Die Fabrikanten dramatischer Erzeugnisse in Paris
[158] Die Fabrikanten dramatischer Erzeugnisse in Paris. Die Mitarbeiterschaft bei den Productionen dramatischer Erzeugnisse ist nicht anderes als eine Theilung der Arbeit, wie sie in den Fabriken stattfindet. Man weiß, daß die Theilung der Arbeit eine große Schnelligkeit in der Hervorbringung der Fabrikate dadurch bewirkt, daß jeder Arbeiter eine gewisse Virtuosität in dem von ihm bearbeiteten Zweige erlangt. Wer in einer Uhrenfabrik zwanzig Jahre hindurch ausschließlich Zifferblätter malt, oder in einer Stecknadelfabrik während eines Menschenalters blos Köpfe zu den Stecknadeln dreht, muß doch am Ende eine außerordentliche mechanische Fertigkeit erlangen. Nun, so verhält es sich gerade mit den meisten Stücken, die jetzt in Paris fabriziert werden.
Die Hauptstadt Frankreichs zählt an drei Dutzend Theater, die jeden Abend die Schaulust des Publicums befriedigen müssen. Da nun jedes [159] dieser Theater im Durchschnitt allabendlich drei Stücke aufführt und die Neugierde des Publicums schnell übersättigt wird, so ist es gar nicht auffallend, daß die Pariser Schaubühnen jährlich weit mehr als hundert Stücke verbrauchen, besonders wenn man erwägt, daß von diesen gar viele mehr oder minder Fiasco machen. Eine große Anzahl dieser Bühnenerzeugnisse gehört zu den Gelegenheitsstücken, pièces d’actualité oder pièces de circonstance, Stücke, die sich auf gewisse Zustände der Gegenwart beziehen, oder ein bedeutendes Tagesereignis;, einen merkwürdigen Vorfall behandeln. Ihr Erfolg hängt natürlich von der Geschwindigkeit ab, mit welcher sie dem Ereignis;, dem Vorfalle folgen; denn in Paris veraltet Alles sehr schnell und nirgendwo ist die Gegenwart so kurzlebig wie hier. Auch ist die Neugierde der Franzosen weniger hungrig als genäschig. Um sie zu befriedigen, darf man nicht viel, muß man vielerlei bringen.
Sprechen wir nun von der Art und Weise, wie ein solches von mehren Vätern in die Welt gesetztes Stück zu entstehen pflegt.
Da ist z. B. ein junger Mann, der kaum das College verlassen und sich zum dramatischen Dichter heranbilden will. Er hat eine frische, lebendige Einbildungskraft; er besitzt viel Erfindungsgabe und es fehlt ihm auch nicht an poetischem Gefühl. Dies Alles hat er benutzt, um ein Stück zu schreiben, das sehr reich an gelungenen Stellen ist, das sich aber entweder zur Aufführung gar nicht eignet, oder bei der ersten Aufführung jämmerlich durchfallen würde und zwar deshalb, weil der Dialog bald zu schleppend, bald zu abgebrochen, weil die Scenen nicht schnell auf einander folgen und auch nicht wirkungsreich genug sind, kurz weil der junge Autor die Ansprüche des Publicums nicht genau kennt. Er wendet sich an einen bühnengewandten Schriftsteller, und dieser stutzt nun das dramatische Kind, das so unbeholfen aussieht, mit großer Geschicklichkeit für die Bretter zu. Er frisirt es, er parfümirt es, er zieht ihm effectmachende Kleider an und legt ihm mehre Dutzend Schlagwörter in den Mund. Das Kind hat auf diese Weise zwei Väter bekommen, die auf dem Theaterzettel genannt werden und sich in die Tantième theilen. Beide fahren nun fort, mit einander zu arbeiten. Der junge Poet erfindet die Handlung, während der Andere sie in Scene setzt. Oft wird noch ein Dritter nöthig. In den Vaudevilles nämlich genügen die Handlung und der Dialog allein durchaus nicht; es müssen noch die Couplets angebracht werden, jene kurzen, epigrammatisch zugespitzten Lieder, welche die einzelnen Scenen einleiten und schließen und gleichsam die gereimten Knalleffecte des Stückes bilden. Der Dritte nun, der diese Knalleffecte liefert, wird natürlich ebenfalls als Vater auf dem Zettel genannt und bekommt für sein Drittel Vaterschaft den dritten Theil der Lorbeeren, oder, was noch wichtiger ist, den dritten Theil der Tantième.
Es giebt in Paris viele dramatische Schriftsteller, die niemals ein ganzes Stück, sondern immer nur einen Bruchtheil eines solchen geschaffen; ja, mancher Meister seines Faches, der schon unzählige Stücke geschrieben, bedient sich der Mitarbeiter, blos um schneller fertig zu werden. Wie ein Schneidermeister hat er seine Gesellen. Er schneidet das Stück zu, während diese es zusammenstutzen, aufputzen und mit Schnörkeln versehen.
Der Vater dieses Collaborationssystems war Eugène Scribe. Er, der nicht weniger Stücke auf die Bühne gebracht als das Jahr Tage zählt, dem seine leicht geschürzte dramatische Muse ein Vermögen von mehreren Millionen erworben und der in manchen Jahren zweimal hunderttausend Franken an Tantièmen eingenommen; er, der glücklichste, reichste und fruchtbarste aller Vaudevillendichter, hat sein erstes Stück gemeinschaftlich mit seinem Freunde Germain Delavigne geschrieben. Dieses erste Stück hieß „Le Dervis“ und ging im September 1811 über die Bretter. Zu vielen seiner andern Stücke machte ihm Casimir Delavigue die Couplets, und als er, Eugène Scribe nämlich, der Liebling des Publicums wurde, etablirte er eine Vaudevillefabrik und beschäftigte stets mehrere Dutzend Mitarbeiter. Die Einen brachten ihm Pläne zu Stücken, die er ausarbeitete; Andere hatten ausgearbeitete Stücke, welche er umgestaltete, um sie effectreicher zu machen; wiederum Andere brachten ihm mehrere Dutzend Couplets, mit denen er einige neue Machwerke spickte, und dann gab es auch Einige, die ihm pikante Anekdoten und Schlagwörter lieferten. Auf diese Weise waren die Maschinen in genannter dramatischen Kunstwaarenfabrik in Bewegung.
Scribe’s Erfolg verlockte später sogar wahrhaft poetische Talente diesem Fabrikationssystem zu huldigen. So hat Emile Augier in Gemeinschaft mit Jules Sandeau „Le gendre de Monsieur Poirier“ und mit Foussier „Les Lionnes pauvres“ geschrieben. Alexander Dumas Sohn hat seine dramatische Laufbahn ebenfalls mit einem Associé begonnen. Sein erstes Stück, „La Dame aux Camélias“, das sich eines so großen Erfolges erfreute, hat der Mitarbeiterschaft Antony Béraud’s sein Entstehen zu verdanken. Dieser wird zwar niemals auf dem Zettel genannt; er theilt jedoch mit Dumas Sohn die Tantième. Der jüngere Dumas hat sich übrigens gleich nach der Aufführung des genannten Stückes vorgenommen, künftig auf eigene Faust zu arbeiten, und ist bisher seinem Vorsätze treu geblieben.
Das System der Mitarbeiterschaft gereicht unstreitig der dramatischen Literatur Frankreichs zum Verderben. Von wahren Kunstwerken kann da niemals die Rede sein. Wo die innere poetische Nöthigung fehlt, ist keine Kunstschöpfung möglich. Den Pariser Autoren, welche die Pariser Theater mit Dramen und Vaudevilles überschwemmen, ist die Muse keine Göttin, deren Gunst man inbrünstig erfleht, sondern eine Magd, die man für allerlei Dienste gebraucht. Sie sind nicht der Ansicht unsers Klopstock, daß Unsterblichkeit ein schöner Gedanke sei; sie wollen Geld verdienen und scheeren sich wenig um die Unsterblichkeit. Daher kommt es dann, daß von den vielen tausend Stücken, die seit einem Menschenalter über die Pariser Bühnen gegangen, vielleicht kein einziges das letzte Decennium dieses Jahrhunderts erleben wird.
Die Operntextfabrikation wird noch mechanischer betrieben. Hier gilt es vor Allem, Romane oder dramatische Werke aufzutreiben, die ein Gemeingut des Publicums geworden, deren Autoren nämlich längst gestorben, oder, wenn sie noch leben, kein Autorenrecht beanspruchen können. Die Textmachermeister begeben sich an die Arbeit. Der Eine schneidert die Handlung zu, der Andere schmiedet die Verse nach den Bedürfnissen des Componisten, und wenn die Oper zur Aufführung kommt, theilt das Kleeblatt den Gewinn. Es versteht sich von selbst, das; besonders die Meister aller Literatur stark herhalten müssen. Seit einem Jahre sind in Paris vier Opern zur Aufführung gelangt, zu denen die Textbücher englischen und deutschen Werken entnommen sind. Schiller’s Don Carlos, von Méry und De Locle bearbeitet und von Verdi in Musik gesetzt; Mignon, nach Wilhelm Meister von Barbier und Carré ziemlich geschickt verarbeitet und von Ambroise Thomas componirt; Romeo und Julie, ebenfalls von Barbier und Carré in ein Textbuch zusammengestutzt und von Gounod componirt, und endlich „La jolie Fille de Perth“, nach dem bekannten Walter Scott’schen Roman von Adenis allein bearbeitet und von dem jungen Bizet mit Talent in Musik gesetzt. Shakespeare, Goethe und Schiller werden jetzt als sehr ergiebige Fundgruben von den Pariser Textschreibern ausgebeutet, und man braucht nicht erst zu bemerken, daß dieselben in den meisten Fällen mit diesen Texten mehr gewinnen, als die Originaldichter mit ihren Werken gewonnen haben.