Die Eroberung des Brotes/Vorrede zum französischen Original von Élisée Reclus

Textdaten
Autor: Élisée Reclus
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Titel: Vorrede zum französischen Original von Élisée Reclus
Untertitel:
aus: Die Eroberung des Brotes, S. XIII–XVI
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Der Syndikalist
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Bernhard Kampffmeyer
Originaltitel: La conquête du pain. Paris 1892
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Cornell-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
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[XIII]

VORREDE ZUM FRANZÖSISCHEN ORIGINAL.

Peter Kropotkin hat mich gebeten, seinen Ausführungen einige Worte voranzuschicken. Ich muß gestehen, daß ich mich nur mit einem gewissen Widerwillen seinem Wunsche füge. Da ich zu dem Strauß der Argumente, welche er in seinem Werke beibringt, nichts hinzufügen kann, so laufe ich Gefahr, die Macht seiner Worte abzuschwächen. Doch die Freundschaft wird mich entschuldigen. In einer Zeit, wo es das höchste Ideal der französischen „Republikaner“ ist, sich vor die Füße des Zaren zu werfen, tut es mir wohl, mich den freien Männern zu nähern, welche er mit Ruten peitschen, in die Verließe einer Zitadelle einschließen oder in einem abgelegenen Hofe hängen ließ. In der Gemeinschaft dieser Freunde vergesse ich für einen Augenblick meinen Abscheu vor jenen Renegaten, welche sich in ihrer Jugend mit dem Rufe: „Freiheit, Freiheit“ heiser schrieen und sich heute bemühen, die beiden Weisen „La Marseillaise“ und „Boje Tsara Khrani“ zu vermählen.

Das letzte Werk Kropotkins „Les Paroles d’un Révolté“[WS 1] widmete sich vornehmlich einer scharfen Kritik der ebenso grausamen wie korrumpierten bürgerlichen Gesellschaft und appellierte zum Kampfe gegen den Staat und das kapitalistische System an energische Revolutionäre. Das vorliegende Werk, eine Fortsetzung der „Paroles“, ist friedlicher Natur. Es wendet sich an alle wohlmeinenden Menschen, welche aufrichtig wünschen, an einer Umgestaltung der Gesellschaft mitzuwirken und entwirft ihnen in großen Zügen die Phasen der kommenden Geschichte, wo es uns erlaubt sein wird, auf den Ruinen der Banken und Staaten die menschliche Familie zu begründen.

Der Titel des Buches: „La Conquête du Pain“ muß in weiterem Sinne verstanden werden, denn „der Mensch lebt nicht von Brot allein“. Zu einer Zeit, wo die Edelsten und Wackersten ihr Ideal sozialer Gerechtigkeit zu lebender Wirklichkeit zu machen suchen, kann sich unser Ehrgeiz nicht auf die Eroberung des Brotes, selbst wenn es vom Wein und Salz begleitet ist, beschränken. Es gilt, alles zu erobern, was notwendig oder nützlich für den Komfort des Lebens ist, es gilt allen die volle Befriedigung ihrer materiellen wie ideellen Bedürfnisse zu sichern. Solange wir nicht jene erste „Eroberung“ gemacht haben, solange es „noch Arme unter uns gibt“, ist es nichts als bitterer Hohn, jenem Haufen menschlicher Wesen, welche sich hassen und sich gegenseitig [XIV] gleich wilden in einer Arena eingeschlossenen Tieren zerfleischen, den Namen „Gesellschaft“ beizulegen.

In dem ersten Kapitel seines Werkes zählt der Verfasser die ungeheuren Reichtümer auf, welche die Menschheit schon besitzt, und führt uns den wunderbaren Werkzeugs- und Maschinenapparat vor Augen, den sie sich mittels kollektiver Arbeit erworben hat. Die heute schon erzielten Produkte genügten vollkommen, um Allen während des Jahres das Brot zu sichern, und wenn das enorme Kapital der Städte und Häuser, der bebaubaren Felder, der Werkstätten, der Transportmittel und Schulen anstatt Privateigentums Gemeineigentum würde, so wäre es ein Leichtes, den Wohlstand zu erobern: die Kräfte, welche zu unserer Verfügung stehen, würden dann nicht mehr für unnütze und widersinnige Arbeiten angewendet werden, sondern auf die Produktion dessen gerichtet werden, was der Mensch in Gestalt von Nahrung, Wohnung, Kleidung, Komfort, wissenschaftlichem Studium und Kunstpflege bedarf.

In jedem Fall: die Wiedereroberung des Besitztums der Menschheit, die Expropriation in einem Wort, kann einzig auf dem Wege des anarchistischen Kommunismus vollbracht werden; es gilt die Regierung zu zerstören, die Gesetzestafeln zu zertrümmern, ihre Moral an den Pranger zu stellen, ihre Diener zu ignorieren und sich an das Werk des Aufbaus zu machen, in dem man sicher seiner eigenen Initiative folgt und sich, entsprechend seinem Sich-Eignen, seinen Interessen, seinem Ideal und der Natur der unternommenen Arbeiten, zu Gruppen vereinigt. Diese Frage der Expropriation, die wichtigste des Buches, hat der Verfasser ausführlicher als alle anderen, mit großer Vorsicht, ohne Wortschwall und mit einer Ruhe und Klarheit der Vision behandelt, wie es eben das Studium einer kommenden, überdies unvermeidlichen Revolution erfordert. Erst nach dem Sturz des Staates werden sich die Gruppen der befreiten Arbeiter – nicht mehr im Frondienste von Ausbeutern und Parasiten stehend – den Reizen einer frei gewählten Arbeit widmen und mit Hülfe der Wissenschaft an die Kultur des Bodens und die industrielle Produktion schreiten und eine Abwechslung und Erholung im Studium oder Vergnügen suchen können. Die Seiten des Buches, welche von den landwirtschaftlichen Arbeiten handeln, bieten ein spezielles Interesse, denn sie berichten Fakta, welche die Praxis schon bestätigt hat und deren Verallgemeinerung auf großer Stufenleiter dem Nutzen aller, nicht allein der Bereicherung einiger weniger dienen könnte und keineswegs unüberwindliche Schwierigkeiten bietet.

Spaßmacher sprechen uns vom „fin de siècle“ und scherzen über die Laster und Verschrobenheiten der eleganten Jugend; doch es handelt sich heute um viel mehr als das Ende eines Jahrhunderts, wir stehen vor dem Ende einer geschichtlichen Epoche, vor dem Ende einer sozialen Aera; wir stehen vor dem Todeskampf der antiken Zivilisation. Das Recht der Gewalt und die Laune der Autorität, die harte jüdische Tradition und die grausame römische Jurisprudenz verlieren unsere Ehrfurcht, wir bekennen uns zu einem neuen Glauben, und mit dem Momente, wo dieser Glaube, der zugleich Wissenschaft ist, derjenige aller, welche die Wahrheit suchen, geworden ist, wird er auch in der [XV] Welt der Wirklichkeit Gestalt annehmen, – denn das erste aller historischen Gesetze ist, daß die Gesellschaft sich nach ihrem Ideal bildet. Ja, die Verteidiger der veralteten Weltordnung bemühen sich vergeblich, diese aufrecht zu erhalten! Sie haben den Glauben an ihre Sache verloren und, weder Führer noch Fahne habend, unternehmen sie einen Kampf ins Ungewisse. Gegen die Neuerer haben sie Gesetze, und Gewehre, knüppeltragende Polizisten und Artillerieparks, aber alles dies wiegt nicht einen Gedanken auf, und das ganze alte Regime der Willkür und des Zwanges wird man bald zu den prähistorischen Erscheinungen rechnen.

Sicherlich die bevorstehende Revolution, so wichtig sie auch in der Entwicklung der Menschheit sein möge, wird sich keineswegs von früheren Revolutionen darin unterscheiden, daß sie einen plötzlichen Sprung vollbringt – die Natur macht deren nicht. Aber es handelt sich auch um gar keinen Sprung, wir können heute schon Tausende Phänomene, Tausende einschneidende Veränderungen verzeichnen, welche das lang vorbereitete, ständige und starke Wachstum der anarchistischen Gesellschaft andeuten. Sie zeigt sich überall, wo der freie Gedanke sich vom Buchstaben des Dogmas frei macht, überall, wo das Genie des Forschers die alten Formeln ignoriert, wo der menschliche Wille sich in unabhängigen Handlungen dokumentiert, überall, wo aufrichtige Männer, Rebellen gegenüber jeder aufgezwungenen Disziplin, sich in freiem Entschlusse und nach ihrem Gefallen vereinigen, um sich gegenseitig zu unterrichten und um vereint und ohne Führer ihren Anteil am Leben und der vollständigen Befriedigung ihrer Bedürfnisse wiederzuerobern. Alles dies ist Anarchismus, selbst wenn er sich dessen nicht bewußt ist, und mehr und mehr gelangt er auch zum Bewußtsein. Und wie sollte er nicht triumphieren, da er sein Ideal und die Kühnheit des Wollens hat, während die Masse seiner Gegner – ohne Glauben – sich dem Geschicke überläßt mit dem Rufe „Fin de siècle!“

Die Revolution, welche sich ankündigt, wird also zur Tat werden, und unser Freund Kropotkin handelt in seinem Recht als Historiker, indem er sich für den Zweck, seine Ideen über die Wiedereroberung des Allen zukommenden Kollektiveigentums auseinanderzusetzen, auf den Tag der Revolution versetzt und an die Zaghaften appelliert, welche sich wohl Rechenschaft über die herrschenden Ungerechtigkeiten geben, aber nicht den Mut haben, sich in offene Revolte zu einer Gesellschaft zu setzen, von der sie mit tausend Banden des Interesses und der Tradition abhängen. Sie wissen, daß das Gesetz ungerecht und lügnerisch ist, daß die Beamten die Schleppenträger der Starken und die Unterdrücker der Schwachen sind, daß ein geordnetes Leben und die Ehrlichkeit, welche von ihrer Hände Arbeit leben will, keineswegs immer mit der Sicherheit des täglichen Brotes gelohnt wird, und daß die zynische Schamlosigkeit des Börsenmannes, die rücksichtslose Grausamkeit des Wucherers für die „Eroberung des Brotes“ und des Wohlstands bessere Waffen sind als alle Tugenden. Doch anstatt ihr Denken und Wünschen, ihre Vorsätze, ihr Handeln mit den klaren Weisungen der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, flüchtet sich die Mehrzahl in eine Seitengasse, um so den Gefahren einer offenen Haltung [XVI] zu entgehen. Zu jener Klasse gehören die Neu-Religiösen. Diese können sich wohl nicht mehr zu einem „absurden Glauben“ bekennen, aber sie geben sich dafür irgend einem Mysterienkultus hin, welcher vielleicht ein wenig origineller erscheint, keine präzisen Dogmen kennt und sich in einem Nebel konfuser Empfindungen verliert: sie nennen sich Spiritisten, Anbeter des „rose-croix“, Buddhisten oder Thaumaturgen. Angeblich Schüler von Cakyamouni, doch ohne sich die Mühe zu geben, die Doktrin ihres Meisters zu studieren, suchen jene melancholischen Herren und duftigen Damen ihren Seelenfrieden in dem Aufgehen im Nirwana.

Aber da sie unaufhörlich vom Ideal sprechen, so mögen diese „schönen Seelen“ darin ihre Stärkung finden. Materielle Wesen, wie wir es einmal sind, haben wir, wir müssen es zugestehen, die Schwäche an die Nahrung zu denken, denn sie hat uns oft gefehlt; doch jenseits des Brotes, jenseits des Wohlstandes und allen kollektiven Reichtums, welchen uns eine Bewirtschaftung unserer Felder beschaffen könnte, sehen wir in der Ferne eine neue Welt vor uns erstehen. In ihr werden wir uns aus vollem Herzen lieben und jener edlen Leidenschaft nach dem ideal genügen können, welche die Verächter des materiellen Lebens, jene ätherischen Anbeter des Schönen, des unlöschlichen Durst ihrer Seele nennen! Wenn es weder Reich noch Arm mehr gibt, wenn der Hungerleider nicht mehr neidischen Blickes den Gesättigten zu betrachten hat, wenn die natürliche Freundschaft unter den Menschen wiedererstanden ist, wenn die Religion der Solidarität, bis zum heutigen Tage unterdrückt, die Stelle jener vagen Religion eingenommen hat, welche flüchtige Bilder auf die eilenden Wolken des Himmels zeichnet, dann werden auch für uns die Zeiten ideeller Genüsse gekommen sein.

Die Revolution wird mehr als ihre Versprechungen halten. Sie wird die Quellen des Lebens erneuern, indem sie uns von dem ansteckenden Kontakt aller Polizei befreit und uns endlich jener niedrigen Beschäftigung mit dem Gelde, die unsere Lebensexistenz vergiftet, enthebt. Dann wird ein Jeder frei seinem Wege folgen können: der Arbeiter wird das ihm zusagende Werk vollbringen, der Forscher wird ohne Neben- und Hintergedanken studieren, der Künstler wird nicht mehr sein Schönheitsideal für seinen Broterwerb prostituieren, und als Freunde und in voller Harmonie werden wir alle das verwirklichen können, was der Seherblick des Poeten erschaut hat.

Dann ohne Zweifel wird man sich auch der Namen jener Männer und Frauen erinnern, welche durch ihre aufopfernde, mit Verbannung oder Gefängnis belohnte Propaganda die neue Gesellschaft vorbereitet haben. An sie denken wir, wenn wir „La Conquête du Pain“ herausgeben. Sie werden sich ein wenig gestärkt fühlen, indem sie dieses Zeugnis des Gemeingeistes durch das Gitter ihres Gefängnisses oder auf fremder Erde empfangen. Der Verfasser wird mir sicherlich zustimmen, wenn ich sein Buch allen jenen widme, welche für die Sache leiden, und besonders einem geliebten Freunde, dessen ganzes Leben ein Kampf für die Gerechtigkeit war. Ich mag hier nicht seinen Namen nennen, doch wenn er diese Worte eines Bruders liest, wird er am Schlagen seines Herzens wissen, daß er gemeint ist.

Elisée Reclus

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Deutscher Titel: „Worte eines Rebellen“