen Kaiserthums bot. Ein und dieselbe Erscheinung wiederholt sich auf ein und demselben Boden, und die unerbittliche Nemesis der Weltgeschichte beginnt.

Das Bosporusschloß Rumili Hissar.

Als der gefährlichste politische Feind des türkischen Reichs trat alsbald Rußland auf, das in stets glücklichen Feldzügen der Pforte eine Demüthigung um die andere [256] zufügte, und doppelt gefährlich war, weil in der europäischen Türkei, als fast rechtlose Unterthanen der Sultane, 11 Millionen griechische Christen leben, die Alles von Rußland hoffen und zu dessen geheimen Verbündeten gezählt werden können. Während der ersten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts geht der Verfall der türkischen Macht immer rascher vor sich. In den Provinzen erschüttern rebellische Paschas unausgesetzt das Ansehen der Sultane; der energische und glückliche Mehemed Ali, von seinem Sohne Ibrahim Pascha unterstützt, erhebt sich zum fast unabhängigen Herrn von Aegypten; der Aufstand der Griechen im Jahre 1821, obwohl er eine blutige Christenverfolgung hervorruft (in Konstantinopel allein wurden 30,000 Christen hingeschlachtet), führt zur Unabhängigkeit des alten Hellas; der sich hieran knüpfende Krieg mit Rußland (1828) reißt die Donaufürstenthümer aus ihrem bisherigen Unterthanenverband und macht sie der Pforte gegenüber ebenfalls fast unabhängig; und noch später scheinen neue Verwickelungen mit dem ägyptischen Vicekönig den Untergang des Reichs zu beschleunigen, dessen Zügel, mit dem 1839 erfolgenden Tode Mahmud’s, in die Hände eines Kindes, des jetzigen Sultans Abdul Medschid fallen.

Während die Pforte in solche rath- und hülflose Zustände gerieth, war ihr endliches Schicksal schon längst ein Gegenstand hoher Fürsorge für die europäische Diplomatie geworden, und bald mehr, bald weniger drohend für die Ruhe Europas, tauchte von Zeit zu Zeit immer wieder die türkische Frage auf. Die dabei in ihrem Einfluß auf den türkischen Ministerrath, den Divan, in Konstantinopel sich am meisten überwachenden Mächte, waren Rußland und England, welch letzterem sich zumeist auch Frankreich anschloß, und so entstanden, neben den Alt-Türken, Parteien, von denen die eine im Anlehnen an Rußland, die andere im Bunde mit England oder Frankreich oder mit beiden zusammen, den morschen Staat zu stützen hoffte. Es würde uns hier viel zu weit führen, dem an dieses Verhältniß sich knüpfenden diplomatischen Schachspiel in allen seinen Zügen zu folgen, und wir müssen uns mit der allgemeinen Andeutung begnügen, daß die russische Politik im Wesentlichen auf den frühern oder spätern gänzlichen Erwerb der türkischen Besitzungen in Europa hinauslief, während England und Frankreich die Unabhängigkeit der Pforte aufrecht zu erhalten strebten. Daß die Politik der letztern hierbei weniger von Uneigennützigkeit als von Eifersucht gegen Rußland diktirt wird, ist klar, denn für sie handelt es sich vor Allem darum, daß Rußland, neben einem mächtigen Zuwachs an Land und Volk, nicht zugleich mit seinen Flotten das offene Meer erreicht, was bei der Besitznahme der europäischen Türkei die Folge sein würde. Ohne diese sich widerstreitenden Interessen der Großmächte, würde die türkische Macht zur Stunde bereits in Europa vernichtet sein, so aber verzögert sich ihr Fall, freilich wohl nur um eine kurze Spanne Zeit, da es ihr einmal an aller inneren Lebensfähigkeit fehlt, und Frankreich und England, selbst um den Preis eines Krieges, den Russen schwerlich die schon halb verschlungene Beute vorenthalten dürften.

Ein ernstliches Zerwürfniß zwischen der Pforte und Oesterreich und Rußland drohte im Jahre 1849, als die Trümmer der ungarischen Revolutionsarmee sich auf türkisches Gebiet geflüchtet hatten und deren Auslieferung verlangt wurde, auszubrechen, wurde jedoch durch theilweise Nachgiebigkeit von beiden Seiten zuletzt wieder beigelegt, ohne jedoch zwischen den drei Mächten das frühere freundliche Einvernehmen gänzlich herzustellen. Die üble Behandlung, welcher sich österreichische Unterthanen, ja selbst Agenten der Regierung, mehrfach in der Türkei ausgesetzt sahen, wozu verschiedene andere Streitpunkte kamen, veranlaßten im Anfang dieses Jahres zuerst das Erscheinen eines außerordentlichen österreichischen Gesandten in Konstantinopel. Graf Leiningen trat entschieden auf, so daß er den anfänglichen Widerstand des türkischen Ministeriums gänzlich brach und alle im Namen seiner Regierung gestellten Forderungen gewährt erhielt. Oesterreich errang damit jedenfalls einen bedeutenden diplomatischen Sieg in Konstantinopel.

Das kaum verzogene Unwetter sollte sich aber schnell wieder, und zwar drohender, über der Pforte zusammenballen. Bald nach der Abreise des Grafen Leiningen erschien nämlich in der Person des Fürsten Menzikoff ein außerordentlicher Gesandter Rußlands, der eben so sehr durch sein energisches Auftreten, als durch die von ihm überbrachten Forderungen den Stolz der Türken aufreizte und ihre Eitelkeit beleidigte. Die verhängnißvollsten dieser Forderungen bestanden in der verlangten Abtretung eines Küstenstrichs am schwarzen Meere mit dem Hafenorte Batun, um den Krieg in Tscherkessien nachdrücklicher fortsetzen zu können, und ferner in dem beanspruchten vertragsmäßigen Protektorat über die in der Türkei lebenden orthodoxen Griechen und in der Einsetzung eines lebenslänglichen Patriarchats. Die Pforte erkannte bald die hohe Gefahr, die in der Gewährung dieser Forderungen für ihre Hoheitsrechte lag, und nach mehrwöchentlichen Unterhandlungen, bei denen der Einfluß des englischen Gesandten Stratford de Redcliffe nicht zu verkennen war, stellte sie dem Ansinnen Rußlands eine bestimmte Weigerung entgegen. Das zuletzt von Menzikoff gestellte Ultimatum, dessen kriegerische Drohungen, ja selbst die russischer Seits beginnenden bedeutenden Rüstungen und Truppenausstellungen an der türkischen Grenze änderten an dem Entschlusse der Pforte nichts und Menzikoff verließ Konstantinopel unverrichteter Dinge.

Rußland hat zwar mit Krieg gedroht, allein ob es auch jetzt noch, wo allem Anschein nach England und Frankreich zur nachdrücklichen Unterstützung der Pforte entschlossen sind, zu diesem äußersten Mittel greifen wird, ist um so mehr zu bezweifeln, als trotz des schroffen Abbrechens der Unterhandlungen, die Aussicht auf deren Wiederaufnahme in einer mildern Form nicht gerade abgeschnitten sein soll. Wäre dem so, so würde die Krisis noch einmal hinausgerückt sein, ohne daß indessen ein Beweis für die fernere Lebensfähigkeit des türkischen Reiches gewonnen wurde. Nur fremde Hülfe hält den sinkenden Halbmond aufrecht, und die Ueberzeugung von dem nahen Falle Konstantinopels wurzelt selbst unter den Osmanlis so fest, daß die Strenggläubigen sich schon seit längerer Zeit nicht mehr auf der europäischen, sondern auf der asiatischen Seite begraben lassen, damit ihre Gräber nicht vielleicht eines Tages von den Füßen der Christenhunde getreten werden.

[257] Die der Reform befreundete türkische Partei verhehlt sich eben so wenig den Verfall des Staates; gegen seinen Untergang sucht sie aber eben dadurch anzukämpfen, daß sie europäische Civilisation auf das welke Reis des Islam zu pfropfen unternimmt; ein um so schwierigeres Beginnen, als dabei alte nationale und religiöse Vorurtheile verletzt werden, und das Mißverhältniß in den europäischen Besitzungen, wo 3 Millionen Osmanlis, neben 11 Millionen Christen, das herrschende Volk bilden, doch nicht gehoben wird. Da die Türkei im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte die überlegene Kriegskunst ihrer Nachbarn mehrfach hatte erfahren müssen, so war es natürlich, daß auf diesem Gebiet zunächst zu Reformen geschritten wurde und eine Umgestaltung der Armee und des Kriegswesens auf europäischem Fuße erfolgte. Dies begann schon unter Sultan Mahmud und wurde unter dem seligen Sultan fortgesetzt, ohne daß jedoch die Wehrkraft des Reichs wesentlich gestiegen zu sein scheint. Die ganze Reorganisation der Armee ist nicht viel mehr als ein künstlicher Firniß geblieben. Angeblich vertheilen sich die Streitkräfte der Pforte wie folgt: Active Armee 160,000 Mann mit 2000 Feldgeschützen; Reserve 150,000 Mann; irreguläre Truppen 60,000 Mann; Hülfscorps von Aegypten, Tunis, Tripolis, Albanien u. s. w. 100,000 Mann. Die Seemacht besteht aus 16 Linienschiffen, 14 Fregatten, 12 Corvetten, 20 Briggs und 18 Kriegsdampfern von 3700 Pferdekraft, zu denen noch einige weitere der Regierung zur Verfügung stehende Dampfer kommen. Wären diese Streitkräfte, welche bei einer ganz anständigen Marine ein Landheer von 470,000 Mann aufweisen, in Wirklichkeit und nicht blos auf dem Papier vorhanden, so müßte die Pforte immer noch zu den Mächten ersten Ranges gezählt werden und könnte allenfalls selbst Rußland gegenüber auf fremde Hülfe verzichten. Aus der eigenen Hülflosigkeit der Pforte erhellt aber zur Genüge, welche Bewandtniß es mit ihrer Streitmacht hat, auf deren Widerstandsfähigkeit sie selbst kein großes Vertrauen setzt.

Ein Angriff der Russen auf die Türkei würde mit dem Uebergange des die Grenze zwischen beiden Staaten bildenden Pruth beginnen; ein zweites natürliches Hinderniß bildet die Donau, welche ebenfalls zu übersetzen wäre; zuletzt müßte das steile und rauhe Balkangebirge überstiegen werden, um in der Ebene von Konstantinopel zu erscheinen. In dem letzten russisch-türkischen Feldzuge 1828 bis 1829 brachte die russische Armee das Alles zu Stande, weshalb kaum anzunehmen, daß es ihr ein zweites Mal nicht wieder gelingen sollte, womit indeß durchaus nicht gesagt sein soll, daß es sich hierbei etwa um einen bloßen militärischen Spaziergang handelt, denn sicher wird bei einem Entscheidungskampfe der wilde Muth der Osmanlis noch einmal, wenn auch vergeblich, aufflammen. Ein anderer Weg als der eben bezeichnete führt für die Russen nicht nach Konstantinopel, indem einen etwaigen Angriff von der Seeseite her die Natur selbst vorgebeugt hat, und Werk von Menschenhand während der glücklichen Tage des türkischen Reichs der Natur hierbei noch weiter zu Hülfe gekommen ist. Bekanntlich liegt Konstantinopel (s. das beigegebene Kärtchen) am Marmorameere, das nach Norden mit dem schwarzen Meere, nach Süden mit dem ägäischen Meere (ein Theil des großen mittelländischen Meeres) durch zwei schmale Meerengen in Verbindung steht, von denen die nördliche den Namen Bosporus führt, die südliche als Dardanellenstraße bekannt ist. Beide Wasserstraßen sind ihrer heftigen, von Norden nach Süden gehenden Strömung wegen so schon schwer zu passiren, und die an ihren Ufern angelegten Befestigungswerke schließen den Seeweg nach Konstantinopel noch mehr, und sind somit für dessen Vertheidigung von entschiedener Wichtigkeit.

Der Bosporus ist etwa 4 Meilen lang, während seine Breite zwischen 1400 bis 2200 Fuß wechselt. An seiner schmalsten Breite stehen die sogenannten Hissaren (Schlösser), auf der asiatischen Seite: Anadoli Hissari, auf der europäischen: Rumili Hissari (s. die Abbildung). Letzteres, die stärkere Veste, ließ Mohamed II. im Jahre 1451, also zwei Jahr vor Eroberung Konstantinopels durch die Osmannen, anlegen, halb mit Bewilligung des griechischen [258] Kaisers, halb ihm zum Trotz, und diente sie damals eben so zur Bedrohung Konstantinopels wie jetzt zu seinem Schutz. Rumili Hissar besteht aus fünf dicken, runden, durch starke Mauern unter einander verbundenen Thürmen; seine Gestalt ist im höchsten Grade unregelmäßig, weil dem Willen Mohamed’s gemäß durch die Mauern des Schlosses der arabische Schriftzug des Namens Mohamed dargestellt wurde. Der Hauptsache nach wurde der Bau, der weit fester ist als es, vom Meere aus gesehen, scheint, in dem kurzen Zeitraum von drei Monaten beendet. Das Schloß auf der asiatischen Seite stammt aus etwas früherer Zeit; beide, die auch zu Staatsgefängnissen und heimlichen Hinrichtungen dienten, wurden im Laufe der Zeit noch mehr befestigt, und ihnen an reiht sich eine doppelte Reihe von Festungen und Batterien bis zum Eingange des schwarzen Meeres. Diese Befestigungen und die durch zahlreiche hervorspringende steile Landspitzen veranlaßten heftigen Strömungen und Gegenströmungen des Wassers machen den Bosporus für feindliche Schiffe unzugänglich, und haben ihn wenigstens solche noch nie passirt.

Denselben Charakter trägt die 16 Stunden lange und 1/2 bis 2 Stunden breite Dardanellenstraße, der Hellespont der Alten. Die eigentlichen (alten) Dardanellenschlösser, Killid-Bahar in Europa und Boghaz-Hissar oder Sultanieh Valessi in Asien, ließ derselbe Mohamed, der Rumili Hissari am Bosporus erbaute, nachdem er Konstantinopel erobert hatte, an der schmalsten Stelle der Meerenge anlegen. Die Schlösser stehen nur etwa 2000 Schritt auseinander und sollte ursprünglich die Wasserstraße an dieser Stelle noch mit Ketten gesperrt werden, hauptsächlich zum Schutze gegen die Flotten der damals noch mächtigen italienischen Handelsrepubliken. Später wurden an der Einfahrt aus dem ägäischen Meere die beiden neuen Dardanellenschlösser, auf der europäischen Seite Sitil-Bahar, gegenüber Kum- oder Kanah-Kalesi auch Hissar-Sultani (s. d. Abbildung) angelegt, an welche sich die ganze Meerenge entlang eine Reihe von Befestigungswerken und Batterien schloß, die bei gut unterhaltenem Zustande die Durchfahrt feindlicher Schiffe schlechterdings unmöglich machen, da der Weg an mehr als 800 Feuerschlünden (1 bis 1600 Pfündern) vorübergeht. Mit dem allgemeinen Verfall des türkischen Reichs waren indeß auch diese wichtigen Festungswerke in Verfall gerathen, und so konnte im Jahre 1770 der russische Admiral Elphinstone zwei türkische Linienschiffe die Dardanellenstraße entlang verfolgen, ohne auch nur von einem einzigen Schusse getroffen zu werden. Dieses, die Türken überraschende Ereigniß veranlaßte zwar eine umfassende Wiederherstellung der Befestigungswerke, welche aber von so geringer Dauer war, daß hinwiederum der englische Admiral Duckworth mit acht Linienschiffen, vier Fregatten, nebst einer Anzahl Brander und Bombardierboote am 19. Februar 1807, ebenfalls ohne Verlust zu erleiden die Dardanellenstraße passirte, und folgenden Tages, um den zwischen der Pforte und England schwebenden Unterhandlungen Nachdruck zu geben, vor Konstantinopel erschien. Die von den Türken unter der Leitung des französischen Gesandten Sebastiani schnell ergriffenen Vertheidigungsmaßregeln bestimmten jedoch den englischen Admiral zur Umkehr, die er am 2. März antrat, und dabei die Dardanellenschlösser bereits so weit wieder hergestellt fand, daß er die Durchfahrt nicht ohne Verlust bewerkstelligen konnte, ja seinem eigenen Geständnisse nach einige Tage später verloren gewesen sein würde. Dies war das letzte Mal, wo eine feindliche Flotte die Dardanellen passirte, und in neuerer Zeit mögen europäische Ingenieurs die Befestigungen in einen Zustand versetzt haben, der Konstantinopel auch von dieser Seite her gegen einen Angriff zur See vollkommen sicher stellt.

Den Bosporus zu passiren wurde von feindlichen Schiffen nie ein Versuch gemacht, wohl aber durchsegelte ihn, von der Pforte zu Hülfe gerufen, im Februar 1833 eine russische Flotte, und schiffte auf der asiatischen Seite ein Heer von etwa 20,000 Mann aus, um dem siegreichen Vorwärtsdringen Ibrahim Paschas und seiner Aegyptier Einhalt zu thun. Zum Lohn für die geleistete Hülfe brachte Rußland damals den Vertrag von Unkiar Skelessi zu Stande, wornach ihm das Recht zukam, über die Oeffnung oder Schließung der Dardanellen mit zu verfügen, und der deshalb von Frankreich und England nicht anerkannt wurde. Nach Ablauf dieses auf 8 Jahre lautenden Vertrags schlossen im September 1841 die fünf Großmächte Rußland, Oesterreich, Preußen, England und Frankreich mit der Türkei einen gemeinsamen Vertrag, demzufolge die Dardanellen für Kriegsschiffe jeder fremden Nation geschlossen blieben. Die Großmächte machten sich ferner anheischig, keine Gebietserweiterung auf Kosten der Pforte zu unternehmen, keine Gunst, deren nicht alle gleich theilhaftig, zu beanspruchen, und schon diesen Bedingungen gegenüber liefen mithin Rußlands jüngste Forderungen auf einen Bruch des Vertrags von 1841 hinaus.

Die Erfahrung hat bewiesen, daß dieser, offenbar zur Aufrechthaltung der Pforte geschlossene Vertrag dem zerrütteten Staate so gut wie nichts gefrommt. Von offener Gewalt wird zwar Rußland jetzt vermuthlich absehen, weil sonst die englische und französische Flotte der Pforte zur Hülfe doch im schwarzen Meere erscheinen könnte, und dann die russische Flotte, Odessa und die übrigen Niederlassungen der Russen an der Küste gefährdet wären. Dem aber wird sich Rußland schwerlich aussetzen wollen, und eher der Zeit und den Umständen überlassen, sich den in der Auflösung begriffenen Osmannenstaat als Beute in die Hände gespielt zu sehen.




[259]

Aus der Menschenheimath.

Briefe
des Schulmeisters emer. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Elfter Brief.
Die Pflanzenzelle als Vorrathskammer.

Es wäre überflüssig, wollte ich Dich erst daran erinnern, daß uns das Pflanzenreich außer Speise und Trank auch hunderterlei andere Befriedigungsmittel für die täglichen Bedürfnisse unseres Lebens bietet. Du wirst es aber gewiß nicht für überflüssig halten, wenn ich Dir in meinem heutigen Briefe durch einige Beispiele nachweise, daß die außerordentlich kleine Pflanzenzelle zugleich das Laboratorium und die Vorrathskammer für Stoffe ist, die wir geradehin nicht mehr entbehren können.

Es besteht hierin zwischen Thieren und Pflanzen ein großer Unterschied. Was erstere uns an solchen Stoffen darbieten, das bereiten sie uns entweder außerhalb ihres Leibes, ich nenne als Beispiele Wachs und Seide, oder es findet sich in Organen ihres Körpers in größerer Menge abgesondert, wie das Bibergeil, der Moschus; oder es sind Theile ihres Leibes: Elfenbein, Wolle, Federn, Häute; oder endlich das ganze Thier wird von uns zu gewissen Zwecken verwendet, wie der Pflasterkäfer (gewöhnlich spanische Fliege genannt) zu Blasenpflastern oder die Cochenille-Blattlaus zur Bereitung der theuern rothen Farbe.

Bei der Pflanze ist es zwar zum Theil eben so; ich erinnere Dich nur an das Holz. Aber die meisten Spenden des Pflanzenreiches, welche wir in der Heilkunst, in der Färberei und anderen Gewerbszweigen verwenden, finden sich, in unendlich kleine Parthien vertheilt, in den einzelnen Zellen, welche dieselben auch, unabhängig von einander, bereiten. Nur der Umstand, daß dann oft die einzelnen neben einander liegenden Zellen ganzer Zellgewebsmassen dasselbe bereiten, macht es uns möglich, diese Stoffe in Menge aus ihnen zu gewinnen. Wir müssen uns dabei oft chemischer Scheidungs- und Verbindungsmittel bedienen, um ihrer habhaft zu werden.

So finden sich z. B. die köstlichen Wohlgerüche, die wir aus so vielen Blüthen und Blättern als sogenannte ätherische Oele ziehen, nicht massenweise in besonderen Behältern des Pflanzenkörpers, wie z. B. der Moschus in dem Beutel des Moschusthieres, sondern als zahllose einzelne Tröpfchen von unendlicher Kleinheit, welche in dem wässrigen Zellensafte der einzelnen Zellen schwimmen. Nur selten vereinigen sich mehrere um eine kleine Höhlung herumliegender Zellen, um gemeinschaftlich einen gewissen Stoff zu bereiten und in diese Höhlung auszuscheiden; wie dies z. B. bei den Harzbildungen im Holze und der Rinde unserer Nadelhölzer der Fall ist.

Aus diesen Mittheilungen geht nun von selbst der Unterschied zwischen Pflanze und Thier hervor, für den auch schon ein vergleichender Blick in den angeschnittenen Leib eines Thieres und einer Pflanze spricht, daß letztere nicht so bestimmt unterschiedene Organe bat, wie das Thier. Wir finden im Pflanzenkörper nichts, was dem Magen, der Leber, der Lunge, dem Herzen, den Adern, den Nieren, dem Gehirne etc. entspricht. Ueberall finden wir im Pflanzenkörper ziemlich übereinstimmend gesteckte und auf ähnliche Weise untereinander verbundene Zellen; höchstens daß dieselben hier klein und kugelig, dort lang und faserartig sind; jenes z. B. in der Kartoffel, dieses in dem Holze und der Baumwolle.

Das geht so weit, daß man sagen kann, jede einzelne Pflanzenzelle hat ihre kleine, besondere Lebensthätigkeit für sich, und bereitet demnach in ihrem Innern oft etwas ganz Anderes als ihre Nachbarzelle, die an Gestalt und Größe ihr sonst ganz gleich ist.

So siehst Du z. B. an einigen Zellen aus der fleischigen Rindenschicht eines Cactus (Pilocereus militaris), daß eine Zelle (Fig. 1) eine kleine Krystalldrüse in ihrem Innern gebildet hat, während ihre Nachbarinnen nur einzelne Körnchen des grünen Farbestoffs der Pflanzen enthalten, den man Blattgrün oder Chlorophyll nennt. Du erstaunst vielleicht, zu hören, daß sich in den Pflanzenzellen auch Krystalle finden. Dies ist sehr häufig der [260] Fall, und zwar ist es meist kleesaurer oder kohlensaurer Kalk. Diese Krystalle bilden oft noch viel zusammengesetztere Drüsen, als die abgebildete, namentlich in den Cactus-Arten, und dann kann man sie sandkorngroß schon mit bloßen Augen erkennen; oft kommen sie aber auch als einzelne Krystalle von außerordentlicher Reinheit der Form vor, mit sehr deutlich ausgebildeten Flächen, Kanten und Ecken. Daß diese Krystalle nicht als solche von außen in die Pflanze eingedrungen sein können, sondern sich erst in den Zellen gebildet haben müssen, kannst Du Dir selbst sagen, da Du neulich aus meinem Wasserbriefe erfahren hast, daß die Pflanze nur wässrige oder luftförmige Stoffe aufnehmen kann.

Doch laß uns nun einige weitere Schritte in die kleinen Vorrathskammern und chemischen Laboratorien thun, welches beides die Zellen der Pflanzen sind.

Die beiden wichtigsten Stoffe, Stärkemehl und Kleber, haben wir neulich in ihnen schon gefunden, als ich Dir den Bau eines Getreidekornes und der Kartoffel beschrieb.

Dieselbe Nahrhaftigkeit wie das Stärkemehl hat für uns auch der Zucker und der Gummi, chemisch mit jenem ganz übereinstimmend, so daß alle drei leicht in einander sich umwandeln können. Gummi und Zucker werden ebenfalls von einzelnen Pflanzenzellen bereitet, aber immer in flüssiger Form.

Eine merkwürdig nahe Verwandtschaft oder vielmehr chemische Aehnlichkeit mit diesen drei Stoffen hat auch das Oel, was uns Rübsen, Raps, Hanf, Lein, Nüsse, Mandeln, Oliven darbieten; daher ersetzt auch das Oel z. B. im Rübsamen die Stelle des fehlenden Stärkemehles vollkommen, d. h. es wird von dem Keimpflänzchen des Samens ebenso verzehrt, wie das Stärkemehl im keimenden Roggenkorn, wobei es, wie dieses, in Gummi und Zucker umgewandelt wird. In den ölreichen Samen schwimmen in dem Zellensaft außerordentlich kleine Oeltröpfchen, die nicht zusammenfließen, weil sie eben in dem Zellensafte schwimmen. Wenn in alten Nüssen der Zellensaft vertrocknet ist, so fließen die Oeltröpfchen zusammen und die nun größere Oelmasse wird bald ranzig. Darum sehen auch die Kerne alter Nüsse ölig und durchscheinend, und die noch frischen sehen weiß aus. Wenn man ein ganz feines Schnittchen vom Wallnußkern unter dem Mikroskop etwas quetscht, so treten aus den Zellen die kleinen Oeltröpfchen zum Theil heraus und fließen zu größern Oelmassen zusammen, was ich Dir hier abgezeichnet habe (Fig. 2). Du siehst dann die Zellen ganz von kleinen Oeltröpfchen erfüllt.

Ich nannte Dir vorhin die ätherischen Oele. Man nennt sie zu deutsch flüchtige Oele, und sie unterscheiden sich von den eigentlichen oder fetten Oelen dadurch, daß sie auf Papier einen allmählig wieder verschwindenden, letztere einen dauernden Oelfleck hervorbringen.

In den Gewürznelken findet sich das ätherische Nelkenöl in eigenen Oelbehältern in der äußersten Schicht derselben, welche weniger von Zellen umschlossen sind, aus denen das Oel in dieselben ausgeschieden wird. Du siehst dies an Fig. 3, welche einen kleinen Theil des Querschnittes einer Gewürznelke darstellt. Nach oben liegt die auf diesen Theil fallende Oberhaut mit sehr verdickten äußeren Zellenwänden. Darunter zwei ganze und ein Theil von zwei andern Oelbehältern. Darin sind aber die einzelnen Oeltröpfchen nicht mehr vorhanden, denn sie haben nach Austrocknung der Gewürznelken das umliegende Zellgewebe durchdrungen. - – Eben so ist das Vorkommen des ätherischen Oeles in der Schale der Citronen und Pomeranzen beschaffen, auf denen man als runde Fleckchen die Oelbehälter schon mit bloßem Auge sehen kann.

In dem Zellgewebe der Blätter und Blüthen finden wir am verbreitetsten und in der größten Mannichfaltigkeit die Farbestoffe, deren wir eine so große Menge aus dem Pflanzenreiche beziehen. Sie sind stets die Erzeugnisse der einzelnen Zellen und nie finden sie sich in größeren Behältern. Dabei ist es auffallend, daß die Farbzelle selbst von der in ihr eingeschlossenen und von ihr bereiteten Farbe nicht gefärbt ist, da im Gegentheil ihre Haut farblos erscheint. Es ist überhaupt eine Regel, daß die gefärbten Pflanzentheile, namentlich die grünen, blauen, gelben, zinnoberrothen, karminrothen und violetten, ihre Färbung nur durch den Zelleninhalt, nicht durch Gefärbtsein ihrer Zellenhäute erhalten. Doch leidet dies bei den verschiedenen braunen Farben eine Ausnahme, wo es meist umgekehrt ist.

Manche Farbstoffe, die wir aus den Pflanzen gewinnen, sind in der Pflanze farblos und erhalten ihre Farbe erst durch die Bereitungsart. Dies gilt z. B. von dem kostbaren Indigo, der aus einer wickenartigen Pflanze gewonnen wird. Der Farbstoff des Indigo kommt ganz gleich auch in einer bei uns einheimischen und sehr leicht in Menge zu bauenden Pflanze vor, im Waid. Dennoch hat die Erfahrung gezeigt, daß gleich guter Indigo aus Waid gewonnen, theurer zu stehen kommt, als der ächte. Das ist eine Lehre für die Schutzzöllner, welche wo möglich alles im Lande machen lassen und fremde Erzeugnisse durch Schutzzölle verbannen möchten. Man wolle blos das erzeugen, was man selbst am billigsten erzeugen und am vortheilhaftesten verwerthen kann; dann bleibt theure ausländische Waare von selbst weg!

Doch ich will Dir zum Schluß noch etwas über diejenigen Farben mittheilen, die schon in ihren bunten Kleidern in den Pflanzenzellen sind und die uns die Erde zu einem glänzenden Garten machen.

Oben an steht die grüne Farbe. Sie findet sich immer in der Form von Kügelchen in dem wasserklaren Zellsafte.[2] Bekanntlich bleiben für gewöhnlich grün gefärbte Pflanzentheile bleich, wenn sie im Dunkeln gewachsen sind, wie z. B. die Blättchen an den Kellerkeimen der Kartoffeln. Es scheint daher auf die grüne Farbe das Sonnenlicht einen bedeutenden Einfluß auszuüben. Je dunkler grün ein Pflanzentheil gefärbt ist, desto reichlicher sind seine Zellen mit Blattgrün gefüllt. Das siehst Du an einigen Zellen eines Camelienblattes (Fig. 4). Oben und unten an der Figur sehen wir die obere und untere Oberhaut (o und n) und dazwischen das Zellgewebe des Blattes. Du weißt, daß das Blatt der Camelia auf der Oberseite viel dunkler grün ist, als auf der unteren. Du wirst dies mit dem Bau des Blattes im Einklang finden, denn [261] unter der oberen Oberhaut sehen wir eine Schicht länglicher, dicht aneinander liegender Zellen, welche viel Blattgrün enthalten. Unter dieser Schicht liegt eine andere, deren Zellen nur wenig Blattgrün enthalten, klein, rund und so locker verbunden sind, daß sie viele leere Räume zwischen sich lassen.

Wie die grüne Farbe, so findet sich auch die gelbe, die mennig- und die zinnoberrothe Farbe fast immer in der Form von Kügelchen im farblos bleibenden Zellsafte; während mit wenigen Ausnahmen die karminrothe, violette und die blaue Farbe im Zellsafte stets chemisch gelöst sind, so daß der Zellsaft selbst gefärbt ist. Für dieses Verhalten habe ich die Fig. 5 und 6 gezeichnet. Erstere stellt ein kleines Schnittchen aus einem Apfel dar, senkrecht durch die Schale. (Wie bei allen Figuren, so giebt auch hier das schwarze Fleckchen unter der Zahl die natürliche Größe des Stückchens an.) Auch hier sehen wir zu oberst die Oberhaut, deren Zellen nach außen eine sehr verdickte Haut haben. Die darunter liegenden rundlichen Zellen enthalten theils körnigen gelben, theils wässrigen karminrothen Farbstoff, letzteren in hellerer und in dunklerer Färbung. Fig. 6 stellt einige gestreckte Zellen aus einem Tulpenblumenblatte dar, an denen Du dasselbe Verhältniß siehst. Die Zelle, welche ich durch ein * bezeichnet habe, enthält sogar zwei Farbstoffe zugleich, nämlich zinnoberrothe Farbkügelchen in karminrothem Zellsafte. Diese Verbindung und die Ueberlagerung von Zellen mit verschiedenen Farbstoffen giebt den Tulpen die braune Farbe. Links daneben und gerade darüber liegen Zellen mit verschieden dunkelem karminrothen und rechts darüber zwei andere mit körnigem gelben Farbstoffe; die Zelle, die ich durch ein Δ bezeichnet habe, enthält sogar Blattgrün. Die beiden Figuren 5 und 6 zeigen Dir recht deutlich, daß jede Zelle eine eigene kleine chemische Werkstatt ist.

Endlich muß ich Dir noch die Balsame und sogenannten Milchsäfte nennen, von denen viele theils als kräftige Heilmittel, theils als Gifte, theils auch in anderer Weise für uns von der erheblichsten Bedeutung sind. Du kennst den weißen Saft der Wolfsmilchpflanzen, des Mohns und den pommeranzengelben des Schnittkrautes. Diese Milchsäfte finden sich meist nicht in einzelnen Zellen, sondern in einem zierlichen Geflecht, zwischen gewöhnlichem Zellgewebe verlaufender, verästelter, zarter Schläuche, wie Dir dies Fig. 7 aus einer Wolfsmilch zeigt. Die in dem Milchsafte schwimmenden Körper sind die sogenannten Amylumstäbchen, denn sie bestehen wesentlich aus Stärkemehl. Fig. 8 zeigt Dir ein einzelnes aus einer Zellenreihe bestehendes Haar von der Oberfläche einer Pflanze. Auf seiner Spitze trägt es ein aus Zellen zusammengesetztes Knöpfchen, eine Drüse, welche ein balsamreiches Harz ausscheidet. Hierher gehören die klebrigen Knopfhaare an den Kelchen der Centifolie.

Dieses wird Dir aus diesen wenigen Beispielen klar geworden sein, daß die Pflanzenzelle eine kleine Vorrathskammer ist, aus der wir die mannichfaltigsten Stoffe für unseren häuslichen, gewerblichen und ärztlichen Bedarf entnehmen. Große Wirkungen werden auch hier durch Vereinigung vieler kleinen Kräfte hervorgebracht.




Blätter und Blüthen.

Eine Schleichhändlergeschichte. Die nachfolgenden Mittheilungen geben ein Blld von dem Leben der Mexikanischen „Contrabandistas“ oder Schleichhändler, deren Zahl dort sehr bedeutend ist.

In dem niedrigen und nur aus zwei Gemächern bestehenden Rancho des Contrabandistas Antonio Pulf war lustige Zeit. Eine große Tafel nahm den größten Theil des Gemachs ein und an dieser saßen mehr als ein Dutzend schwarzbraune Abenteurer in der ungezwungensten Stellung und mit verschiedenen Graden von Lustigkeit in den rauhen Gesichtern. Die Tafel war reichlich mit Gefäßen von Aguardiente und Pulque, mit Fleischtellern und Tortillakuchen besetzt; letztere kamen heiß aus der Backpfanne und die anderen Gerichte waren, wie sich von selbst versteht, tüchtig mit Chilepfeffer gewürzt. Es war gerade große Festlichkeit; die Bande hatte schon lange Zeit der Regierung zum Trotz und Hohn ihr ungesetzliches Gewerbe getrieben und eben ein ungewöhnlich großartiges Geschäft gemacht. Die Waaren waren fast unmittelbar nach der Ankunft des Schleichhändler-Schiffes abgesetzt worden, die Schleichhändler hatten das Geld und einen großen Vorrath von einheimischem Branntwein erhalten und waren jetzt zusammengekommen, um die Früchte ihres glücklichen Unternehmens zu genießen.

Das Gemach, in welchem diese Leute sich versammelt hatten, war groß, aber bis zur Unbequemlichkeit mit Tauwerk und Spieren von Küstenfahrzeugen, Fäßchen, Tonnen, Kisten und Ballen angefüllt, welche die Schleichhändler hier theils als verborgene, theils als erklärte Vorräthe bewahrten. Auf einigen zerbrochenen Gestellen standen mehrere große Packtuchsäcke von zweifelhaftem Ansehn, die nur zum Theil mit darüber geworfenen Netzen und Segelüberresten bedeckt waren. Auf der einen Seite des Gemaches stand eine ungeheuere Kiste, unter deren halbgeöffnetem Deckel die Spitze eines Säbels und ein Flintenlauf hervorschauten; sie enthielt außer Waffen verschiedene Kleidungsstücke, drei bis vier Bootshaken, eine gleiche Anzahl von Taurollen und einige schwärzliche Laternen, die selten benutzt wurden. An der Mauer des Gebäudes standen einige Fäßer, die bei gegenwärtiger Gelegenheit als Seitentische dienten, obgleich ihr verdächtiges Ansehn auf den unter den vernagelten Deckeln verborgenen Inhalt schließen ließ. In den Winkeln waren Kisten und Ballen aufgehäuft und selbst der Raum unter dem großen Tische, an welchem die Eigenthümer saßen, war damit angefüllt, denn das Geschäft ging sehr schwunghaft und es waren gewöhnlich bedeutende Waarenvorräthe vorhanden. Das Hinterzimmer war nur eine Wiederholung des anderen, aber noch gedrängter mit ähnlichen Gegenständen angefüllt.

Die Fröhlichkeit der festlichen Versammlung hatte eben ihren Höhepunkt erreicht und der Capitaz Pulf, ein stämmiger großer dunkelfarbiger Mann mit haarigem Gesicht, erhob eben einen vollen Becher zum Munde, um auf den glücklichen Erfolg ihrer Unternehmungen zu trinken, als eilig ein junger Contrabandista in das Gemach trat und die Nachricht brachte, daß die Zollbeamten in geringer Entfernung unten an der Küste wären und mehrere Oxhofte, [262] welche die Schleichhändler zufällig dort zurücklassen hatten, in Beschlag genommen hätten.

Statt Bestürzung hervorzubringen, wurde diese Nachricht von der Bande mit dem lautesten Gelächter aufgenommen und nachdem jeder der Versammelten noch einen Becher Aguardiente hinunter gestürzt hatte, verließ die ganze Gesellschaft das Rancho, bei Petrus und Paulus schwörend, die naseweisen Beamten in ihre Tonnen zu stopfen, in ihre Behausung zu bringen, sie zu kochen und als passendes Schlußgericht der Festlichkeit des Tages zu verspeisen. Sie wußten recht wohl, daß die Zollhausbeamten weder hier noch anderwärts in hinreichender Anzahl vorhanden waren, um einer entschlossenen Bande von Contrabandistas mehr als einen scheinbaren Widerstand zu leisten.

Sie zogen sogleich nach der Küste und die wenigen Zollhausleute setzten sich eiligst in Bereitschaft, ihren Anspruch auf die von ihnen confiscirten Oxhofte zu vertheidigen. Es war eine Mondscheinnacht; bald widerhallte das Ufer von lautem Geschrei und das glänzende Mondlicht beleuchtete erhobene Waffen und erbitterte Kämpfende. Aber das Scharmützel war nur von kurzer Dauer; die Zollbeamten standen einer bedeutenden Uebermacht gegenüber, sie gehörten überdies auch nicht zu den tapfersten Leuten und ergriffen nach dem ersten Anlaufe die Flucht. Die Schleichhändler verfolgten sie eifrig und würden sie jedenfalls erreicht und gefangen genommen haben, wären sie nicht in Folge ihres Gelages etwas unsicher auf den Füßen gewesen. Sie machten unter solchen Umständen nur einen Gefangenen, der im Kampfe leicht verwundet worden war und diesen trieben sie, als sie nach ihrem Rancho zurückkehrten, ziemlich unsanft vor sich her.

Der arme Beamte wurde mitten unter die Flaschen, Becher und Teller auf den Tisch gesetzt und man hielt hierauf eine trunkene Berathung über die Strafe, welche dem Gefangenen zuerkannt werden sollte.

„Hängt ihn sogleich an einen der Balken!“ rief ein Kerl von rohem Ansehn, mit einem dicken dicht behaarten Halse und einem rothen Tuche über den Augen.

„Setzt ihn in ein Faß Spiritus und laßt es uns anzünden,“ rief ein anderer mit schlauem Blicke und einem Anfluge von Humor.

„Hängt ihn an den Beinen auf und bespritzt sein Gesicht mit Vitriol, bis wir sehen, wie er sich ausnimmt,“ fügte wohlwollend ein viertes Mitglied der Gesellschaft hinzu.

Sie waren im Begriffe, den Gefangenen vom Tische zu ziehen und eine der vorgeschlagenen Strafen in Ausführung zu bringen, als der Capitaz Antonio Pulf sich einmischte und seinen Gefährten mit lauter Stimme zurief, daß sie dem Schufte die Wahl lassen wollten, sich der Bande ohne Weiteres anzuschließen, oder durch eines der erwähnten Mittel den Tod zu erleiden.

Der arme Gefangene ergriff eifrig die ihm gebotene Gelegenheit sein Leben zu retten und besann sich keinen Augenblick, den Vorschlag des Anführers anzunehmen, der unter diesen Umständen der günstigste war. Hierauf umringten ihn die Schleichhändler und führten ihn vor Pulf, der auf dem einzigen im Gemache befindlichen Stuhle saß; der Anführer bestieg diesen und hielt von dieser Erhöhung aus folgende eindrucksvolle Anrede an seinen neu aufgenommenen Anhänger.

„Ave Maria, Du, der Du Dich Martin [Balto] nennst, gewesener Beamter im Dienste unserer thörigen grausamen Regierung, bist jetzt Mitglied unseres Bundes geworden. Du bist verpflichtet, seinen Gesetzen zu gehorchen, seine Befehle zu vollziehen, seine Interessen zu vertheidigen und seine Geheimnisse zu bewahren. Du wirst Dich bei Tag und bei Nacht, zu Wasser und zu Lande, in der Ferne und in der Nähe jederzeit dieser Verpflichtung erinnern und uns treulich dienen oder mit Deinem Leben dafür verantwortlich gemacht werden. Solltest Du Dich als treulos bewähren, so wird unsere Rache Dich überall erreichen, wo Du es am wenigsten erwarten wirst; unsere Sendlinge werden immer in Deiner Nähe sein, ohne daß Du es vermuthest; keine Entfernung wird unsere Aufsicht schwächen und keine Macht der Erde wird Dich vor unserer Vergeltung schützen. Dienest Du uns dagegen treu und eifrig, so werden wir Dich vertheidigen und unterstützen und Dir den Antheil an der Beute gönnen, der Dir gebührt. Im Namen unserer heiligen Jungfrau von Guadaloupe – willst Du diese Vorschläge annehmen?“

„Im Namen der heiligen Jungfrau, ich nehme sie an!“ antwortete ohne Bedenken der neu geschaffene Contrabandista.

Es genüge zur Bemerkung, daß der ehemalige Zollbeamte Martin Valio ein schätzbares Mitglied der Schleichhändler-Bande wurde und daß er in diesem Augenblicke an der Stelle seiner Hoheit des Antonio Pulf, der kürzlich an seinen alten Wunden und einem allzu übermäßigen Genuße von Aguardiente gestorben ist, die Bande als glücklicher Häuptling befehligt.


Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Anleitung
zur
Ausübung der Wasserheilkunde
für
Jedermann, der zu lesen und zu denken versteht.
Von
S. H. Rausse.
3 Abtheilungen mit dem Portrait des Verfassers. Geh. 2 Thlr. 28 Ngr. = 4 fl. 36 Xr. C.-M.

Mit diesem Buche in der Hand wird jeder Freund der naturgemäßen Wasserheilmethode im Stande sein, ohne besondere ärztliche Andeutung sich und die Seinigen in vorkommenden Fällen wasserärztlich zu behandeln, oder falls er Kurgast in einer der vielen deutschen Wasserheilanstalten ist, zu beurtheilen, ob er wirklich gut und richtig von seinem Arzte berathen wird.

Die erste Abtheil. (2. Aufl.) enthält die Lehre von den Heilapparaten der Wasserheilkunde und deren Anwendung, die zweite Abtheil. (2. Aufl.) die Behandlung der akuten Krankheitszeichen und die dritte Abtheil. die Behandlung der chronischen Krankheiten.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Schnellpressendruck von Giesecke & Devrient in Leipzig.

  1. Entflohene Negerin.
  2. Wir können auf unserem Holzschnitte leider die Farben selbst nicht geben, wie es der Briefsteller auf seinem bunten Bildchen gethan hat. Wir haben uns verschiedener dichter, stärkerer oder feinerer Schattirung bedient.
    D. Red.