Textdaten
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Autor: Amely Bölte
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Titel: Die Candidaten-Braut
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14–18, S. 155–158;167–170; 179–182;191–194;203–206
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[155]
Die Candidaten-Braut.
Von Amely Boelte.

An den Ufern der Ostsee liegt in einer Fläche das Städtchen R…a. – Sandfelder umgeben es ringsum, auf denen der Roggen spärlich gedeiht, ein Flüßchen schlängelt sich bescheiden durch dieselben, dessen seichte Ufer Binsen dicht beschatten, hinter denen verborgen ein rohes Steinbild des alten heidnischen Gottes Radegast zu schauen ist. – Kein Punkt bietet sich in der ganzen Umgebung, auf dem das Auge gefesselt weilte, kein Hügel und kein See bildet hier eine Gruppe, die man mit dem Worte „schön“ bezeichnen könnte. Das Städtchen selbst, mit seinen rothen Dächern, und dem geraden hohen Thurm, der sich oben wie plötzlich abdacht, und mit einer mit einem Kreuze versehenen goldenen Kugel verziert ist, steht da, als wäre er von Knabenhand, gleich einer Spielerei, dort aufgestellt. Die Straßen, deren es nur drei zählt, sind still und einsam. – Geht Jemand über dieselben, rollt ein Wagen, verläuft sich ein Kind, so blickt sogleich aus jedem Fenster ein Auge, um die ungewohnte Begebenheit nicht unbeachtet zu lassen. – Der Eingang eines jeden Hauses hat eine Glocke, die das Eintreten eines Fremden verkündet, der dann unaufgehalten an die Thüre des Wohnzimmers klopft und eines Hereins gewärtig ist.

Von Handel und Verkehr ist in einem solchen Orte keine Rede. – Was hätte man hier wohl auf den Markt zu bringen? – Jeder Handwerker arbeitet, was sein Genosse von ihm entlehnt und baut daneben ein Stückchen Ackerland an, das für seine Familie die hinreichenden Feldfrüchte liefert. Nach Außen hin gehen seine Produkte nicht, es sei denn in die umliegenden Dörfer, die allerdings, da sie kein Zunftrecht haben, auf den Städter angewiesen sind. Still und ruhig leben die Leute von Tag zu Tag hin, das Jahr vergeht wie die Stunde, das Treiben der Welt kümmert sie wenig, ihre Interessen reichen meistens nicht über die Feldmarken hinaus.

Aber wie abgeschieden auch eine solche kleine Stadt liegen mag, so bedarf sie doch immer der ganzen Regierungsform, deren ein größerer Ort theilhaftig wird, und auch hier konnte man sich in dieser Hinsicht über keinen Mangel beklagen. Der Ort hatte einen Bürgermeister nebst drei Senatoren, einen Stadtrichter, einen Amtmann, der die Bauern verurtheilte, und zwei Prediger. – Dies waren die sogenannten Honoratioren, die vornehme Welt, die mit einander umging und ihren Kindern erlaubte, sich zu kennen. Auch ein paar Aerzte wurden diesem Kreise zugerechnet; denn sie waren ja auch Studierte, und nur die Unstudierten konnten hier auf keinen Zutritt rechnen.

Ein so kleiner Cirkel von gebildeten Menschen, der so ganz auf einander angewiesen ist, muß nothwendig in sehr nahe Berührung gerathen, und diese bringt nicht immer Segen. Die Frauen besonders, die für den Rang ihrer Männer einzustehen haben, und außerdem noch Vergleiche über ihre gegenseitige Kleidung anstellen müssen, finden es oft sehr schwierig, hier die rechte Mitte zu halten. Die beiden Prediger des Ortes lebten fast unter einem Dache, so nahe grenzten ihre Wohnungen an einander, und ihre Gärten, die an dieselben stießen, waren nur durch eine niedrige Dornenhecke geschieden. Der erste Geistliche, der Herr Präpositus Liebig, war schon ein bejahrter Mann und hatte bereits seine vierte Gattin heimgeführt. Er wollte nicht aus der Gewohnheit kommen, sagte er, und entschloß sich darum nach dem Absterben einer jeden, rasch zu einer neuen Heirath, wobei von einer eigentlichen Wahl auch nicht viel die Rede war; denn sich lange umzusehen, das wäre unbequem gewesen. Irgend ein Mädchen seiner Bekanntschaft, das nicht zu anspruchsvoll war, und eine sogenannte Versorgung um jeden gebotenen Preis annahm, genügte, und die Sache wurde ohne Verzögerung abgeschlossen. – So hatten sich denn im Laufe der Zeit vier Familien unter seinem Dache gebildet, und der Herr Präpositus Liebig fand es mitunter schwierig, seinen Kindern die Mittel zu einer Erziehung zu gewähren, die dennoch das einzige Kapital war, welches sie aus dem älterlichen Hause hinwegführen konnten. Wurde für die Söhne nur noch einigermaßen gesorgt, erhielten sie wenigstens den nothwendigen Schulunterricht, um sie sowohl zum Studiren, als auch zu irgend einem sonst von ihnen zu wählenden Stande zu befähigen, so geschah dagegen für die Töchter um so weniger. Verheiratheten sie sich, so wußten sie ja lange genug; denn dort im Norden erwartet man von einer Frau eben nicht mehr, als daß sie Mutter werde, und ihre Kinder selbst nähre. Fand sich aber keine solche Versorgung für sie, so mußten sie auf dem Lande die Wirthschaft lernen und dadurch ihren Unterhalt gewinnen. Ob darin eine Aussicht für ihre spätern Lebensjahre begründet lag, das war eine Sache, die man im Schooße der Zeiten ruhen ließ.

Der zweite Prediger, Herr Sommer, war ein Mann in seinen besten Jahren und gehörte damit seiner ganzen Richtung nach schon einer andern Aera der Bildung an. Er war hager und schmächtig gebaut, und die hochrothen Flecken auf seinen spitz hervortretenden Backenknochen deuteten den prekären Zustand seiner Gesundheit an. Er hatte ein Auge für alles Schöne, er dichtete und malte und beschäftigte sich mit der Literatur, aber immer nur in Dilettantenweise, um müßige Stunden auszufüllen, und nicht, [156] um etwas zu leisten, woran auch Andere Freude hätten. Um das zu erreichen, fehlte ihm schon die Ausdauer, oder vielmehr jene Kraft des Willens, die kleine Hindernisse besiegt, um einem bestimmten Ziele zuzujagen. Bei ihm entschied stets die Neigung des Augenblickes und leicht ließ er sich hierhin und dorthin bewegen, wie gerade die Umstände es wollten, denen er zu allen Zeiten unterthan war. Er besaß dabei die glückliche Blindheit, diese Schwäche nie in sich zu gewahren. Seine Gattin, die, wie die meisten Frauen, gerne die Herrscherin spielte, erhielt ihn in dieser glücklichen Selbsttäuschung durch die übertriebendsten Schmeicheleien, mit denen sie seine Talente bis in den Himmel erhob, und dafür ganz, ganz stille das ganze Haus nach ihrem Kopfe gehen ließ. Sie war klug und listig, und verstand es, seine Schwächen zu benutzen; der Herr Pastor Sommer war daher auch noch nie im Stande gewesen, ihr gegenüber einen Wunsch durchzusetzen, den sie nicht billigte. Durch die Gewohnheit bereits vertraut mit dieser Eigenthümlichkeit seines Ehelebens, versuchte er es nun schon nicht mehr, selbständig aufzutreten, Wie groß ihre Gewalt über ihn war, hatte sie ja bewiesen, als sie ihn gegen seinen Willen und seine Absicht zu ihrem Gatten machte. Sie waren in derselben Stadt geboren und aufgewachsen und der Knabe hatte sich dem Kinde spielend verlobt und Ringe mit ihr gewechselt. – Seine Laufbahn rief ihn dann in eine ferne Gegend, und erst als ihm ein Amt geworden, sah er den Ort wieder, wo er seine Kindheit verbracht. – Leonie Starke war jetzt bereits der ersten Blüthe beraubt; während er eben erst zum Manne reifte, hatte sie schon das Alter überschritten, das man mit dem Worte „jugendlich“ bezeichnet. Er sah sie wieder, aber ohne sie zu mahnen an vergangene Tage, ohne scheinbare Erinnerung ihrer kindischen Beziehung. Das entsprach ihren Plänen nicht. – Eine Fluth von Thränen erwiederte seine kalte Begrüßung, Klagen und Vorwürfe folgten, die ihm ein Bild ihrer wahrhaft rührenden Treue entwarfen, einer Treue, die in den vielen Jahren, die er abwesend war, nimmer wankte und keiner der vielen Versuchungen wich, die ihr in den Weg getreten sein sollten, bis er endlich erweicht, den Ausdrücken ihrer Verzweiflung dadurch ein Ende machte, daß er ihr seine Hand zu erneuertem Bündnisse bot. Sie hatte nun erreicht, was sie wollte und war nicht Willens, das schwer errungene Gut wieder fahren zu lassen. Sie versicherte, keine Stunde mehr ohne ihn leben zu können, und beharrte darauf, ihn sogleich zu begleiten, obgleich an seinem neuen Bestimmungsorte noch keine Art von Vorrichtung getroffen war zu dem Empfange einer Frau.

Diese Ehe wurde mit einem einzigen Kinde gesegnet, einem Mädchen, das nach ihrer Mutter den Namen Leonie erhielt. So wie die Kleine geboren war, begab sich der Pastor in sein Studierzimmer, setzte sich in sehr erregter Stimmung an seinen Schreibtisch und machte ein Gedicht auf das Vatergefühl beim Anblick des erstgeborenen Kindes, dessen Dasein ihm ernste Verpflichtungen auferlegte, deren Bedeutsamkeit er mit großem Verständniß schilderte. Als er es vollendet, ging er damit zu seiner Gattin, und sobald dieselbe im Stande war, ihm zuzuhören, trug er ihr es mit vielem Ausdrucke vor. Sie war von dem Inhalte tief ergriffen, pries ihr Kind glücklich, daß es einen solchen Mann „Vater“ nenne, und gelobte schließlich auch, in ihren Mutterpflichten das Höchste zu leisten, und der Kleinen selbst die erste Nahrung zu reichen. Leonie war gesund und stark und gedieh zusehends. Eine gute Wärterin war für sie besorgt und diese ließ es dem Kinde in den schönen Sommertagen nicht an Luft und Bewegung fehlen. Kam die Zeit der Mahlzeiten heran, die die kleine hungrige Erdenbürgerin mit lauter Stimme sehr häufig begehrte, so kehrte sie mit ihr bei irgend einer gutmüthigen Bürgersfrau ein, die auch ein Kind hatte, und bat diese, der kleinen Leonie die Brust zu reichen. Die Frau Pastorin mochte ohnehin nicht so oft gestört sein, sie war auch mitunter gar nicht zu finden, hatte eine Freundin besucht, eine Einladung zum Kaffee angenommen, eine Promenade auf das Land gemacht, und war recht froh darüber, daß die Wärterin so gute Auskunftsmittel zur Beköstigung der Kleinen auffand. – Es blieb am Ende fast keine Mutter übrig in ganzen Orte, die das Kind nicht nähren geholfen. Dem Vater war dies unbekannt. Die Frau Pastorin kam häufig mit der Kleinen auf dem Arme in sein Studierzimmer, hieß ihn das wundervolle Kind herzen, und verfehlte nie, das Gedeihen desselben auf ihre Rechnung und die sorgsame Erfüllung ihrer Mutterpflicht zu setzen.

„Aber wie sollte ich auch nicht gerne jedes Opfer bringen für ein Wesen, das Dich Vater nennt!“ setzte sie dann noch hinzu, und kitzelte sein Ohr mit Liebesworten und Schmeicheleien, die er, wie oft auch gehört, doch mit stets erneuertem Wohlgefallen hinnahm.

„Sie liebt mich doch ungemein!“ sagte er sich dann im Stillen, und konnte es nicht über sich gewinnen, sie durch einen Tadel zu kränken, so nahe ein solcher auch häufig vorlag; denn trotz aller dieser vorgeblichen Liebe wurde für des Gatten Bequemlichkeit und Pflege auch nicht im Geringsten gesorgt. Die Frau Pastorin schlief bis zehn Uhr, um die unruhigen Nächte einzuholen, sagte sie. So war denn das Frühstück der Fürsorge einer dummen Magd übergeben und der Herr Pastor mochte selbst mit der Kaffeemaschine umherlaufen und versuchen, wie er den Mokkatrank bereite. Da im Haushalte überhaupt jede Vorsorge fehlte, so war auch der Mittagstisch oft schlecht, ja oft gar nicht bedacht, und der Hausherr auf die erste beste Speise angewiesen, die sich eilig bereiten ließ, und seiner schwachen Konstitution gar nicht zusagte. – Es fehlte seinem häuslichen Leben auf die Art alle Behaglichkeit, und sein sinniges Hinleben unter Versuchen auf dem Kunstgebiete, fand eine unangenehme Unterbrechung durch die mangelnde Ordnung und Pünktlichkeit im Uhrwerke des Haushaltes. – Hatte er mitunter eine Vorstellung gewagt, so war eine solche Fluth von Thränen und Liebesversicherungen erfolgt, daß er endlich jedem Kampfe gegen Waffen entsagte, denen kein Mann gewachsen ist.

Die kleine Leonie fing an zu lallen; bald stammelte sie den Vaternamen, der, zum ersten Male gehört, mit so süßem Klange berührt, und endlich trugen auch die kleinen Füße sie allein zu ihm hin. Das waren Freuden, die sein Herz rein hinnahm, und die eine Stimmung zurückließen, welche er gleich in ein Gedicht übertrug. – Das kleine Mädchen spielte nun schon allein vor dem Hause und im Garten, und bald gesellte sich hier ihr kleiner Nachbar, der jüngste Sohn des Herrn Präpositus, zu ihr, der, obwohl um ein Jahr älter, doch gerne mit ihr als Spielgefährtin verkehrte; denn auch er war das einzige Kind seiner Mutter und von seinen Stiefgeschwistern um viele Jahre geschieden.

Da die kleine Leonie nun nicht mehr getragen zu werden brauchte, so entließ die Frau Pastorin die Wärterin, die sie nun eine unnütze Ausgabe dünkte, und das Kind war von da an so ziemlich sich selbst überlassen. Ihre Mutter hatte die Gewohnheit des langen Schlafens beibehalten. Um sie nicht zu stören, kroch sie daher früh aus ihrem Bettchen, rief die Hausmagd, daß sie sie ankleide und eilte dann zu ihrem Nachbar. Bald lebte sie fast den ganzen Tag dort. – Die Frau Präpositus Liebig freuete sich, wenn das geliebte Söhnchen mit seiner kleinen Freundin spielte. Der Knabe war ja ihre ganze Freude.

Nicht mehr jung, alleinstehend in der Welt, für ihren Unterhalt auf eine Mädchenschule angewiesen, der sie seit zwanzig Jahren vorstand, war ihr die Wahl des Herrn Präpositus ein Glück, das sie dankbar hinnahm. – Sie hatte nun einen Beruf gefunden, der auch ihrem Herzen etwas bot; sie konnte durch ihre Pflege und Sorgfalt den Lebensabend eines Mannes verschönern, dem sie Dankbarkeit schuldete, sie konnte hoffen, sich dadurch seine Zuneigung zu gewinnen. Mehr begehrte sie nicht, als dies zu erreichen. –

Nach einem mühseligen Leben der Pflicht, die wenig Anerkennung und weniger Lohn gefunden, war es schon ein Glück, einem Andern etwas durch das Herz zu sein, und Auguste Liebig empfand es wohlthätig, nach so langem Entbehren die Sphäre gefunden zu haben, wo das Weib in ihr seine Rechte geltend machen durfte. Ein eigenes Kind an die Brust zu drücken, darauf rechnete sie nicht, und bei der Zahl ihrer Stiefkinder durfte sie auch kaum einen solchen Wunsch hegen. Als nun dennoch ein Knabe geboren ward, legte sie ihn scheu und zögernd dem Gatten in die Arme, mit der Bitte, dem Kleinen nicht entgelten zu lassen, daß er hier unwillkommen sei.

Der Präpositus nahm die Begebenheit auf, wie etwas, durch das man seinen Frieden nicht muß stören lassen, und bald erholte sich seine Gattin auch so weit wieder, um den Haushalt auf gewohntem Fuße fortzuführen. Mehr bedurfte er nicht zu dem Maße seines Glückes. – Er war in seinem Studierzimmer unter seinen Pfeifen, kam nur zu den Mahlzeiten in das Wohnzimmer, und fand seine Unterhaltung außer dem Hause, entweder an einem Vergnügungsorte oder in einem Club. Die Frau Präpositus saß [157] indessen still daheim, freuete sich an ihrem Kinde, und arbeitete unablässig für das Haus und die große Familie. Die im Orte üblichen Kaffee’s der Damen machte sie nie mit, so oft ihre Nachbarin sie auch dazu veranlassen wollte. Sie fand ganz einfach kein Vergnügen daran. Durch ihre Verhältnisse auf ein ernstes Leben hingewiesen, hatte sie nie das Bedürfniß gefühlt, die Zeit durch leeres Geplauder zu tödten; stand ihr eine Stunde zu Gebote, so benutzte sie sie gerne, um ein gutes Buch zu lesen, und dieses Geschmackes halber hatte man sie im Orte lange mit dem Beinamen der „Gelehrten“ bezeichnet. Als Frau, meinte man, würde sie davon zurückkommen; das alternde Mädchen hatte sich dadurch nur hervorthun wollen; aber man irrte. Auguste Liebig lebte jetzt im Gegentheile noch weit eingezogener, denn sie bedurfte der Menschen um so weniger, je mehr ihr Herz ausgefüllt war.

Ihr kleiner Sohn wuchs nun heran und sollte von ihr seinen ersten Unterricht erhalten. Sie trat eines Morgens bei ihrer Nachbarin ein und fragte diese, oh sie nichts dagegen habe, wenn Leonie die Stunden theile?

„Gewiß nicht!“ versetzte die Frau Pastorin erstaunt. „Ich begreife nur nicht, meine Liebe, woher Sie die Zeit nehmen wollen? – Sie haben einen so großen Haushalt zu besorgen, daß eine Frau, meiner Meinung nach hinreichende Beschäftigung darin finden müßte.“

„Freilich wohl!“ versetzte Auguste Liebig sanft; „wer nicht, wie ich, sein ganzes Leben hindurch genöthigt gewesen ist, gleichsam mit der Uhr in der Hand seinen Tag zu verleben, der würde die Zeit nicht ausreichend finden. Durch die Gewohnheit, keine Minute zu verlieren, mache ich es allein möglich, und mein Stundenplan ist schon entworfen.“

„Aber mein Gott, liebe Frau Präpositus, haben Sie denn geheirathet, um sich so fortzuplagen? Ich würde es mir, in Ihrer Stelle, jetzt etwas leichter machen. Das kann man als Frau wenigstens davon haben.“

„Ich halte es für meine Pflicht, so viel zu leisten, als in meinen Kräften steht. Ich war ein armen Mädchen und habe Liebig nichts mitgebracht, als meinen Kopf und meine Hände, die müssen nun auch als Kapital verwerthet werden. – Bei so vielen Kindern und einer kleinen Einnahme ist die sorgsamste Eintheilung nöthig.“

„Auf die Art haben Sie aber nichts von Ihrem Leben. – Ihre Schule machte Ihnen am Ende noch weniger Sorgen, dächte ich, und eine Frau allein hilft sich immer leichter durch.“

„Meine Sorgen werden reichlich aufgewogen durch mein Kind,“ sagte Auguste Liebig mit einer Thräne im Auge, die ihr die tiefe Empfindung des Glückes auspreßte; „und dann ist es mir eine solche Herzensfreude, dem Vater desselben sein Leben recht, recht behaglich zu machen, alle seine Wünsche zu errathen und zu fühlen, daß ich ihm vergelte, was er an mir gethan.“

„Sie sind wirklich seltsam, die Sache so hoch aufzunehmen! Ich habe auch kein Vermögen gehabt; darum fällt es mir aber nie ein, zu denken, daß ich meinem Gatten Dank schuldig bin.“

„Das ist mit Ihnen ein Anderes. Sie waren so viel jünger und konnten auf Neigung Anspruch machen. Die Liebe gleicht dann Alles aus, das begreife ich wohl.“

„Wie romantisch Sie sind, liebe Frau Präpositus! – Wenn man Sie sprechen hört, sollte man meinen, es rede ein Mädchen von achtzehn Jahren.“

Auguste lächelte. „Vielleicht, weil ich meinen Empfindungen Worte leihe, weil ich ausspreche, was mir das Herz bewegt, während Sie Alles in sich verschließen.“

„Behüte! Das sollte mir noch fehlen? Aber mich bewegt nichts. Woher sollte das auch kommen? Mein Mann ißt, trinkt, schläft, und ein Tag gleicht dem andern. Hätte man nicht mitunter eine Partie Whist, so wäre die Zeit ewig.“

„Und mir reicht sie nie aus. So verschieden geht es uns.“

„Ja, weil Sie immer arbeiten wollen, und dazu fühle ich mich nicht berufen. Ich möchte meiner Leonie nicht das Lesen lehren, Sie könnten mir bieten, was Sie wollen.“

„Und ich bin so glücklich, daß mein theures Kind nur Alles durch mich und von mir erhalten soll, daß ich jetzt schon bedaure, kein Latein zu verstehen, und ihn später doch den Händen, eines Lehrers übergeben zu müssen. Dafür aber soll er den Vortheil haben, Talente auszubilden, was andern Knaben so oft abgeht, weil es den Aeltern zu kostbar wird und auch, weil sie die Mühe scheuen, dem Kinde die Lust dazu einzuflößen, denn das erfordert sorgsame Pflege. In Bezug auf dies theure Kind kömmt mir nun die Vorschule meines Lehreramtes zu statten. Nur möchte ich jetzt Alles noch viel besser wissen und verstehen, um es ihm so recht gründlich lehren zu können.“

„Gütiger Himmel! Sie werden ja ein wahres Wunder aus ihm machen! – Und wenn meine Leonie das theilen soll, so können wir uns glücklich schätzen.“

Hier unterbrach sie der Eintritt des Herrn Pastor Sommer, der, nicht auf Besuch rechnend, noch im Schlafrock war.

„Sieh da, liebe Frau Nachbarin! Sieht man Sie auch einmal?“ begrüßte er diese. „Sie sind stets geschäftig, wie eine Biene, und nie sichtbar, so oft ich auch zu Ihrem Gatten komme.“ Er rückte dabei einen Stuhl an den Tisch und nahm neben ihr Platz. „Was macht denn Ihr liebes Söhnchen? Auch den habe ich ja lange nicht gesehen! – Aber wie kalt es hier ist. Leonie! Hat man denn nicht geheizt?“

„Gewiß, mein Herzensmännchen! – Aber Deine Dichternatur braucht mehr äußere Wärme, als wir andern Sterblichen, eben weil Du so viel ausgiebst. Du Guter, mußt Dich hier nicht lange aufhalten.“

Er rieb sich die krankhaft magern Hände und zog den Schlafrock enger um sich zusammen.

„Ist Ihnen warm hier?“ fragte er Auguste Liebig.

„Das kann ich nicht sagen, obwohl ich im Mantel sitze,“ versetzte diese, und richtete dabei ihren Blick auf ihn, mit jener forschenden Theilnahme, die aus dem Herzen kommt. „Sie sehen überhaupt nicht gut aus. Sind Sie denn auch recht vorsichtig in Ihrer Diät, und genießen nahrhafte Speisen?“

„Gott! Er lebt ja fast von der Luft, er ist ja ganz Geist, dieser einzige Mann!“ fiel die Pastorin ein.

„Um so mehr muß er es sich zur Pflicht machen, sich zu nähren,“ versetzte Auguste. „Liebig ist nicht krank, aber dafür in Jahren vorgerückt, wo die Pflege auch zu ergänzen hat. Ich bereite ihm daher jeden Morgen selbst irgend ein Frühstück, eine starke Bouillon, eine Chocoladen oder etwas der Art, das nahrhaft ist und ihm schmeckt, und ich bilde mir ein, er gedeiht dabei.“

„Sie verziehen ihn,“ sagte Sommer mit eigenthümlichem Lächeln.

„Mein Ludwig fühlt sich noch zu jung, um mir es zu gestatten, mit Nahrungsmitteln auf ihn einzustürmen,“ bemerkte die Pastorin mit gezierter Freundlichkeit.

„Ich glaube, Sie würden es nicht zu bereuen haben, wenn Sie Ihrer lieben Frau gestatteten, Sie auch zu verziehen,“ sagte Auguste. „Ich bin ein halber Arzt, erlauben Sie mir einmal Ihren Puls!“ – Sie zählt, aufmerksam. „Ich verpflege so gerne,“ sagte sie dann. „Darf ich Sie einmal in die Kur nehmen?“

„Gott! das könnte ich ja auch, wenn er nur nachgeben wollte.“

„Du bist ja aber den ganzen Morgen nicht sichtbar, und dann gerade entbehre ich einer Fürsorge am Meisten.“ sagte der Pastor…

„Aber die gute, vortreffliche Magd ist ja zu Deiner Bedienung ganz da,“ entgegnete die Frau.

„Wenn alles Uebrige besorgt ist. Mein Zimmer wird nicht geheizt, mein Kaffee ist nicht trinkbar, und ich wandere umher wie ein irrender Geist,“ sagte er mit ironischem Lächeln.

„So sind die Männer, gute Frau Nachbarin,“ fiel die Pastorin ein. „Das Mädchen ist da; aber nicht einmal fordern will er! Und weil ihm jetzt kalt ist, so friert er immer.“

Auguste stand auf. Sie mochte die Veranlassung nicht geben, eine so unerfreuliche Erörterung weiter fortgesponnen zu sehen.

„Man kann sich selten auf Dienstboten verlassen,“ sagte sie. „Wir Frauen haben den Vortheil davon, den Männern dadurch um so unentbehrlicher zu sein, und hierin liegt doch unser größter Stolz und unsere beste Befriedigung. – Ich hoffe, Sie erlauben es mir, Sie auch ein wenig verziehen zu dürfen, lieber Herr Pastor! Wir wohnen ja wie in einem Hause, und meine Mühe wird durch ein bischen mehr oder minder nicht vergrößert.“

Sie schied von beiden Gatten auf das Freundlichste entlassen.

„Welch eine musterhafte Frau,“ sagte der Pastor, als die Thüre sich hinter ihr geschlossen. „Ein wahrer Schatz für den Präpositus!“

„Ich kann sie nicht ausstehen!“ versetzte seine Gattin. „Diese Empfindsamkeit! Immer will sie etwas Anderes vorstellen, als [158] die übrigen Frauen! – Nun mischt sie sich an Ende noch gar in mein Hauswesen; aber das soll ihr schlecht bekommen!“

„Aber Leonie, sie ist ja die Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit selbst! – Sie sagt ja kein Wort gegen Dich!“

„Schöne Bescheidenheit das! Voller Eitelkeit ist sie. Siehst Du nicht, daß sie es auf Dich abgesehen hat? – Sie will Dir Suppen kochen und Dein Kind erziehen; und das soll ich zugeben?“

„So thue es doch selbst!“

„Da haben wir es schon!“ Sie brach in Thränen aus. „Ich arme, unglückliche Frau! Hin ist mein Glück! Ich besitze den begabtesten aller Sterblichen und vermag es nicht länger, ihn zu fesseln. Diese Falsche, diese Coquette, diese kleinliche Principienreiterin will mir das Herz meines angebeteten Ludwig abwendig machen! – Auf meinen Knieen flehe ich Dich an, geliebtester aller Ehemänner, laß mich diese Schmach nicht erleben! Tödte mich, wenn Du willst, aber erhalte mir Deine Liebe!“

„Ich bitte Dich, Leonie, steh’ auf! Es ist ja auch nicht die geringste Veranlassung zu einer solchen Scene. Wenn unser Kind nun käme und seine Mutter in dieser Stellung träfe!“

„Mag sie kommen, Ludwig! Mag sie doch Zeuge sein, was ein liebendes Weib empfindet, wenn die Funken der Eifersucht in ihrem Busen erglühen. – Mag sie kommen! Sie soll neben mich knien und die gefalteten Hände zu Dir erheben; ihren Bitten wirst Du nicht widerstehen.“

„Was soll ich denn aber thun, Leonie? Was willst Du denn eigentlich?“ fragte der Pastor mit der Miene eines Verzweifelnden, während die rothen Flecken auf seinen Wangen noch röther wurden und sein Auge einen fieberhaften Glanz bekam.

„Was ich will? Großer Gott! Das fragst Du noch? – Das Gelübde Deiner ewigen, unverbrüchlichen Liebe will ich; denn ohne diese bin ich nichts und das ganze Leben ist eine Wüste für mich. Sage, daß Du ganz mein bist; gelobe es mir und ich ziehe getrost von dannen.“

„Hier meine Hand darauf, Leonie, daß Du auch nicht die geringste Ursache hast, an einen Wankelmuth meines Herzens zu glauben. – Rege Dich doch aber nicht mit solchen nutzlosen Scenen auf, ich bitte Dich darum!“

Sie stand auf und bedeckte seine dünne weiße Hand mit Küssen. „Wer liebt, wie ich liebe, der kann nicht auf dem Pfade gemeiner Alltäglichkeit mit seinen Empfindungen wandeln!“ sagte sie. „Du hast mir Deine Hand darauf gegeben, so glaube ich Dir; denn Du bist ein Ehrenmann. Ich gehe jetzt, mich anzukleiden, für Dich! Denn wem möchte ich sonst gefallen, als ihm, welchem die ersten Gefühle meines Herzens gewidmet waren?“ – Sie stürmte hinaus, und der Pastor kehrte langsam in sein Zimmer zurück. Als das Mittagsessen aufgetragen war, begegneten sich beide Gatten auf’s Neue. Die Suppe war versalzen, das Fleisch ausgekocht und geschmacklos; aber der Pastor verlor keine Silbe darüber, ja er beherrschte sogar seine Miene, um nur die Veranlassung zu einer neuen Scene zu vermeiden.

[167] Leonie ging nach wie vor zu ihrem kleinen Freunde; denn die Bequemlichkeit ihrer Mutter siegte über jede Bedenklichkeit ihrer Eifersucht. Ebenso blieb es ungerügt, als am nächsten Morgen um die zehnte Stunde auf dem Schreibtisch des Herrn Pastors eine dampfende Tasse Chocolade gestellt ward, neben der die appetitlichsten kleinen Semmelschnitte lagen. – Etwas so Einladendes wurde ihm zu Hause nie vorgesetzt, und schon sein Auge genoß hier, bevor er noch die Lippe damit genetzt. Er konnte nicht umhin, bei seinem nächsten Gange zu seinem Herrn Collegen unten an die Thüre des Wohnzimmers zu klopfen, und auf ein „Herein!“ einzutreten, um Augusten ein Wort des Dankes zu sagen.

„Reden wir nicht davon!“ bat diese. „Je weniger Geräusch man von solchen kleinen Aufmerksamkeiten macht, je lieber werden sie angenommen. Und das letztere wünsche ich doch ganz allein!“

„Sie sind ein Engel!“ sagte er, überwallenden Herzens; denn seine leicht erregbare Natur trug ihn oft zu einem Höhepunkt der Empfindung, wo er weiter ging, als die Besonnenheit gut hieß.

„An gutem Willen!“ fügte Auguste mit weiblichen Tacte rasch hinzu. „Davon sehen Sie hier eine Probe.“ Sie winkte ihm in das angrenzende kleine Stübchen, das sie ihr eigenes nannte, und hier saßen die beiden Kinder, und bemüheten sich, auf einer Tafel Figuren zu zeichnen.

„Welche Poesie den Lebens!“ brach der Pastor unwillkürlich aus. „Eine sanfte, sinnige Mutter, die ihre Kinder die ersten Schritte führt auf des Geistes Pfaden! Glücklicher Lebensmorgen, der unter solchen Auspicien hereinbricht! – Ich beneide diese Kleinen!“

„Mein lieber Freund!“ fiel Auguste mit ernster Würde ein. „Sie dürfen vor diesen Kindern nicht den Dichter reden lassen; nur der Mensch, der besonnene, einsichtsvolle Vater darf hier lobend oder tadelnd ein Wort anbringen; denn wir sind hier sehr ernst. Haben wir es ja doch mit einer Aufgabe für das ganze Leben zu thun. – Was wir hier säen, das soll die Mitwelt einst ernten.“

„So darf ich an diesem Werke Theil nehmen? Sie gestatten es mir?“

„Wie dürfte ich den Vater hindern, sein Kind zu erziehen,“ sagte sie lächelnd. „Es ist ja nur eine Gunst, daß mir erlaubt ist, meinem August diese Gefährtin zu geben! – Denn ohne Gemeinsamkeit ist dem Kinde keine Freude an einer Sache abzugewinnen.“

„Ich wußte ja nicht einmal, was hier geschah! Meine Gattin sagte mir kein Wort davon.“

„So bitte ich Sie, auch ihr kein Wort davon zu sagen! Die Sache ist zu unbedeutend, um viel davon zu reden. Glauben Sie mir, man schadet damit.“

„Ich verstehe Sie!“ sagte der Pastor bedeutsam. „Ich werde schweigen und meinem Kinde sein Glück gönnen. – Wo sind denn Ihre übrigen Kinder? Die lernen nicht mit?“

„Ich überlasse es dem Vater, zu bestimmen, wie sie erzogen werden sollen. – Sie sind jetzt in der Schule. Elise wird Ostern confirmirt, dann hilft sie im Haushalte, bis wir sie irgendwo unterbringen können. So geht Eins nach dem Andern fort, bis auch meinen August die Reihe trifft. Wenn die Vögel flügge sind, verlassen sie das Nest.“

„Welch ein schönes Leben Sie führen, verehrte Freundin!“ sagte der Pastor, in ihr milde leuchtendes Antlitz blickend. „Hätte doch meine Leonie einen Gedanken von einem solchen Frauendasein!“

„Ich bitte sie um Gott, Herr Pastor, stellen Sie keine Vergleiche an, loben Sir mich überhaupt nie, weder hier noch vor Andern,“ bat Auguste mit wahrer Seelenangst. „Das erregt mir nur Mißwollen und kann mir mehr Schaden bringen, als sie ahnen. Um von meinen Mitschwestern die Erlaubniß zu erhalten, so still für mich hin auf meine eigene Weise leben zu können, muß ich von Ihnen beklagt werden; sonst treffen mich ihre Vorwürfe, und diese sind an einem so kleinen Orte, und in meiner Stellung als Stiefmutter nicht ohne bittern Schmerz hinzunehmen. – Das Mißwollen Anderer kränkt immer, selbst das unverdiente.“

Der Pastor schied und Auguste nahm sich vor, ein Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden. Wie konnte sie überdem der kleinen Leonie verbieten, ihrer Mutter nicht zu erzählen, daß der Vater dagewesen, und eine geheime Ahnung sagte ihr, daß ihre Nachbarin dies nicht gut aufnehmen würde. Sie hatte richtig vermuthet. Nach Kinderweise berichtete die Kleine Alles beim Mittagsmahle, und von der Mutter später allein vorgenommen, wußte sie auch manches Wort, das gesprochen worden, zu wiederholen, denn sie liebte Auguste mit der ganzen Zärtlichkeit ihres jungen Herzens, und jedes Wort des Lobes, das ihrem Vater entfallen, hatte bei ihr einen goldenen Boden gefunden. Sie begriff nicht, weshalb ihre Mutter sie unwillig von sich stieß, als sie ausgebeichtet, und eilte eingeschüchtert hinaus in die Küche zu der Magd, bei der sie, sobald sie zu Hause war, ihre Zeit verbrachte. Denn ihrem Vater war sie eine Störung, wenn sie zu ihm in das Zimmer kam; so oft er allein war, beschäftigte er sich mit Dichtungen, [168] und dabei war das Geplauder seines Kindes ihm hinderlich, denn er besang weit lieber sein Vaterglück, als daß er es einfach genoß. Und zu ihrer Mutter konnte Leonie gleichfalls nicht flüchten, denn diese las einen Roman, wenn ihre Freundinnen verfehlten, sich mit ihr um einen Kartentisch zu versammeln. – Indessen die Kleine neben der Dienerin auf einem Fußbänkchen hockte und ihr ein Gemüse auf den nächsten Tag vorrichten half, stürmte die Frau Pastorin zu ihrem Gatten in das Zimmer und ließ Magd und Kind zu denken übrig, was der Gegenstand ihres laut und heftig geführten Wortwechsels sein möchte. –

Als ein paar Tage darauf Auguste Liebig im Garten beschäftigt war um ein Wintergemüse schneiden zu lassen, trat der Herr Pastor an die Hecke, die ihr Gebiet von dem seinigen trennte, und ihr durch dieselbe die Hand bietend, sagte er mit seiner stets etwas belegten Stimme: „Nur so darf ich Sie jetzt noch begrüßen, theure Nachbarin; denn ich bin mit meiner Frau vor den Tisch des Herrn getreten und habe das heilige Abendmahl darauf genommen, daß ich nie wieder Ihr Zimmer betreten wollte, sobald Sie dort mit unsern Kindern allein wären.“

Auguste bedauerte, daß es zu neuen Erörterungen gekommen, deren unschuldige Veranlassung sie war. Daneben gewährte es ihr aber zugleich eine Beruhigung, daß ein heiliges Gelübde ihren Nachbar jetzt verpflichtete, sich aller unvorsichtigen Aeußerungen zu enthalten, und ihr durch sein Lob keine Dornen auf ihren Pfad zu säen, an denen ihr Fuß sich täglich erneuerte Wunden ritzen mußte. – Die Kinder blieben indessen ungestörte Gefährten und das äußere Vernehmen beider Familien litt gleichfalls auf keine Weise. So oft die Frauen zusammenkamen, und das geschah freilich nur höchst selten, überschüttete die Frau Pastorin ihre Kollegin mit den größten Lobeserhebungen und Schmeicheleien und konnte der Worte nicht genug finden, um ihr Dankgefühl auszudrücken. Unter den Männern war keine Rede von diesen Dingen. Der Herr Präpositus gab nicht Acht auf solche Kleinigkeiten und Auguste trug ihm nie vor, was er nicht besonders zu wissen begehrte. Er wurde überhaupt schon älter und abgestumpft gegen manche Dinge. Sein Amt und seine Sonntagspredigt waren Leistungen, die ihm schwer wurden, und die Rede ging von einem Adjunctus, eine Anordnung, gegen die er sich aber noch aus allen Kräften sträubte; denn er hoffte einen seiner Söhne, der Theologie studirte, einzuschieben und ihm auf die Art zu einem Amte zu verhelfen. –

Die Jahre schwanden dahin, ohne daß in beiden Familien irgend eine Veränderung vorgegangen wäre, außer daß die Kinder größer wurden. – August war nun nicht mehr der kleine August, er war ein stattlicher Knabe, der seine freien Stunden nicht allein einem Mädchen widmete, sondern mit Gefährten seines Alters Ballschlagen und Schlittschuhlaufen ging, und es an körperlichen Uebungen zur Entwicklung seiner Kräfte nicht fehlen ließ. Seine Mutter bestärkte ihn gerne darin. Der Körper sollte der Träger des Geistes sein, wie also konnte man diesen als eine Nebensache betrachten? – Sie hatte den Emil von Rousseau aufmerksam gelesen und sich danach einen Plan für seine Erziehung entworfen, in dessen Ausführung sie mit großer Konsequenz verfuhr. Der Knabe erwarb daher manche Kenntnisse der praktischen Dinge des Lebens, der Handwerke und mechanischen Beschäftigungen, die sonst den Kindern fremd bleiben, die dem Gelehrtenstande bestimmt sind. Leonie theilte jede Unterweisung der Art mit ihm. Was er lernte, das wünschte auch sie zu wissen, und wieder war es ihm die größte Befriedigung, sich ihr gegenüber geschickt und anstellig zu zeigen, damit sie durch sein Beispiel besser noch belehrt werde, als durch irgend eine Anleitung. Beide Kinder liebten sich zärtlich. Der stärkere ältere Knabe drückte seine Zuneigung dadurch aus, daß er sie beschützte; sie dagegen blickte zu ihm auf, wie zu einem höhern Wesen, dem sie Verehrung schuldig war, und was sie that und leistete, geschah meistens in dem Sinne, ihm zu gefallen.

Auguste Liebig hatte die Zeit herannahen sehen, wo sie ihrem Sohne nicht mehr alleinige Lehrerin sein durfte und sich darauf vorbereitet, dies Amt zu theilen. Sie suchte und fand einen tüchtigen Hauslehrer und es gelang ihr, einige andere Knaben im Orte dafür zu gewinnen, den Unterricht desselben zu theilen, so daß die Kosten nur in einem kleinen Maße auf sie fielen. Der Herr Präpositus ließ ihr hierin ganz freie Hand, denn sie hatte sich in dem Dutzend von Jahren ihrer Ehe so durchaus als brav und zuverlässig bewährt und ihm so Manches durch Ersparung eingebracht, daß er unmöglich ihren Wünschen in Bezug auf ihr einziges Kind eine Grenze ziehen konnte. – Der alleinige Punkt, der ihr bei dieser Veränderung in ihrem Erziehungsplane Schwierigkeiten machte, war Leonie. – Sie hatte das Mädchen lieb wie eine eigene Tochter und mochte nicht daran denken, sie zu entfernen; und andererseits sah sie ein, wie wenig dann für das Kind geschehen würde. Sollte sie nun vorschlagen, sie an einem Unterrichte Theil nehmen zu lassen, der ganz in das Gebiet streifte, welches einem männlichen Wissen als Vorbereitung dient? – Sie that es. Nach reiflicher Ueberlegung schien es ihr, als könne daraus kein bedeutender Nachtheil erwachsen, während er im andern Falle gewiß war. So wurde Leonie denn mit vier Knaben in die Schulstube des Lehrers hinaufgesandt und lernte mit ihnen, was sie lernten.

Bevor diese Einrichtung getroffen wurde, nahm Auguste natürlich Rücksprache mit der Frau Pastorin; diese erklärte sich jedoch völlig einverstanden mit jedem Plane, der ihre Tochter in so guten Händen ließ. Sie fand es zu bequem, die Sorge für deren Erziehung auf andere Schultern zu wälzen, um hier einschreiten zu wollen.

„Es ist doch wunderbar, Ludwig!“ sagte sie zu ihrem Gatten, „welcher Opfer eine Mutter fähig ist! – Dies einzige Kind, dieser theure Theil von meinem Selbst, dieser Trost meiner Augen, den entferne ich aus meiner Nähe, weil mir sein Wohl höher gilt, als mein eigenes Glück! – Meine Leonie erhält eine Bildung, wie sie nur selten einem Mädchen zu Theil wird; was ich dafür entbehre, darf ich nicht in Anrechnung bringen!“

Der Pastor Sommer freute sich so schöner Worte. Sie klangen seinem Ohre wohlthuend und ihr Sinn veranlaßte ihn zu einem neuen Sonett. – Seine Verse waren ja längst schon seine einzige Lebensfreude und je leidender seine Gesundheit wurde, je mehr bedurfte er des Trostes, sein innerstes Empfinden in stillen Stunden dem Papiere zu vertrauen. – Die Schätze, die sein Pult ihm verwahrte, die waren ja das einzige Leben, das er lebte, und die Dankbarkeit, die er auf dem Papiere aussprach für sie, die die eigentliche Mutter seines Kindes war, und die ihm durch so manche kleinen, still heimlichen Aufmerksamkeiten wohl that, ruhte dort, wie in einem verschwiegenen Grabe. – August hatte seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert und sollte zum nächsten Osterfeste confirmirt werden. Damit war zugleich die Zeit herangekommen, wo er eine öffentliche Schule besuchen mußte und mit stillem Schmerze sah seine Mutter den Augenblick herannahen, wo sie ihr theures Kind den Wellen des Lebens zu übergeben gezwungen war. – Der Präpositus blieb diesmal kein stummer Zuschauer; er legte seine Lebenserfahrung in die Waagschale und bestimmte, daß der Knabe das Gymnasium in Rostock besuche, wohin er auch seine älteren Söhne gesandt; denn zahlreiche Verbindungen aus seinem eigenen Jugendleben befähigten ihn, den Knaben dort mit Empfehlungen zu versehen, die ihn in Familien einführten und ihm zu so genannten „Freitischen“ verhalfen, wodurch seine Existenz pecuniär sehr erleichtert wurde. Auguste hätte gern Einwendungen gemacht. Erstlich war die Schule dort nur mittelmäßig, und ihr Sohn hatte von der Zukunft kein anderes Kapital zu erwarten, als sein Wissen; und dann kränkte es sie in ihrer Seele, daß er in manchem Sinne das Brot der Gnade essen sollte. Sie hatte dem Knaben den Stolz der Unabhängigkeit anerzogen, der Niemand etwas verdanken will, als sich selbst; sie hatte ihn stets darauf hingewiesen, daß er der Schöpfer seines eigenen Glückes sein müsse und daß Entbehren schöner sei, als auf eine unwürdige Weise genießen. Und nun sollte sie den lachenden Uebermuth des Knaben dadurch brechen, daß sie ihn anwies, an einem fremden Tische sein Mittagsmahl einzunehmen, wo man ihn nicht als Gast empfing, sondern mitleidig als den armen Sohn eines armen Vaters beköstigte? – Sie seufzte schwer, wenn sie an den Moment dachte, wo ihrem Kinde dies Brot der Gnade gereicht würde. Sie seufzte schwer, aber ändern konnte sie hier nichts. Sie durfte nicht einmal äußern, daß sie ändern möchte, daß diese Einrichtung nicht ihren Beifall habe. – Alle ältern Söhne hatten denselben Pfad betreten, wie durfte sie gestehen, daß ihrem Kinde diese Art und Weise demüthigend sei? – Sie fügte sich daher in das Unabänderliche und waffnete sich mit Resignation. –

[169] Indessen rückte der Tag immer näher, an welchem der Knabe von dem älterlichen Hause scheiden sollte. Seine kleine Ausstattung war besorgt. Wäsche und Bücher hatte sein eigener, neuer Koffer aufgenommen, auf dem eine Messingplatte mit den Buchstaben A. L. prangte, und der Knabe saß ernst daneben, und betrachtete mit dem Gefühle des Eigenthumsrechts, was er sein nannte, und jetzt als Besitzer gegen jeden Begehrenden vertheidigen sollte. – Leise öffnete sich die Thüre und Leonie trat ein. – Sie hatte geweint und die Spuren kaum verwischter Thränen waren noch sichtbar auf den rosigen Wangen.

„Da, August!“ sagte sie, und hielt ihm mit abgewandtem Gesichte ein Päckchen hin. Er nahm es, ohne sie dabei anzusehen.

„Was ist das?“ fragte er, nur um etwas zu sagen.

„So öffne es doch nur und sieh selbst!“ begehrte sie, und setzte sich auf den Stuhl am Fenster, scheinbar, um auf die Straße hinab zu sehen.

Langsam löste er das Papier ab. Da fielen ihm entgegen Bücher und daneben ein Schreibkasten, in welchem er ein Petschaft mit seinem Namen fand, und unter dem bunten Briefpapier entdeckte er endlich wieder ein kleines zusammengerolltes Päckchen. – Er entrollte auch das langsam, wie das Uebrige, und fragte dabei mit möglichst passivem Tone: „Von wem kommt denn dies Alles?“

„Von meinem Vater, meiner Mutter und – von mir!“ sagte Leonie mit immer leiser werdendem Tone.

„Von Dir?“ fragte der Knabe wie befremdet. „Was ist denn von Dir dabei?“

„Das!“ sagte sie nur und deutete auf das Päckchen in seiner Hand, das er eben enthüllte. Eine Geldbörse kam zum Vorscheine und in dieser waren mehrere Goldstücke, die August, als er sie öffnete, entgegenfielen.

„Was soll das!“ rief er aus. „Woher hast Du das?“

„Aus meiner Sparbüchse hab’ ich es genommen.“ sagte das Mädchen schüchtern. „Du wirst es in der großen, fremden Stadt brauchen.“ Sie schwieg und blickte wieder durch das Fenster.

Der Knabe hielt die Börse in seiner Hand und ließ die Stücke langsam durch seine Finger gleiten. Sein Mund verzog sich dabei seltsam; nach und nach perlten große Thränen über seine Wangen, bis er endlich Alles von sich warf und in ein lautes Schluchzen ausbrach. Leonie störte ihn darin durch kein Wort; sie weinte nur still mit.

So fand die Mutter Beide, als sie endlich dazu kam, um nachzusehen, ob Alles fertig sei, und den Koffer dann mit eigener Hand zu verschließen. Sie führte sie mit sich hinab in das Wohnzimmer und suchte sie sanft zu zerstreuen. Leonie blieb den Abend da, und wurde nach Kinder Art wieder heiter, und unter mancherlei Gesprächen verging die Zeit. Endlich schlug es zehn und sie mußte nach Hause. August begleitete sie bis an die Thüre. Er gab ihr die Hand und drückte die ihrige kräftig.

„Ich werde Dir das nicht vergessen, Leonie!“ flüsterte er, während seine Mutter sich umwandte. „Mein ganzes Leben lang nicht. Du sollst schon sehen.“ –

Das Mädchen wandte den Kopf ab, aber ihr Gesicht strahlte.

Sie wußte nun, daß es ihn gefreut hatte. Mehr wollte sie ja nicht, und sie dachte schnell an die nächste Weihnacht und an das, was sie ihr bringe auch ihrem Spielgefährten gewidmet sein sollte.

Früh bei Tagesanbruch rollte August im Postwagen seinem neuen Wohnorte zu. – Er mußte die Reise allein machen, denn die beschränkten Geldverhältnisse der Aeltern erlaubten es nicht, daß Jemand von ihnen mitging. Man scheuete ohnehin schon die Ausgabe, wie viel mehr also die doppelte. – Auguste begleitete ihn bis an den Wagen, und sah ihn mit Muttersorge ziehen.

Wie einsam war ihr nun ihr Haus, wie lang der Tag, wie leer jede Beschäftigung. Leonie kam um die gewohnte Stunde. Sie setzte sich still und stumm neben sie hin und lehnte, ohne ein Wort zu sagen, ihr Haupt an Augustens Brust.

„Sie werden mich nun nicht mehr haben wollen, seit August fort ist,“ sagte sie endlich wie resignirt.

„Doch, Kind! – Du wirst jetzt mein Trost und meine Stütze sein, denn Du allein vermißt ihn ja mit mir.“

„Und darf ich denn wirklich noch alle Tage kommen, wie sonst?“

„Ganz so. – Ich setze den Unterricht mit Dir fort. Das ist mir ja eine liebe Gewohnheit geworden. Im Wissenschaftlichen freilich kann ich den Lehrer nicht ersetzen, da müssen Deine Aeltern sorgen.“

„Wenn ich nur bei Ihnen sein kann, dann ist mir Alles recht,“ sagte Leonie, und schmiegte sich noch zärtlicher an sie. „Ich weiß nicht, wie ich jetzt noch ohne Sie leben könnte!“

„Sprich nicht so, Leonie! Du hast ja Deine guten Aeltern, und Dein Vater besonders hat Deiner Liebe so nöthig. Ich fürchte, Du wirst ihn nicht lange mehr haben.“

„Ich habe ihn sehr lieb, Tante Auguste; aber er vermißt mich nie.“

„Das scheint so, Kind! Glaube mir aber, Du dürftest seinem Leben nicht fehlen, ohne daß er sehr unglücklich wäre. Suche daher ihm noch recht viele Freude zu machen!“

„Gerne, Tante Auguste! Sagen Sie nur, was ich thun soll, und ich will es genau befolgen. Was Sie mir heißen, das ist immer gut.“

„In solchen Dingen muß Dein Herz die Lehrmeisterin sein, Kind! Und Dein Herz ist gut; darum höre nur recht genau zu, was es sagt.“

August Liebig war indessen in Rostock angelangt. Es war seine erste Fahrt über die Grenzen seiner kleinen Vaterstadt hinaus, und die Reise war für ihn daher voll neuer und überwältigender Eindrücke. In Wismar war man zu Mittag, und die Stunde Aufenthalt benutzte er schnell zu einem Spaziergang nach dem Hafen, um das Meer und ein Schiff zu sehen, ein Anblick, der ihn mit Staunen und Wunder erfüllte. Er vergaß Speise und Trank darüber, wanderte dann noch mit weit geöffneten Augen durch die Stadt, die ihm eine riesenhafte Ausdehnung zu haben schien, weilte staunend vor den spitzen Giebelhäusern der alten Hansestadt, und wurde schließlich auf dem Markte durch die Parade der Soldaten und die Militärmusik wie bezaubert festgehalten. Erst als er das Blasen des Postillons vernahm, riß er sich los und eilte dem Wagen zu, der ihn einem noch größern und weit belebteren Orte zuführen sollte. Der Präpositus hatte seinem Sohne durch einen Bekannten ein Zimmer besorgen lassen, welches von der Familie eines Gewürzkrämers um einen billigen Preis vermiethet wurde. Hier stieg August also bei seiner Ankunft ab. Butter und Brot sollte er selbst einkaufen zu Frühstück und Abend, und in einer kleinen Blechkanne auf Spiritus durfte er sich früh beim Aufstehen eine Tasse Kaffee machen. Dies war die ganze Einrichtung für seinen Haushalt. – Heute bei seiner Ankunft war er müde und suchte sein Lager, wo er nach den Strapazen dieser für ihn ungeheuren Reise den süßesten Schlummer fand. Am folgenden Morgen zog er seine Sonntagskleider an und ging zu dem Herrn Schuldirector, um sich als neuangekommener Schüler zur Prüfung zu melden. Von hier begab er sich nach einander zu den sieben Familien, die ihm Freitische zugesagt hatten, gab an jede einen Brief von seinem Vater ab, wurde im Wohnzimmer empfangen und nach ein paar artigen Worten entlassen. Damit waren seine gesellschaftlichen Pflichten abgethan und er kehrte in seine Wohnung zurück, um heute mit seinem Wirthe zu speisen, der ihn freundlich und wohlwollend gebeten hatte, am ersten Tage in seiner Familie vorlieb zu nehmen. Er fand hier auch die Ladenbursche, von denen der jüngste ihm an Alter gleich kam, und eine Tochter, ein Mädchen von achtzehn Jahren, die sich seiner sehr freundlich annahm. – Dennoch war er sehr befangen und wußte sich in dieser ihm fremden Umgebung nicht recht zu benehmen. Nach dem Essen ging er auf sein Zimmer und schrieb an seine Mutter. Dabei wurde ihm recht wehmüthig zu Sinn, und er wischte manche verstohlene Thräne aus dem Auge. – Er kam nicht recht weiter mit seinem Briefe; schon dämmerte es und immer noch saß er da mit der Feder in der Hand und dem Bewußtsein, daß er noch so vieles sagen möchte, und doch eigentlich nicht finden konnte, worin es bestehen sollte. Da klopfte es und Riekchen, die Tochter, trat ein.

„Ich komme Sie zu holen, lieber August!“ sagte sie freundlich. „Wir gehen gleich zu Tische und Sie können den ersten Abend nicht so einsam hier auf Ihrem Zimmer sitzen.“

„Ich bin noch nicht fertig mit meinem Briefe,“ sagte er kleinlaut.

„So beendigen Sie ihn nachher, dann können Sie gleich hinzusetzen, wie Ihnen unsere Biersuppe geschmeckt hat,“ sagte sie und nahm seine Hand, um ihn mit fortzuziehen. Er folgte gerne. Es war ihm gar einsam und unheimlich zu Muthe, und die Beschreibungen [170] vom Heimweh, die er gelesen, ließen ihm ahnen, daß auch in seinem Gemüthe diese böse Krankheit im Anzuge sei.

Am folgenden Mittage speiste er beim ersten Bürgermeister der Stadt. Als er um die bestimmte Stunde dort eintrat, traf er noch drei Genossen, die gleichfalls Freitisch hier hatten, aber schon längere Zeit auf der Schule waren und den angehenden Tertianer mit einer gewissen Herablassung betrachteten. Da der Schule halber im Allgemeinen die größte Pünktlichkeit erforderlich war, so stand auch heute der Tisch gedeckt, und mit dem Glockenschlage trat der Bürgermeister ein und die Familie setzte sich. – Die Knaben zeigten trefflichen Appetit, und man reichte ihnen so viel sie mochten, wobei man zugleich dann und wann ein Wort der Unterhaltung versuchte, das aber einen spärlichen Boden fand. – Nach beendigtem Mahle faltete jeder Schüler seine Serviette zusammen und steckte sie in einen Ring, der ihm eigen gehörte. Auch August Liebig erhielt einen solchen, und – wurde damit der kleinen Gesellschaft einverleibt. – Sie standen dann auf und so wie die Andern sich verbeugten, verbeugte auch er sich und schritt der Thüre zu; da wurde er aber gewahr, daß die Frau Bürgermeisterin vom Büffet verschiedene kleine Päckchen nahm und jedem Knaben ein solches in die Hand gab. Er zögerte nun, um auch an sich die Reihe kommen zu lassen, weil er glaubte, daß das so in der Ordnung sei. – Mit diesem Päckchen zog er nun von dannen und erst als er in seinem Zimmer angekommen war, öffnete er dasselbe und musterte neugierig den Inhalt. Zu seinem großen Erstaunen enthielt es nur geschnittene Butterbemmen. – Als ihm Riekchen später auf der Treppe begegnete, fragte er diese, wie die Frau Bürgermeisterin dazu komme, ihm dieselben mitzugeben. Das Mädchen lächelte.

„Das ist einmal so Sitte hier, und die Bemmen werden Ihnen ganz gut schmecken, lieber August.“

Am nächsten Tage widerfuhr ihm dasselbe, und so wieder am nächsten und er sah wohl, daß er sich an diese Einrichtung gewöhnen müsse, die überdem seiner Kasse zu gut kam; nur daß ein Etwas in seiner Natur sich dagegen sträubte, er wußte selbst nicht warum. – Jedesmal, wenn die Dame vom Hause ihm das Päckchen hinhielt, ergriff er es verlegen mit dem Gefühl einer Beschämung, zu der doch scheinbar kein Grund vorhanden war.

Der Sommer verging und auch der Winter, und erst nach Ablauf eines Jahres durfte August als Unter-Secundaner in das älterliche Haus zurückkehren. Viele Nächte zuvor kam kein Schlaf in seine Augen, und als er nun gar den rothen geraden Thurm erblickte, der so hoch und hehr über die kleine Stadt hervorragte, da jubelte sein Herz so laut vor Freude, daß es in seinem ungestümen Pochen zu zerspringen drohte. – Gepäck und Alles ließ er zurück und eilte mit Sturmesschritten dem älterlichen Hause zu. Bleich vor Freude und innerer Bewegung hieß ihn die Mutter mit zitternder Stimme willkommen, und als er sich aus ihren Armen loswand, gewährte er, daß noch Jemand wie ein Schatten hinter ihr stand und sich leise verbarg.

„Leonie!“ rief es in seinem Herzen, und er wollte die Gespielin seiner Jugend stürmisch an sich ziehen. Plötzlich aber hielt er inne, blieb scheu stehen und bot ihr die Hand. Sie war so groß geworden, sie war kein Kind mehr; er hätte sie kaum wiedererkannt. –

„August!“ sagte sie, und sah ihn mit freudestrahlenden Augen an. –

Auch der Präpositus kam jetzt hinzu und lobte den Sohn wegen seiner vortrefflichen Zeugnisse. „Mein Benjamin macht mir Ehre,“ sagte er freundlich und klopfte den hochgewachsenen Sohn auf die Schulter; dann aber stieg er langsam die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, denn er hielt es jetzt nicht lange mehr unten aus, wo ihm Alles zu geräuschvoll war.

[179] „Dein Vater ist recht schwach geworden,“ sagte Auguste, als der Präpositus das Zimmer verlassen hatte, und sah ihm mit einem sorgenden Blicke nach. – „Dein Bruder Wilhelm ist ihm nun als Gehülfe an die Seite gesetzt, und kann in den nächsten Tagen hier eintreffen. Du wirst ihn jedenfalls noch sehen.“

Am nächsten Morgen ging August zum Herrn Pastor Sommer, um diesem und seiner Gattin einen Besuch abzustatten. Er fand den Ersteren so hager und schwach, daß er ihm fast unkenntlich erschien; die Frau Pastorin dagegen hatte noch an Fülle zugenommen.

„Mein lieber junger Freund,“ sprach sie zärtlich und reichte dem Knaben beide Hände entgegen, „Sie sind mir wie ein Sohn willkommen und in gewissem Sinne betrachte ich Sie auch so!“

„Leonie!“ rief der Pastor vorwurfsvoll, „ich bitte Dich dringend, rede nicht so, es ist ganz unpassend!“

„Gott, warum denn aber? Denke doch an Dich und mich!“

„Eben weil ich daran denke,“ sagte er mit ungewöhnlich scharfer Betonung, „eben darum soll hier davon keine Rede sein. Sie haben Ihren Aeltern rechte Freude gemacht, lieber August;“ wandte er sich an diesen. „Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir von Ihrer Schule.“

Dies Thema war der Frau Pastorin zu trocken und sie verließ das Zimmer. Leonie wanderte indessen im Garten auf und ab. Sie war heute zu glücklich, den Freund ihrer Kindheit sich nahe zu wissen, um es im Hause aushalten zu können. Als August seinen Besuch beendet hatte, folgte er ihr hierher nach. Er war verlegen.

„Leonie,“ sagte er, „ich habe Deine Abschiedsgabe noch ganz bewahrt. Aber ich freue mich oft daran!“

„So?“ sagte sie, und sah ihn mit einem überglücklichen Gesichte an. – „Deine Mutter sagte vorhin, ich wäre ihr wie ein Sohn willkommen, Leonie! – Willst Du, daß ich ihr Sohn sein soll, so gieb mir die Hand. Aber treu und fest für das Leben.“

Sie reichte sie ihm. „Treu und fest für das Leben,“ flüsterte sie und sich plötzlich losmachend, eilte sie im Fluge dem Hause zu.

Es war nicht wieder die Rede hiervon. Beide vermieden es, allein zu sein und so schieden sie denn, ohne daß ein anderes Wort dies erste bekräftigt hätte. Es genügte ihnen, so wie es war, sie glaubten an einander und scheueten den Ausdruck dessen, was in ihnen vorging.

August strebte nun mit erneuertem Eifer seinen Studien nach. – Nach wie vor lebte er im Hause des Gewürzkrämers und besuchte seine Freitische; das letztere aber mit immer schwererem Herzen. Oft war es ihm beim Hinausgehen aus dem Hause, als möchte er den Staub von seinen Füßen schütteln, so innerlich gekränkt und geknickt fühlte er sich. – Der Sommer schwand indessen dahin, und als der Herbst die Blätter färbte, da schrieb ihm seine Mutter, der Pastor Sommer sei gestorben. – August war tief betrübt darüber. Leonie hatte nun keinen Vater mehr und mußte noch Jahre warten, bis sie auf seinen Schutz rechnen konnte. Das stimmte ihn lange sehr ernst.

Die Frau Pastorin sollte nun ein Wittwenhaus beziehen und sich mit einer kleinen Pension behelfen, und diese Lage theilte die Tochter. Das waren Veränderungen, mit denen der Mensch sich nur im Laufe der Zeit aussöhnen kann. – Dieser Winter brachte August aber noch Schlimmeres. Sein eigener Vater wurde täglich leidender; als der Frühling nahte, schloß sich sein müdes Auge und Auguste stand weinend an seinem Grabe. Sie betrauerte ihn wahrhaft, denn was sie an Glück kannte, das kannte sie ja einzig durch ihn. August wollte kommen und die Mutter aufrichten, aber sie verbat es sich. Sie wollte ihn in seinen Studien nicht unterbrochen wissen, sagte sie; eigentlich aber wünschte sie es zu vermeiden, ihn einen Blick werfen zu lassen in die pekuniär traurigen Verhältnisse, die seinen Aufenthalt in Rostock zu einer kaum bestreitbaren Ausgabe machten. Bevor sie nicht klar ihre Lage übersah und die Ueberzeugung hatte, daß ihr theurer Sohn seine Laufbahn fortsetzen könne, wollte sie ihn nicht wiedersehen, um ihm ja jede unnütze Sorge und Kränkung zu ersparen.

Leonie war ihre Vertraute in dieser Angelegenheit; mit dieser berieth sie Alles. Das Mädchen hatte den unverständigen Launen ihrer Mutter gegenüber einen tiefen Lebensernst gewonnen und war ihren Jahren an Reife weit voraus; sie konnte ihre Lage daher völlig übersehen. Sie wußte, daß in ihrer kleinen Wohnung kein Friede einkehren würde, sie sah voraus, daß ihre Mutter sich nirgends gefallen könne, wo sie auf Einschränkungen angewiesen sei und der langgewöhnten Geselligkeit entbehren müsse. Sie schlug Augusten vor, mit ihr gemeinsam eine Mädchenschule zu beginnen und den Ertrag August zuzuwenden, während der dadurch herbeigeführte Verkehr im Hause ihre Mutter zerstreue. – Dieser Plan war annehmbar und wurde vielfach besprochen. Für den Augenblick blieb derselbe aber noch unausführbar, indem jeder Wittwe noch ein Jahr gestattet blieb, in den alten Verhältnissen zu bleiben.

Die Folge dieses Aufschubs war, daß August nicht in seine Vaterstadt zurückkehrte, bis er sein achtzehntes Jahr zurückgelegt hatte und schon die Universität beziehen sollte. Da erst gelang [180] es ihm auf sein inständiges Bitten, die Einwilligung seiner Mutter zu einem Besuche in die Heimath zu erhalten. Wie sehr verändert fand er hier jetzt Alles. Sein Stiefbruder war in die Stelle des Pastor Sommer gerückt, ein neuer Präpositus war eingesetzt, und die beiden Wittwen lebten in einem Häuschen Thür an Thüre, ohne sich mehr zu sehen, als damals, wo Gatten und Kinder sie so eng zusammengeführt. August fand seine Mutter still und heiter wie sonst und glücklich im Anblick des zum Jüngling emporgeschossenen Sohnes. Leonie war nun siebzehn Jahre und prangte in Gesundheit und Jugendfülle; dazu hatte der Ernst ihres Wesens ihr eine gewisse Würde verliehen, die auf Achtung Anspruch machte. So trat sie August entgegen.

„Treu und fest für’s Leben!“ sagte sie bedeutungsvoll und bot ihm die Hand. – Sie verstanden sich, ohne daß es eines andern Wortes bedurfte. Auch der Mutter sagten sie nichts; doch mochte diese wohl errathen, was ihre Kinder sannen und träumten, denn manche ihrer Aeußerungen ließen schließen, daß auch sie sich im Stillen mit ähnlichen Gedanken beschäftigte.

Die Frau Pastorin Sommer traf er höchst grämlich an. Bei seinem Anblick brach sie sogleich in Thränen aus und beklagte ihr Schicksal, das sie so früh zur Wittwe gemacht. August versuchte, sie zu beruhigen.

„Schweigen Sie! Schweigen Sie, mein junger Freund!“ rief sie. „Für mich giebt es keinen Trost, als den, daß ich meinen unvergeßlichen Gatten im Himmel wieder finden werde, und auf diese Frage eine positive Antwort zu erhalten, ist mir bis heute nicht einmal gelungen. – Ich bitte Sie, recht eifrig Theologie zu studiren, damit Sie mich hierüber beruhigen können. Nicht zu wissen, ob ein armes gebeugtes Weib ihre verlorene Hälfte wiederfindet, nein, das ist zu arg! – Da benutzten unsere Großväter ihre Studien doch besser. Und in dieser schwankenden Ungewißheit, ob ich nicht jenseits wie ein einsamer verlassener Schatten wandele, soll ich nun der großen Ewigkeit entgegen gehen! – Das kann ich nicht! Das kann ich wahrhaftig nicht. – Ich sehe ja meinen Weg nicht.“

August wollte sie auf andere Gedanken lenken und fragte darum, ob sie sich häufig mit seinem Bruder darüber berathe?

„Ja, da hat man schön berathen!“ sagte sie heftig. „Er kommt oft genug; aber er hat keine Augen für mich, und rede ich mit ihm, so scheint er mich gar nicht zu verstehen. Er ist verliebt in das Kind, meine Leonie! Wie er nur daran denken kann! Ich begreife es nicht! Hätte er irgend Geschmack, so würde er nach einer Gattin aussehen, die seinem Hauswesen mit Würde vorstehen und in der Gesellschaft repräsentiren könnte; aber daran denkt er nicht. Seine Natur begehrt keinen Austausch der Seelen, wie ich ihn mit meinem verstorbenen Gatten gepflogen. Gott! Das war eine Ehe! Von der konnte man sagen, daß sie im Himmel geschlossen. Wie die Engel lebten wir beisammen. Der gute, talentvolle Gatte betete mich an!“ – Sie drückte ihr Tuch vor die Augen und schluchzte.

August stand auf und empfahl sich. „Sie wollen schon gehen, junger Freund? Das glaube ich gern, eine betrübte Wittwe ist keine Gesellschaft für die Jugend. – Mit Ihrer lieben Mutter ist es ein Anderes, sie betrauert nur einen väterlichen Freund, während mir das Selbst von meinem Selbst verloren ging!“ – Neue Thränen unterbrachen ihren Redestrom, und der junge Mann gewann unter wiederholten Verbeugungen die Thüre. Leonie harrte seiner im andern Hause.

„Du warst bei meiner Mutter?“ fragte sie ihn.

„Ich bitte Dich, sage mir nichts darüber. Es thut mir weh und ich leide ohnehin genug dabei.“

Sie blickte still vor sich hin auf ihre Arbeit, und August trat an das Fenster und sah auf die Straße.

„Mein Bruder Wilhelm bemüht sich um Dich?“ fragte er nach einer Pause.

„Sie hat es Dir gesagt? – Ja, August, dem ist so. Ich lasse ihm gewähren, weil ich es nicht ändern kann. Seine Besuche zerstreuen meine Mutter.“

„Und seine gute Stellung und Deine peinliche Lage verleiten Dich nicht, seiner Bewerbung Gehör zu geben?“

„Nein!“ sagte sie fest. „Die Art, wie er mich liebt, ist mir zuwider. So oft er mich ansieht, möchte ich meine Hand über seine Augen decken. Auch, abgesehen von allem Andern, hätte er keine Hoffnung.“

August verstand ihre Meinung und erwiederte nichts. Seine Mutter kam eben hinzu, man setzte sich um den Tisch und tausend Fragen nach seinem Leben und Treiben in Rostock wurden an ihn gerichtet, die er gerne beantwortete; denn er wußte, von welchem Interesse auch der kleinste Umstand seines Lebens für beide Frauen war, und das gab denselben auch in seinen Augen den Werth und die Bedeutung für eine Mittheilung. Es war beschlossen, daß er nach Ablauf der Ferien nach Rostock zurückkehren solle, um seine akademische Laufbahn zu beginnen. Seine Mutter wollte ihm senden, was in ihren Kräften stand; das Fehlende mußte er selbst gewinnen durch das Ertheilen von Privatstunden, denn mit den Freitischen hatte es jetzt sein Ende erreicht. Diese waren ihm zugesagt worden, so lange er das Gymnasium besuchte, und nachdem er vier Jahre dieser Wohlthat genossen, konnte er unmöglich eine Verlängerung des Termins begehren. Auch war er innerlich froh, dieser Gnade nicht mehr zu bedürfen. Es war ihm zu Muthe, als falle damit eine entsetzliche Bürde von seinen Schultern, als werde er nun erst ein freier Mensch und ein Mann. Mit vollem Vertrauen in seine Kräfte und seinen Willen sah er seiner Zukunft entgegen und zweifelte nicht, den Sieg über alle Hindernisse davonzutragen.

Am Vorabend seiner Abreise winkte er Leonie zu sich in eine Fensternische. „Leonie!“ sagte er mit weichem Ernst des Tones, „hier diesen kleinen goldenen Reif lass’ mich zur Erinnerung an diese glücklichen Tage an Deinen Finger stecken, – und Dir dabei das Versprechen abnehmen, daß Du ihn von Dir werfen willst in der Stunde, wo ich Deiner Achtung unwerth werde. Es wird mir ein Sporn sein auf der Bahn meines Lebens. mir zu sagen: sie trägt den Ring noch; oder: sie soll den Ring noch ferner tragen; darum gönne ihm diesen Platz.“

Sie hielt ihm stumm die Hand hin, während zwei große Thränen über ihr tief bewegtes Antlitz rollten. Er steckte den kleinen Reif daran, und hielt sie dann noch fest zwischen seinen beiden Händen; sie sah ihn an, sie sah die von Schmerz und Liebe bewegten Züge, sie schlang beide Arme um seinen Nacken, zog sein Haupt zu sich herab und ihre Lippen berührten leise seine Stirn, aber schnell hatte sein Mund den ihrigen gefunden, sein Arm umfing sie und ein langer Kuß besiegelte den Bund dieser Stunde.

Nach August’s Abreise erschien das Haus den beiden Frauen sehr öde; aber die Arbeit half die Lücke schnell ausfüllen. Ihre Schule trat nun in das Leben, und die gediegenen Kenntnisse, die Leonie besaß, thaten ihr hier vortreffliche Dienste. – Die Mädchen, welche ihrer Aufsicht anvertraut wurden, brachten nur vier Stunden täglich bei ihnen zu, denn eine langjährige Erfahrung hatte Augusten gelehrt, daß deren zarter Körperbau es nicht vertrage, so lange auf einem Flecke in einer Stellung zu verweilen. Dafür wurden sie in Feld und Wald und Garten hinausgeführt und erhielten hier die Belehrung, welche dem Menschen weit bildender ist, als bloßes Bücherwissen. – Bald strömten ihnen Schülerinnen von allen Seiten zu, der benachbarte Landadel wollte seine Töchter gern unter solcher Aufsicht wissen, und das kleine Haus faßte lange nicht mehr die Zahl von Personen, die es aufnehmen sollte. – Auguste war herzlich froh über diesen Erfolg, so beschwerlich er auch den Abend ihres Lebens machte. Sie konnte dem geliebten Sohne nun ohne Entbehrungen seinen Bedarf zufließen lassen und durfte nicht fürchten, ihn von eigenen Studien durch das Ertheilen zu vieler Privatstunden abgehalten zu sehen. Leonie dagegen sah diesen Erfolg ihres Bemühens mit weniger ungemischtem Vergnügen. Ihre Mutter hatte sich gleich Anfangs gegen diesen Plan erklärt. Ihre Tochter solle keine Schulmeisterin sein, erklärte sie, und wollte auf keine Weise begreifen lernen, daß ein geachteter Beruf weit ehrenwerther sei, als der Müßiggang anderer junger Mädchen.

„Niemand heirathet Dich nun!“ wiederholte sie ihr täglich. „Du wirst eine alte Jungfer werden, und Deine Mutter muß mit Schande in die Grube fahren. Hab’ ich Dich darum so sorgfältig erziehen lassen, damit Du keinen bessern Gebrauch davon machst, als in einer Schulstube damit zu glänzen? Wenn Dein herrlicher Vater das erlebt hätte!“

Bei dieser Erinnerung mußte sie einige Thränen vergießen, und Leonie benutzte die Minute, um ihren Geschäften nachzugehen. –

August hatte unterdessen bei sämmtlichen Professoren seine Aufwartung gemacht und seine Collegia gewählt. Ein so artiger [181] junger Mann, mit so hübschen geselligen Talenten, wurde in manchen Familienkreis gezogen und gerne gab er sich solchen Zerstreuungen hin, die ihn zu seiner angestrengten Geistesarbeit neu kräftigten. Durch Riekchen, des Gewürzkrämers Tochter, hatte er einige Musikstunden zu geben bekommen, die ihm sehr zusagten. Seine einfachen Bedürfnisse waren nun gedeckt und er konnte seinen Zweck in’s Auge fassen, und sich mit ganzem Eifer seinen Studien widmen. Ob ihm das Fach zusagte, auf das er sich vorbereitete, darüber hatte er nie nachgesonnen. Von frühester Kindheit hatte man ihm vorgesagt, daß er eines Tages die Kanzel besteigen würde, wie sein Vater sie bestieg, und die engzugeschnittene Sphäre eines Pfarrers in einem kleinen Orte kam ihm nie beschränkt vor, weil er über diesen Lebenskreis hinaus nichts kannte, und darum nichts suchte und begehrte. Jetzt erst, wo er als Student in die Gesellschaft trat, und hier mit Männern aller Wissenschaften verkehrte, wurde seinem Ideenkreis ein weiterer Horizont eröffnet, und es gab Momente, in welchen er sich sehnte, frei seinen Beruf wählen, frei hinaustreten zu können in die Welt der Gedanken und der Thaten, um sich sein Plätzchen darin zu erobern. Aber schon in der nächsten Minute sanken ihm seufzend die Flügel. Jedem Streben stellte sich ja die Sorge um die bloße Existenz entgegen, an allen Pforten sah er die Worte geschrieben: „Hier ist kein Einlaß für den, welcher den Zutritt nicht erkaufen kann.“ Ein bitterer Unmuth wollte sich dann seiner bemächtigen. Finsterer zog sich seine Stirn zusammen, unmuthig stampfte sein Fuß den Boden, und mit Verachtung blickte er auf Verhältnisse und Zustände, die ihm, wie er meinte, nie zu irgend einer Geltung kommen lassen würden. An eine christliche Demuth zu denken, lag ihm fern. Wie alle jungen Theologen der protestantischen Religion, wählte er seinen Beruf nicht aus Glaubenseifer, nicht weil es ihn drängte dem Herrn zu dienen und seine Heerde zu weiden, sondern einzig, einer weltlichen Versorgung halber. Der Predigerstand bietet die beste Aussicht zu schnellem Erwerb. Sind die drei Universitätsjahre vorbei, so bedarf der junge Candidat keiner weitern Unterstützung von seinen Aeltern, er tritt dann sogleich sein Lehreramt an, und verharrt in diesem, bis ihn eine Pfarre ruft. Der Jurist dagegen hat drei Examina zu bestehen und erst nach diesen darf er auf eine Anstellung rechnen, die auch dann noch problematisch ist und oft mit keiner, oder einer sehr geringen Besoldung anfängt. Der Arzt nun gar ist auf Glück und auf die Gunst des Publikums angewiesen, und die letztere ist oft eine launische und kärgliche Spenderin. Der Kaufmann, der Landmann, brauchen Capital, wollen sie es je zu einer Selbständigkeit bringen. Dem Sohne eines armen Vaters bleibt also nur die Theologie, will er sicher in einen Hafen einlaufen. August erkannte diese Wahrheit, so wie er begann selbständig zu prüfen: ob die Bahn, auf die ihn die Umstände unwillkürlich geleitet, auch die rechte für ihn sei, er erkannte, daß seine Mutter ihn nicht länger unterstützen könne, als höchstens während dieser drei Jahre, er erkannte, daß er es Leonien schuldig sei, auch für sie die Lebensstellung zu wählen, die ihn am Schnellsten zu Amt und Brot verhälfe. So resignirte er sich dann bei einem Berufe zu bleiben, der seinem Ehrgeiz keine Sphäre bot, und ihn vielleicht auf Lebenszeit zu dem kontemplativen Leben eines Landpfarrers hindrängte, eine Existenz, gegen die seine ganze Natur sich sträubte.

Die drei Universitätsjahre schwanden dahin. August kehrte während derselben nicht in seine Heimath zurück, denn seine Mutter konnte ihn der jungen Mädchen halber nicht bei sich aufnehmen, und nöthigte ihn das Geld, welches eine Reise zu ihr gekostet hätte, zu einer Fußwanderung zu verwenden. Sie hielt diese kleine Abwechselung in seinem Leben für unerläßlich; denn sie kannte ihn und seinen Jugendmuth, so wie den ungestümen Drang seiner Natur nach einem thätigen Leben und Wirken: sie kannte seine Abneigung gegen dies todte Wissen, das sich auf seiner Bahn nie verwerthen ließ; denn eine Predigt vor seinen Bauern erforderte solcher Vorbereitungen nicht. So nahm er denn seinen Wanderstab und besuchte in dem einen Jahre die Insel Rügen, in dem andern Berlin und das dritte sah ihn in den Schluchten des Harzgebirges umherstreifen. Frisch und freudig kehrte er von solchen Wanderungen heim und grübelte dann mit neuem Muthe über staubigen Büchern, deren Inhalt er sich eigen machen sollte, um der Stunde einer Prüfung willen, die sich selbst Zweck war. Das Nutzlose dieser Aufgabe widerte ihn an, aber mit dem eisernen Willen seiner Natur lieh er sich ihr mit Gründen, die seine Vernunft ihm als dringend vorstellte. So schwanden die Jahre dahin und endlich brach der Tag herein, an dem er Rechnung ablegen sollte von dem Gebrauche seiner Zeit während einer Periode seines Lebens, die für den Mann den Ausschlag giebt für sein ganzes künftiges Geschick. Er stand jetzt vor seinen Richtern, vor den Vätern der Kirche, den hohen Consistorialräthen und beantwortete die an ihn gerichteten Fragen; er stand da, in der Absicht und mit dem Bewußtsein, er habe hier auf sein Gewissen zu beantworten, ob er jene vom Staate vorgeschriebenen Glaubensartikel gläubig annehme und sie in demselben Sinne wieder zu lehren bereit sei. Die Herren sahen ihn verwundert an, als er vor sie trat. In seiner Erscheinung lag nichts von jener ängstlichen Befangenheit, die sie an den Kandidaten der Theologie gewohnt waren, selbst der Rang und die Würde dieser Männer schien ihm nicht zu imponiren. In stolzem Jugendmuth blickte sein leuchtendes großes Auge sie offen an, über seine hohe Stirn lockte sich sein reiches braunes Haar, und die schöne kräftige Gestalt des jungen Mannes erschien durch seinen aufrechten Gang noch höher, als sie war. Er hatte so eben erst sein einundzwanzigstes Jahr zurückgelegt; der Ernst seines Lebens, das Bewußtsein sich selbst vertreten zu müssen, hatte seinem Wesen eine gewisse Selbständigkeit verlieben, die ihn über sein Alter hinaus gereift erscheinen ließ. Die Prüfung nahm ihren Anfang und gewährte ein befriedigendes Resultat. So schien es wenigstens. Was während derselben in des Jünglings Seele vorging, das ahnten die gelehrten Herren wenig. Daß ihr Anblick, ihr Wesen, ihre eng zugeschnittene Auffassung der Dinge einen unverlöschlichen Eindruck auf ihn machten, konnten sie nicht vermuthen; daß es in seinem Innern dabei lauter und lauter rief: so willst du, so darfst du nicht werden! hätten sie nicht vermuthet.

Er reiste nun sogleich zu seiner Mutter ab und diese empfing ihn, wie sich erwarten läßt, mit dem ganzen Stolz und der ganzen Seligkeit, die das Wiedersehen eines solchen Sohnes in ihr erwecken mußte: sie sah der Zukunft nun mit heiterem Muthe entgegen, sie durfte hoffen ihn in den nächsten Jahren versorgt zu sehen, und noch Enkel auf ihren Knien zu wiegen. Sie war ganz Heiterkeit, ganz Glück! Auch Leonie begrüßte ihn tief bewegt; doch sprach sie ihre Freude nicht so unverholen aus, wie die Mutter, und nur der Strahl ihres Auges verrieth, was das Herz bewegte. Es war ein schönes Paar; wenn man sie so beisammen sah, mußte man sich sagen, diese scheinen für einander geschaffen. Auch in dem tiefen Ernst ihres Wesens glichen sich Beide. Man sah ihnen an, daß trotz ihrer Jugend das Leben ihnen schon seine Aufgaben gestellt, die sie zu einem beständigen Insichgehen zwangen.

Auguste hatte ihre Schülerinnen zu entfernen gewußt, während ihr Sohn bei ihr war, und stille Ruhe herrschte im Hause. Sie wollte das Glück dieses Wiedersehens ungetrübt genießen; denn wie lange schon hatte sie nicht von diesem ersehnten Augenblick geträumt, der für eine Mutter das Höchste ist, was die Erde zu bieten hat, – das einzige geliebte Kind an ihr Herz zu drücken! In der Mittagsstunde des nächsten Tages führte Leonie den jungen Mann zu ihrer Mutter. Sie geleitete ihn diesmal selbst: denn sie meinte ihr jetzt die Mittheilung machen zu können, daß ihr Schicksal unwiderruflich an das seinige gebunden sei. – Die Frau Pastorin Sommer saß in einem Armsessel am Fenster, durch das die Sonne freundlich schien; in der Vertiefung desselben hing ein Käfig, in dem ein Vogel schrillend pfiff, und zu ihren Füßen schlummerte auf einer warmen Decke eine alte und eine junge Katze. Sie selbst schien an Umfang noch bedeutend zugenommen zu haben, ihr Gesicht hatte den vorherrschenden Ausdruck der Neugierde, jenen Späherblick des monotonen Alterlebens angenommen, und ihre Hand hielt eine ungeheuere Decke, an der sie arbeiten mochte.

August begrüßte sie auf die verbindlichste und ehrfurchtvollste Art; denn sie war ja Leonie’s Mutter, und als solcher gebührte ihr dieser Respect. „Sie äußerten einmal gegen den Knaben,“ sagte er, „daß Sie ihn auch als Sohn betrachten möchten; so hoffe ich, daß Sie mich auch jetzt noch in dieser Eigenschaft annehmen!“

Sie sah ihn eine Minute fragend an. „Jetzt sehe ich wie die Sachen stehen!“ brach sie dann aus. „Das war es! Darum schlug sie Ihren Bruder aus, und darum auch wollte sie den reichen Pastor Röder durchaus nicht vor sich kommen lassen. Ich arme unglückliche Frau! Statt an meinem einzigen Kinde die Freude zu erleben, sie wohl versorgt zu sehen; statt daß ihr Herz [182] sie lehren sollte Blumen zu streuen auf den Pfad der einsamen, entbehrenden Wittwe; statt dessen wählt sie das Schicksal einer Candidaten-Braut. O, Schatten meines ewig unvergeßlichen Gatten, sei mir Zeuge, daß ich das nicht verdient habe um dies Wesen, welches ich Kind nenne.“ Sie brach in Thränen aus.

August zog sich tief beleidigt zurück und Leonie folgte ihm mit sorgend ängstlichem Blicke. Als sie zusammen in das Zimmer seiner Mutter traten, nahm sie seine Hand in ihre beiden und blickte bittend zu ihm auf: „Rechne ihr das nicht an, mein Guter!“ sprach sie innig. „Sie gehört zu denen, von welchen man sagen kann, sie wissen nicht was sie thun. Die Arme! Sie kann nur sich und Andere unglücklich machen, und ohne daß sie sich je gesteht, es sei dem so. Denke nicht weiter daran!“

„Es betrübt mich mehr um Dich, als um mich, Leonie! Diese Art, die Sache zu nehmen, stört unser Verhältniß, das jetzt der Billigung Deiner Mutter bedarf.“

„Warum jetzt, August? Es ist dazu noch Zeit genug, wenn wir derselben ernstlich bedürfen, und dann versagt sie sie nicht, dazu kennen wir sie ja genug.“

Er schwieg; doch verrieth sein träumerisch irrender Blick, daß er der Sache nachdachte. Jedoch wurde während seiner Anwesenheit keine Aeußerung laut, und beide Frauen hüteten sich sorgfältig, durch irgend ein Wort die Rede auf diesen Gegenstand zu lenken. – Sein nächster Schritt war nun, die Stelle eines Hauslehrers zu suchen, und diese hatte sich auch sogleich gefunden. Ein junger Mann, der Talente besitzt, ist stets eine werthvolle Acquisition für ein solches Amt und darf nicht fürchten, unbeschäftigt zu sein. Auguste sah ihn mit sorgendem Mutterblick dahin aufbrechen. Seine Füße unter einen fremden Tisch setzen, wie die gebräuchliche Phrase lautet, das mußte gerade ihm sehr schwer werden, fühlte sie; aber es ließ sich ja nicht ändern. War es doch das Schicksal aller jungen Theologen, wie konnte er, der unbemittelte junge Mann, der Sohn einer armen Predigerwittwe, für sich auf ein unabhängiges Loos Anspruch machen! – Ohne ein Wort zu sagen, nahm er die gebotene Stellung an und seine Mutter hütete sich wohl, ihm zu gestehen, daß sie voraussehe, er werde sich in dieser Lage sehr unglücklich fühlen. Im Gegentheile pries sie ihm sein Geschick, das ihn zu einer Familie führe, deren Protektion ihm bald zu einer Wahlpfarre verhelfen könne.

Beim Abschiede war August diesmal ungewöhnlich bewegt. Schon hatte er den Fuß auf den Tritt des Wagens gesetzt, der ihm von seinem künftigen Prinzipal, dem Kammerherrn von Rabenhorst, gesandt war, da kehrte er noch einmal unter die Thüre zurück und drückte Mutter und Braut abermals an sein Herz mit einem Ausdruck des Kummers, der Beiden tief in die Seele schnitt. Sie begriffen nicht, was ihn so sehr bewegte, und kamen in ihren Gesprächen häufig darauf zurück, bemüht, durch öfteres Wiederholen aller Umstände sich klar zu machen, was in seinem Gemüthe vorgegangen.

August erreichte indessen den Ort seiner Bestimmung und wurde von der Frau Kammerherrin von Rabenhorst, in Abwesenheit ihres Gatten, empfangen und in sein neues Amt eingesetzt. Sein Zimmer wurde ihm angewiesen, die beiden Söhne, Knaben von zehn und zwölf Jahren, präsentirten sich als seine Schüler, und da der Abend jetzt bereits hereinbrach, meldete man ihm, daß die gnädige Frau ihn zum Thee erwarte. Er stieg hinab; seine Lippe war eng zusammengepreßt, sein Fuß trat fest auf die Dielen, in seinem ganzen Wesen malte sich ein Etwas, das wie Kampf und Herausforderung aussah. Wurde es ihm etwa so schwer, das Brot der Abhängigkeit zu essen?

Die Frau Kammerherrin winkte ihm mit herablassender Freundlichkeit, ihr gegenüber am Theetische Platz zu nehmen, an welchem noch einige Damen saßen, die ihm nicht vorgestellt wurden. Mit dem Frageton eines Groß-Inquisitors richtete sie nun das Wort an ihn und glaubte sich berechtigt, jede Auskunft über sein Leben, sein Denken und Empfinden, seine Familienverhältnisse und seine Studien zu erhalten, während ihm nicht gestattet wurde, sich auf gleiche Art in einem Kreise zu orientiren, dessen Mitglied er auf längere Zeit zu sein berufen war. Seine Stirn zog sich düster zusammen, während er mit kalter Höflichkeit artige, aber kurze Antworten ertheilte. Er fühlte es, daß man ihm durch diesen Ton seine Stellung im Hause anzuweisen beginne, und sein Selbstgefühl empörte sich, auf solche Art Rede zu stehen.

Als die neunte Stunde schlug, bemerkte die Frau Kammerherrin, daß ihre Söhne um diese Zeit zu Bette gingen, und sie ihm sehr dankbar sein würde, wenn er genau darauf halte, daß sie sich pünktlich aus dem Salon entfernten und dann ohne Zögerung in ihr Schlafzimmer verfügten. Auch sei sie sehr ängstlich mit Licht, und wenn es ihn nicht zu sehr belästige, so würde sie es sehr erkennen, wenn er jedesmal selbst nachsähe, ob sie es ausgelöscht; denn einem Diener könne eine Mutter eine Sorge der Art nicht mit ganzer Beruhigung anvertrauen. August stand auf, stellte sich hinter seinen Stuhl und antwortete ihr mit einer stummen Verbeugung; dann entfernte er sich. „Er versteht noch nicht rückwärts aus der Thüre zu gehen;“ sagte Frau von Rabenhorst, als er fort war, „sonst ist er ein hübscher und für seinen Stand recht vornehm aussehender junger Mann.“

August Liebig wanderte indessen mit großen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, und so wandernd fand ihn noch die stille Mitternacht, als schon das ganze Haus in tiefes Schweigen begraben lag. Tiefe Seufzer entwanden sich seiner Brust. „Und das soll ich ertragen?“ murmelte er in sich hinein. „Der erste Knecht dieses Hauses soll ich sein! – O meine Mutter! Meine Mutter! Wärest Du nicht, wäre es nicht aus Schonung für Dich und Dein theures Leben, wie lange schon hätte ich den Wanderstab ergriffen und wäre hinausgezogen in die Welt, als ein freier Mensch! Aber so! So fordert die Sohnespflicht, daß ich leide und dulde und langsam untergehe. Tropfen nach Tropfen schlürfe ich das bittere Gift hinunter, und kann den Kelch nicht von der Lippe entfernen, die sich sträubt mir den Saft zuzuführen, der meinen Lebenskeim vernichtet. Leonie ahnt was in mir vorgeht, ihre starke Seele durchlebt mit mir die ganze Pein meiner Existenz, ohne daß wir diesem Verstehen Worte leihen. Mittheilungen der Art machen weich, sie entnerven, sie führen zur Selbstbespiegelung und weisen endlich auf das Mitleid an, das können wir nicht brauchen. Selbstachtung gehört bei uns zum Leben, und Selbstachtung muß uns auch im Tode nicht fehlen. Andere nennen das vielleicht Stolz. Gleichviel. – Jedenfalls findet dies Gefühl seinen Zielpunkt in uns selbst, wir leiten nichts von Außen her, wir suchen nicht Erhöhung desselben durch Beziehung zu der Welt. Es ist die sittliche Kraft in uns, welche jenes gesteigerte Selbstbewußtsein verleiht, das uns Jedem ebenbürtig gegenüber stellt, sei er wer er wolle; es ist diese sittliche Kraft, welche es unmöglich macht, Demjenigen gegenüber die Maske der Demuth zu tragen, der nicht das Ideal der Menschenwürde in unsern Augen repräsentirt. Darum auch taugen wir nicht in diese Welt des Scheins; darum auch werden wir nie einen Platz in derselben finden, der unserer würdig wäre, denn wir können Beide nicht heucheln. Und dabei habe ich mir selbst doch das Wort gegeben, Leonie’s schützender Genius zu sein, sie zu hegen, zu pflegen, zu lieben, wie diese Krone aller Frauen es verdient.“

[191] In diesen und ähnlichen Selbstgesprächen verging ihm die Nacht und als der Morgen purpurn am Himmel heraufzog, fand er ihn mit gestütztem Haupte am Fenster sitzen, den Blick sinnend auf die Nebel gerichtet, deren Spiel ihm dem Chaos blinder Naturkräfte vergleichbar dünkte. Er knöpfte seinen Ueberrock zu und wanderte hinaus in den Garten, und von da in den angrenzenden kleinen Wald, wo die Vögel eben ihr Morgenlied anstimmten und Alles so frisch und freudig in den Tag hineinschaute. „Wer doch auch froh sein könnte beim Anblick dieser lachenden Natur,“ sagte er schmerzlich. „Aber der Sclave, der die Kette trägt, der kann es nun und nimmermehr.“

Als es sieben schlug, stand er dem Hause gegenüber, dessen Fenster jetzt schon das inwohnende Leben verriethen. Die Knaben waren bereits aufgestanden und winkten ihm ihren Morgengruß zu. Er stieg hinauf in sein Zimmer, wo so eben sein Frühstück aufgetragen ward. Um acht sollte der Unterricht beginnen und Frau von Rabenhorst ließ hinaufsagen, daß sie gegenwärtig sein würde, um nach einer kurzen Prüfung der Kenntnisse ihrer Söhne, mit dem Lehrer zu berathen, wie das Tagewerk derselben eingetheilt werden sollte. August konnte gegen diese Anforderung nichts einwenden. Es war billig, daß man der Mutter eine Stimme im Punkte der Erziehung ihrer Söhne ließ. Er erwartete also deren Erscheinen und ließ sich einstweilen die Schulbücher der Knaben vorlegen und den alten Stundenplan hervorsuchen. Indem trat auch die Frau Mama schon ein und das kleine Examen nahm seinen Anfang. Das Resultat desselben war die Ueberzeugung, daß hier noch wenig geschehen sei und viel einzuholen wäre; August theilte seine Ansicht darüber mit und fand in diesem Punkte volle Billigung. Ueber die Gegenstände des Lernens vereinigte man sich schnell, ein anderer Punkt war aber die Aufsicht der Knaben nach den Stunden. Die Mutter begehrte, daß er dieselben keinen Augenblick aus den Augen lasse, mit ihnen spazieren gehe, bei ihren Spielen gegenwärtig sei, kurz, daß er den Kindern jede Möglichkeit abschneide, die geringste Unart zu begehen. August meinte, das heiße die Kinder unglücklich machen. Er dachte an seine eigene glückliche Jugend, an die goldne Freiheit nach gethaner Arbeit, an die Knabenstreiche, die er ausgeübt, und den Uebermuth des Lebens, der damals in ihm gesprudelt, als ihm noch die ganze Welt ein offenes weites Feld war, auf dem sein Fuß ungehindert wandern mochte. Er schilderte mit glühenden Farben das Glück jener Tage, und bat die Frau Kammerherrin auch ihren Söhnen diese freie Entwickelung ihrer Kräfte zu gönnen. Sie hörte ihm mit halbem Lächeln zu.

„Sie sprechen warm,“ sagte sie. „Es scheint, daß Sie meine Knaben lieber zu wilden Buben, als zu wohlgesitteten Söhnen eines vornehmen Hauses erziehen möchten. Vielleicht ist Ihnen auch die Mühe zu viel. die ich Ihnen damit zumuthe. Sie brauchen das aber nur einfach zu sagen, es giebt der jungen Leute genug, die gerne eine solche Stellung in unserm Hause annehmen.“

August fühlte, wie ihm alles Blut in die Wangen stieg. Er stand auf, vielleicht um seine innere Erregung dadurch zu bemeistern. „Sie mißverstehen den Sinn meiner Worte, gnädige Frau,“ sagte er dann höflich kalt. „Doch ganz wie Sie befehlen. Auch ich werde einen anderen Aufenthalt zu finden wissen.“

Frau von Rabenhorst verließ das Zimmer und als man am Mittag zu Tische kam, war keine Rede von dem was vorgegangen. Gegen Abend traf der Herr Kammerherr ein und am Theetische wurde August diesem vorgestellt. Außer einer höflichen Begrüßung, wie sie ein feiner Weltmann für Jeden hat, der ihm untergeordnet ist, widmete er den neuen Hausgenossen keiner Aufmerksamkeit, und dieser blieb ein stummer Gast am Theetische, wo von Familien und nachbarlichen Verhältnissen die Rede war, bis die neunte Stunde schlug, wo er sich mit einer stummen Verbeugung zurückzog. Am folgenden Morgen fand er auf seinem Kaffeebrete ein versiegeltes Billet, von Damenhand geschrieben; er öffnete es mit gesteigerter Erwartung des Inhaltes und las:

P. P.

„Ich habe mit meinem Gatten Rücksprache genommen wegen der unter uns stattgehabten Unterhaltung von diesem Morgen, und er ist meiner Ansicht, daß diese Art von Erziehung, wie Sie sie unsern Knaben zu Theil werden lassen möchten, nicht für eine Familie von unserem Stande paßt; in seinem Auftrage bitte ich Sie daher sich zu nächstem Michaelis nach einer andern Stelle umzusehen, und versichert zu sein, daß unsere Empfehlung Ihnen dabei in geeigneter Weise zu Theil werden soll.

Ihnen Alles Wohlergehen wünschend unterzeichnet sich gewogentlichst

Amalasunda von Rabenborst  
geb. Gräfin Treutheim von Eberswalda.“

August legte das duftende Papier wieder zusammen und schenkte ruhig eine Tasse Kaffe ein. „Damit wäre man also schon wieder fertig!“ murmelte er. „Was nun zunächst? Ob ich meiner Mutter die Sache melde, oder lieber schweige. Er beschloß endlich das Erstere zu thun und ihr mit einfacher Wahrheit den ganzen

[192] Vorgang zu melden. Schon die nächste Post brachte ihm ihre Antwort. Sie lautete:
„Mein geliebter Sohn!

„Ich danke Dir für den Beweis Deines Vertrauens, den das Herz Deiner Mutter für die schönste Gabe hält. Du weißt es ja, daß ich nur in und mit Dir lebe, und daß ich das, was Dir das Leben an Freude oder Kummer zuführt, stets zwischen den Zeilen lese, selbst da, wo Du es nicht aussprichst. Glaube daher nicht, daß es mir ein Geheimniß ist, wie oft Dein stolzer Sinn schon Demüthigungen gesucht und erfahren, wo ein Anderer mit dankbarer Anerkennung den Umständen erkenntlich wäre; glaube auch nicht, daß ich in solchen Stunden nicht mit Dir gelitten! Das Mutterherz fühlt ja Alles doppelt mit dem geliebten Kinde, und sehnt sich nur darnach Alles allein zu tragen, jede Bürde auf die eigenen Schultern legen zu können, damit ihr Liebling frei ausgehe. Aber ich konnte ja nicht helfen, konnte bei dem besten Willen keinem Umstande Deines Lebens eine andere Gestaltung geben. Darum schwieg ich und darum schwiegst vielleicht auch Du; denn ich glaube, Du erkanntest meine Ohnmacht und meinen Willen.

„Heute stehen die Sachen anders. Du bist hinausgetreten in die Welt. Du hast den Beruf des Mannes auf Dich genommen und nicht länger ist es die Mutter, die schützend über Dir gewacht, von deren Rath Dein Wollen und Thun abhängt. Du bist meiner Obhut entwachsen. Du gebietest frei über Dich selbst; darum auch suchst Du in mir die Vertraute Deiner Sorgen und bangst nicht ferner vor Mahnung und Tadel. Beides hast Du überdem auch nur selten erfahren, mein Sohn!

„So wie Du bist, konntest Du in Deiner Stellung nicht anders auftreten, mein August, und ich zweifle nach diesem Versuche, ob irgend ein Verhältniß der Art Dich befriedigen, könnte. Darin liegt kein Tadel. Ich sehe die Sache objectiv an, ich sehe Dich und sehe den Lehrerstand, und ich fühle, daß mein Sohn diese Unterordnung unter Gesetze, die die Willkür und ein oft unvernünftiger Wille macht, nicht erträgt. Warum ich das nicht im Voraus in Betracht gezogen? magst Du fragen. Ich hätte es freilich wissen können. Aber wie häufig geht es uns nicht so, daß wir Dinge für möglich halten, bis wir durch die Erfahrung eines Bessern belehrt werden.

„Ich würde Dir nun rathen in der Stadt Mücheln als Privatlehrer Dein Heil zu versuchen. Der junge Solger ist dorthin versetzt als Bürgermeister, nachdem er einen glänzenden Richter-Examen bestanden, und als alter Schulkamerad wird er Dir, denke ich, die Hand bieten, und froh sein, Dich in seiner Nähe zu haben. Mir scheint dies das Beste für Dich; Du wirst prüfen, ob mein Vorschlag Dir zusagt, und Dir nicht ein noch besserer Gedanke kommt. Es bleiben Dir ja noch fünf Monate zur Ueberlegung, eine Zeit die Dir, ich weiß es, höchst peinlich sein wird; aber es ist auch eine von den Nothwendigkeiten diese bösen Tage zu bestehen, denen wir uns im Leben nun einmal nicht entziehen können.

„Ich frage mich jetzt oft, und habe mich auch früher schon deshalb gefragt, ob ich Deine Erziehung hätte anders leiten sollen, ob es gut war, daß ich Deinen stolzen Sinn nicht brach? Hätte ich dasselbe Werk noch einmal zu verrichten, so weiß ich nicht, ob ich es anders und besser machen würde. Ich wollte einen Mann und vor Allem einen Menschen aus Dir erziehen und konnte Dir nicht lehren, Dich vor Autoritäten zu beugen, die mir keine waren. Ich konnte es nicht. Dein frischer, schöner Jugendmuth sollte Dir nicht getrübt werden, ich ließ Dir Deine Welt der Ideale, ich lehrte Dich nicht Menschenfurcht kennen, sondern Gottesfurcht. Wie freuete ich mich an Dir, wie glücklich war ich in Deinem Anblick, wie meinte ich eine beneidete Mutter zu sein! Und bin ich es denn nicht? Warst Du nicht stets der beste der Söhne, habe ich durch Dich wohl etwas Anderes gekannt, als die Freude, die ein wohlgerathenes Kind umgiebt, eine Freude, die selbst Engel theilen möchten. Und nun wollte ich mich beklagen, keinen Knecht aus Dir erzogen zu haben? Ich schäme mich jetzt, daß Dieser Gedanke mir aufsteigen konnte!

„Leonie schreibt Dir heute selbst. Sie hat viel Leid und Plage mit der Mutter, die mit jedem Tage grämlicher wird, und wahrscheinlich Brustwassersucht bekommt. Dabei verliert sie nie ihre heitere Miene und ihren Lebensmuth. Das Mädchen gehört wahrlich nicht in unsere Zeit, sie hätte eine Römerin sein müssen. Ihr seid ein Paar, wie es die Welt nicht mehr sieht.

„Schreibe uns recht bald, mein theurer Sohn, und erleichtere Dein Herz durch Mittheilung. Wir wissen ja, daß Du jetzt trübe Stunden verlebst und es beruhigt uns, wenn Du uns aussprichst, wie Du diese Prüfung hinnimmst. Ich bin ja in Gedanken täglich, stündlich mit Dir und meine Wünsche und mein Gebet sind ja für Dich allein.

„Mit der treuesten, herzlichsten Liebe
Deine Mutter  
Auguste Liebig. 
August hatte diesen Brief zuerst gelesen, weil er das Couvert des inliegenden bildete und daher sogleich mit seinem Inhalte vor sein Auge trat. Jetzt entfaltete er auch das andere Blatt. Es lautete:
„Mein theurer Freund!
„Gefesselt wie ich bin an das Krankenlager einer Mutter, die meiner jetzt jede Minute bedarf, in welcher unaufschiebbare Geschäfte mich nicht von ihr rufen, muß ich mir doch heute einen Augenblick erobern, um Dir zu sagen, daß ich ganz einverstanden bin mit Deiner Art des Auftretens in dieser hochadeligen Familie. Ich hätte Dich weniger geachtet, wenn Du es anders genommen, wenn Dir die Umstände etwas abgewonnen hätten, vor dem Dein Selbstgefühl erröthen gemußt. Was auch das Leben bringt, nur bleibe der Mensch sich selbst getreu! Nur opfere er nichts von dem Adel seiner Natur, nur halte er in sich fest an dem Ideal, das ihn zum Verwandten der Gottheit macht. Ich weiß es, so denkst auch Du, und ich wiederhole heute nur, was uns gemeinsam ist, um Dich dadurch zu befestigen und zu stärken, um keinen Preis irdischer Vortheile Dein herrliches Naturell zu verkümmern und zu verkleinern. Ich kenne Dich zu genau, um nicht zu wissen, daß Du nur leben kannst, wo Du frei athmest, frei Dich auslebst, ein Unterthan des höchsten Sittengesetzes bist, das dem Menschen über sich gestellt ist. Wo Du diesem entsagen müßtest, da wärest Du nicht mehr Du selbst, da müßtest Du zu Grunde gehen. Ich bitte Dich vor allen Dingen, Dich nie auf Deinem Lebenswege durch eine Rücksicht für mich gehemmt zu fühlen. Was der Mann nach Außen hin für sich erstrebt, dabei darf die Frau nicht mit in Rechnung kommen; ist er da mit sich fertig, kehrt er in sich zurück, dann ist sie da für sein Stillleben und sein Haus. Handle daher Deiner Neigung entsprechend und thue einstweilen, als wäre ich nicht da. Nur so gestaltet sich Dein Schicksal nach meinem Sinne, nur so kann ich. freudig der Zukunft entgegenblicken und in allen Beziehungen mich Deine erste Freundin nennen.
Leonie. 

August faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in seine Brusttasche, ein Platz, den er auch nicht wieder verließ. Bei der nächsten Gelegenheit, wo die beiden Knaben von den Aeltern auf ein benachbartes Gut mitgenommen wurden, bat er um ein Pferd und benutzte die Zeit zu einem Spazierritt nach Mücheln. Hier suchte er sogleich seinen alten Schulkameraden auf und dieser war nicht wenig erfreut in dieser ihm fremden Gegend plötzlich einen Freund zu entdecken, mit dem er die heitern Tage der Jugendzeit recapituliren konnte. August sprach ihm den Wunsch aus, zum Winter ganz in die Stadt zu ziehen und dort einige Knaben zum Privatunterricht um sich zu versammeln. Dieser Plan fand des Bürgermeisters ganze Billigung und er erbot sich sogar selbst thätig zu sein ihm die nothwendige Zahl von Schülern zu gewinnen. Beiderseits befriedigt von diesem Wiederfinden trennten sie sich und August ritt mit erheiterter Miene auf das Schloß zurück. Gleich in den nächsten Tagen meldete er seiner Mutter, daß ihr Rath von ihm befolgt worden und er von der dadurch eröffneten Aussicht auf eine Thätigkeit, die seine persönliche Freiheit nicht beschränkte, befriedigt sei.

Es wurde ihm von diesem Tage an weniger schwer die Ketten zu tragen, die ihm das Gebundene seiner Stellung anlegte, und jeder neue Morgen zählte ja überdem eine Verminderung dieser bösen Zeit, wodurch auch die schwierigsten Stunden leichter zu durchleben sind. Sieht man das Ende, so hilft man sich mit einem Seufzer über die Gegenwart fort. Der Sommer schwand [193] ihm somit rascher dahin, als er erwartet hatte und der Tag seiner Abreise von hier rückte ganz nahe heran. August ersuchte nun Frau von Rabenhorst ihm eine Stunde zu bewilligen, in welcher er in ihrer Gegenwart die Knaben prüfen dürfe, damit sie sich überzeuge, in wie weit er seine Lehrerpflicht getreulich erfüllt. Sie lächelte gnädig zu diesem Vorschlag und bestimmte gleich den folgenden Morgen. Diese Einwilligung war August sehr erwünscht. Es drängte ihn, ihr zu beweisen, daß er den Lohn gewiß verdient, den man ihm hier gewährte, und daß er weit eher als Gläubiger, wie als Schuldner scheide. Sein Vertrauen fand sich gerechtfertigt, die Mutterliebe siegte über jede kleinliche Rücksicht und Frau von Rabenhorst gestand ihm zu, daß er ihre Erwartung bei weitem übertroffen. August verbeugte sich mit einem weit artigeren Lächeln, wie sie es je an ihm gesehen.

„Wie schade!“ fügte sie hinzu, „daß ein so vortrefflicher Lehrer eine so democratische Erziehungsmethode befolgen will! Unsere Söhne hätten sonst unter Ihrer Leitung schöne Kenntnisse erwerben können.“

„Ich hoffe mehr als das, gnädige Frau!“ erwiederte er heiter angeregt, mit mehr Worten, als er sonst hier zu wechseln sich zum Gesetze gemacht. „Ich hätte Männer aus ihnen gebildet, und wirkliche Gentlemen, wie der Engländer sagt, wodurch sie in ihren Verhältnissen weit mehr nutzen konnten, als durch Büchergelehrsamkeit.“

„Gentlemen, sagen Sie? Warum sprachen Sie davon nicht früher. Das war ja gerade mein Wunsch, meine Söhne in diesem Genre heranzubilden.“

„Ich konnte das nur, wo das Geschäft des Erziehens ganz in meine Hand gelegt war, und die Aeltern mir völliges Vertrauen schenkten.“

„Das hätte Ihnen werden können, Herr Liebig. Ich werde noch heute mit meinem Gatten darüber sprechen.“

Sie entfernte sich, ohne das spöttische Lächeln zu bemerken, das um August’s Lippen spielte. „Jetzt weiß ich, was der Engländer unter „Unterrocks-Regiment“ versteht,“ dachte er bei sich. „Wenn sich die Männer von solchen Weiberlaunen lenken lassen, so könnte man ihnen den Spinnrocken dazu wünschen. Welch eine ganz andere Frau ist doch meine Mutter und gar erst Leonie.“

Wenige Tage darauf zog er in Mücheln ein, wo ihm der Bürgermeister Solger bereits eine Wohnung besorgt hatte, und schon am folgenden Montag seine Stunden ihren Anfang nahmen. August war zu Muthe wie Jemand, der eine Gefangenschaft durchgemacht hat. Trat er hinaus auf die Straße nach vollendetem Tagewerke, so erschien ihm Alles so schön, der Himmel, die Erde, die Menschen, denn das Gefühl seiner persönlichen Freiheit lieh hier den neuen Reiz. Die Bewohner der Stadt waren froh, einen so schönen, fein gebildeten jungen Mann in ihrem Kreise zu sehen, die Mütter speculirten auf ihn für ihre Töchter und die Töchter verfolgten ihn mit zärtlichen vielsagenden Blicken. Aber August blieb davon unangefochten. Leonie war ihm das Ideal aller Frauen, und diese unbedeutenden Wesen, deren Leben sich um Putz und Bälle drehte, konnten freilich einer Leonie nicht die Hand reichen. Er hatte zu deren Erstaunen kaum ein artiges Wort für sie.

Sonderbar befremdend war es den Bewohnern der Stadt, daß der junge Candidat nie gepredigt hatte. Bei manchen Gelegenheiten dazu aufgefordert, lehnte er diese Pflicht stets mit artigem Danke ab, versichernd, daß er sich noch nicht dazu berufen fühle, seinen Mitbrüdern Worte der Ermahnung zuzurufen.

„Du solltest Dich doch einmal darin versuchen, Liebig!“ sagte sein Freund, der Bürgermeister häufig. „Hier in der Umgegend sind prächtige Pfarren, da könnten wir Dich präsentiren. Oder hast Du etwa auch, wie so viele, Zweifel über die Erbsünde?“ fügte er lachend hinzu.

„Das kann wohl sein, mein guter Solger!“ versetzte August ernst. „Jedenfalls bin ich noch nicht im Klaren mit mir selbst, werde vielleicht auch noch lange nicht dahin kommen, und bis dahin will ich mich des Predigens enthalten.“

„Das ist aber eine verfluchte Geschichte! Was soll da aus Deiner Zukunft werden?“

„Nun! Was schon daraus geworden ist; ein tüchtiger Lehrer.“

„Alles recht gut, aber es nährt seinen Mann nicht. Es ist keine sichere Versorgung. Ich rathe Dir, laß die Grillen sein! Viele Wege führen nach Rom. Drücke ein Auge zu und die Sache geht.“

August schüttelte verneinend den Kopf. „Ich darf nicht,“ sagte er. „Für mich giebt es nur einen Weg, den geraden.“

Zum Osterfeste reiste August zu seiner Mutter, die, seit er die Universität verlassen, ihre Schule aufgegeben hatte, theils weil sie fühlte, daß sie der Anstrengung nicht mehr gewachsen war, theils auch, weil Leonie, indem sie den doppelten Pflichten einer Krankenwärterin und Lehrerin genügte, zu sehr angestrengt wurde. Sie übergab daher das einmal eingerichtete Erziehungsinstitut einer andern Hand, und behielt sich nur vor, mit ihrer jungen Freundin abwechselnd einige Stunden darin zu ertheilen, um jener auf diese Art die Mittel zu sichern, ihrer Mutter manches zu ihrer Pflege verschaffen zu können, wozu deren kleine Einnahme sonst nicht hinreichte. Für ihre eigenen Bedürfnisse reichte ihre Pension als Predigerwittwe schon zu, denn ihre Ansprüche waren sehr bescheiden, und nur wenn der geliebte Sohn als Gast bei ihr weilte, sann sie auf einen Aufwand, der ihrer kleinen Einrichtung sonst fremd war. – Sie hielt ihn jetzt einmal wieder in ihren Armen, und musterte mit freudetrunkenen Blicken sein gutes Aussehen. Sein Tritt war fester, sein Auge leuchtender, seine Züge männlicher, als wie sie ihn zuletzt vor sich gesehen. Er fühlte sich glücklicher, sie konnte nicht daran zweifeln, und ihr Herz floß über von Dankgefühl, den theuern Sohn in einer Lage zu wissen, die ihn mit muthigerem Blicke in das Leben schauen ließ.

„Es ist Aussicht dazu, daß Dein Bruder versetzt wird.“ sagte sie, als sie am Abend um den Theetisch saßen und auch Leonie sich eingefunden hatte, eine Stunde des Glückes hier zu verleben. „Wilhelm meint, man könne Dich in Vorschlag bringen, vielleicht daß Du trotz Deiner Jugend die Pfarre aus Rücksicht für Deinen Vater erhalten würdest. – Das wäre viel Glück. August! Sollte ich das noch erleben, meine geliebten Kinder hier vereint zu sehen, so wäre die Freude fast zu groß für mich!“

August erblaßte vor diesen Worten und verließ seinen Platz, um, unruhig, einige Male im Zimmer auf und ab zu gehen. Leonie’s Blick folgte ihm fragend und besorgt. Aber schon hatte sie Alles errathen, was diese plötzliche Bewegung sagen wollte.

„Mutter!“ nahm er das Wort und setzte sich dabei wieder zu ihr, indem er zugleich ihre Hand ergriff, „erzeige mir die Liebe, mich nicht für die Pfarre in Vorschlag bringen zu lassen. Ein solches Amt paßt nicht für mich. Verzichte auf diesen Wunsch!“

„August!“ rief sie mit einem Tone des Schmerzes, der unbeschreiblich ist, und sah ihn mit erstauntem Blicke an; „dann hast Du ja keine Zukunft! Und was wird aus Leonie?“

Sein Auge senkte sich zu Boden, seine Miene wurde sehr ernst. „Es führen ja viele Wege durch das Leben, Mutter, und, dem Muthigen gehört die Welt.“

„August hat Recht, Mutter!“ nahm das Mädchen das Wort, das aus seinen Mienen zu lesen gewohnt war, und mit dem Instincte des Herzens seine Gedanken errieth. „Er ist noch viel zu jung, um schon unwiderruflich für seine Zukunft zu entscheiden. Das Leben muß den Mann erst reifen und entwickeln, bevor er sich einer endlichen Bestimmung hingiebt.“

„Das Leben bildet den Charakter, mein Kind!“ versetzte die Mutter, immer noch schmerzlich bewegt; „einen Beruf wählt der Mann aber nur einmal, seine ganze Erziehung und Bildung ist auf diese einmal getroffene Wahl angelegt, und das Verfehlte holt dann keine spätere Zeit mehr ein. Die wenigen Worte, die August gesprochen, sagen mir, daß Deine – daß seine Zukunft hoffnungslos ist.“

Sie verließ bei diesen Worten das Zimmer, weil sie fühlte, daß sie ihren Thränen nicht länger gebieten konnte. Alles vermochte diese Frau zu ertragen, nur nicht das Eine, das Geschick ihres Sohnes auf dieser Basis von Glas zu sehen, durch die sich der Abgrund spiegelte.

Als sie sich entfernt hatte, saßen August und Leonie sich eine Weile stumm gegenüber. Der junge Mann hatte die Hand über die Augen gedeckt, das Mädchen blickte auf die Arbeit in ihrem Schooße.

„Und Du zürnst mir nicht, Leonie?“ fragte er endlich, ohne sie anzublicken, und reichte ihr die Hand hinüber. „Du hast mich nicht aus bloßer Großmuth vertheidigt, nicht nur jene Worte gesprochen, um meine arme Mutter durch Deine Billigung zu beruhigen?“

[194] „Nein, mein Freund!“ sprach sie mit Ihrer hellen, klangreichen Stimme, stand auf, lehnte sich über ihn und drückte sein Haupt, wie beruhigend, an ihre Brust. – „Ich sehe ein, daß Du nicht anders kannst. Der Mensch macht seine Gesinnung nicht, und auch nicht seinen Glauben; die Umstände und das Leben entwickeln Beides in ihm und er muß hinnehmen, was sie ihm bringen. Deine Ueberzeugung soll Dir heilig sein. Folge ihr! Ich liebe Dich darum erst recht, auch getrennt, auch noch so ferne von Dir, selbst über das Grab hinaus. Glaubst Du denn, daß Du nur darum für mich Werth hattest, weil ich einst Amt und Brot mit Dir zu theilen gedachte? Nein, August, so klein darfst Du von mir nicht denken! Das Bild meines Aelternhauses schützt mich auf ewig davor, eine Existenz hinzunehmen, die nicht die höchste Gesinnung begleitet. Ich will Dich achten können, August; ich will Deinen Menschenwerth durch nichts verringert sehen, sei es, was es sei, und mag Dir sonst begegnen, was da will, mag ich Dich nie wiedersehen, immer noch werde ich das Glück im Herzen tragen, das Ideal meiner Jugend rein mir zu bewahren.“

Eine Thräne rollte über seine Wange; sie küßte sie hinweg. Schweigend verharrten sie noch einige Minuten in dieser Stellung, wie in dem Bedürfniß des Ausruhens von der starken, innern Bewegung, dann sagte Leonie sanft in sein Ohr: „Ich will jetzt unsere Mutter suchen. Sie darf nicht wissen, was ich zu Dir gesprochen; ihr Lebensabend darf nur die Hoffnungen kennen, die sie während so vieler Jahre mit Opfern und Entbehrungen für unsere Zukunft aufgebaut, und deren gänzliche Zertrümmerung sie nicht ertragen könnte. Laß uns daher vorsichtig sein.“

Sie entfernte sich und bald darauf kehrten Beide Hand in Hand zurück. Augusten’s Augen schienen noch vom Weinen geröthet, sonst aber war sie still und sanft und betrachtete den Sohn mit einer Art mitleidsvoller Zärtlichkeit, die ihr sonst nicht eigen gewesen. Was ihr nie zuvor in den Sinn gekommen, war ihr in dieser Stunde mit fürchterlicher Klarheit vor die Seele getreten: sie und nur sie allein trug ja die ganze Schuld an ihres Sohnes Unglück; denn nie hatte sie ihn gefragt, nie seine Neigung zu Rath gezogen, sondern einfach angenommen, daß der Beruf, welcher ihm am Schnellsten und Leichtesten zu einer Versorgung helfe, auch der ihm gemäße sein müsse. Sie erkannte ihr Versehen, und das brach ihr das Herz. Sie fühlte von dieser Minute an, daß ihre Tage gezählt seien, sie fühlte ihren Lebensmuth gebrochen, sie war innerlich wie geknickt, und keinen Trost gab es für solches Leid, keine Heilung für solche Wunde. Sie war freundlich wie immer, aber still und in sich gekehrt und man sah ihr an, daß ihr Interesse wenig Antheil noch an den Dingen dieser Welt nahm.

August war diesmal bis jetzt noch nicht zu Leonie’s Mutter gegangen, die er seit dem ihm gewordenen Empfang bei seinem letzten Besuche nicht wieder gesehen hatte. Am Tage vor seiner Abreise sandte sie nun plötzlich und ließ ihn zu sich entbieten. Er konnte dieser Aufforderung kein Weigern entgegensetzen und ging. Sie war allein und zwar im Bette. Er fand sie sehr verändert. Sie bat ihn, die Thüre zu verschließen und neben ihrem Lager Platz zu nehmen.

„Herr Liebig,“ begann sie nun, „,meine Lebenstage sind gezählt, bald werde ich in jener Welt mit meinem unvergeßlichen Gatten vereint wandeln.“ Sie konnte vor Rührung nicht weiter sprechen, und erst, nachdem sie sich wieder gefaßt, fuhr sie fort: „Ich habe mit dieser Welt abgeschlossen, und nur eine Angelegenheit bleibt mir noch zu ordnen, die Versorgung meines Kindes. Ich darf ihrem Vater nicht unter die Augen treten, wenn ich sie hier arm und unbeschützt zurücklasse. Thun Sie mir also den Gefallen und geben Sie sie auf, dann heirathet sie Ihren Bruder. Niemand hat erfahren, welche Hoffnungen Sie hegen; der junge Pastor wird also keinen Anstoß nehmen, seine Bewerbung zu erneuern, sobald ich ihn dazu ermuntere. Einer Sterbenden dürfen Sie keine Bitte abschlagen. Sagen Sie ja!“

[203] August war während dieser Rede roth und blaß geworden. – „Hat Leonie Ihnen gesagt, daß sie einwilligen würde, sobald ich zurückträte?“ fragte er endlich kalt.

„Das nicht. Aber ich setze es voraus. Sie ist verständig genug, einzusehen, daß ein armes Mädchen, kann sie den Einen nicht bekommen, den sie lieber möchte, den Andern nehmen muß. Und für Sie ist ja noch gar keine Aussicht zu Brot, wohin soll sie also gehen, wenn ich sterbe?“

„Zu mir!“ versetzte August rasch. „Leonie macht keine Ansprüche an ein glänzendes Loos, und meine jetzige Stellung als Privatlehrer liefert mir ein hinreichendes Einkommen, um davon die Bedürfnisse für uns Beide zu bestreiten.“

„Also nicht nur eine Candidatenbraut, auch sogar eine Candidatenfrau! Mein armes, armes Kind!“ Sie wimmerte still vor sich hin.

„Wenn Sie mich beleidigen wollen, so muß ich mich entfernen,“ sagte August, und verließ seinen Platz.

„Nein, nein! Gehen Sie nicht! Ich habe noch mit Ihnen zu reden. Sie nehmen gleich Alles so auf die Spitze, Sie lieber empfindlicher Mensch! Haben Sie doch Nachsicht mit einer sterbenden Mutter, die bekümmert ist um das weltliche Schicksal eines einzigen Kindes. Also Sie wollen sie heirathen? Nun, – wenn es denn nur Jemand ist, der sie nimmt. Schwören Sie mir also denn auf diese Bibel hier, die nie mein Bett verläßt, daß mein Kind binnen vier Wochen Ihre Frau sein soll. Mag sie denn mit Ihnen hungern und darben, gleichviel! Sie ist denn doch eine Frau und ich brauche mich nicht zu fürchten, im Himmel noch die Schande zu erleben, daß mein schönes Kind als unvermählte alte Jungfer auf der Erde lebt. Retten Sie also mir wenigstens meine Mutterehre. Hier ist das heilige Buch, legen Sie Ihre Rechte darauf und wenden Sie den Blick zum Himmel, wo mein seliger Ludwig weilt, der Sie hört. Bedenken Sie das!“

„Würde Ihnen mein Manneswort nicht genügen?“ fragte August. „Ich versichere Ihnen auf meine Ehre, daß Ihre Tochter meinen Namen tragen soll, sobald Sie wollen.“

„Was mache ich mir aus Ihrer Ehre, junger Mann! Sie haben ja noch gar kein Alter, um von Ehre zu reden. Den Eid! Den Eid! Ich sterbe nicht ohne den Eid!“

„Ich thue es ungern.“ sagte August mit zusammengezogener Braue. „Wenn Sie es denn aber durchaus so wollen, so sei es und ich schwöre Ihnen bei Allem was mir heilig und theuer ist, daß nur der Tod mich meines Versprechens entbinden kann.“

„In dem Falle bliebe mir immer noch Ihr Bruder,“ versetzte die Frau Pastorin trostvoll. „und nun rufen Sie mir meine Leonie, damit ich ihr ankündige, was ihre opferungsfähige Mutter für sie gethan.“

August folgte ihrem Geheiß und eilte sofort hinaus auf das Feld, um sich in der Natur von der Scene dieses Morgens zu erholen, die einen höchst peinlichen Nachklang in seiner Seele gelassen hatte. Der Abend fand den kleinen Kreis um den Theetisch versammelt; alle Drei waren ungewöhnlich ernst. Sie fühlten, daß ein Schicksal zwischen sie getreten und ein Bangen überschlich sie, daß das, was nicht Einsicht, nicht freie Wahl und Selbstbestimmung über ihre Zukunft verhängt, sie schwer treffen könne. Sie scheueten sich von Dem zu sprechen, was sie in ihren Innersten bewegte und die Folge war, daß oft lange Pausen in der Unterhaltung eintraten, die sie erst dann bemerkten, wenn diese Stille drückend zu werden anfing. Jeder bemühte sich dann ein Etwas zu sagen, das die Lücke ausfüllte, und so verging dieser letzte Abend ohne eigentliches Beisammensein; denn Jeder war mit seinen Gedanken ferne, und kein Wort eines frohen Wiedersehens wurde laut.

„Muth, mein Freund!“ sagte Leonie, als August sie beim Abschiede lange umfangen hielt, als wollte das Wort der Trennung diesmal durchaus nicht über seine Lippen kommen; „wer keine Wahl hat, für den ist die Entscheidung nicht schwer. Die Wogen des Lebens tragen uns nun mit fort, oder sie schlagen über unserm Kopfe zusammen; wir erwarten ruhig was da kommt, denn das Ende ist ja immer dasselbe.“

Auguste war bleich und matt auf einen Stuhl gesunken. „Mein Kind,“ sagte sie, als er sich zu ihr herunter beugte, und nahm sein Haupt zwischen ihre beiden Hände, „verzeihe Deiner armen Mutter, daß sie Dich für einen Beruf erzog, der Dich unglücklich macht. Weiß Gott! Ich that nach meiner besten Einsicht und meine Blindheit ist mir jetzt unbegreiflich. Fluche meinem Andenken nicht, mein Sohn, in Deinen trüben Stunden! Sage Dir vor: sie konnte nicht anders, sie wußte es nicht besser. Sieh, Deine alte Mutter bittet Dich auf ihren Knieen darum, daß Du ihrer dennoch mit Liebe gedenkst!“ Sie sank bei diesen Worten leise vom Stuhle herab, und umfaßte seine Knie.

„Um Gott, meine Mutter! Nicht so! Nicht doch!“ rief August und zog sie empor an seine Brust, wo er sie lange fest umschlungen hielt. „Immer werde ich Dein Andenken segnen, meine Mutter! Mein letzter Gedanke noch wird der der Liebe für Dich sein. Dein Segen soll mich behüten und bewahren in jeder Stunde, wo ich Deiner unwerth zu werden fürchte. Ja, segne mich, meine [204] Mutter, lege Deine liebe Hand auf mein Haupt, und sage mir, daß Dein Gebet mich begleitet!“

Auguste erhob sich langsam von seiner Brust, zog ihn zu sich nieder und küßte mit einem heiligen Kuß seine Stirne. „Du hast mir viel Glück gegeben, mein Sohn, habe Dank dafür, und wie gesagt, vergieb mir!“

„Mutter, das Wort nicht mehr!“ rief August, und stürzte laut schluchzend zur Thüre hinaus.

Gleich am Tage nach seiner Ankunft in Mücheln ging August zu seinem Freunde, dem Bürgermeister Solger, und fand diesen, zu seiner Bestürzung, auf einer Geschäftsreise begriffen, von welcher er erst im Laufe der folgenden Woche zurückerwartet wurde.

Er sah ein, daß er sich gedulden müsse, so unangenehm ihm dieser Aufschub auch war, denn als Oberhaupt der Stadt hatte jener ihm ja die Bewilligung zu ertheilen in diesem Orte als ansäßig betrachtet zu werden und einen Hausstand gründen zu dürfen.

Daß ihm eine solche Bitte abgeschlagen werde, fiel ihm im Entferntesten nicht ein, denn er wußte ja, wie lieb er seinem Jugendfreunde war und wie froh ihn dieser hier aufgenommen. Doch blieb es immer ein Ceremoniell, das beseitigt werden mußte, bevor ein Aufgebot erlassen werden konnte, und sollte dieses in seinem dreiwöchentlichen Zeitraum bis zu dem ihm gestellten Termin nicht mehr zu bewerkstelligen hin, so konnte man am Ende ja noch eine Dispensation einholen, die nicht schwer zu erhalten war. Mit diesen Gedanken beruhigte er sich und sah einstweilen seine kleine Einrichtung an und welche Zusätze dieselbe bedürfte, um auch Leonien einen Platz hier zu gestatten.

Endlich hieß es der Bürgermeister sei wieder eingetroffen und August eilte nun sogleich nach seinen Schulstunden zu ihm, und drückte eine herzliche Freude über seine Rückkehr aus. „Ich war recht unangenehm überrascht bei meiner Ankunft zu finden, daß Du verreist warst, lieber Solger,“ sagte er, „denn ich hatte ein Anliegen, das weniger dem Freunde, als dem Oberhaupte der Stadt galt, obwohl es hier vielleicht von beiden gemeinsam geprüft werden kann. Ich habe Dir nämlich noch nie mitgetheilt, daß ich mit einem Mädchen verlobt bin, welches mit mir aufgewachsen ist. Ihr Vater war zweiter Prediger in meinem Geburtsorte und sie theilte allen Unterricht mit mir. Ihre Mutter ist seit mehreren Jahren Wittwe und eigensinnig und kränklich; sie bildet sich ein, daß sie sterben wird und hat mir das eidliche Versprechen abgenommen, ihre Tochter jetzt gleich zum Altare zu führen. Ich kann nicht umhin mein Wort zu halten und muß daher bei Dir um die Erlaubniß nachsuchen mein Aufgebot mit Leonie Sommer ergehen lassen zu dürfen.“

„Diese Erlaubniß erhältst Du nicht, das kann ich Dir mit Gewißheit versprechen, mein Freund!“

„Und warum nicht?“ rief August, während ihm alles Blut in die Wangen stieg.

„Weil Du kein Brot hast eine Frau zu ernähren.“ sagte der Andere mit vollkommener Geschäftsruhe.

„Das ist meine Sache und nicht die der Behörde.“

„Da irrst Du. Die Regierung hat uns verantwortlich dafür gemacht, daß wir Niemand in unsern Mauern aufnehmen, der unserer Armenkasse zur Last fallen kann.“

„Solger! Mir das?“ rief August empört.

„Nun ja! Warum nicht? Das Amt eines Privatlehrers ist precär, jeden Tag können die Aeltern Dir die Kinder nehmen und dann hast Du nichts zu beißen oder zu brocken.“

„Ich gebe Dir mein Wort darauf, nie Ansprüche an die Stadtkasse zu machen!“

„Als ob Du mir das noch zu versichern brauchtest!“ lachte der Bürgermeister. „Auch habe ich Dich ja mit Freuden aufgenommen, ohne an eine Kaution oder sonstige Gewährleistung nur zu denken. Du bist mir ganz recht hier und magst bleiben, so lange Du willst. Aber heirathen lasse ich Dich darauf nicht. – Und das thut Niemand. Du mußt überall nachweisen, daß Du die Mittel zu einer Existenz hast, und da Du diese nicht garantiren kannst, so verweigert man Dein Gesuch. Schlage Dir die Thorheit also aus dem Sinne.“

„Ich habe aber mein Wort gegeben und kann nun nicht zurück. Mag sein, daß das Gesetz gegen mich ist; könnte denn der Freund hier nicht eine Ausnahme machen?“

„Das wird er nicht thun, denn es hieße Dich in’s Unglück stürzen. Es ist Alles recht schön mit Deinem Wort geben. Du mußtest aber erst wissen, ob Du es auch halten konntest. Was nicht geht, das geht nicht.“

„Wie wäre mir das je eingefallen, daß der Staat meine persönliche Freiheit auf diese Art beschränken wolle. Wie konnte ich nur vermuthen, daß es mir verwehrt werde, mir eine Existenz zu gründen, wie und wo es mir beliebt? Ich habe ja nicht im Traume daran gedacht und darum ohne Bedenken den Eid geleistet. Was soll nun daraus werden?“

„Du nimmst Dein Wort zurück, weiter nichts!“

„Das thut kein Ehrenmann.“

„Ich seh’ doch keinen andern Ausweg ein.“

„Solger. Du bist mein Freund, sei nur diesmal erbittlich. Gieb Deinen Consenz!“

„Keinenfalls, das versichere ich Dir!“

„Bedenke die Folgen. Du bringst mich zur Verzweiflung.“

„Nun, das wissen wir schon, wie lange in Deinen Jahren die Leute verzweifeln, wenn ihre Liebesangelegenheiten nicht recht gehen. Ich lasse es darauf ankommen.“

„Du weißt nicht, was Du thust, Solger. Es ist ja hier nicht von einer Liebesgeschichte die Rede, sondern von dem Eide, den ich einer Sterbenden geleistet. Geh’ in Dich! Ich versichere Dir, die Folgen können fürchterlich sein, wenn Du bei Deiner Weigerung beharrst.“

„Ich beharre dabei.“

„Ist das Dein letztes Wort?“

„So magst Du es verantworten!“ Er stürzte zum Zimmer hinaus und eilte in seine Wohnung. Was thun? Was beginnen? Er durchwachte die Nacht sinnend. Früh am Morgen setzte er sich an seinen Schreibtisch, und richtete einige Zeilen an den Bürgermeister, in denen er ihn noch einmal dringend bat, sein Wort zurückzunehmen. Sein Bursche mußte das Billet überbringen und August blieb so lange am Fenster stehen, bis er ihn zurückkehren sah. Erwartungsvoll trat er seinem Boten entgegen. „Nun!“ sprach er, als wolle er ihm die Worte von den Lippen lesen.

„Der Herr Bürgermeister lassen sich empfehlen und Sie recht sehr bitten ihm keine solchen Briefe mehr zu schreiben, hier ist der Ihrige wieder zurück. Und wenn Sie sich wieder besser befänden, so möchten Sie ihn des Abends besuchen, wie sonst, aber von der bewußten Sache müsse nicht weiter die Rede sein.“

„Also unerbittlich!“ murmelte August und stampfte den Boden.

Er hieß seinem Burschen die Knaben heute zurücksenden, wenn sie zur Schule kämen, er habe ganz unaufschiebbare Geschäfte zu ordnen. Dann knöpfte er seinen Ueberrock zu und eilte in die Stadt zu einem Advocaten.

„So früh schon, Herr Liebig?“ rief ihm dieser entgegen. „Es müssen wichtige Angelegenheiten sein, die Ihren Morgenschlummer dermaßen stören.“

August erzählte nun kurz sein Anliegen und daß der Bürgermeister ihm rund abgeschlagen, hier als verheiratheter Mann zu leben. Er wünsche zu wissen ob jener zu einer solchen Verweigerung berechtigt sei.

„Das ist er allerdings!“ sagte der erfahrene Geschäftsmann mit der größten Ruhe. „Sie haben hier kein Heimathsrecht, und selbst, wären Sie hier geboren, so müßten Sie immer noch nachweisen, daß Sie die Mittel besitzen, eine Familie zu ernähren. Es läßt sich in der Sache gar nichts thun, denn die Gesetze sind wider Sie.“

„Sie wissen keinen Rath für mich?“

„Keinen! Als daß Sie sich gedulden, wie wir Andern es auch gethan haben. Erst eine Pfarre, dann eine Knarre, lautet unser alter Spruch.“

„So empfehle ich mich Ihnen,“ sprach August kurz und verließ das Haus. Still und in sich gekehrt brachte er den ganzen Tag in seinem Zimmer zu, ohne Nahrung zu verlangen, oder irgend einen Dienst zu begehren. Als es dämmerte, trug er einen Brief auf die Post und gab dann Befehl, daß man ihn durchaus nicht störe und jeden Besuch abweise. Er könne in den nächsten Tagen Niemand sehen und würde auch keinen Unterricht ertheilen, bis er sich wohler fühle.

Seine Wirthin sah ihn verwundert an, wagte aber keine weitere Frage.

Er ließ die Vorhänge herunter, verschloß die Thür und versank dann in trübes Nachsinnen. Düstere Verzweiflung tobte in [205] seinem Herzen, er hörte fast die Schläge desselben, und seine Stirn brannte fieberheiß. Einem Gesetz Unterthan zu sein, das für Schufte gemacht war, die Verpflichtungen übernahmen, die sie nicht lösen konnten oder wollten, das schien ihm eine zu grausame Aufgabe. Man wußte, daß er der Stadt nie zur Last fallen würde, und dennoch wies man sein Gesuch ab; man wußte, daß er sein Ehrenwort als Mann verpfändet, und dennoch hieß man ihm sich die Sache aus dem Sinne schlagen. Wer konnte ein solches Opfer von ihm begehren? Wer ihm zumuthen, mit einem solchen Makel an seiner Ehre noch unter den Lebenden zu wandeln? – Ja, hätte noch das kalte Gesetz mit seinem todten Buchstaben allein ihm gegenüber gestanden, so möchte er sich gesagt haben: ich leide nur, was Hunderte vor mir vielleicht schon litten, was Hunderte nach mir noch leiden werden, ich bin nur Einer von so Vielen, was berechtigt mich hier die Ausnahme zu sein? Aber so! Einem Menschen gegenüber, der sein Freund war, einem Menschen gegenüber, der hier die Autorität besaß, die ihn ermächtigte, das Gesetz den Umständen gemäß in Anwendung zu bringen, und von diesem Menschen verhöhnt werden, nein, das überstieg jede Grenze dessen, was er als Mann dulden und ertragen durfte! „Sein oder nicht sein,“ rief es in ihm und hastig erhob er sich und stürzte zur Thüre hinaus.

Es hatte bereits neun Uhr geschlagen, als August in dieser aufgeregten Stimmung in die Wohnung des Bürgermeisters trat. Auf dem Flur begegnete ihm der Stadtdiener, der eben seine letzten Befehle einholen wollte; er eilte an diesem vorbei in das Arbeitszimmer des Herrn vom Hause, und fand denselben behaglich auf dem Sopha ausgestreckt, dabei große Wolken aus einer ellenlangen Pfeife von sich blasend.

„Nun, wieder vernünftig?“ rief er ihm entgegen. „So setze Dich und wir wollen eine Flasche Wein miteinander ausstechen.“

„Davon kann keine Rede sein,“ versetzte August finster, warf seine Mütze auf den Tisch und blieb mit verschränkten Armen vor dem Andern stehen „Du oder ich, einer von uns muß bleiben. Ich fordere Dich im Namen der Ehre, der wir alle huldigen. Du hast mich beschimpft, hast den Menschen und den Freund in mir beleidigt und mußt mir mit den Waffen in der Hand Satisfaction geben. Nenne mir Zeit und Stunde, wo Du mich treffen willst. Auch die Wahl der Waffen bleibe Dir überlassen!“

„Ha, ha, ha!“ lachte der Bürgermeister in sich hinein und sein Auge drückte dabei mehr noch aus wie spaßhaft ihm die Scene erscheine, als seine Mienen es sagten. „Jetzt bist Du doch ganz toll geworden, Liebig. Wenn ich mich mit allen Einwohnern der Stadt duelliren sollte, weil ihnen der Ausspruch der Gesetze nicht genehm, so hätte ich viel zu thun. Da würde bald Niemand mehr Bürgermeister sein wollen. Nein, alter Junge, so haben wir nicht gewettet! Keinen Tropfen Bluts soll uns die Sache kosten. Wenn Du aber vernünftig sein willst, und mit mir reden wie ein Mensch der seine fünf Sinne hat, so setze Dich zu mir und ich lasse eine Flasche Hochheimer darauf gehen, aus bloßer Freude, daß Du nicht mehr toll bist.“

„Solger, reize mich nicht!“ sprach der Andere mit zusammen gekniffenen Lippen und seine Zornesader schwoll. „Ich bin nicht in der Stimmung, wo man Scherz verträgt, ich bin wie ein gereizter Löwe, ich bin fähig einen Mord zu begeben.“

„Was, steht es so?“ sagte der Bürgermeister stirnrunzelnd und schien erst jetzt zu bemerken, wie geisterbleich sein Freund aussah und welche finstere Gluth aus seinem Auge leuchtete. „Wenn Du so sehr im Ernste bist, da muß auch ich die Sache wohl ernst nehmen. Mit mir geht es aber nicht so schnell, mein Blut fließt langsamer. In einer Stunde wirst Du meine Antwort in Deiner Wohnung finden. Gute Nacht, bis auf Wiedersehen.“ Er winkte ihm wie verabschiedend zu, worauf August seine Mütze ergriff und ohne noch ein Wort zu verlieren, das Zimmer verließ. Als seine Schritte verhallt waren, rief der Bürgermeister: „Schlünz!“ und augenblicklich trat der Stadtdiener ein, der draußen so lange geharrt hatte.

„Hören Sie, Schlünz?“ sagte er, und blies drei mächtige Puffe aus der Pfeife, um sie vor dem Ausgehen zu sichern, „der Candidat Liebig scheint mir krank zu sein; wir dürfen ihn nicht allein lassen. Bestellen Sie zwei Mann Wache vor seine Thüre, die ihn, bis auf weitere Ordre, verhindern, sein Zimmer zu verlassen, und dann bitten Sie Doctor Friedrich, sogleich zu mir zu kommen.“ Damit war der Auftrag zu Ende und das Oberhaupt der Stadt rauchte behaglich fort, bis der Arzt eintrat.

„Setzen Sie sich, lieber Doctor, und entschuldigen Sie, daß ich nicht aufstehe; ich bin verwünscht müde. So eine Entenjagd fühlt man!“ redete er den Eintretenden an. „Ich habe Sie noch so spät herbitten lassen wegen des jungen Liebig, der nahe daran scheint überzuschnappen. Thun Sie mir den Gefallen und gehen Sie gleich von hier zu ihm mit der Botschaft, daß ich ihn wie krank, oder schlimmer noch wie verrückt behandeln müsse, so lange er solchen Unsinn schwatze. Ich gäbe ihm drei Tage Zeit zur Ueberlegung, ob er sich die verwünschte Heirath aus dem Sinne schlagen und mich mit seinen Herausforderungen in Ruhe lassen wolle: oder wenn nicht, würde ich ihm die Conzession entziehen, sich hier aufhalten zu dürfen, und gehe er nicht gutwillig, so würde er aus dem Thore gebracht. Das letztere sagen Sie ihm aber nicht gleich, denn er ist ein verteufelter Kribbelkopf, der sich Alles zu Gemüthe zieht. Wir wollen es daher mit Güte versuchen. Verordnen Sie ihm auch etwas Niederschlagendes. Er hat für’s Erste Hausarrest.“

August erwartete nichts weniger als eine solche Botschaft, die ihm der Arzt, ein besonnener, wohlwollender alter Herr, mit großer Schonung überbrachte, und dabei zugleich an seinem Pulse sah, daß der junge Mann wirklich nicht in dem Zustande war, um für zurechnungsfähig erklärt werden zu können. Er blieb lange bei ihm, und seinem milden, beruhigenden Zuspruche gelang es, daß August das Bett suchte und unter dem Einfluß eines leichten Opiats auch Ruhe fand.

Als er am nächsten Mittag erwachte, fühlte er sich wirklich unwohl und wie betäubt, so daß er das Bett nicht verlassen konnte und der Arzt, der häufig nach ihm sah, erhielt ihn gerne in diesem Zustande, um ihm Zeit zu lassen, sich mit mehr Ruhe in seine Lage hinein zu denken und einen vernünftigen Entschluß zu fassen. Er suchte ihn zu bewegen, sich ihm mitzutheilen, wohl wissend, wie erleichternd schon das ausgesprochene Wort wirkt und war bereit, ihm auch auf irgend einem vernunftgemäßen Weg mit Rath und That zur Seite zu stehen. Er begriff, daß dem jungen Manne sein Ehrenwort oder gar ein Eid etwas Heiliges war, und daß der ganze Stolz seiner edeln Natur sich dagegen bäumte, sein Versprechen nicht halten zu können. Vielfach überlegten Beide, wie sich ein Ausweg finden lasse und immer noch bot sich kein solcher; da brachte die Post einen Brief, der alle Zweifel löste. Leonie schrieb:

„Du forderst Deinen Ring zurück, mein theurer Freund! Die Bitte, verzeih es mir, war thöricht. Soll ich Dich weniger achten, weil Du meiner Mutter ein Versprechen gabst, das zu halten die Gesetze des Landes Dich verhindern? Wo war Deine Einsicht, wo Deine ruhige Besonnenheit, als Dir die Grenzlinie zwischen Wollen und Können verloren ging? – Du lieber, lieber Brausekopf, dessen stolze Ehrliebe den Himmel stürmen möchte, und dem diesmal die Erde dabei unter den Füßen entschlüpfte.

„Aber wir kennen Dich, Deine theure Mutter und ich; wir wissen, daß keine Worte, keine Gründe, keine Unmöglichkeiten diesen Makel an Deiner Mannesehre in Deinen Augen verwischen könnten, und eben weil wir Dich so kennen und Beide Dich auch so lieben, eben darum mußt Du meiner Mutter Dein Versprechen halten. So komme denn, und gieb mir das Recht, Deinen lieben Namen zu führen. Eine Dispensation dazu wird bereit sein und Dein Bruder sein Amen dazu sprechen. So komme denn und erfahre, wie wir Dich lieben! Denn damit Du Dir selbst getreu bleiben könntest, haben wir den langen, langen Hoffnungen und Plänen für die Zukunft ein ewiges Lebewohl zugerufen und beschlossen. Dich zu entbehren, auf Länge zu entbehren, damit Du einst froh in unsere Mitte zurückkehrest. – Eine kleine Gesellschaft junger Leute in Hamburg segelt ab nach St. Francisco, um sich dort eine neue Heimath zu gründen; der Sohn unseres hiesigen Oberamtmanns ist von der Zahl, und er wartet nur auf Dich, um aufzubrechen. – Komm also! Wo Du bist, konntest Du jetzt nicht mehr bleiben, komme also! Weile eine Stunde unter uns, und welch eine Stunde in unserm beiderseitigen Leben! und ziehe dann hinaus in die weite Welt, wo ein Mann, befähigt wie Du, eine Existenz finden wird und finden muß.

[206] „Wie wir das Alles möglich gemacht, wie uns die Mittel geworden, deren Du zu dieser Reise bedarfst, das kümmere Dich nicht. Frauen, die zu lieben verstehen, wie Deine Mutter und ich, die haben auch den Muth zur That, wo es das Glück Desjenigen gilt, dem ihr ganzes Sein und Denken gewidmet ist; die finden auch Freunde im Momente, wo sie deren bedürfen.

„Komm also und sei stark, wie wir stark sein wollen in dieser schweren, schweren Stunde, die mir so Vieles giebt, so Vieles nimmt! – Das Hinaus in die Welt, das Dein Herz, gesteh’ es nur, so dringend begehrte, das steht Dir jetzt bevor, und frei athmest Du auf in dem Gefühl, von da an keinem Prinzip mehr Unterthan zu sein, das der Gott in Deiner Brust Dir nicht dictirte. Sieh, wie ich Dich verstehe.

„Ich verpflege indessen unsere beiden Mütter, und erfülle die Pflicht zu Hause, die der Mann der Welt gegenüber zu erfüllen hat, und suche glücklich zu sein durch Erinnerung und Hoffnung. Komme also zu
Deiner Leonie. 

„Welch ein Mädchen!“ rief August, als er zu Ende gelesen. „Ja, Leonie, ich bin Deiner noch werth und werde Deiner werth bleiben. In einer neuen Welt sollen diese beiden gesunden Arme mir zu einer Existenz verhelfen, die unsern einfachen Bedürfnissen genügt, dort will ich mir die Hütte erbauen, wohin ich Dich als mein treues Weib führe, und meiner angebeteten Mutter letzte Jahre verschönere. Ich habe jetzt ein Ziel, dem ich nachstreben kann, das die ganze Aufwendung meiner Kräfte erfordert, und ich wäre kein Mann, wenn ich es nicht zu erreichen wüßte. – Doctor!“ rief er seinem Arzte entgegen, „helfen Sie mir einpacken! Noch diesen Abend muß ich fort von hier. Meine Fesseln sind gebrochen, meine Ehre ist gerettet und dem muthigen Wollen winkt der Sieg.“