Textdaten
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Autor: S. v. M.
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Titel: Die Fischer-Lisel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 601–603
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Die Fischer-Lisel (Frau Elgraßer), Wirtin am Schliersee
Ein Original aus den Alpen
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Die Fischer-Lisel.
Ein Original aus den Alpen.


Jede Stadt – fast jedes kleine Oertchen – hatte früher irgend eine bekannte Persönlichkeit, welche durch Abweichung von der einheimischen Art und Weise, durch Eigenheiten im Benehmen oder Sonderbarkeiten in der Lebensweise sich von den übrigen Einwohnern unterschied, dafür von allen Andern bekrittelt und ausgelacht, oder auch geduldet und nicht selten geliebt und geachtet wurde und so eine Art von Wahrzeichen bildete, worin die Physiognomie, der Gesichtsausdruck des Ortes sich zu einer bestimmten greifbaren Persönlichkeit verkörperte. Sie waren Sonderlinge, diese Leute, aber auch Kernmenschen, die in Zeiten allgemeiner Ausgleichung und Verflachung, wie die jetzigen, immer seltener werden.

Eine solche Kernnatur war auch die treffliche Fischer-Lisel, und wie man Niemandem glaubt, daß er in Salzburg gewesen, wenn er nicht einen Regentag erlebt hat; wie Niemand sagen kann, er habe Regensburg besucht und sei über die Brücke gegangen, ohne Glockengeläute gehört zu haben: so konnte bis vor Kurzem kein Tourist oder Bergwanderer sich rühmen, er habe die reizenden Gestade des Schliersees, jenes im bairischen Hochlande nur wenige Stunden östlich vom Tegernsee gelegenen auf drei Seiten von hohen, schöngeformten Bergen umstandenen, überaus anmuthigen kleinen Wasserbeckens, besucht, wenn er nicht die Fischer-Lisel gesehen und bei ihr eingesprochen hatte.

Die Fischer-Lisel war die Wirthin des Dorfs – eine Wirthin von dem alten patriarchalischen Schlage, der zugleich mit den Kernmenschen der letzten Jahrzehnte zu verschwinden beginnt, und ich denke mit Vergnügen des Tages, als ich zum ersten Male auf der Halbinsel im Schliersee, der Freudenberg genannt, bei ihr einkehrte und auch gleich mit Sack und Pack, mit Weib und Kind wohnen blieb, wie lieb uns Allen der enge beschränkte Aufenthalt geworden und wie oft er seitdem seinem Namen Ehre gemacht und uns manch’ liebes Mal ein wirklicher Freudenberg gewesen. Die Lisel hatte damals das stattliche Wirthshaus drüben im Dorfe schon lange ihrer Tochter übergeben und sich auf den Freudenberg „in den Austrag“ zurückgezogen oder zur Ruhe gesetzt, aber die angeborne Lebhaftigkeit und Rührigkeit ihres Wesens machten ihr unmöglich, ganz auf die gewohnte Thätigkeit zu verzichten – es war ihr nicht wohl, wenn sie nicht die paar Zimmerchen im Hause vermiethet hatte und Gäste um sich sah, für die sie sorgen konnte, wenn sie auch keinen andern Gewinn davon haben mochte, als eben die lieb gewordene Sorge selbst. Man mußte sie sehen, wenn es ihr gelungen war, ein besonderes Gericht aufzutreiben, etwa Salblinge aus dem Schliersee, die nirgends eine größere Seltenheit sind, als gerade an seinen Ufern – wenn sie dann sah, wie ihre Gäste gottvergnügt es sich schmecken ließen, und wenn man ihre schlichte Kochkunst rühmte, dann hums’te sie halblaut vor sich hin, faßte mit eigenthümlicher Handbewegung nach rückwärts an den Rand des abgeblaßten grünen Spitzhuts und rückte ihn auf dem grauen Haare zurecht.

Abends, wenn die Dämmerung den Feierabend brachte, saß sie oft Stunden lang im Gespräch vor dem Hause und erzählte mir allerlei Anziehendes, aber das geschah erst, nachdem wir schon einige Wochen mit einander verlebt hatten und es uns gelungen war, ihr Zutrauen zu erwerben. Da erzählte sie in ihrer schlicht-kernigen Weise die Sagen und Märchen des Sees und der Berge, welche der jüngern Generation verloren gehen, weil sie dieselben nicht mehr achtet, oder merkwürdige Begebenheiten aus dem Leben der Dorfbewohner, Bilder aus eigener Erinnerung oder von der Geschichte des Hauses, vor welchem wir saßen, wie es noch ein Jägerhaus gewesen, eh’ die Försterei hinüber verlegt worden war in das Dorf, hübsch bequem und nahe an die Kirche und – das Wirthshaus. Die Verlegung hat aber doch auch eine Entschuldigung für sich. Der Verkehr vom Freudenberge aus mit dem festen Lande ist durch seine Lage und Gestalt als Halbinsel sehr erschwert und findet, wenn man nicht einen Umweg von einer halben Stunde machen und einen nicht immer gefahrlosen Pfad durch Sumpf und Geröhricht vermeiden will, nur über den See statt. Am Hausgiebel ist deshalb eine Glocke angebracht und wenige Schläge derselben genügen, um gerade gegenüber jenseits des Sees die Bewohner des Fischerhauses aufmerksam zu machen, die dann mit dem Kahn angerudert kommen, um für einen Kreuzer Fährlohn den Wanderer überzuholen. Der letzte Förster, der auf dem Freudenberg gehaust, war ein junger tüchtiger Mann gewesen, der mit seiner jungen hübschen Frau recht angenehme Tage in der einsamen Försterei verlebte und viel für deren Ausschmückung und die Anpflanzung der noch vorhandenen Obstbäume that – an einem Winterabend fuhr er nach dortigem Gebrauch auf einem sogenannten Beinlschlitten sammt Frau und Gehülfen über den zugefrorenen See. Bei solcher Fahrt sitzt jede Person auf ihrem eigenen Schlitten, der mittels eines langen Stachelstocks regiert wird und dann pfeilschnell über das Spiegeleis dahin fliegt – der junge Förster mochte die Schnelligkeit wohl übertrieben haben, vor den Augen seiner entsetzten Frau fuhr er in eines der Luftlöcher, die der Fische halber im Eise aufgehauen werden, und versank rettungslos. An der Kirchhofmauer erzählt sein Denkstein das traurige Ereigniß. Nach der Verlegung war es Frau Elgraßer – das ist der eigentliche Name der Fischer-Lisel – die den Freudenberg käuflich erwarb, damit nicht dort eine zweite Wirthschaft entstehe und der anmuthigen Lage wegen die alte drüben im Dorfe überflügeln möchte.

Es ist aber auch ein wunderbar anmuthiges Plätzchen vor dem Jägerhause, und es sitzt und träumt sich gar angenehm, wenn der Blick über den See mit dem kleinen Inselchen, über das Dorf am Gestade und über die Berge hinstreift, bis zum riesigen Jägerkamm und der nicht minder gewaltigen Brecherspitz, zwischen welchen der Bergweg hinanzieht zum Spitzingsee, in die Salepp und zur Kaiserklause. Während der Weinberghügel im Dorfe mit seiner alten Capelle und die Ruinen von Waldeck an die Zeiten mahnten, wo hier das hochritterliche Geschlecht der Herren von Maxlrain gehaust, dessen romantische Erlebnisse noch immer des Erzählers harren, war es gar behaglich und eigen, die Tage daranzureihen, von denen Lisel zu erzählen wußte, wie zuerst nur die [602] Klosterherren in Thal und Gegend gehaust und geherrscht hatten; wie darauf Max Joseph, der erste König von Baiern, das aufgelöste Benedictinerstift Tegernsee lieb gewann und zu seinem ständigen Sommeraufenthalt wählte; wie er dann gar häufig mit der Königin und den Prinzen über die Kreuzalm von Tegernsee herübergekommen und nie versäumt hatte, bei der Fischer-Lisel, deren unverfälschte Natürlichkeit ihm gefiel, einzusprechen. Für diese gab es aber auch keinen Unterschied des Standes; sie hatte für jeden Gast das gleiche unbefangene Benehmen und das vertrauliche Du, gleichviel, ob es ein Prinz oder der König von Preußen oder gar der Selbstherrscher aller Reußen war, der sie besuchte, oder einer der Bauern aus dem benachbarten Westerhofen, der seinen Abendtrunk zu nehmen kam. Die vornehmen Herren mochten wohl mitunter etwas befremdet dastehen, wenn sie ihnen die Hand zum Einschlagen mit seinem lustigen „Grüß Dich Gott, Maxel“ oder „Karl“ entgegenstreckte, oder einem schon Bekannten Vorwürfe machte, daß er sich so lange nicht mehr habe sehen lassen, oder einen Fürsten, der sich veranlaßt gefunden, sein Land mit dem Rücken anzusehen, treuherzig versicherte, daß das, was es bei ihm daheim abgegeben habe, „uns da heraußen“ nichts angehe, und mit der Aufforderung schloß: „Sei jetzt nur lustig und fürcht’ Dich nit – bei uns da geschieht Dir nichts!“

Wenn sie so erzählte und sprach, dann war das alte, liebe Gesicht von einem so seltenen Ausdruck von Herzensgüte belebt, daß man ihr gut sein mußte trotz der Falten, und die braunen Augen in ihrer Lebhaftigkeit ließen erkennen, daß in ihnen einmal die Hauptschönheit des Mädchens geruht haben mochte, als es noch ihr Geschäft gewesen, die Chorherren von Schliers oder die Hofherren des Königs Max Joseph oder auch die Münchner Studenten und Maler über den See zu rudern. Einer der Letzteren, der geniale Monten, dessen „Abschied der Polen“ wohl überall hin gedrungen ist, hat sie auf einem hübschen Wirthsschilde verherrlicht, das viele Jahre über der gastlichen Eingangsthür hing. Es stellt ein paar Malgesellen vor, welche singend, Guitarre spielend und hutschwenkend von einem hübschen Mädchen im See gefahren werden. Jetzt ist das Bild verschwunden und hat eine minder auffallende Stelle im Hause erhalten, vermuthlich, weil man die jetzigen Reisenden nicht mehr für naiv genug hielt, sich daran gemüthlich zu erfreuen. Es mag wohl auch wahr sein, daß die Maler, Studenten und Bürger, welche zu Pfingsten oder einer andern heiligen Zeit einen Ausflug in’s bairische Gebirge machen, das Bild mit mehr Genuß und Pietät betrachteten, als ein mit Plaid und Sonnenschirm nach Merkwürdigkeiten suchender Engländer oder ein Land und Leute mit dem Bädeker unterm Arm controlirender Berliner Hofrath. Das Gemälde machte in der That seinem Schöpfer keine Unehre, und wollte man etwas daran aussetzen, so war es die ein wenig gezierte Umschrift „Alla donna del lago“ (zur Jungfrau vom See), eine italienische Reise-Erinnerung, statt deren ein schlicht-deutsches „Zur Fischer-Lisel“ wohl besser gestanden wäre.

Lisel war in dem Fischerhause am Ufer des Sees geboren, wo noch jetzt die Nachkommen ihrer Brüder hausen und jetzt ihre Bäschen das Amt übernommen haben, die fremden Besucher über den See zu fahren, kräftige, wohlgebaute, etwas schweigsame Mädchen, deren Anblick bezeugt, daß Schönheit der Gestalt und Anmuth der Züge noch jetzt zu den Erbgütern dieses Fischergeschlechts gehören, das mit seinem Privilegium, auf dem ganzen See allein Kähne halten, fahren und fischen zu dürfen, höher als mancher Adelsbrief in die Zeiten feudaler Vorrechte hinaufreicht. Von der Zeit, als das Ruder in Lisel’s Händen war, stammt ihre Berühmtheit, denn ihr heiteres, natürliches Geplauder und die Art und Weise, wie sie während derselben die heimischen „Schnaderhüpfeln“ zu singen wußte, waren die vorzüglichste Würze der Seefahrt. Zwei von den jungen Leuten des Orts bewarben sich gleichzeitig um die hübsche muntere Fischerin, der Wirth im Dorfe und der Sohn und Herr eines ganz nahegelegenen Bauerngutes – sie entschied sich für den Ersteren, wurde Frau Elgraßerin und wohlbestellte Wirthin zu Schliers – aber es ging ihr, wie dem kleinen Töffel in der Fabel. Wie sie als Frau die gerade Offenheit, die derbe Freundlichkeit und den immer heitern Sinn bewahrte, die das Mädchen zum allgemeinen Liebling gemacht hatten, so hieß sie nach wie vor die „Fischer-Lisel“ und war noch als Greisin nur unter diesem Namen in Dorf und Umgegend und überall bekannt, wohin der Ruf von den anmuthigen Gewässern gedrungen, welche versteckt liegen zwischen den bairischen Bergen.

Neben der Geradheit und Offenheit war es ihre Uneigennützigkeit, was sie kennzeichnete. Wer zu ihr kam, ward nicht wie ein Gast des Wirthes, sondern wie ein Freund des Hauses gehalten, der allenfalls auf Besuch kommt und mit dem man eben deshalb wie mit seines Gleichen ohne viele Umstände und Höflichkeiten verkehrt. Sie fragte nicht viel, wer der Gast sein mochte, es genügte, wenn er ein gemüthlicher Mensch war, der sich ein paar Wochen oder Tage vergnügen wollte, und desfalls fand sie auch nichts Besonderes darin, anstatt lange um Namen und Stand zu fragen, ihre Gäste nach andern Dingen zu unterscheiden und zu benennen, was allerdings mitunter, zumal bei Damen, nicht besonders günstig aufgenommen wurde. Den Wohlbeleibten nannte sie in aller Gemüthsruhe den „Wampeten“, Einen, dessen Haarwuchs nicht eben wucherisch stark war, „die Platten“, oder ein Fräulein, dessen Oberlippe einen etwas männlichen Charakter trug, schlechtweg „die Bartet’“, ja sie zauderte nicht, zur Unterstützung des Gedächtnisses das Alles auch an der schwarzen Zechtafel anzuschreiben. Wenn es an’s Scheiden ging, kam sie nicht etwa mit einer geschriebenen Rechnung, sondern einfach mit der Kreide angerückt und in freundschaftlicher Verhandlung wurde alles Genossene recapitulirt, taxirt und summirt; die Tischplatte diente, die Rechnung aufzuschreiben, über die sie dann, wenn gezahlt war, statt des Schwammes mit dem Aermel hinfuhr, um sie wieder auszulöschen. Als freundliche Wirthin ließ sie sich auch nicht lange bitten, Abends durch ihren Gesang zur allgemeinen Fröhlichkeit beizutragen, dann setzte sie sich an den Tisch, nahm einen Bergstock zur Hand und sah zur Decke hinauf, als ob sie die Schnaderhüpfeln von dort herunter lesen müßte. Sie sang sie aber mit so vieler Munterkeit und naturwüchsiger Schalkheit und dabei so zierlich und sauber, daß nur ein eingefleischter Griesgram sich des Frohsinns und Lachens hätte erwehren können, wenn es hieß:

„Jetzt hab’ i zwoa Schatzerln, ein alt’s und ein neu’s,
Und jetzt brauch’ i zwoa Herzeln, a falsch’s und a treu’s!“

oder auch:

„Die Finken hab’n Kröpfeln, da singen s’ damit,
Mei’ Wei’ hat an Kropf – aber singen kann s’ nit!“

Die laute Fröhlichkeit nahm aber bald ein Ende, denn als schon nach wenigen Jahren der Mann starb, da wandte ihr das Leben die ernsthafte Seite seines Doppelangesichts in vollster Herbheit und Strenge zu – über der Sorge für Erhaltung der großen Wirthschaft, über den Arbeitsmühen des Geschäfts, über dem Pflegen und Heranziehen der ihr verbliebenen beiden Waisen verblich ihre rosige Laune in etwas – der gesungenen Abende wurden immer weniger, bis der Bergstock und die begleitende Zither hinter der Thür auf dem Wandkästchen einen ständigen Ruheplatz gefunden hatten. So sehr aber das Haus manchmal eines „Regierers“ bedurft haben mochte, so Viele auch kamen, um bei der Wirthin um Hand und Herz oder Haus und Hof zu werben – sie brachte es nicht über sich, dem Andenken an den Erstgewählten untreu zu werden. Sie rang sich auch tüchtig und ehrenhaft durch, brachte das Geschäft in die Höhe und erhielt seinen alten Ruf, denn sie war die alte freundliche, billige, immer muntere Wirthin. Alles war ihr gut und vielleicht der Einzige, der es nicht that, war der verschmähte Mitbewerber um ihre Hand, der auch in späten Jahren, als er längst auch Haus- und Familienvater geworden, und noch im hohen Alter es nicht verwinden konnte und sie anfeindete, weil er einen Korb bekommen. Man sieht dabei wieder, daß die Dorfgeschichtenschreiber doch nicht so sehr Unrecht haben, wenn sie die Romantik der Liebe auch unter Joppe und Spitzhut als vorhanden betrachten und davon erzählen.

Als Lisel auf dem Freudenberg, ihrem Ruhesitz und Buen Retiro saß, waren die Zeiten des Gesangs lang hinter ihr – sie hörte höchstens zu, wenn draußen die Bursche sangen, und flüsterte mir dann eine Bemerkung zu, daß es ihr manchmal vorkomme, als ob unter den jungen Leuten nicht mehr dieselbe Frische und Lustigkeit walte, wie in den Tagen der eigenen Jugend. „Ich weiß nit,“ sagte sie, „macht’s das, weil ich alt bin, oder ist es wirklich so … sie singen alleweil dieselben G’sangeln, wie vor vierzig Jahren; es müssen ihnen keine neuen mehr einfallen … es ist die alte Schneid’ und Reschen (Raschheit) nimmer in die Bub’n!“ – In ihrer Schlafkammer, wohin sie sich schon sehr [603] zeitig zurückzog, stand in der Ecke, dem Bette gegenüber, eine überlebensgroße Holzfigur, Christus in der Verspottung darstellend, mit Dornenkrone, Purpurmantel und Binsenscepter. Die Gestalt, bis an die Decke ragend und grell bemalt, machte einen unheimlichen Eindruck, aber Lisel war sie vertraut und lieb, denn sie hatte das Holzbild beim Abbruch einer Feldcapelle gekauft, damit es vor Entweihung sicher war, und trug sie mit dem Gedanken, eine neue Capelle auf dem Freudenberg zu bauen und es darinnen aufzustellen.

Das war überhaupt ihr letzter Lieblingswunsch, und wer einmal ihr Vertrauen gewonnen hatte, erfuhr wohl auch warum. Auf dem Freudenberge links vor dem Hause am Hügelabhang war früher ein Capellchen gestanden, dann aber unrechtmäßig abgebrochen und der geweihte Inhalt verschleudert und verunehrt worden. Seit dieser Stunde ist es an der Stelle nicht geheuer; sie ist sumpfig und wird nie vollends trocken, auch im heißesten Sommer nicht, und an den Vorabenden der Festtage und heiligen Zeiten erscheint eine große unheimlich aussehende Kröte, bleibt eine Weile hocken und verschwindet dann räthselhaft, wie sie gekommen. Die Einwohnerschaft des Hauses ist fest überzeugt, daß in der Kröte die arme Seele dessen haust, der das Heiligthum geschändet, und daß sie nicht eher Ruhe findet, als bis dasselbe wieder hergestellt sein wird. Diese Wiederherstellung war darum Lisel’s Lieblingsgedanke; sie dachte schon an den Platz der neuen Capelle und den Bauplan und machte eine Casse, um aus dem Gewinn ihrer Wirthschaft die Kosten zu ersparen. Der Gewinn muß aber nicht beträchtlich gewesen sein, denn die Capelle ist ungebaut geblieben.

Die wackere Fischer-Lisel ist im vorigen Jahre gestorben, in einem Stübchen des Dorfwirthshauses, denn Alter und Gebrechlichkeit hatten sie endlich gezwungen, dem Aufenthalt und der Selbstwirthschaft auf dem lieben Freudenberg für immer zu entsagen. Ihr froher Sinn und ihre tüchtige Gemüthsart hatten sich bis zur letzten Stunde bewährt, wie der letzte rothe Streifen am Abendhimmel noch an den Schimmer des Tages erinnert und ihn zurückstrahlt. Wer etwa jetzt nach Schliers gewandert kommt und bei Lisel’s Tochter, der wackern Frau Posthalterin, einspricht, möge nicht versäumen, beim Gange an den See das einfache Grab der Fischer-Lisel zu besuchen, denn was in ihm liegt, ist ein Herz, das wohl ein freundliches Angedenken verdient, ein echtes, rechtes tüchtiges Gemüth – ein wahres Bauernherz!

S. v. M.