Die Entwicklung des Elektronenbegriffs

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Autor: Walter Kaufmann
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Titel: Die Entwicklung des Elektronenbegriffs
Untertitel:
aus: Physikalische Zeitschrift 3. Jg. 1901–1902, Nr. 1, S. 9–15
Herausgeber: E. Riecke; H. Th. Simon
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1901
Verlag: S. Hirzel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Themenseite: Relativitätstheorie
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[9] W. Kaufmann (Göttingen), Die Entwicklung des Elektronenbegriffs.

Meine Herren! Es ist eine nicht ungewöhnliche Erscheinung in der Geschichte der Wissenschaft, dass Anschauungen, die längst für veraltet und überwunden galten, plötzlich, wenn auch in mehr oder weniger modifizierter Form, wieder zu Ansehen gelangen. Ein äusserst interessantes Beispiel für diese Erscheinung bietet die im Laufe des letzten Jahrzehnts eingetretene Umwälzung unserer Anschauungen über die elektrischen Vorgänge, über die zu berichten ich heute die Ehre habe.

Die moderne Theorie der elektrischen und der damit eng verknüpften optischen Erscheinungen, die man unter dem Namen der Elektronentheorie zusammenfassen kann, bedeutet gewissermassen eine Rückkehr zu Anschauungen, wie sie in den 60er und 70er Jahren des vergangenen 19. Jahrhunderts von Wilhelm Weber und von Zöllner ausgesprochen worden sind, – modifiziert durch die Ergebnisse der Maxwellschen und Hertzschen Forschungen. W. Weber fasste die elektrischen Erscheinungen auf als die Wirkung elementarer elektrischer Teilchen, sogen. elektrischer Atome[1], deren gegenseitige Einwirkung ausser von ihrer Lage auch von ihren relativen Geschwindigkeiten und Beschleunigungen abhinge. Wenn es nun auch Weber gelang, mittels seiner Annahme die damals bekannten elektro-dynamischen Vorgänge völlig zu beschreiben und sogar eine qualitativ ganz brauchbare Erklärung für die Proportionalität zwischen elektrischer und Wärmeleitung in Metallen, sowie für die Ampèreschen Molekularströme in Magneten zu geben, so war doch seine Theorie weit entfernt davon, Gemeingut der damaligen Physiker zu werden. Der Grund für diesen negativen Erfolg mag wohl in der Thatsache zu suchen sein, dass die meisten Gesetze der Elektrodynamik rein phänomenologisch, in Form von Differentialgleichungen ausgesprochen, sich als viel bequemer und einfacher erwiesen, als die Weberschen Formeln. Hierzu kommt noch, dass Weber gar keinen Versuch macht, die Grösse der von ihm supponierten elektrischen Atome irgendwie zu berechnen und das Rechnungsergebnis durch Anwendung auf andere molekulare Vorgänge zu prüfen. Endlich aber kam hinzu, dass man auf Grund der Arbeiten Faradays und Maxwells schliesslich allgemein zu der Überzeugung gelangte, dass bei den elektrischen und magnetischen Vorgängen an Stelle der unmittelbaren Fernwirkung eine zeitliche Fortpflanzung zu treten habe, eine Forderung, die übrigens Gauss schon 1845 in einem Briefe an Weber stellte, die aber durch das Webersche Gesetz nicht erfüllt wurde. Die bereits in den Jahren 1861–62 entstandenen Abhandlungen Maxwells, die er dann 1873 [10] in seinem berühmten „Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus“ zusammenfasste, sowie die glänzende experimentelle Bestätigung der Maxwellschen Resultate durch H. Hertz vom Jahre 1887 an, schienen geeignet, den Weberschen Anschauungen auch den letzten Rest von Daseinsberechtigung zu nehmen.

In der That stellten die Maxwellschen Formeln, denen ja atomistische Begriffe gänzlich fehlen, die elektrischen Fundamentalerscheinungen ebenso gut dar, wie die älteren, auf Fernwirkung aufgebauten, und die neuentdeckten Hertzschen elektrischen Wellen konnten überhaupt nur durch die Maxwellsche Theorie dargestellt werden.

Es scheint, als ob dieser glänzende Erfolg anfangs die Forscher blind gemacht habe gegen die Unzulänglichkeit der Maxwellschen Theorie den feineren optischen Erscheinungen gegenüber. Nach Maxwell sollten die Lichtschwingungen ja nicht mechanische Schwingungen des Äthers, sondern elektrische Schwingungen sein, und die beiden Konstanten, durch die Maxwell das elektrische und magnetische Verhalten jedes Körpers definierte (die Dielektrizitätskonstante und die Magnetisierungskonstante), mussten auch für sein Lichtbrechungsvermögen massgebend sein. Wenn nun auch die von Maxwell geforderte Beziehung – dass nämlich der optische Brechungsexponent gleich der Quadratwurzel der Dielektrizitätskonstante sein solle – bei manchen Körpern leidlich erfüllt war, so zeigten doch andererseits viele Körper, z. B. das Wasser, so ungeheure Abweichungen, dass sich schon daraus die Theorie in ihrer ursprünglichen Gestalt als ungenügend erweisen musste. Hierzu kam noch die Abhängigkeit des Brechungsexponenten von der Farbe, für welche die ursprüngliche Theorie gar keine Erklärung gab.

Nun hatte nach einem ersten noch ungenügenden Versuch Sellmeiers[2] im Jahre 1874 H. v. Helmholtz[3] eine mechanische Theorie der Farbenzerstreuung aufgestellt, deren Grundlage darin besteht, dass den körperlichen Molekülen gewisse Eigenschwingungen zukommen.

Bereits im Jahre 1880, also zu einer Zeit, wo man in Deutschland noch kaum an die Maxwellsche elektromagnetische Lichttheorie glaubte, zeigte H. A. Lorentz[4], dass man die Grundlagen zu einer elektromagnetischen Dispersionstheorie ganz analog der früheren mechanischen Theorie erhalten könne, wenn man jedes Molekül als Ausgangspunkt elektrischer Schwingungen bestimmter Periode ansehe. Es heisst dort: „Es mögen sich in einem jeden Körperteilchen mehrere mit Elektrizität geladene materielle Punkte befinden, von denen jedoch nur einer mit der Ladung und der Masse beweglich sei.“ Mit Hilfe dieser Grundannahme schwingungsfähiger geladener Teilchen leitet H. A. Lorentz dann die Dispersionsgleichungen ab.

Die nächste Frage ist nunmehr: Wie kommen wir dazu, in einem jeden durchsichtigen Körper das Vorhandensein elektrischer Teilchen anzunehmen? Die Antwort giebt uns ein Erscheinungsgebiet, das ebenfalls in die Maxwellsche Theorie nur schwer hineinpassen wollte und deshalb fast stets nach der alten Anschauungsweise behandelt wurde. Ich meine die Vorgänge bei der Elektrolyse. Wenn der elektrische Strom einen Elektrolyten durchfliesst, so werden nach dem Faradayschen Gesetz von jeder Stromeinheit chemisch äquivalente Mengen an den Elektroden ausgeschieden; man kann also den Vorgang so auffassen, als wenn jede chemische Valenz eines jeden im Elektrolyten wandernden Ions mit einer ganz bestimmten unveränderlichen positiven oder negativen Elektrizitätsmenge verbunden sei.

In einer zum Gedächtnis M. Faradays im Jahre 1881 gehaltenen Rede weist nun H. v. Helmholtz[5] darauf hin, dass wir aus dem Faradayschen Gesetz mit Notwendigkeit auf die Existenz elektrischer Atome schliessen müssen. Da nämlich die geladenen chemischen Atome, von Faraday als Ionen – d. h. die Wandernden – bezeichnet, an den Elektroden als neutrale Körper ausgeschieden werden, so muss dort eine Abgabe der Ladungen oder ein teilweiser Austausch gegen Ladungen entgegengesetzten Vorzeichens stattfinden. Während dieses Vorgangs, der ja nicht momentan stattfinden kann, müssen also die Ladungen, wenigstens für eine kurze Zeit, eine selbständige Existenz führen können; was liegt näher, als diese stets gleiche Ladungseinheit einer Valenz als ein Elementarquantum der Elektrizität, als ein elektrisches Atom zu betrachten. Und wenn ein neutrales Molekül, etwa NaCl (Chlornatrium) beim Auflösen in Wasser in + geladenes Na und − geladenes Cl zerfällt, so ist das Wahrscheinlichste, dass das Na- und das Cl-Atom jedes seine Ladung schon vorher hatte, und dass diese Ladungen nach aussen bloss deshalb unbemerkbar blieben, weil + und − Ladung gleich gross waren. Denkt man sich nun aber einen Lichtstrahl einen NaCl-Krystall durchsetzend, so müssen die Ladungen resp. die mit ihnen verbundenen Atome in Schwingungen geraten und die Lichtbewegung beeinflussen. Die elektrolytischen Valenzladungen sind es also, die wir als die in den [11] durchsichtigen Körpern mitschwingenden elektrischen Teilchen zu betrachten haben, und deren Anziehungskräfte, wie Helmholtz nachwies, jedenfalls auch den weitaus grössten Teil der chemischen Verwandtschaftskräfte ausmachen.

Wenn nun auch, wie vorhin erwähnt, der Grundriss zu dem Gebäude der elektromagnetischen Lichttheorie schon im Jahre 1880 von H. A. Lorentz, ja andeutungsweise noch viel früher von W. Weber gezeichnet worden war, so bedurfte es doch eines vollen Jahrzehnts, bis man, angeregt durch die inzwischen erfolgten Entdeckungen Heinrich Hertz’, begann, die Bausteine zusammenzutragen und zu bearbeiten. In den Jahren 1890–1893 erschienen eine Reihe von Arbeiten von F. Richarz[6], H. Ebert[7] und G. Johnston Stoney[8], welche sich grossenteils mit dem Mechanismus der Lichtemission leuchtender Dämpfe befassen, und in denen auf Grund der Ergebnisse der kinetischen Gastheorie versucht wird, die Grösse des von v. Helmholtz supponierten elektrischen Elementarquantums, für das Stoney den jetzt allgemein gebräuchlichen Namen Elektron vorschlug, zu bestimmen.

Das Resultat dieser Rechnungen ist insofern von Wichtigkeit, als es uns zeigt, dass die ermittelten Zahlen jedenfalls keine Widersprüche mit anderen Erfahrungen enthalten.

So zeigte z. B. H. Ebert[9], dass die Schwingungsamplitude eines Elektrons im leuchtenden Natriumdampf nur ein kleiner Bruchteil des Molekulardurchmessers zu sein braucht, um eine Strahlung von der durch E. Wiedemann[10] experimentell bestimmten absoluten Intensität zu erregen.

Der Weg zur Berechnung der im Elektron enthaltenen Elektrizitätsmenge ist ein sehr einfacher. Die zur elektrolytischen Ausscheidung von 1 ccm irgend eines einatomigen Gases nötige Elektrizitätsmenge wird dividiert durch die Loschmidtsche Zahl, d. h. die Zahl der in 1 ccm enthaltenen Gasmoleküle. Bei der Unsicherheit dieser letzteren Zahl kann man nur sagen, dass ein Elektron etwa (1 : 10 Milliarden) elektrostatische Einheiten enthält. Der Wert dieser Zahl wäre ein sehr problematischer, wenn nicht eine ganze Reihe anderer, von der skizzierten gänzlich verschiedener Methoden, auf die zum Teil noch später einzugehen sein wird, zu ganz ähnlichen Werten geführt hätte.

Während so dargethan wurde, dass die beobachteten Erscheinungen mit der Annahme schwingender Ionenladungen der Grössenordnung nach verträglich waren, erschienen unabhängig voneinander zwei Arbeiten, durch die die elektromagnetische Lichttheorie zum vollendeten Gebäude wurde. Von diesen Arbeiten beschäftigt sich die eine, von H. v. Helmholtz[11] herrührend, nur mit der speziellen Frage der Farbenzerstreuung in absorbierenden Medien; die andere, deren Verfasser H. A. Lorentz[12] ist, geht bedeutend weiter. Hier wird gezeigt, wie man durch die Annahme mitschwingender geladener Teilchen in den lichtdurchlässigen Körpern auch alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumt, die sich einer genügenden Erklärung der Lichtfortpflanzung in bewegten Körpern, z. B. der Aberration des Sternenlichts, entgegenstellten. Die Lorentzsche Theorie lässt die Maxwellschen Gleichungen für den freien Äther unverändert bestehen. Ein materieller Körper beeinflusst die optischen wie die elektrischen Vorgänge nur durch die in ihm vorhandenen beweglichen Ladungen, während in dem die Zwischenräume erfüllenden Äther alles unverändert bleibt. Eine „Dielektrizitätskonstante“, wie bei Maxwell, giebt es also als Grundbegriff bei Lorentz nicht mehr. Sie wird hier zu einem abgeleiteten Begriff; und man sieht auch unmittelbar, dass sie für schnelle Schwingungen, bei denen die Trägheit der schwingenden Ladungen in Betracht kommt, gar keine Bedeutung mehr hat. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für die Magnetisierungskonstante.

Es hätte bei der Leichtigkeit, mit der die Lorentzsche Theorie allein schon die Dispersions- und Aberrationserscheinungen erklärt, kaum noch eines direkten Beweises ihrer Richtigkeit bedurft. Gleichwohl sollte auch dieser nicht ausbleiben.

Im Jahre 1896 entdeckte ein Schüler Lorentz’, P. Zeeman[13], eine Erscheinung, deren Existenz schon Faraday (1862) vergeblich gesucht hatte:

Bringt man einen leuchtenden Dampf, etwa eine Na-Flamme, in ein starkes Magnetfeld, so zeigen die Spektrallinien des Dampfes eigentümliche Veränderungen, je nach der Sehrichtung im wesentlichen in einer Verdoppelung oder Verdreifachung bestehend; Änderungen, die sich auf Grund der Lorentzschen Theorie völlig voraussagen lassen.

Das Zeemansche Phänomen erlaubte es ferner, die mit den schwingenden Ladungen verbundene träge Masse zu bestimmen; und da ergab sich ein Resultat, das ein wenig frappant [12] ist: das schwingende Elektron ist stets negativ geladen, während das positive festliegt; das Verhältnis von Ladung zu Masse beträgt 17 Millionen E. M. E.[14] pro Gramm; da nun ein Gramm Wasserstoff, d. h. eine Grammvalenz nur 9650 E. M. E. enthält, so folgt daraus, dass die mit dem schwingenden Elektron verbundene Masse nur etwa den zweitausendsten Teil eines Wasserstoffatoms beträgt. Die anfänglich meist stillschweigend eingeführte Annahme, dass das ganze Ion, d. h. chemisches Atom plus Valenzladung, schwinge, muss also fallen gelassen werden; wir müssen vermuten, dass die Ladung, ebenso wie bei der elektrolytischen Ausscheidung an den Elektroden einer Zersetzungszelle, so auch im lichtemittierenden Molekül eine selbständige Beweglichkeit hat, und dass die beim Zeeman-Phänomen in Betracht kommende Masse eben die des Elektrons selbst ist.

Damit wären wir denn zu einer Anschauung gelangt, die sich nahezu mit der alten Weberschen Annahme deckt, mit dem wichtigen Unterschiede allerdings, dass an Stelle der unmittelbaren Fernwirkung die vermittelte, durch den Äther fortgepflanzte Wirkung getreten ist und dass wir jetzt eine ganz bestimmte zahlenmässige Vorstellung von der Grösse der elektrischen Atome besitzen. Und noch ein Unterschied gegen Weber muss hier hervorgehoben werden. Weber nahm auf gut Glück hin in seinen theoretischen Betrachtungen stets die positiven Teilchen als die frei beweglichen an. Wir haben jetzt auf Grund des Zeeman-Effektes stets den negativen diese Stellung einzuräumen. Es hat sich ergeben, dass auch bei allen sonstigen Phänomenen, bei denen die Elektronen in Betracht kommen und von denen wir noch einige nachher werden kennen lernen, stets das negative Elektron als frei beweglich auftritt. Woher diese merkwürdige Einseitigkeit stammt, ob es gelingen wird, einmal auch das freie positive Elektron nachzuweisen, oder ob wir vielleicht an Stelle der dualistischen eine unitarische Auffassung der Elektrizität treten lassen müssen? darüber müssen wir die Entscheidung der Zukunft überlassen.

Der eben skizzierten Entwicklung des Elektronenbegriffs auf dem Gebiete der Lichttheorie folgte sehr bald eine ganz entsprechende auf einem rein elektrischen Erscheinungsgebiete:

Die elektrischen Entladungen in Gasen hatte man schon lange versucht, als einen der Elektrolyse verwandten Prozess zu betrachten. W. Giese[15] ist es, der zuerst dieser Hypothese durch Untersuchung der Leitung in Flammengasen eine gewichtige Stütze verlieh und auch versuchte, die Leitung in Metallen durch Wanderung von Ionen zu erklären.

Vor allem waren es aber die sogen. Kathodenstrahlen, denen man, zum Teil infolge der zu Ende 1895 erfolgten Entdeckung der Röntgenstrahlen, jetzt wieder die grösste Aufmerksamkeit zuwandte. – Plücker[16] und Hittorf[17] haben zuerst die eigentümliche grüne Fluoreszenz der Glaswände in sehr stark evakuierten Entladungsröhren genauer studiert. Im Laufe weiterer Untersuchungen, bei denen sich namentlich E. Goldstein[18] sehr verdient gemacht hat, zeigte sich, dass es sich hierbei um eine eigentümliche Strahlenart handeln müsse, die von der negativen Elektrode, der Kathode der Röhre, ausgehe und für die Goldstein deshalb den Namen „Kathodenstrahlen“ vorschlug. Das Verhalten dieser Strahlen im Magnetfelde, ihre Wärmewirkungen, ihre vermeintlichen mechanischen Wirkungen versuchte Crookes[19] durch die Annahme zu erklären, diese Strahlen beständen aus Gasmolekülen, die an der Kathode negativ geladen, von dieser wie beim elektrischen Kugeltanz abgestossen und in den Röhrenraum hineingeschleudert würden. Es liessen sich auch thatsächlich die meisten beobachteten Erscheinungen durch diese Hypothese ganz leidlich deuten.

Genauere Untersuchungen, namentlich zahlenmässige Prüfungen erwiesen jedoch sehr bald die Unhaltbarkeit der Crookesschen Hypothese, wenigstens in ihrer ursprünglichen Form. Leider hat man dabei, namentlich in Deutschland, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet; man hat die ganze Hypothese verworfen, weil die ganz spezielle Vorstellung, dass es sich um durch Kontakt geladene Moleküle handele, sich als falsch erwies. Aber man war nicht im stande, etwas Besseres an die Stelle zu setzen; je mehr Thatsachenmaterial angehäuft wurde, desto rätselhafter wurden die Kathodenstrahlen, und schliesslich kam es so weit, dass es fast als eines anständigen Physikers unwürdig galt, sich mit diesen einer quantitativen und theoretischen Behandlung so unzugänglichen Erscheinungen zu beschäftigen. Da kam plötzlich, von allem Rätselhaften das Rätselhafteste: die Entdeckung der X-Strahlen durch Röntgen und damit ein neuer Sporn, die Lösung der vielen Fragen in Angriff zu nehmen. Die aufgewandte Mühe sollte bald von Erfolg gekrönt werden:

[13] Die Untersuchungen von E. Wiechert,[20] W. Kaufmann und E. Aschkinass,[21] W. Kaufmann,[22] J. J. Thomson,[23] W. Wien,[24] Ph. Lenard,[25] Th. Des Coudres[26] ergaben übereinstimmend, dass es nur einer Umänderung der Crookesschen Hypothese bedürfe, um zu einer widerspruchsfreien Erklärung fast aller Erscheinungen zu gelangen: Man braucht die Kathodenstrahlen bloss als geladene Massenteilchen zu betrachten, die viel kleiner sind, als die gewöhnlichen Atome. Eine ganze Reihe von messbaren Eigenschaften der Kathodenstrahlen ermöglicht es zu bestimmen, wie gross bei diesen Teilchen die Ladung pro Grammmasse ist. Das Resultat war zwar bei verschiedenen Beobachtern etwas verschieden, es schwankt zwischen 7 und 19 Millionen El. M. Einheiten pro Gramm; jedenfalls aber liegen diese Zahlen den beim Zeemaneffekt gefundenen so nahe, dass man unbedingt der zuerst wohl von E. Wiechert[27] ausgesprochenen Hypothese beistimmen kann, dass wir es in beiden Fällen mit denselben Teilchen, nämlich den Elektronen, zu thun haben: Wir haben also in den Kathodenstrahlen die Elektronen, die in den optischen Erscheinungen ein ziemlich verborgenes Dasein führen, sozusagen leibhaftig vor uns.

In einfacher Weise liessen sich jetzt eine Reihe von Folgeerscheinungen erklären. Ein solches mit ungeheurer Geschwindigkeit, nach direkten Messungen Wiecherts,[28] je nach der angewandten Kraft mit 1/5 bis 1/3 der Lichtgeschwindigkeit, fliegendes Elektron, muss, wenn es auf einen festen Körper aufprallt, notwendig eine explosionsartige elektrische Welle in den Raum hinaussenden, genau wie ein aufschlagendes Projektil eine Schallwelle; wir haben triftige Gründe zu der Annahme, dass die Röntgenstrahlen solche Wellen seien. Weiter: wenn die Elektronen aus der Oberfläche der Kathode herausfliegen, so müssen sie auch schon in ihrem Innern sich an die Oberfläche heranbewegt haben; d. h. die elektrische Leitung im Metalle besteht wohl auch in einer Wanderung von Elektronen. Während also im flüssigen Elektrolyten das Elektron stets an ein materielles Atom gebunden als „Ion“ erscheint, haben wir es im Metall mit frei wandernden Elektronen zu thun. Diese Elektronentheorie der Metalle, als deren ersten Urheber wir ja auch schon W. Weber zu betrachten haben, ist neuerdings durch E. Riecke[29] und P. Drude[30] mathematisch so weit durchgearbeitet worden, dass sie eine Prüfung an Hand der Erfahrung gestattet; es ergab sich namentlich für das Verhältnis zwischen elektrischer und Wärmeleitung der Metalle eine Zahl, die mit den Beobachtungen auf wenige Prozent genau übereinstimmt; auch das optische Verhalten der Metalle scheint, soweit die Beobachtungen reichen, mit dieser Theorie in guter Übereinstimmung zu stehen; und von Ph. Lenard[31] ist gezeigt worden, dass durch Bestrahlung einer Metallfläche mit ultraviolettem Lichte die Elektronen des Metalles in so starkes Mitschwingen versetzt werden können, dass sie mit grosser Geschwindigkeit von der Oberfläche fortfliegen und dann ein ganz ähnliches Verhalten zeigen, wie die gewöhnlichen, durch Entladungen erzeugten Kathodenstrahlen.[32]

Betrachten wir endlich die Leitung in einem beliebigen Gase, das wir durch Bestrahlung mit Röntgenstrahlen oder ultraviolettem Licht, oder auch durch starke Erhitzung leitend gemacht haben, so zeigt sich auch hier, dass eine einwandfreie Erklärung der zahlenmässigen Resultate, wie sie namentlich von J. J. Thomson und seinen Schülern erhalten worden sind, nur unter der Annahme wandernder Teilchen im Gase möglich ist; aus gewissen Unterschieden im Verhalten der positiven und negativen Teilchen bei diesen Vorgängen scheint hervorzugehen, dass die negativen Teilchen hauptsächlich freie Elektronen sind, von denen jedoch die meisten nach kurzer Wanderung von Gasmolekülen aufgefangen werden, und durch diese beschwert, einen grossen Teil ihrer ursprünglichen Beweglichkeit verlieren. Die positiven Teilchen bestehen dann aus dem nach Abspaltung eines negativen Elektrons vom Molekül noch übrig bleibenden Rest. Die soeben skizzierte Anschauungsweise beseitigt völlig einen Einwand, durch den man früher manchmal die Ionentheorie der leitenden Gase zu widerlegen glaubte. Wie kann, so sagte man, ein einatomiges Gas, wie z. B. Quecksilberdampf, sich in Ionen dissoziieren? In elektrolytische Ionen allerdings nicht, wohl aber in ein positiv geladenes Atom und ein negatives Elektron. Beide zusammen bilden erst das neutrale einatomige Molekül. Durch Beobachtung leitender Gase ist es sogar J. J. [14] Thomson[33] gelungen, die absolute Grösse der Ladung eines einzelnen Ions[WS 1] direkt zu messen, wobei sich eine ganz gute Übereinstimmung mit dem früher besprochenen Werte des Elementarquantums ergab. Fügen wir noch hinzu, dass neuerdings noch auf einem dritten, völlig unabhängigen Wege, aus den Strahlungsgesetzen des sogen. „schwarzen Körpers“ von M. Planck[34] ein nahezu gleichgrosser Wert des Elektrons gefunden worden ist.

Überall also, in sämtlichen Aggregatzuständen, spielen die Elektronen bei den elektrischen und optischen Vorgängen ihre wichtige Rolle; sie sind die kleinsten bisher bekannten Bestandteile unserer sichtbaren Welt; ihr Auftreten auch bei Abwesenheit äusserer elektrischer oder optischer Einwirkungen, d. h. der direkte Nachweis ihrer ständigen Existenz, würde gleichsam den Schlussstein in dem logischen Gebäude bilden, dessen Entstehung ich versucht habe, vor Ihnen aufzuführen; auch nach diesem Schlussstein brauchen wir nicht lange zu suchen:

Kurz nach der Entdeckung der Röntgenschen X-Strahlen fand Becquerel,[35] dass Uranverbindungen dauernd, ohne äussere Einwirkung, eine Strahlenart aussenden, die mit den Röntgenstrahlen grosse Ähnlichkeit hat, und G. C. Sсhmidt[36] zeigte später, dass auch Thoriumverbindungen ähnliche Strahlen aussenden. Weitere Untersuchungen, namentlich seitens des Physikerpaares Curie[37] ergaben, dass diese Strahlen nicht von dem Uran selbst ausgingen, sondern von gewissen Beimengungen, die durch ein äusserst mühseliges Fraktionierungsverfahren vom Uran getrennt und schliesslich so konzentriert werden können, dass sie etwa 50000 mal stärker strahlen als das Uran. Es scheint, dass in dem Endprodukt, das im wesentlichen aus einem Baryumsalze besteht, ein neues Element enthalten sei, dem man den Namen Radium – das Strahlende – gegeben hat, womit freilich noch keineswegs bewiesen ist, dass gerade dieses neue Element der Ausgangspunkt der Strahlung ist. Von diesen Becquerelstrahlen nun, die man anfangs für nahe verwandt mit den Röntgenstrahlen hielt, fand Giesel[38] und bald darauf Becquerel, dass sie magnetisch ablenkbar und somit viel eher mit den Kathodenstrahlen in Parallele zu stellen seien. Nachdem von Dorn[39] und Becquerel auch die elektrische Ablenkbarkeit festgestellt und, wenn auch nur roh, gemessen war, konnte man für diese Strahlen auch die Geschwindigkeit und die Ladung pro Masseneinheit berechnen, wobei sich der Grössenordnung nach Übereinstimmung mit den bei Kathodenstrahlen erhaltenen Zahlen ergab. Aus neuesten genaueren Versuchen des Referenten, scheint sogar eine völlige Übereinstimmung hervorzugehen.

Wir haben somit in den Radiumsalzen eine Körperklasse, die im stande ist, von selbst, ohne jede äussere Einwirkung, Elektronen auszuschleudern. Wir stehen bezüglich der Energiequelle sowie des ganzen Mechanismus dieser Erscheinung noch vor einem völligen Rätsel, zumal es sich hier um Geschwindigkeiten zu handeln scheint, die fast gleich der Lichtgeschwindigkeit sind, Geschwindigkeiten, die wir durch elektrische Kräfte, d. h. bei wirklichen Kathodenstrahlen sicher nur nach Überwindung der enormsten Schwierigkeiten erreichen können.[40] Gerade das Verhalten der Elektronen bei solch ungeheuren Geschwindigkeiten scheint aber geeignet, über die tiefgehendsten Fragen nach der Konstitution der Elektronen Aufschluss zu geben. Vor allen Dingen lässt sich durch direkte Messung entscheiden, ob die Masse der Elektronen vielleicht nur „scheinbare“, durch elektrodynamische Wirkungen vorgetäuscht ist.[41] Die bislang angestellten Versuche sprechen thatsächlich für die Annahme einer „scheinbaren“ Masse.

Und hiermit kommen wir zu einer Frage, die tief hineingreift in den Bau der Materie überhaupt:

Wenn ein elektrisches Atom bloss vermöge seiner elektrodynamischen Eigenschaften sich genau so verhält, wie ein träges Massenteilchen, ist es dann nicht möglich, überhaupt alle Massen als nur scheinbare zu betrachten? Können wir nicht statt all der unfruchtbar gebliebenen Versuche, die elektrischen Erscheinungen mechanisch zu erklären, nun umgekehrt versuchen, die Mechanik auf elektrische Vorgänge zurückzuführen? Wir kommen hier wieder auf Anschauungen zurück, die schon von Zöllner, vor 30 Jahren, kultiviert wurden und neuerdings von H. A. Lorentz, J. J. Thomson und W. Wien wieder aufgenommen und verbessert worden sind: Wenn alle materiellen Atome aus einem Konglomerat von Elektronen bestehen, dann ergiebt sich ihre Trägheit ganz von selbst.

Zur Erklärung der Gravitation muss noch angenommen werden, dass die Anziehung zwischen ungleichartigen Ladungen etwas grösser sei als die Abstossung zwischen gleichartigen. [15] Ein experimentum crucis für diese Anschauung wäre der Nachweis einer zeitlichen Fortpflanzung der Gravitation resp. ihrer Abhängigkeit nicht bloss von der Lage, sondern auch von der Geschwindigkeit der gravitierenden Körper.[42]

Die Elektronen wären dann also die von so manchem gesuchten „Uratome“, durch deren verschiedenartige Gruppierung die chemischen Elemente gebildet werden; der alte Alchimistentraum von der Umwandlung der Elemente wäre dann der Wirklichkeit bedeutend näher gerückt. Man könnte etwa annehmen, dass unter den unzähligen möglichen Gruppierungen der Elektronen nur eine relativ beschränkte Anzahl genügend stabil ist, um in grösseren Mengen vorzukommen; diese stabilen Gruppierungen wären dann die uns bekannten chemischen Elemente. Durch eine mathematische Behandlung dieser Fragen wird es vielleicht einmal gelingen, die relative Häufigkeit der Elemente als Funktion ihres Atomgewichts darzustellen und vielleicht auch noch manches andere Rätsel des periodischen Systems der Elemente zu lösen.

Werfen wir noch einen Blick von der Erde fort in den Weltraum hinaus, so sehen wir auch dort so manche Erscheinung, auf die man nicht ohne Aussicht auf Erfolg versucht hat, die Elektronentheorie anzuwenden; die Sonnenkorona, die Kometenschweife und die Nordlichter gehören hierher.

Mag auch noch manches hierbei etwas zu hypothetisch erscheinen, so viel dürfte wohl aus dem Gesagten klar hervorgehen, dass die Elektronen, diese winzigen Teilchen, deren Grösse sich zu der eines Bazillus etwa verhält, wie diejenige eines Bazillus zur gesamten Erdkugel, und deren Eigenschaften wir doch mit grösster Präzision zu messen vermögen, dass diese Elektronen eine der wichtigsten Grundlagen unseres gesamten Weltgebäudes bilden.

(Eingegangen 25. September 1901.)

  1. Gesammelte Werke 4, 279.
  2. Pogg. Ann. 145, 399 u. 520; 147, 386 u. 525, 1872.
  3. Berl. Ber. 1874. 667. Pogg. Ann. 154.
  4. Verhandl.-Akad. v. Wetensch., Amsterdam, 18. Wied. Ann. 9, 641, 1880.
  5. Journ. chem. Soc. Juni 1881. Vortr. u. Reden 2, 275.
  6. Sitz.-Ber. Niederrh. Ges. f. Naturk. 47, 113, 1890; 48, 18, 1891; Wied. Ann. 52, 385, 1894.
  7. Arch. de Genève (3) 25, 489. 1891; Wied. Ann. 49, 651, 1893.
  8. Trans. Roy. Dubl. Soc. (2) 4, 563, 1891.
  9. Arch. d. Gen. (3) 25, 489, 1891.
  10. Wied. Ann. 37, 177, 248, 1889.
  11. Wied. Ann. 48, 389, 1893.
  12. Arch. néerl. 25. In Buchform: Leiden, E. J. Brill. 1891.
  13. Verh. phys. Ges. Berlin 15, 128, 1896.
  14. Abkürzung für: Elektromagnetische Einheiten.
  15. Wied. Ann. 17, 1, 236, 519, 1882; 37, 576, 1889; 38, 403, 1889.
  16. Pogg. Ann. 105, 17, 1858.
  17. Pogg. Ann. 136, 1, 1869.
  18. Über eine neue Art elektr. Abstossung. Berlin 1880.
  19. Strahlende Materie oder der 4. Aggregatzustand. Leipzig 1882.
  20. Sitz.-Ber. phys. ökon. Gesellsch. Königsberg 1897. S. 1; Naturwiss. Rundsch. Mai 1897; Gött. gel. Nachr. 1898. S. 260.
  21. Wied. Ann. 62, 588, 1897.
  22. Wied. Ann. 61, 544, 1897; 62, 596, 1897; 65, 431, 1898; 66, 649, 1898.
  23. Phil. Mag. (5) 44, 293, 1897.
  24. Verhdl. physik. Ges. Berlin 16, 165, 1897.
  25. Wied. Ann. 64, 279, 1898; 65, 504, 1898.
  26. Verhdl. physik. Ges. Berl. 17, 17, 1898.
  27. Göttinger Nachrichten 1898. S. 1.
  28. Göttinger Nachrichten 1898. S. 260.
  29. Wied. Ann. 66, 353, 545, 1199, 1898.
  30. Ann. der Physik 1, 566, 1900; 3, 369, 1900.
  31. Wiener Ber. 108 (IIa), 1649, 1899.
  32. Über ein ganz analoges Phänomen bei Bestrahlung einer Metallfläche mit Röntgenstrahlen von E. Dorn, Arch. néerl. 1900, S. 595 (Lorentz, Jubelband).
  33. Phil. Mag. (5) 46, 528, 1898.
  34. Ann. der Physik 4, 564, 1901.
  35. Compt. rend. 122, 420, 1896.
  36. Wied. Ann. 65, 141, 1898.
  37. Compt. rend. 127, 175, 1898; 129, 714, 823, 1899.
  38. Wied. Ann. 69, 91, 834, 1899; Physik. Ztschr. 1, 16, 1899.
  39. Abh. naturf. Ges. Halle 22, 1900.
  40. Des Coudres, Arch. néerl. (Lorentz-Jubelband 1900, S. 653).
  41. Des Coudres, Verhdl. phys. Ges. Berlin 17, 17 u. 60, 1898.
  42. W. Wien, Arch. néerl. (Lorentz-Jubelband 1900, S. 101).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jons