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Welt der Wirklichkeit Gestalt annehmen, – denn das erste aller historischen Gesetze ist, daß die Gesellschaft sich nach ihrem Ideal bildet. Ja, die Verteidiger der veralteten Weltordnung bemühen sich vergeblich, diese aufrecht zu erhalten! Sie haben den Glauben an ihre Sache verloren und, weder Führer noch Fahne habend, unternehmen sie einen Kampf ins Ungewisse. Gegen die Neuerer haben sie Gesetze, und Gewehre, knüppeltragende Polizisten und Artillerieparks, aber alles dies wiegt nicht einen Gedanken auf, und das ganze alte Regime der Willkür und des Zwanges wird man bald zu den prähistorischen Erscheinungen rechnen.

Sicherlich die bevorstehende Revolution, so wichtig sie auch in der Entwicklung der Menschheit sein möge, wird sich keineswegs von früheren Revolutionen darin unterscheiden, daß sie einen plötzlichen Sprung vollbringt – die Natur macht deren nicht. Aber es handelt sich auch um gar keinen Sprung, wir können heute schon Tausende Phänomene, Tausende einschneidende Veränderungen verzeichnen, welche das lang vorbereitete, ständige und starke Wachstum der anarchistischen Gesellschaft andeuten. Sie zeigt sich überall, wo der freie Gedanke sich vom Buchstaben des Dogmas frei macht, überall, wo das Genie des Forschers die alten Formeln ignoriert, wo der menschliche Wille sich in unabhängigen Handlungen dokumentiert, überall, wo aufrichtige Männer, Rebellen gegenüber jeder aufgezwungenen Disziplin, sich in freiem Entschlusse und nach ihrem Gefallen vereinigen, um sich gegenseitig zu unterrichten und um vereint und ohne Führer ihren Anteil am Leben und der vollständigen Befriedigung ihrer Bedürfnisse wiederzuerobern. Alles dies ist Anarchismus, selbst wenn er sich dessen nicht bewußt ist, und mehr und mehr gelangt er auch zum Bewußtsein. Und wie sollte er nicht triumphieren, da er sein Ideal und die Kühnheit des Wollens hat, während die Masse seiner Gegner – ohne Glauben – sich dem Geschicke überläßt mit dem Rufe „Fin de siècle!“

Die Revolution, welche sich ankündigt, wird also zur Tat werden, und unser Freund Kropotkin handelt in seinem Recht als Historiker, indem er sich für den Zweck, seine Ideen über die Wiedereroberung des Allen zukommenden Kollektiveigentums auseinanderzusetzen, auf den Tag der Revolution versetzt und an die Zaghaften appelliert, welche sich wohl Rechenschaft über die herrschenden Ungerechtigkeiten geben, aber nicht den Mut haben, sich in offene Revolte zu einer Gesellschaft zu setzen, von der sie mit tausend Banden des Interesses und der Tradition abhängen. Sie wissen, daß das Gesetz ungerecht und lügnerisch ist, daß die Beamten die Schleppenträger der Starken und die Unterdrücker der Schwachen sind, daß ein geordnetes Leben und die Ehrlichkeit, welche von ihrer Hände Arbeit leben will, keineswegs immer mit der Sicherheit des täglichen Brotes gelohnt wird, und daß die zynische Schamlosigkeit des Börsenmannes, die rücksichtslose Grausamkeit des Wucherers für die „Eroberung des Brotes“ und des Wohlstands bessere Waffen sind als alle Tugenden. Doch anstatt ihr Denken und Wünschen, ihre Vorsätze, ihr Handeln mit den klaren Weisungen der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, flüchtet sich die Mehrzahl in eine Seitengasse, um so den Gefahren einer offenen Haltung

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite XV. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/15&oldid=- (Version vom 21.5.2018)