Die „Waldlilie“
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[371] Die „Waldlilie“. (Mit Illustration S.368.) Mitten im Grün einer prächtigen Nadelholzgruppe, am Abhange der altehrwürdigen Dammallee des Grazer Stadtparks steht auf einem zwei Meter hohen einfach gegliederten Granitsockel das freundliche Denkmal, welches ein steierischer Bildner dem gefeierten steierischen Poeten zu Ehren geschaffen hat. Wem die sinnige Mädchengestalt aus dem vielleicht poesiereichsten Werke Roseggers „Die Schriften des Waldschulmeisters“, wem die von echtem Waldduft umwehte kindlich jungfräuliche Erscheinung bekannt ist, die der Dichter „Waldlilie“nennt, der wird ist dem ideal durchgeführten Gebilde des jungen Künstlers den ganzen Zauber des weihevollen Urwaldfriedens und den unbewußten Liebreiz des echten Naturkindes wiederfinden, den der gemüthsreiche Poet in die liebliche Schöpfung seiner Phantasie zu legen verstand. In loser schlichter Kleidung, mit ungefesselter wallender Haarfluth, streift die „Waldlilie“ barfuß über die Alpenmatten dahin und sammelt die Kräuter und Blumen für die Thiere des Forstes. Das ganze ergreifende, von Rosegger so lebendig und treu geschilderte Kulturbild jener kleinen weltverlorenen Waldgemeinde lebt im Geiste des Beschauers dieser sympathischen Gestalt wieder auf und jede einzelne Figur aus dem herrlichen Buche tritt in plastischer Kraft hervor. Aber das Werk Hans Brandstetters, dessen schöne Begabung ihn auf das lyrisch-romantische Gebiet seiner Kunst verweist, ist nicht etwa eine einfache Verkörperung der vom Dichter nur flüchtig gezeichneten Mädchengestalt, es ist vielmehr die freie originelle Schöpfung des jungen Meisters, dessen Geist und Gemüth in dem dichterischen Gebilde nur den belebenden Hauch gefunden. Brandstetter ist ja ist gewissem Sinne selbst so eine Art „Waldlilie“, ein echtes und rechtes Naturkind, in dem sich schon in frühesten Tagen das Talent zu zeichnen und zu schnitzeln regte. In dem kleinen Walddörfchen Michelbach, wenige Stunden von Graz entfernt, wurde Hans am 25. Januar 1854 als Sohn eines armen Nagelschmieds geboren. Seinem Vater lernte er früh die Kunst ab, Baßgeige, Violine und Guitarre zu spielen, zu zeichnen und zu schnitzeln. Er kam dann bei einem Onkel, einem Nagelschmied, ist die Lehre. Ein Felsblock, der ihm die Hand zerquetschte, endigte diese für ihn traurige Lehrzeit. Er kehrte heim, wurde geheilt, und nun ergab er sich der „Schnitzelkunst“ mit Passion. Im September 1870 kam er bei dem Holzbildhauer Gschiel in Graz in die Lehre. Zeichnen, komponiren, modelliren, schnitzeln war seine Tagesarbeit; er fand rasch den Beifall hochherziger Kunstfreunde, auch ein Stipendium des Kaisers wurde ihm zu Theil. Jedes Jahr brachte dem Jünger der Akademie einen ersten Preis. Seine Statuetten und Skulpturen fanden lohnende Abnahme. Viele seiner von idealem Geist durchdrungenen Arbeiten finden sich heute schon in den Wiener Salons. Die „Waldlilie“ im Grazer Stadtpark bezeugt besonders das schöne und reiche Talent des jungen Meisters, der sich im Herbste dieses Jahres mit einem Staatsstipendium nach Rom begeben wird, um seine Studien zu künstlerischer Vollendung zu führen.
Ernst Keiter.