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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[273]

No. 26. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Veilchen.

Nach dem Leben.
(Schluß.)


Rastlose erhöhte Thätigkeit ist die beste Arznei gegen den Gram. Die beiden Brüder hatten dies vor Jahren schon und jetzt wieder erprobt. Mit Unruhe sahen sie, wie Veilchen’s Auge immer trüber, ihre Wangen immer blässer wurden, wie sie selbst hinsiechte, und sie beriethen sich unter einander, auf welche Weise das Heilmittel am leichtesten anzuwenden sei.

„Sie soll das Kleider- und Putzmachen lernen,“ sagte Moses. – „Die Besorgung des Hauswesens läßt ihr noch zu viel Zeit zum Brüten. Das wird sie zerstreuen und außerdem kann sie sich etwas verdienen, womit sie einmal ihre Ausstattung bestreiten kann.“

„Es ist überhaupt gut,“ bemerkte Levi, „wenn sie ein wenig unter die Menschen kömmt. Die Mutter hat es nach ihrer Art recht gut mit ihr gemeint, daß sie das Kind beständig unter ihren Fittigen hielt, aber das taugt nichts für ein junges Mädchen, wenn sie ist, als wäre sie in die Welt hineingeschneit.“

„Sehr richtig. Vielleicht wäre es dann am besten, wir suchten einen anständigen Dienst für sie. Bei fremden Leuten wird sie Welt und Menschen schneller und besser kennen lernen, als bei uns zu Hause.“

„Könntest Du es denn über das Herz bringen, Dich von dem guten Kinde zu trennen?“ fragte Levi mit gerührter Stimme.

„Freilich, freilich, das Herz würde mir bluten, wenn ich sie in die kalte herzlose Welt schicken müßte,“ erwiederte Moses, der ebenfalls weich geworden war. – „Nur der Gedanke könnte mich trösten, daß es zu ihrem Glücke wäre. Noch eins, lieber Levi,“ fuhr der ältere Bruder zögernd fort – „komme es, wie es will – mag sie nun bei uns bleiben oder nicht – das wollen wir nicht länger verschieben, was mir zur Begründung ihres äußeren Glückes nothwendig scheint – Du weißt, was ich meine.“

„Ich verstehe Dich vollkommen,“ fiel Levi ein. – „Du sprichst von ihrer Taufe. Du hast ganz recht; als Jüdin wird sie stets auf Hindernisse bei ihrer Lebensreise stoßen. Ueberdem ist die Rücksicht auf unsere gute Mutter weggefallen.“

„Doch muß der Uebergang leise sein. Wenn wir ihr die Binde jäh von den Augen rissen, könnte sie leicht mit der Achtung vor der alten Lehre auch die vor ihrer Lehrerin verlieren. Sie hat noch nicht genug Verstand und Menschenkenntniß, um zu wissen, daß man in verjährtem [274] Irrthume befangen doch ein vortrefflicher Mensch sein kann.“

Es geschah, wie die Brüder verabredet hatten. Ganz allmälig entledigten sie sich des Zwanges, welchen sie sich im Betreff der Speisen aus Achtung vor den religiösen Vorurtheilen ihrer Mutter aufgelegt hatten. Ebenso unterließen sie gewisse andre Gebräuche, die bisher wenigstens zu Hause von ihnen beobachtet worden waren. Man ruhte nicht mehr am Sabbath, sondern am Sonntage von den Mühen der Woche. Veilchen sah das Alles mit stillem Erstaunen, doch da keiner ihrer Oheime ein Wort über diese Veränderungen verlor, schwieg sie auch und that bald wie sie.

Weihnachten kam heran. Wie oft hatte Veilchen in frühern Jahren mit leuchtenden Augen und pochendem Herzen die von Christbäumen erleuchteten Fenster der Nachbarhäuser angesehen und wohl gar ein jauchzendes Aufschreien der beschenkten Kinder mit scharfem Ohre aufgefangen, aber stets hatte ihre Freude einem bittern Gefühle Platz gemacht – was ging Christus sie an?

Mit ähnlichen Empfindungen, wenn dieselben auch nicht mehr so stark wie einst sich geltend machten, da sie über die frohen Täuschungen der Kindheit hinaus war, ging Veilchen auch jetzt am heiligen Abende aus ihrer Nähstunde nach Hause. Sie öffnete die Thüre und – o welche Ueberraschung! Inmitten der Stube stand ein Tisch und auf demselben, in einem Klotze befestigt, ein kleines Christbäumchen. Die Oheime waren mit schmunzelnden Gesichtern beschäftigt, die Wachslichtchen an demselben anzuzünden und hier und da noch ein Zuckerherz, eine vergoldete Nuß oder einen versilberten Apfel anzuhängen. Auf dem Tische vor dem Baume lagen noch allerhand Geschenke in einem Korbe. Beim Geräusche, welches das Oeffnen der Thüre verursachte, wandten sich beide Männer von ihrer eifrigen Beschäftigung ab und sahen ihre Nichte bewegungslos und mit strahlenden Augen auf der Schwelle stehen.

„Nein, da ist sie schon, das böse Kind,“ sagte Moses lachend. – „Wir wollten sie überraschen und sie überrascht uns. Nun komme nur her, Du kannst Dir jetzt Deinen Baum selbst anzünden.“ – Und er rieb sich lächelnd die Hände.

Aber Veilchen warf ihren Beutel beiseite und eilte schluchzend, weinend und lachend zu gleicher Zeit, von einem Oheim zum andern und küßte und herzte jeden von beiden tausendmal. Dem guten Levi liefen die hellen Thränen über die Wangen und seine Hand zitterte, als er die übrigen Wachslichter anbrannte.

„Nun sieh, Veilchen, was Dir der heilige Christ bescheert hat,“ sagte Moses. – „Es ist freilich nicht viel, denn sonderbarer Weise sieht er bei der Vertheilung seiner Gaben immer den Geldbeutel der Alten an.“

O diese Herrlichkeiten! Kam der heilige Christ zum ersten Male zu Veilchen, so schien er auch alles nachholen zu wollen. Da gruben die wühlenden Hände des Mädchens eine schöne Tuchhaube mit Pelzverbrämung an’s Licht, dann folgte ein Biberrock, ein Umschlagetuch (der heilige Christ schien die Kälte draußen auch gemerkt zu haben), eine funkelnagelneue Schürze, ein Gebündel Stricknadeln und Garn, Röllchen mit Zwirn und Seide in allen erdenklichen Farben, eine Büchse mit Nähnadeln. Doch wer könnte die Kostbarkeiten alle herzählen? Als sie so ein Stück um das andere herausnahm und immer noch kein Ende werden wollte, schaute Veilchen bald den Korb an, bald die Oheime, und diese lachten bei jedem Griffe, den sie that, hell auf vor Vergnügen. Aber ganz unten am Boden des Korbes unter Aepfeln und Nüssen und Pfefferscheiben zeigten sich auf einmal zwei Bücher, in schwarzes Leder gebunden und mit Goldschnitt. Das Mädchen warf einen fragenden Blick auf die Männer, deren Gesichter auf einmal ganz ernst geworden waren. Moses nickte ihr zu als wolle er sie ermuntern, nur zuzugreifen. Sie that es zögernd und hielt in den Händen – ein neues Testament und ein Gesangbuch.

Und nun begann Moses in eindringlicher Rede dem tiefbewegten Mädchen auseinander zu setzen, wie er und seine Brüder, sobald sie zur Einsicht gekommen seien, stets die Absicht gehabt hätten, die jüdische Religion, welche sie als veraltet erkannt, zu verlassen und Christen zu werden; wie sie aber stets aus Liebe zu ihrer altgläubigen Mutter den Schritt unterlassen hätten, was vielleicht unrecht gewesen wäre, denn man solle Gott mehr lieben als die Menschen; wie Veilchen’s Vater nur durch seinen plötzlichen Tod gehindert worden sei, sie gleich bei ihrer Geburt taufen zu lassen, wie er beabsichtigt. Das letzte Hinderniß, die Rücksicht auf die Mutter, sei gehoben, Veilchen aber zugleich ein großes und verständiges Mädchen geworden, welches selbst die Entscheidung in der Sache geben könne.

Veilchen weinte sehr, die Warnung ihrer sterbenden Großmntter fiel ihr ein; mit schwerem Herzen versprach sie zu gehorchen.

„Davon kann keine Rede sein,“ sagte Moses. – „Gott behüte, daß ich Dir Zwang anthäte. Lerne das Christenthum kennen, wie Du das Judenthum kennst, dann prüfe und behalte das beste.“

„Nun kommt,“ nahm Levi das Wort. – „Jetzt wollen wir Weihnachten feiern, Nüsse knacken, Aepfel schälen und Kuchen essen. Ist das nicht ein herrlicher Abend? Das Bäumchen mit seinen Lichtern erhellt nicht nur die Stube, nein auch das Herz. Kommt, seid froh in seinem Namen, dessen Fest wir feiern.“

Moses traf Verabredung mit einem würdigen Geistlichen, und so hatte Veilchen dreimal die Woche Religionsstunde. Nicht lange dauerte es, so sehnte sie den Glockenschlag herbei, der sie zum Pfarrer führte, und auch dieser freute sich herzlich, wie er gestand, über seine gelehrige Schülerin. Was Moses vorausgesehen hatte, geschah: Veilchen kam selbst und erklärte ihren Entschluß, Christin werden zu wollen. Man bestimmte, sie solle an dem Confirmandenunterricht Theil nehmen, dann getauft und zugleich mit confirmirt werden.




Am ersten Pfingstfeiertage strömte eine ungewöhnlich große Menschenmenge in die Stadtkirche, darunter viele Mädchen in weißen Kleidern und angehende Jünglinge, die sich gar stattlich in den schwarzen Fräcken ausnahmen, denn es hatte sich das Gerücht verbreitet, es werde ein schönes Judenmädchen getauft.

Veilchen, die mit ihren Oheimen, zwei Freunden derselben und einem Rathsherrn, welcher die dritte Pathenstelle [275] bei ihr versehen sollte, in einem Seitenstuhle saß, war während des Gottesdienstes in einer fieberhaften Aufregung. Als der Geistliche, es war ihr Lehrer im Christenthume, an das Taufbecken trat, erhob sich das Mädchen rasch, aber sogleich wich alles Blut aus ihrem Gesichte und sie mußte sich auf den Arm ihres Oheims stützen. Der verständige Pfarrer sprach nur wenige passende Worte, weil er einsah, wie angreifend das alles für ein zartes Mädchen sein müsse. Als er mit der feuchten Hand ihren Scheitel berührte, sank der schöne Täufling mit einem leisen Schrei in die Arme des ihr zunächststehenden Pathen, doch sie erholte sich sogleich wieder und die Handlung endigte ohne weitere Störung.

„Gott verdamm mich,“ sagte ein junger Herr, der mit zwei andern in einem Kirchstuhle stand. – „Ich gäbe gleich zehn Thaler drum, wenn sie mir in den Arm gefallen wäre, das prächtige Kind. Seht nur, wie sie die Augen so schmachtend aufschlägt; man möchte gleich des Kukuks werden. Was sagen Sie, Reichardt? Sie sind ganz Blick,“ wandte er sich zu einem andern, der Veilchen unverwandt ansah.

„Ruhig, Sie stören ja die Versammlung,“ erwiederte der Angeredete.

„Na wahrhaftig, noch geschehen Zeichen und Wunder,“ sagte der Erste lachend. – „Reichardt wird fromm. Von solch’ einem reizenden Apostel ließe sich wohl jeder gern bekehren.“

Veilchen war auf die Namen Viola Augusta getauft worden, da die Oheime sie bei ihrem alten Namen fortzunennen wünschten, beide Benennungen paßten vortrefflich für sie. War sie doch anspruchslos wie ein verschämtes süßduftendes Veilchen und doch so erhaben in ihrer Bescheidenheit. Als sie da stand, wagte sie einen scheuen Blick auf die christliche Gemeine, der sie nun auch angehörte und flüsterte: „Alle will ich sie lieben, und sie werden auch mich lieben.“ – Armes Veilchen!

„Aber was wandelte Dich an, Kind?“ fragte Moses auf dem Heimwege.

„Als ich die nasse Hand auf dem Scheitel spürte, war es mir gerade, als schlüge eine Welle über meinem Haupte zusammen.“




„Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Heinemann,“ fragte eine ärmlich gekleidete Frau, die schüchtern grüßend eingetreten war.

Moses betrachtete sie forschend und sagte dann: „Sie kommen mir bekannt vor, aber ich kann mich nicht besinnen.“

„Ja, ich habe mich verändert in den siebzehn Jahren. Ich bin ja die Hanne, die dazumal bei Ihnen gedient hat, wie – wissen Sie,“ – dabei sah sie Veilchen an.

„Richtig, jetzt erkenn’ ich Sie wieder. Setzen Sie sich. Wie geht’s, wie steht’s?“

„Ich danke, nicht besonders. Ich wollte mich eben bei Ihnen nach einem Dienste erkundigen, ich habe gehört, Sie geben sich damit ab.“

„Nun, wir haben immer derlei Aufträge. Wie heißen Sie denn? Noch wie sonst oder – ?“

„Ich war verheirathet und heiße Käufling.“

„Da könnte sie wohl die Aufwartung bei uns bekommen; ich bin ohnehin mit Christeln nicht zufrieden,“ sagte Veilchen.

„Auch das. Da kommen Sie morgen gleich zu uns, Hanne. Wenigstens für den ersten Riß ist gesorgt.“

„Ja, Sie sind immer gute Herren gewesen,“ erwiederte die Frau gerührt. – „Der Mensch weiß oft nicht, was er thut, sonst besänn’ er sich anders. – Und das ist das Töchterchen! Ja, wie die Jahre hingehn! Es ist mir, als wär’ es gestern Abend gewesen, daß Sie auf die Welt kamen, Mamsellchen. Ach, das war eine Nacht! – Mit Herrn Reichardt halten Sie wohl keine Freundschaft mehr wie ehedem?“

„Herr Reichardt ist ein steinreicher vornehmer Mann geworden, und wir arme Leute, das paßt nicht zusammen,“ erwiederte Moses mit einem bittern Lächeln.

Hanne murmelte etwas vor sich hin und schüttelte den Kopf leise. – „Die Frau Mutter lebt wohl schon lange nicht mehr, sie war damals schon bei Jahren?“

„Doch ist sie erst vorigen Spätherbst gestorben.“

„Eine brave Frau, Gott habe sie selig; habe oft an sie gedacht. Nun da will ich so frei sein und morgen kommen, weil Sie so gütig gewesen sind.“ – Damit stand Hanne auf und ging.




O süßes Geheimniß verschwiegener erster Liebe! Veilchen ging so still und feierlich, so verklärt umher; eine tiefe Befriedigung sprach aus ihrem ganzen Wesen. Kam aber der Abend herbei und mit ihm die Stunde, wo sie ihren Heinrich in Hannen’s kleinem Stübchen sehen sollte, dann bemächtigte sich ihrer eine fieberhafte Unruhe, die sich nur legte, wenn sie in seinem Arme ruhte. Oft fiel es ihr freilich schwer auf das Herz, daß sie ein Geheimniß vor ihren Oheimen hatte, aber stets beruhigte sie Heinrich damit, daß gerade in der Heimlichkeit ihrer Liebe deren Weihe beruhe. Wenn das Paar in ihrer kleinen Stube saß, stand Hanne wohl in einem dunkeln Winkel mit gefalteten Händen und pries sich im Stillen selig, daß sie die beiden jungen Leute so glücklich gemacht. Sie ging überhaupt mit einem zufriedenlächelnden Gesichte umher, als habe sie etwas recht Tüchtiges vollbracht und die Lösung einer schweren Aufgabe gefunden.

Frühling und Sommer starben lächelnd hin, denn sie sahn Veilchen glücklich; es kam der rauhe Herbst, der die Blüthen des Sommers tödtet.

Heinrich war schon einigemale nicht erschienen, Veilchen wurde immer blässer, und Hanne, selbst beunruhigt, vermochte ihr keinen Trost zu geben. In der Abenddämmerung traf ihn endlich die Aufwärterin auf der Straße. Sie sagte ihm, wie sehr sich seine Geliebte ängstige, er möge doch kommen, ihre Unruhe zu stillen.

„Ich will Ihnen was sagen, Frau Käufling,“ erwiederte er verdrießlich. – „Ganz offen: ich bin der Geschichte überdrüssig. Wozu soll es ferner führen? Ueberdies verlob’ ich mich nächster Tage. Sie sehen ein,“ –

„Verloben!“ unterbrach sie ihn mit erstickter Stimme. „Und Veilchen?“

Der junge Mann zuckte verlegen die Achseln. „Lieber Gott! sie ist ein liebenswürdiges, prächtiges Mädchen, ich habe sie recht gern, aber – heirathen kann ich sie doch nicht.“

[276] „Und was soll ich ihr sagen?“ fragte Hanne mit heiserer Stimme.

„Sagen Sie ihr, was ich Ihnen eben mitgetheilt habe und sie solle sich einen andern suchen. Und nun gute Nacht!“

Die Frau blieb stehen und sah dem Davoneilenden mit einem Blicke entsetzlicher Wuth und Verzweiflung nach. – Wieder betrogen! stöhnte sie. – Nun nimmt es ein Ende.

Als sie am andern Morgen ihre Dienstleistungen bei Heinemann’s verrichtet hatte, sagte sie: „Ich wollte auch Lebewohl sagen; ich muß nämlich eine kleine Reise in Erbschaftssachen antreten; ich darf das nicht versäumen. Die Tochter meiner Wirthin wird die Aufwartung für mich besorgen. Bleiben Sie gesund und wohl und behalten Sie mich in gutem Andenken.“

„Nun, Sie thun ja, als nähmen Sie auf ewig Abschied,“ meinte Levi.

„Ich denke, nicht auf ewig,“ erwiederte Hanne.

Veilchen, bleich wie eine Lilie, reichte ihr stumm die Hand und sah sie mit einem Blicke an, als verstände sie vollkommen, was jene meine.

Als Hanne die Thüre hinter sich schloß, schluchzte sie laut auf.

Nachmittags eilte Moses sehr verstört nach Hause. Er grüßte Veilchen leise, die nähend am Fenster saß, setzte seinen Hut hin und stellte sich an das andere Fenster. Nach einiger Zeit erst wagte er einen halben Blick auf das Mädchen zu werfen; er schien aus ihrem Anblicke Muth geschöpft zu haben.

„Veilchen,“ sagte er mit zitternder Stimme und trat einen Schritt auf sie zu. – „Ich muß von andern Leuten erfahren, daß Du liebst, und daß es der Sohn unsres“ –

Sie hatte sich bei der Anrede von der Arbeit aufgerichtet; eine glühende Röthe überzog ihre blassen Wangen; sie stieß einen Schrei aus und hielt die Hände vor das Gesicht.

„Ruhig, liebes Kind; ich mache Dir ja keinen Vorwurf. Du wußtest nichts von dem unseligen Handel, und Du hast keine Mutter, der Du Dein Herz öffnen konntest. Doch nun, da ich es einmal weiß, schenke mir auch Dein volles Vertrauen.“

Veilchen schüttelte wehmüthig den Kopf und erwiederte nichts; sie ging in ihr Nebenzimmer und brachte ihrem Oheim die alte hebräische Bibel.

Dieser schlug sie auf und blätterte. Da fand er Rosen, Nelken und Vergißmeinnicht, Liebesgaben von Heinrich, aber verwelkt! Es lagen auch Zettel und Briefe darin. Moses prüfte, las alles, aber sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr. Er blätterte weiter. Plötzlich schrie er laut auf und sprang in die Höhe; in der Bibel lag eine Faltung Papiere.

In diesem Augenblicke trat Levi ein und betrachtete verwundert seinen Bruder.

„Kennst Du diese Papiere?“ rief ihm dieser entgegen und hielt sie in die Höhe.

„Die Empfangscheine von Reichardt!“ stammelte der andre.

„Nun, sei getrost, Veilchen!“ sagte Moses, seine Nichte umarmend, nahm alle Papiere aus der Bibel zusammen und verließ eilig das Zimmer.




Zwei Tage später wurde Moses zum Commerzienrath Reichardt beschieden. Er traf ihn als Sterbenden. Bei Heinemann’s Erscheinen bedeutete er den anwesenden Notar, den Geistlichen und den Arzt ihn zu verlassen und winkte jenem.

„Sie war bei mir,“ flüsterte er Moses in’s Ohr, der sich über ihn herneigte.

„Wer?“ fragte dieser.

„Nun, Ihre Hanne. Sie sagte mir, sie habe Barmherzigkeit gefunden und bedürfe nur Ihrer Verzeihung noch.“

„Hanne, meiner Verzeihung?“ wiederholte Moses verwundert.

„Sie hat mir vergeben, daß ich sie einst zum Diebstahle Ihrer Documente verlockte. Ja, ich that es, Herr Heinemann. Ich machte durch Hannen Ihre Familie unglücklich, aber sie selbst und ich wurden noch unglücklicher. Die Erscheinung der Frau hat mich recht getröstet, denn ich hoffe nun, daß Gott auch mir sich als ein gnädiger Richter erweisen und Ihre Verzeihung mir zu Theil werden wird. Nicht wahr, ich täusche mich nicht, Sie vergeben Ihrem sterbenden Feind?“

Moses war tief bewegt von dem was er vernommen. Alles ward ihm mit einemmale klar, die Möglichkeit der Entwendung, Hannen’s sonderbares Benehmen in frühern Jahren wie neulich. Er reichte dem sterbenden Manne die Hand, welche derselbe dankbar zu drücken versuchte.

„Sie sind besser als mancher Christ, Herr Heinemann. O wie konnt’ ich mich so schwer an Ihnen vergehn! Ich hab’ es gut zu machen versucht. Sie sind mein Erbe, mein Universalerbe. Ihr liebes Mädchen dauert mich; er war ihrer Liebe nicht werth.“

„Was sagen Sie? Sprechen Sie von Ihrem Sohn?“

„Nicht mehr mein Sohn. Er hat mich verlassen, der Bube. Mein halbes Vermögen hat er mit genommen. Gott wird ihn finden und züchtigen. Und nun, edler Mann, leben Sie wohl, meine Stunde kömmt. Dank Ihnen, Sie haben sie mir leicht gemacht.“

Moses drückte ihm die Hand und eilte mit schwerem Herzen nach Hause. Er fand seine Nichte bei der hebräischen Bibel sitzen. Er umarmte sie schweigend und küßte sie. Veilchen lächelte trübe und wies auf das Buch.




Wie vor siebzehn Jahren hielten die Brüder eine Todtenwacht. Auf demselben Platze wie damals ihr Vater lag heute Veilchen und das Wasser troff von ihr. Mitleidig hatte die Fluth den schönen Leib verschont und um das Haupt der Dulderin einen Kranz von Wasserpflanzen gewunden. Mit beiden Händen fest hielt sie die Bibel.




[277]

Die bucklige, verkrüppelte Frauenleber,

die Frucht des Schnürleibchens und des Unterrockes, eine Quelle des Mißmuthes, der Unzufriedenheit und der Zanksucht.

Liebe Leserin! Ich bitte Dich, wirf dieses Blatt nicht unwillig von Dir, weil dieser Aufsatz gegen einen Theil Deines Ichs gerichtet ist. Du behältst ja Dein Schnürleibchen und Deine Unterkleider, nur ändere daran ein kleines Wenig, damit Dir die Leber und mit dieser das Organ der Sanftmuth und der Lebensheiterkeit nicht verkrüppele. Ich weiß recht wohl, daß in den vielen und hitzigen Kämpfen gegen die Schnürleibchen diese stets Siegerinnen geblieben sind und daß diese immer bei den Frauen civilisirter Völker, selbst bei den alten Griechinnen und Römerinnen, beliebt waren. Auch ist gar nicht zu leugnen, daß durch die Schnürleibchen bei unserer jetzigen weiblichen Erziehung und Lebensweise einem wirklichen Bedürfnisse des schwächlichen weiblichen Körpers genügt wird. Dieser scheint einmal eine gewisse Stütze, zumal für Brust und Rückgrath zu fordern, abgesehen von den

Die gesunde Leber
ist weit größer als die verkrüppelte Leber, hat keine Furchen und Eindrücke wie diese und sieht auf ihrer glatten Oberfläche schön braunroth aus.

Die verkrüppelte Leber,
mit einer tiefen Querfurche vom Unterrocksbande, und mit schräg-verlaufenden Eindrücken von den durch das Schnürleibchen eingedrückten Rippen und dem Brustbeine.

[278] Vortheilen einer Schnürbrust für die Taille und für dieses oder jenes Vorhandene oder Fehlende. Es handelt sich also zwischen uns nur um die richtige Construction und Anwendung der genannten Kleidungsstücke, weil diese bei ihrer jetzigen Gebrauchsweise einer der wichtigsten Gegenden des weiblichen Körpers, in welcher Leber, Magen und Milz gesichert liegen sollen und sich auch noch ein Theil der Lunge findet, gar zu arg mitspielen.

Diese Gegend, Oberbauchgegend genannt, zeigt in der Mitte eine Vertiefung, die Magen- oder Herzgrube, mit dem spitzen Ende (Schwertfortsatze) des Brustbeins, unter welchem der linke Leberlappen und der Magen seine Lage hat. Rechts und links von dieser Grube befindet sich eine Unterrippengegend (Hypochondrium), von denen die rechte den größten Theil der Leber, die linke einen großen Theil des Magens und die Milz birgt. Ueber diesen Organen wölbt sich das Zwerchfell in die Brusthöhle hinauf, und aus diesem ruht der breiteste Theil der Lungen, so wie das Herz. (Siehe die Abbildungen in Gartenlaube Nr. 16 S. 171 und Nr. 22 S. 233.) Wie nöthig nun die Lungen, das Herz und der Magen zum menschlichen Leben sind, haben Dich die Aufsätze in Nr. 9, 16, 17 und 22[WS 1] der Gartenlaube gelehrt. Welchen Einfluß aber Leber und Milz auf das Gedeihen des Körpers haben müssen, wirst Du selbst beurtheilen können, wenn Du erfährst, daß durch diese Organe das Blut, die Quelle des Lebens, von vielen schlechten Bestandtheilen und alten Blutkörperchen gereinigt, dadurch aber frisch, munter und belebend erhalten wird. Störungen in der Leber- und Milzthätigkeit müssen das Blut demnach mit untauglichen Stoffen schwängern, träge in seinem Flusse und anstatt belebend, gerade lebensmüde machen. – Ein solches Blut ist es auch, welches zunächst das Heer von Unterleibs- und Hämorrhoidalbeschwerden, den Mißmuth und die Reizbarkeit, die Hypochondrie und Melancholie und noch viele andere Uebel erzeugt, die später noch ausführlich besprochen werden.

Die häufigste Ursache der Störungen in der Leber-, Milz- und Magenthätigkeit ist nun bei Frauen das Schnürleibchen und das Binden der Unterkleider. Das erstere preßt nämlich bei den meisten Geschnürten den untern Theil der Brust und die obere Gegend des Leibes so zusammen, daß ebensowohl die untern Rippen, wie der untere Rand des Brustkastens und das spitze Ende des Brustbeins in die Leber eingedrückt werden und diese hier tiefe, schräglaufende Furchen bekommt. Die Bänder der Unterkleider, auch wenn sie locker gebunden sind, ziehen sich dagegen quer über die Leber hinweg und erzeugen hier einen tiefen Quereindruck. So ist die arme Leber in die Kreuz und Quere geschnürt und nebenbei noch von allen Seiten zusammengequetscht. Man könnte wirklich glauben, daß das Kollern, welches so häufig im Leibe der Frauen zu hören ist, ein Angstgestöhn der gequälten Leber sei und daß deshalb, weil die Leber in ihrer Verrichtung, welche in Bereitung der Galle besteht, gestört wird, bei den Frauen die Galle so leicht in’s Blut tritt, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen pflegt. Daß auch der Magen bei der jetzigen Frauentracht schlecht wegkommt, dafür dienen Magenkrampf, Appetitlosigkeit und allerhand Verdauungsstörungen zum Beweise, von welchen Uebeln die meisten Frauen heimgesucht werden. Der Milz geht es aber nicht besser wie der Leber, auch sie wird geschnürt und gequetscht.

Wie schafft man nun aber die Lebertortur, so wie die Magen- und Milzquälerei ab, ohne sich vom Schnürleibchen und den Unterkleidern trennen zu müssen? Nichts leichter als das. Das Schnürleibchen braucht nur an einer kleinen Stelle, und zwar dicht über den Hüften, aber blos bis zu den letzten Rippen hinauf, etwas fester zusammengeschnürt, übrigens aber locker zusammengebunden zu werden. Dadurch läßt sich eine gute Taille herstellen, die um so mehr in die Augen fällt, als Brust und Hüfte weniger zusammengepreßt sind. Von den Unterkleidern müssen aber die Bänder entfernt und dafür breite Bunde angesetzt werden, welche durch Heftel an das Schnürleibchen zu befestigen sind. Bei solcher Bekleidung, welche der Lunge ordentlich zu athmen, dem Magen gehörig zu essen, zu trinken und zu verdauen, dem Blute richtig zu fließen und sich zu reinigen erlaubt, wird nicht nur die Schönheit des Frauenkörpers wesentlich gehoben, sondern auch dem Körper gesund und dem Gemüthe heiter zu sein gestattet. Mit verkrüppelter Leber können aber unmöglich

Die Frauen flechten und weben,
Himmlische Rosen in’s irdische Leben.

(B.)     




Spanische Reisebriefe.

Von
E. A. Roßmäßler.
V.
Alicante.


Alicante, den 2. April 1853.  

Alicante – wem wässert nicht der Mund bei diesem Namen nach dem süßen Alicant-Wein! Ach wäre dies Wasser alles hier, so würde es vielleicht mehr Alicant-Wein geben. Hu! wie schrecklich Wassermangel ist, habe ich in einem Tage hier tiefer begriffen, als man sich es in einem Jahre denken kann. Und doch haben die Leute hier so gut wie um Valencia ihre Huerta, ihren Garten, wie sie die mühsam bebaute Gegend längs des Meeres nennen.

Alicante wurde mir im Schlafe gegeben, d. h. ich erwachte in meiner Koje erst durch das Stillstehen der Dampfmaschine und hatte kaum Zelt mich anzukleiden und meine sieben Sachen zum Landen zurecht zu machen. Auf dem Verdeck überraschte mich eine eben so großartige als öde [279] Landschaft. Stadt und Umgebung - Felsen und Ebenen - Alles hat denselben weißlich erdfahlen Ton. Die Stadt liegt etwas ansteigend, ganz wie eine maurische Stadt an dem unbedeutenden Hafen. Die dachlosen Häuser ließen mir hier mehr als in dem freundlicheren Barcelona die Straßen wie nach einem Brande erscheinen. Würde man einen Deutschen plötzlich in eine der neuen aber ziemlich engen Straßen Alicante´s versetzen, er würde zweifelsohne glauben, es habe eine Feuersbrunst von allen Häusern, hoch und niedrig bunt durcheinander stehend, die Dächer verzehrt.

Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen den Eindruck beschreibe, den Stadt und Umgegend nach mehrstündigem Herumstreifen auf mich gemacht hat, tiefer, als ich je vorher irgend einen Eindruck erhalten habe.

Rechts erhebt sich neben der Stadt ein hoher steiler Felsen, den die Citadelle krönt. Er ist wie Alles von erdfahler Farbe und im buchstäblichsten, trostlosesten Sinne des Wortes kahl und todt, als wäre vor kurzem rings um ihn herum die Oberfläche abgesprengt worden. Hinter der Stadt dehnt sich eine Ebene aus, von einer Stunde Durchmesser etwa, und jenseits derselben, links bis an das Meer herantretend, wie immer an der spanischen Küste, so weit ich sie bis jetzt gesehen habe, eine Kette malerischer nackter Berge. Alles anscheinend öde und todt. Nachdem ich endlich aus den Klauen der kleinlichen Aduana erlöst war - ein Peseda (4 Ngr.) waren ein schnelles Erlösungsmittel gewesen, ich kann aber einmal einen Beamten nicht für bestechlich halten – und in der Fonda del vapor meine Sachen untergebracht hatte, lief ich hinaus, landeinwärts, um Leben, Pflanzen- und Thierleben, zu suchen. Alles was ich fand - es war sehr wenig - lechzte nach Wasser. Kleine Felder Wintergerste und Bartweizen (Triticum durum) hatten bereits verblüht und, da die Bewässerungszeit wahrscheinlich längst vorüber war, so müssen sie nun aus der Luft die nöthige Feuchtigkeit zum Reifen ihrer Körner saugen. Ich verstand die Aufschrift über dem Eingange des großen Amphitheaters zu den Stiergefechten: Entrade á la Sombra, Eingang in den Schatten! Es war die Abendseite für die Reichen. Die Armen müssen auf der Ostseite braten. Wohin ich sah - nirgends sah ich einen Tropfen süßen, trinkbaren Wassers. Alle die wenigen tiefen Brunnen, aus denen Maulthiere mit verbundenen Augen in ewigem Kreisgange mittels einer Schnecke das Wasser zum Bewässern herausholen, enthalten, wenn auch nur wenig, aber doch salzigschmeckendes ungenießbares Wasser. Ich trank nachher am Tische des englischen Consuls mattes Cisternen- also Regenwasser. Anderes giebt es in Alicante nicht! Uebrigens herrscht auch hier der Bastard von Winter und Sommer, den man hier Frühling nennt! Alle sommergrünen Bäume noch laublos - das Getreide im Verblühen; kein Insekt, keine Schnecke noch zu sehen - Die Dattelpalme fing eben an ihre mächtigen Blüthentrauben zu entfalten. Lauter Contraste! - Aber für den Botaniker sproßte zwischen den Steinen der trocknen Hügel dennoch eine reiche Ausbeute. Es schmerzte mich, hier noch nicht, da ich übermorgen weiter nach Süden will, zum Botanisiren vorbereitet zu sein. Jede Pflanze war mir neu und interessant. Hier sah ich auch, was ich in einem früheren Briefe voraussagte, die gigantische Opuntia an ihrem Platze. Auf kahlen Felsen, neben niedlichen blühenden Kräutern, stand der Riese über mannshoch am Dache einer Hütte, die in den bröckeligen Felsen hineingewühlt war, um einigen Schutz vor der Hitze zu haben. Zu meiner Verwunderung sah ich nirgends eine Spur von der Agave.

Nach dem Mittagsessen führte mich der englische Consul, Colonel Barrie, auf sein Landgut. Ich möchte wissen, was ein deutscher Handelsherr zu dem Landgute des englischen Consuls in Alicante gesagt haben würde! Eine felsige Oede, darin einige kleine Getreidefelder von Hafer, Gerste und Weizen, einige noch niedrige Dattelpalmen, einige Feigen- und Algarrobebäume und einige Opuntien. Das war das Landgut! Als ich den Besitzer fragte, ob einige junge Opuntiapflanzen wild gewachsen oder und dann wozu gepflanzt seien, sagte er, „gepflanzt! um auf dem dürren Felsen etwas Grün zu sehen, und nebenbei der Früchte wegen.“

Hätte ich es nicht von drei Personen gehört, so würde ich es jetzt nicht weiter zu erzählen wagen: es hat in Alicante seit neun Jahren nicht geregnet, ausgenommen seltene halbstündige Sprühregen!

Dennoch haben die von der Natur so stiefmütterlich behandelten Menschen einen bessern Eindruck auf mich gemacht, als die Catalonier. Sie sind mehr echte Spanier. Später, wenn ich sie näher kenne, werde ich Ihnen von denselben erzählen. Wo diese thätigen Leute Wasser hinbringen können, da entfaltet sich aber auch ein fabelhafter Pflanzenwuchs. Auf einer neu angelegten Plazuela waren die jungen Ulmen in zwei Jahren, wie bei uns in zehn gewachsen, und auf den Beeten prangte am 30. März der üppigste bunteste Blüthenflor. Aber nirgends sah ich Orangen und die andern zahlreichen immergrünen Büsche Cataloniens.

Mit einem Worte: die Sonne ist machtlos ohne Wasser! Beide aber sind die verbündeten Zauberer, welche die Erde zu einem Garten machen.




Den 3. April. 

Um mir eine möglichst vollständige Uebersicht über die so fremdartige Landschaft, welche Alicante mit seinen Umgebungen bildet, zu verschaffen, bin ich heute den ganzen Tag herumgelaufen. Wenn man sich an die Dürre des Bodens und die Sparsamkeit des Pflanzenwuchses gewöhnt hat, so findet man bald Geschmack an der Schönheit der großartigen Berglandschaft, in welcher die morgenländisch aussehende Stadt am Ufer des blauen Meeres liegt. Hinter der Huerta (zu Deutsch Garten) erheben sich zunächst niedrige, zum Theil mit Außenwerken gekrönte Hügel, denn Alicante ist eine Festung. Hinter diesen Vorbergen erheben sich in malerischen Umrissen bedeutende Berge in immer weiterer Ferne, bis die entferntesten als blaue Schatten halb verschwinden. Als ich mich von der Puerta de San Francisco links nach der Küste gewendet hatte, wurde ich durch einen kleinen Opuntien-Wald überrascht, denn so konnte man ihn wohl nennen. Von doppelter Manneshöhe und mit kurzen mannsdicken Stämmen bildeten die bizarren Gewächse ein undurchdringliches Dickicht. Ein solches Opuntiengebüsch macht einen wahrhaft märchenhaften Eindruck. Wehe dem, der die riesigen, eirunden Stengelglieder berührt, denn die feinen Stachelbündel dringen tief in die Haut ein und verursachen einen heftigen [280] Schmerz. Ich wollte mit einem dicken hirschledernen Handschuh ein Glied abbrechen und hatte die ganze Hand voll Stacheln, die ich nur nach langer Mühe wieder loswerden konnte. Nach einer Stunde größtentheils vergeblichen Suchens nach Insecten und Mollusken sah ich mich plötzlich beim Umbiegen um eine kleine Anhöhe in einem Palmengarten. Ich zählte gegen 50 Dattelpalmen, zum Theil wohl von 40 Fuß Höhe. Ich wunderte mich, das stolze Gewächs in allen Stufen der Entwickelung zu finden. An einigen öffnete sich eben erst die Scheide, um den Blüthenbüschel heraustreten zu lassen; andere standen eben in der Blüthe und einige hatten bereits ziemlich reife Früchte. Mehr noch als die Agave und die Opuntia gemahnte mich dieser kleine Palmenhain wie unzweideutiger Süden. Der Wind strich durch die eleganten Kronen und brachte einen eigenthümlichen, nicht säuselnden oder rauschenden Ton hervor. Er war bedingt durch die starren steifen Fiedern der majestätischen Blätter.

Wie die Pflanzenwelt überhaupt nur in neuen, mir nicht vertrauten, Formen mir entgegentrat, so habe ich heute nach einer langen Wanderung durch das echt orientalische Labyrinth der engen und unregelmäßigen Gassen der Stadt auch die Menschen von einem durchaus südlichen Typus gefunden. Daß die höheren Stände die allgemeine französisch-europäische Kleidermode besitzen, versteht sich von selbst. Dagegen herrscht bei den mittlern und untern Classen durchaus die nationale Tracht, von der ich, wie ich schon vorher bemerkte, in einem späteren Briefe eine vergleichende Schilderung versuchen will. Aufgefallen ist mir die durchgehends fast häßlich zu nennende Gesichtsbildung der Frauen Alicante’s. Außerordentlich häufig sah ich einen zigeunerfahlen Gesichtsschnitt, nichts was an die berühmte Schönheit der Castilianerinnen und Andalusierinnen erinnerte. An schönen Kleidern und an unbeschreiblich häßlichen alten Weibern ist Alicante reich.




Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

In Briefen von einem in London lebenden Deutschen.
IV.
Londoner Nacht-Märkte.

Was man von London weiß, berichtet und lies’t, ist fast Alles einseitig, nämlich von der Cityseite der Themse. Was jenseits zwischen den acht Meilen von Battersea bis Greenwich arbeitet, handelt, furchtbar und froh ist, das fabricirende, das volksvergnügte London, wird selten gesehen und beschrieben. Wir wollen uns einmal hinüberwagen über eine der kolossalen Brücken, die in ihren Straßenverlängerungen von dem Halbkreise der Themse fast alle concentrisch zusammenlaufen. Da wo der Obelisk steht, begegnen sich nicht weniger als 6 unendlich lange, kolossale Hauptstraßen von den 6 größten Brücken her in einem Punkte, um von da aus wieder das Weite und neue Städte Londons und vielleicht endlich grüne lachende Felder und Wälder und kleine niedliche Colonien von Villen zu suchen. Unzählige Labyrinthe von Quer- und Nebenstraßen irren dazwischen hin und her, rauchiger noch und dunkler zum Theil, als die Straßen der City, aber nicht so trostlos, o nein, wenn man’s trifft, heiterer, strahlender, fideler, als irgend ein Fleck der Erde; aber nicht so oberflächlich lustig, wie ein nüchterner Jahrmarkt in einer deutschen Provinzialstadt, nein humoristisch, tragisch, fidel, unerschöpflich in Handlung und Katastrophe, ein bewegliches Diorama, mit mehr Lust- und Trauerspielen in einer Nacht, als alle Theater der Welt zusammen aufführen können.

Am Tage ist es still in den meisten dieser Seitenstraßen, so still, daß man die Kinder schreien hört und die ältern wirklich Platz haben, zu spielen. Die Häuser sehen zwar auch schwarzbraun oder wie Schinken aus, die zu lange im Rauch gehangen haben, aber nicht so verschlossen und festungsartig, wie in der City und jenseits der Themse. Hier und da steht sogar ein Mädchen oder eine Frau, niedlich und einfach angezogen und mit einem Körbchen oder einem Kinde am Arme in der Thür und hat Zeit, mit der Nachbarin zu plaudern oder auf den Spaß der Vorübergehenden etwas Neckisches zu erwiedern.

Doch so etwas kann man überall genießen und hat blos Werth als Vor-Bild für die Scenen, welche diese Stadttheile Abends und Nachts bieten, wo die Penny-Theater dutzendweise strahlen und die Arbeiter und Arbeiterinnen unter Zehntausenden von wunderschönen Sachen, die sie alle Stück für Stück für’n Penny eindringlich empfehlen, zu wählen haben. Der Abend ist nicht blos der liebe Morgen, die Nacht ist auch der hellste und geschäftigste Tag Londons, am Glänzensten aber die Nacht des Sonnabends, und diese am Malerischsten jenseits der Themse.

London hat jeden Sonnabend Abend bis zum Morgen des Sonntags 16 Hauptmärkte, jeden mit mehr Umsatz, als eine ganze Frankfurter Messe. Keiner aber sieht so großartig und reich aus, als der in New-Cut, zwischen den Straßenverlängerungen der Blackfriars- und Waterloo-Brücke. New-Cut ist die Hypothenusenstraße zu den beiden Katheten, die im Obelisk zusammenlaufen. New-Cut selbst, in ihrer Länge von 1/2 Meile, verbindet nicht weniger als 16 Straßen, die alle von großen Fabriken, Brauereien und dicht bevölkerten Straßen herkommen. Diese ganze Länge und ansehnliche Breite ist Sonnabends Nachts ein dichtes, unaufhörliches, schreiendes, lichterstrahlendes Gemisch von Kauf und Verkauf, so dicht, als sollte aus der ganzen Masse ein Filz gewalkt werden. Alles ohne Marktordnung, ohne sichtbare Polizei, ohne Uniformen, ohne eine Spur von Gesetz, scheinbar die höchste Klimax von Anarchie, und dabei ein Schauspiel für Götter. Auch hier regieren sich die Engländer selbst. Wenn Gesetze gebraucht werden, entstehen sie wie von selbst für jeden einzelnen Fall mit den allerkürzesten parlamentarischen Debatten [281] zu ihrer Sanction. Die gewöhnlichen Verbrechen von Diebstahl und Betrug scheinen hier gar nicht gewöhnlich zu sein. Die Taschendiebe haben zu viel Rechtsgefühl und so viel Instinkt, daß sie da keine Taschentücher entführen, wo die Baumwolle über Seide herrscht, und da nicht des Nächsten Börse begehren, wo die Majorität der Pence über die Guineen ihr constitutionelles Übergewicht behaupten.

New-Cut wird zunächst Sonnabends gegen 4 Uhr nach und nach von 7–800 Hökern und Hökerinnen ganz willkürlich verbarrikadiert. Einige tragen ihr ganzes Warenlager vor dem Bauche und drängen sich schreiend und empfehlend durch die dichtesten Haufen, ohne daß ihre Aepfel, Apfelsinen, Fische, Kastanien u. s. w. Schaden nehmen. Aeltliche, verräucherte Hökerinnen rauchen dabei auch aus einem sehr kurzen Thonstummel furchtbar starken Taback. Die so fliegenden Waarenlager haben selten einen höhern Totalwerth als 2 bis 5 Schillinge. Die, welche feste Sitze aufschlagen auf Körben, Karren, Handwagen und resp. auf dem blanken platten Steinpflaster, sind schon aristokratischer und haben nicht selten für 5 bis 10 Pfund eingekauft, um in 24 Stunden 8 bis 20 Pfund dafür wieder einzunehmen und dafür bis zum nächsten Sonnabend sehr comfortabel zu essen und zu trinken. Diese wandernden und fixirten Verkäufer und Verkäuferinnen scheinen sich nach einem geheimen Natur- und Instinctsgesetze so in das Angebot aller möglichen Bedürfnisse und Wünsche getheilt zu haben, daß von Allem etwa grade so viel Vorrath da ist, als bis zum Sonntag Vormittag mit Vortheil abgesetzt werden kann. Das Ueberflüssige geht am Besten, weil es in Restern spottbillig verkauft wird, daß der letzte Penny nicht widerstehen kann.

Wenn schon eine Parlaments-Verhandlung über mangelnde Gelegenheit für die untern Klassen, ihr Geld anzulegen, bewies, daß die untern, arbeitenden Klassen nicht arm sind, so beweist es doch recht lebendig erst ein solcher Nachtmarkt in den Arbeiter-Vierteln. Freilich wollen wir damit die untern Klassen überhaupt nicht glücklich preisen. In der Gegend des Towers giebt es einen Nachtmarkt, der die scheußlichsten Phantasienachtstücke in der Wirklichkeit bei Weitem übertrifft. Dort liegen zerrissene Lumpen zum Verkauf aus, mit denen sich ein Mensch für 2 Schillinge vom Kopfe bis zum Fuße vollständig neu kleiden kann, Umschlagetücher für 3, Herrenoberröcke für 6 bis 10 Pence, Beinkleider für 5 bis 6 Pence, lauter Herrlichkeiten, nach denen halbnackte Jammergestalten mit gierigen Blicken starren, wie Tantalus nach den Trauben, die ihm in den Mund hängen, ohne daß eine Beere seinem lechzenden Gaumen labe.

Aber die Arbeiter-Nachtmärkte sind goldenes Leben, fetter, übermüthiger Genuß. Die Skala der ausgebotenen Waaren und das Verhältniß der Schnelligkeit ihres Verschwindens in die Körbe und Taschen der Consumenten ist ein interessanter Barometer des Wohlstandes. Außer den nothwendigen Eß- und Trinkwaaren und Bekleidungsgegenständen spielen Kuchen und Früchte, Pies (Pasteten), warme Aale, in großen Blechöfen schmorende Kartoffeln, gekochte „Eisbeine“ (Schweinsknöchel), gebratene Kastanien, Würste, Kaninchen und Geflügel, allerlei Bänder und Schnuren und Putzsachen, Papier, Bleistifte, Bilderbücher, Kalender, Zeitungen, natürliche und todte Blumen, Juwelen und Schmucksachen aller Art, Kämme und Haarbürsten, prächtige Küchengeräthe, Topf-, Glas-, und Krystall-Waaren, fabelhafte Bedürfnisse für Matrosen, Guckkasten, Polichinell-Theater, ein Paar Dutzend Sorten von Leierkasten, schottische Dudelsäcke und unzählige andere Bedürfnisse des Luxus eine Hauptrolle. Schweineköpfe, Juwelen, (natürlich künstliche) und Galanteriewaaren aller Art verhalten sich aber nach einer vor mir liegenden Verhältniß-Statistik wie 50 zu 9 bis 20 zu den nothwendigen Bedürfnissen. Obenan stehen Eßwaaren, dann kommen die Juwelen für Kleidung, Haus- und Küchenschmuck, welche mit Büchern, Papier, Zeitungen und Schreibmaterialien etwa im gleichen Mengenverhältnisse stehen. Man sieht schon, daß dies keine Märkte für eine Klasse sind, die noch um das Nothwendigste zu kämpfen haben, daß die arbeitenden Klassen bereits mitten in den Strom der Cultur und der Lebensbefriedigung civilisirter Art hineingerieten.

Diese Nachtmärkte sind in jeder Beziehung ganz freie Entfaltungen des praktischen Volkslebens. Die Verkäufer hängen von keinerlei Concession und Controle ab. Von einer polizeilichen Ordnung in Bezug auf Stand, Stellung, Ort, Größe, Klassen- und Gewerbe-Unterschied keine Spur, Alles eitle Selbstregierung, oder auf Deutsch: Anarchie.

Die Höker beiderlei Geschlechts von 5 bis 60 – 70 Jahren kommen in der Regel von 4 Uhr Nachmittags auf dem großen Concurrenz-Kampfplatze an, um sich womöglich eine recht comfortable Stelle „a pitsch“ auszusuchen. Ist dieses unbeschränkte Wahlrecht ausgeübt, übergiebt man den Waarenvorrath einem schmutzigen Jungen oder einem Hunde unter dem Karren zur Wahrung der Eigenthumsrechte. Die Regentschaft dieser Aufseher dauert bis 6 Uhr, dem officiellen Anfang des Markts.

Um sich nun ein Bild zu machen, muß man mit den beiden Reihen Statisten, den Häusern von New-Cut, anfangen. New-Cut ist das Gegenstück zu Regent-Street, der Straße aristokratischer Luxus-Industrie und der „Street-walkers“ erster Klasse beiderlei Geschlechts. New-Cut ist von Mobilien und Immobilien-Händlern und En Gros- und Detail-Händlern, Heymann-Levi’s im vergrößerten Maßstabe, Alehändlern, Fleischern, Bäckern und Bierwirthen bewohnt. An der einen Ecke steht ein großes Theater, Großmogul der Penny-Komödienhäuser. Aus allen diesen Häusern strahlen Meere von Lichtern und die großen, offenen Hallen der Fleischer-Stockwerke hinauf mit ganzen Schweinen, Hammeln und Kälbern ausdecorirt, flackern in hundert bengalischen Flammen. Ellenlang lodern die freien Gasflammen um die fetten Fleischmassen wie feurige Zungen herum. Zu den Hunderten und Tausenden von Gaslichtern aus den Häusern kommen Hunderte und Tausende von Beleuchtungsarten auf der Straße. Jeder Karren, jede Bude, jedes Geschäftchen strahlt in solorischer, eigener Beleuchtung. Von der stolzen, „sich selbst erzeugenden Gaslampe“ bis zu dem düstern Qualm aus einer Stube oder einer schmierigen Hornlaterne ist jede Sorte von Beleuchtung aller Zeiten und Zonen vertreten. Jede Sorte von Licht- und Farbeneffect ist da, gewaltiger und reicher, als alle Lichteffecte aller Kunstausstellungen zusammen genommen, vielmehr aber solche, die nie und nirgends zu malen oder irgendwo zu sehen sind.

[282] Diese sichtbare Geisterwelt von Lichtern und Schatten und Farben hat in der Welt nicht seines Gleichen. Ueberall würde die Menge und Masse und die schinkenfarbig glühende Nebelluft dazu fehlen. Schon allein die kleinen feurigen Drachen der Straßen-Dampfmaschinen, die Kastanien, Wurst und Kartoffeln, Braten und rothglühenden Kometenschweife aus dem Ofenloche zu senden scheinen, sind nur auf einem Londoner Nachtmarkte möglich.

Nun denke man sich das hunderttausendfach wimmelnde und schreiend wirkliche, übervolle, dichtgedrängte Leben in diese farbigen Licht- und Farbengeister hinein. Es haben sich inzwischen außer den beiden Hauptcolonnen der Buden und Stände eine Menge kleiner Neben- und Seitengäßchen gebildet. Wie frei fließendes Wasser sich bald eine Bahn und ein Bett ausspült, so sind auch hier durch die Ströme des freien Verkehrs die anarchischen Marktstände bald in Reihen und Bahnen abgeschliffen. Hier wird Einer zurück-, der Andere vorgedrängt, ohne daß man Opposition macht, da man mit Luther einsieht, daß wahre Freiheit und Nothwendigkeit identisch seien. So ist in diesem vieltausendfältigen Tumult und Geschrei doch wohl Ordnung und Gesetz, wie könnte es sonst alle Sonnabende an unzähligen Orten sich eben so großartig, so lichter-, farben- und formenreich wiederholen und Allen Vortheil bringen? Es ist die in der Sache selbst liegende Ordnung, das „immanente“ Gesetz des freien Verkehrs.

Etwa von 8 bis 11 Uhr sind Geschrei und Tumult wahrhaft erhaben, wie ein Sturm auf dem Meere, erhaben im Contraste einer Wüste, über deren tausend Meilen Sand die Stimme des Löwen brüllt, erhaben und lächerlich in einer „höheren Einheit.“ Tausende von Stimmen schreien immer zu gleicher Zeit ihre Waaren aus. Des Einen Text ist länger, als der des Andern. Die Schlüssel zu deren Vocalmusik übertreffen die der Musiklehre um 100 Procent. Sopran, Tenor, Alt, Baß reichen schlechterdings nicht aus, um diese Töne und Melodien wissenschaftlich zu unterscheiden. Mozart’s Königin der Nacht bleibt mit ihrer berühmten höchsten Note noch im Sopran, und auch „in diesen heiligen Hallen“ bleibt die Baßgeige noch in ihrer Tiefe unübertroffen. Aber hier giebt’s Ultra-Soprane, Ultramontane der Tiefe, wie Barclay’sche Porter-Tonnen und unendlich viel in Musik gesetzte Heiserkeit. Daß die meisten Ausrufe dem continentalen Ohre wie laut gewordene Hieroglyphen klingen, daß Krähen, Gänse, Hühner u. s. w. ein verständlicheres Englisch zu sprechen scheinen, als diese Marktschreier, erhöht das Interesse und macht den aufregenden Eindruck des Mystischen. Mit Buchstaben auf’s Papier gebracht, sieht es ganz verständlich aus, aber in dem Munde des lebendigen Nachtmarktes ist Alles Böhmisch, Chinesisch und alles Andere, nur kein articulirtes Englisch.

Wir sind mitten im Babel. Und zu diesen musikalischen Fugen die Augenweide, wenn man sich durch die zehnfachen Ströme und Wagen der Körbe und Frauen und Arbeiter und Kinder hindurch ellbogen kann! Hier glitzert eine kleine Welt von blau gemalten Tellern, Saucieren, geschliffenen Gläsern und Flaschen und Gasglaskugeln, dort in Gelb und Blau allerhand Töpferwaaren, wovon einige Reihen alter und neuer Schuhe und Stiefeln, die auf dem Pflaster ausgebreitet stehen, sich noch etwas Abglanz borgen. Von den Stiefeln kommst du gleich in eine Kunstausstellung prächtiger Theebretter mit profanen und biblischen Geschichten bemalt, dann wieder in ein Labyrinth von Tellern und Tassen, auf denen Moses und die Propheten und Joseph’s Träume und das ganze alte Testament blau angelaufen erscheinen. Selbst Madame Potiphar’s Nase sieht eben so blau aus, wie Joseph’s Mantel. Jetzt kommt ein Wald rother Taschentücher, echt ostindisch-seidene, von 1 Schilling an, neben welchen blaustreifige Hemden im Winde flattern, darunter eine Art Ladentisch, hinter welchem muntre Jungen unaufhörlich nach Kunden schreien. Dort vor dem Thee-Laden, der in unzähligen Gasglaskugeln glänzt, theilt ein Mann gedruckte Empfehlungen aus, dankt dem Publikum für die bisherigen Gunstbezeigungen und fordert kühn alle Concurrenz heraus. An den Straßenwänden entlang vor einem Kleiderladen stehen ein halb Dutzend menschenähnliche Holzklötze mit fabelhaft dummen Taillen und bauschigen „Chesterfields“ und Jacken, jeder mit einem großen Zettel auf dem Rücken: „Look at the prices!“ und „observe the quality!“ Das immerwährende bengalische Feuer drüben, in welchem weißschürtzige, starke Helden, unverbrennlich wie Salamander, einhergehen und immerwährend schreien: „Buy! buy! buy!“ illuminirt einige Tausend Pfund Fleisch, das in malerischen, fetten, roth- und weißstreifigen Stücken bis in die Belle-Etage hinaufhängt. Jetzt hält dir der fliegende Buchhändler ein Buch Papier für zwei Pence unter die Nase, von der einen Seite wirst du scharf mit Messern angefallen, Rasir-, Feder- und Taschen- und Tischmessern, während dich kleine Mädchen mit zwei oder drei Apfelsinen für 1 Penny verfolgen, bis sie von einer Menschenwoge weggerissen werden. Kaum bist du aus dieser Scylla, so fällst du in die Charybdis der Bleistifte, Stahlfederhalter, Streichhölzchen und Zündschwämme. Und was ist das für eine Gruppe an der Wand? Ein Vater, eine Mutter mit einem Kinde an der Brust und eins sich frierend in die Schürze wickelnd. Der Vater steht mit verschämt gesenktem Blick, die Hände gefaltet und dazwischen – ein Crucifix? nein, ein Kästchen Schwefelhölzer für’n halben Penny! Sie wollen nicht betteln, sie wollen noch von einem „Geschäft“ leben. Hier kaufte ich, und gab einen ganzen Penny, ohne den halben, den ich herausbekam, anzunehmen. Der Mann sah kläglich auf, hielt ihn mir wieder hin und schlug die Augen wieder nieder, als er seine ausgestreckte Hand mit dem halben Penny wieder fallen ließ. O was für eine lange Geschichte voller Ehrlichkeit und Noth lag in dieser stummen Bewegung, die Niemand bemerkte, die Niemand verstand, die im gewaltigsten Strome des Verkehrs verrann, wie Tausende, Tausende anderer in jeder Nacht. –

Dort glänzen noch große offene Hallen mit Grünkram, Rüben, Kohl, Kohlen, Kartoffeln und großen Stößen kleiner Holzbündelchen, mit denen das Steinkohlenfeuer im Kamin angemacht wird, an welchem hängend morgen das 5–10pfündige Stück Fleisch im eigenen Fette gebraten wird, damit es eine Woche lang Stoff zum Abschneiden biete.

Jetzt Platz, es windet sich ein Wagen durch das dicke Gedränge, ein Annonce-Wagen, an allen 4 Seiten mit großen Zetteln, die wunderbare Dinge verkündigen, beklebt. Oder du stößt auf einen Mann, der zwischen zwei großen Zetteln steht und von der Rück- und Vorderseite zugleich [283] auffordert, daß du dies oder jenes Penny-Theater nicht versäumen sollst.

Wer glücklich ist, bemerkt wohl auch die wohlfeilere Art, der Welt große Tugenden dieses und jenes Geschäfts zu verkündigen: einen außer Fassung gebrachten und nach oben gesträubten Regenschirm, ringsum mit Zetteln, zum Theil blos geschriebenen, geschmückt. Jetzt stößt man auf einen großen Guckkasten, worin man für einen halben Penny durch ein rundes Glas die Leiden Mazeppa’s, die Tugenden des Seeräubers Paul Jones und die Vorzüge des Parlaments-Mitgliedes, Capitain Sibthorp, leibhaftig schauen kann. In jenem Winkel hat ein Polichinell-Spieler seinen großen Kasten aufgeschlagen, der aber mit chinesischen Schattenspielen die meisten Forthings erntet. Auch bemerkt man ganz weiß gekleidete Mohren, mit ihren Zetteln zitternd vor Kälte und mit großen Augen sehnsuchtblickend nach der tropischen Sonne Afrika’s. Kaum bist du einem italienischen Saiten-Leierkasten mit der Marseillaise entflohen, begrüßen dich schon zwei andere, die jedenfalls die Marseillaise gleich wieder spielen werden, wenn sie nicht schon mitten darin sind. Fürchterlicher ist’s, wenn du vor zwei schottisch-carrirten Dudelsackspfeifern vorbei mußt. Bist du musikalischer Natur, so mache, daß du fortkommst, denn jedenfalls begegnen dir doch die fünf gefärbten Mohren mit ächten Neger-Instrumenten. Geigen, Trompeten, Flöten und Clarinetten, theils einzeln, theils in Compagnie, aber nie in Harmonie, werden dich umbringen. In musikalischer Beziehung hat man sich auch vor den Penny-Theatern in Acht zu nehmen. Versteht man aber Englisch, d. h. wirklich Englisch mit den tausenderlei Wortspielen, so kann man etwas erleben! – Und um des Volkes Lust und Laune und seinen vierschrötigen Geschmack kennen zu lernen, muß man schlechterdings 50 – 60 mal in ein Penny-Theater gehen. Dort stehen die Agenten schon überall in den Thüren und schreien aus, was eben für ein Wunder geschehen werde. „Der berühmte So und So wird eben sein Lieblingslied vom „Scheerenschleifer“ singen“ u. s. w.

Doch genug. Aehnlich ist’s jeden Sonnabend Nachts in Tottenham-Court, Leather-lane, Whitecroßstreet, Newgate, Swen Dials u. s. w. – überall derselbe hunderttausendfache, hitzige Heldenkampf, um dem Arbeiter von seinem Sonntagsessen die Pence abzugewinnen, die Hunderttausende ebenfalls brauchen, um Sonntags mehr Fleisch als gewöhnlich essen zu können. Man muß diese blendend hellen Nachtscenen wirklich sehen, um sie zu glauben. Sie haben, wie London selbst, nirgends in der Welt ihres Gleichen.




Blätter und Blüthen.

Die Ameisen als Skeletirer. Daß die Ameisen von den Körpern kleinerer todter Thiere die fleischigen Theile bis auf die Knochen abnagen, ist eine allbekannte Thatsache, neu hingegen sind die vor Kurzem von einem englischen Naturforscher gemachten Versuche, diese kleinen Thierchen ganz systematisch zum Skeletiren zu benutzen. Eine Partie Ameisen wurde nämlich in einen Kellerwinkel gebracht, und auf einer andern Stelle des Kellers eine durchlöcherte Schachtel mit dem todten Körper eines Reptils aufgestellt. Nach einiger Zeit setzten sich die Ameisen in einer langen Reihe nach der Schachtel in Bewegung und begannen ihr Werk der Zerstörung, welches sie der Engländer so oft wiederholen ließ, daß er bald gegen 100 Skelette von kleinen Säugethieren, Vögeln, Reptilien und Fischen beieinander hatte. Ueber das zu beobachtende Verfahren heißt es, daß die Körper der zu skeletirenden Thiere nicht angefault sein dürfen, indem sonst die Ameisen häufig nicht daran gehen; am liebsten gehen sie an ihre Arbeit, wenn das Thier noch frisch im Blute ist. Die gröbern Fleischtheile schneidet man vorher heraus und muß dann die Ameisen beim Abnagen des Muskelfleisches beaufsichtigen, denn wenn dieses verzehrt ist, machen sie sich sonst gern auch an die Knochenbänder, nach deren Zerstörung das Gerippe nicht mehr zusammenhält. Selbst kleine Knochen schleppen sie fort, und wenn dieselben für eine einzelne Ameise zu schwer sind, so vereinigen sich mehrere zu gemeinschaftlicher Arbeit. Ist das Gerippe hinlänglich hergestellt, so verscheucht man die kleinen Skeletirer mit einem Schlage auf die Schachtel; auch kehren sie, wenn sie aus irgend einem Grunde das Benagen eines Körpers einstellten, nie wieder zu demselben zurück. Der englische Naturforscher, der diese Versuche vornahm, verband damit zugleich andere interessante Beobachtungen. So fand er, daß die Abwechselung von Tag und Nacht keinen Unterschied in den Empfindungen und Arbeiten der Ameisen hervorzubringen schien; daß sie ein begonnenes Vorhaben nie aufgaben und eher dabei zu Grunde gingen als davon abzustehen. Ihr Geruchssinn ist von bewunderungswürdiger Schärfe. Wenn man z. B. den Finger quer durch einen ihrer Wege zieht, so versammeln sich schnell eine Menge um die Stelle, untersuchen den Vorfall und senden Kundschafter nach allen Seiten hin aus. Zerdrückt man eine von ihnen mit dem Finger und entfernt sie schnell, so macht die nächstkommende alsbald an der Stelle, wo der Mord begangen wurde, halt, umkreist dieselbe forschend, verschafft sich über den Todesfall Gewißheit und theilt dann den hinter ihr kommenden Kameraden die Nachricht mit, welche sich mit unglaublicher Schnelligkeit die ganze Linie entlang fortpflanzt und sie in Verwirrung bringt. Alle schicken sich an, einen etwa in der Nähe befindlichen Feind zu verfolgen, und geraume Zeit vergeht, ehe sich der Tumult wieder legt; lange darnach noch hält aber jede Ameise nachdenkend an der Stelle an, wo der Mord vorfiel.




[284]

Erklärung.

Da der mit B. (Bock) unterzeichnete Verfasser der Aufsätze „vom Baue des menschlichen Körpers“, der „Gesundheitsregeln“ und der „Bausteine zu einer naturgemäßen Gesundheitslehre“ öfters in Folge dieser Aufsätze brieflich um ärztlichen Rath angegangen wird, so sieht sich derselbe hierdurch veranlaßt, zu erklären, daß nur gewissenlose oder unwissende Aerzte einem Kranken ärztlichen Rath ertheilen ohne denselben besehen, befühlt, beklopft oder behorcht zu haben. Deshalb bittet also der Verf. die Leser, ihm keine Fragen über specielle Krankheitsfälle, ohne die Gegenwart des Patienten, vorlegen zu wollen.




An unsere Leser!

Mit dieser Nummer schließt das erste Semester unserer Gartenlaube.

Wenn der Erfolg einer Zeitschrift für die Vortrefflichkeit derselben spricht, so dürfen wir mit einigem Stolz darauf hinweisen, daß die Gartenlaube in der kurzen Zeit ihres sechsmonatlichen Bestehens bereits eine Auflage von

5000 Exemplaren

erreicht hat. Redaction und Verlagshandlung glauben ihren Versprechungen mehr als getreulich nachgekommen zu sein. Zur Lieferung von wöchentlich nur einem Bogen verpflichtet, ist statt dessen vom Anfang an immer ein viertel bis ein halber Bogen mehr geliefert worden. Ebenso wurde kein Opfer gescheut, die Gartenlaube auch ihrem Inhalte nach zu einem unterhaltsamen und belehrenden Volksblatte im würdigsten Sinne des Wortes zu machen, wobei die dem Texte beigegebenen Abbildungen nur dem Gedanken des Bedürfnisses entsprangen, indem es außer unserer Absicht lag, die Zahl der willkürlich zusammengewürfelten Bilderbücher, wozu die meisten illustrirten Blätter hinabgesunken sind, noch zu vermehren.

Wenn wir einerseits überzeugt sind, den Anforderungen unserer Leser auf Unterhaltung durch kurze, einfache, von allem verschrobenen Geschmacke entfernten Erzählungen genügt zu haben, so glauben wir andererseits, daß für die Belehrung des Volkes Alles geschah, was auf diesem kleinen Raume überhaupt möglich war. Schilderungen aus dem Bereiche der Länder- und Völkerkunde wechselten mit frischen lebendigen Bildern aus dem freien England und dem wachsenden Amerika. In die geheimnißvolle Stätte der Natur wurde der Leser an der Hand des Professors

durch seine vortrefflichen „Briefe aus der Menschenheimath“ eingeführt, die auch für die Zukunft fortgesetzt werden. Zur Kenntniß des Menschenkörpers lieferte der Professor

dessen Name hinlänglich bekannt ist, ebenso originelle als schätzenswerthe Beiträge über Gesundheitspflege und naturgemäße Selbstheillehre, die ebensowohl durch ihre schlagenden Aufstellungen, wie durch die Neuheit ihrer Principien allgemeinen und großen Anklang fanden.

Als neue Zugabe werden wir, um auch den gewerblichen und industriellen Fortschritt dem Leser vor die Augen zu führen, von nächstem Semester ab regelmäßige Mittheilungen und Abbildungen über alle neuern Erfindungen, Merkwürdigkeiten und Erscheinungen im Gewerbsfache und Maschinenwesen, bringen und haben hierzu den durch seine deßfallsigen Leistungen rühmlichst bekannten Schriftsteller

gewonnen.

Für die Chemie und Botanik sind ebenfalls namhafte Autoren gewonnen worden.

So glauben wir wohl in Wahrheit versichern zu dürfen, daß auch für die nächste Zukunft, weder Zeit noch Mühe noch Kosten gespart werden, unserm jungen Volksorgane den ehrenvollen Platz zu behaupten, den es sich in der kurzen Zeit seines Bestehens erobert.

Leipzig, den 27. Juni 1853

Redaction und Verlagshandlung. 

Der Preis bleibt trotz des vermehrten Textes noch immer pro Quartal nur

10 Ngr. oder 36 Xr.

und nehmen alle Buchhandlungen und Postämter Bestellungen an.






Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Schnellpressendruck von Giesecke & Devrient in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Aufsatz ist in Heft Nr. 22, hier fälschlich mit Nr. 21 angegeben.