Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl

Textdaten
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Autor: Alex. Braun
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Titel: Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 187, S. 540–542
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl.

Von Alex. Braun.0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Kinderzeche?“ – „Dinkelsbühl?“ fragen mit neugierigem, vielleicht sogar ein bißchen geringschätzigem Erstaunen gewiß die meisten, denen eine gelegentliche Zeitungsnotiz oder ein vereinzeltes Plakat die beiden Namen zum erstenmal vor Augen bringt. Wieviele im neuen Deutschen Reich wissen wohl etwas von der alten Reichsstadt, die eine der ältesten im fruchtbaren Virngrunde, an der Grenzmark zwischen Franken und Schwaben auf ihrem von goldenen Dinkel- und Weizenfeldern umwogten Bühel (Hügel) liegt, mit ihren grauen bemoosten Türmen und braunroten Dächern wie ein Dornröschen eingesponnen in Schlingrosen, Eppich und Blütengerank? Verschollen, dem großen modernen Verkehr entrückt, spiegelt sie die festgefügten Quadermauern, die schon am 9. April 1285 Kaiser Rudolf von Habsburg beherbergten, in den schillernden, von Seelilien überwucherten Wassergräben, auf denen Schwäne, als wären sie die Wächter dieses poetischen Zaubers, langsam und gravitätisch hin und her gleiten.

Es dauerte lange, bis Dinkelsbühl sich selbst entdeckt und, seiner malerischen Reize endlich bewußt, im begreiflichen und begründeten Wetteifer mit dem benachbarten Rothenburg o. T. es wagte, die Aufmerksamkeit der Welt auf seinen stillen Traumwinkel zu lenken.

Die „Kinderlore“ mit den Kindern vor dem Rat.

Willkommenen Anlaß bot die Kinderzeche, ein so ehrwürdiger Stadtbrauch, daß bereits das Ratskollegium von 1660 ihn „als eine alte Gerechtigkeit, die nicht abgethan werden könnte“, anerkannte. Selbst in Zeiten bitterster Not hatten die Dinkelsbühler die Sitte heilig gehalten, die eine sinnig gemütvolle Sage in Zusammenhang brachte mit der Errettung der Stadt vor dem Zorn der Schweden. Bei der ersten am 11. Mai 1632 erfolgten, für den Umschwung im Stadtregiment so bedeutsamen Uebergabe des kaisertreuen Dinkelsbühl an die Truppen Gustav Adolfs soll die Fürbitte der Kinder nämlich das Herz des schwedischen Obristen Klaus Sperreut zur Gnade gerührt haben. Zum Lohn und Gedächtnis daran läßt die Stadt nun alljährlich im Juli auf dem Bestwasen (Schießwiese) auf ihre Kosten die „Kinder zechen“. Zwar wird die sprichwörtliche ortsübliche Freigiebigkeit, die bei mittelalterlichen Ratsgelagen den Gast erst mahnte, die dritte Maß Wein ex propriis (aus eigener Tasche) zu bezahlen, weislich eingedämmt und der Schwerpunkt der Bewirtung auf die mit Pfeffernüßlein und allerhand Zuckerwerk gefüllte „Gucke“ verlegt.

Die geschichtliche Forschung hat einerseits die glimpfliche Behandlung, die Sperreut der Stadt, hauptsächlich zu Gunsten der Evangelischen, angedeihen ließ, auf eine später von Rats wegen viel umstrittene „Recompense“ (Erkenntlichkeit in Barem) zurückgeführt, und legt andererseits die Vermutung nahe, daß die Kinderzeche ursprünglich ein germanisches, von der Jugend dem Sonnengott geweihtes Mitsommerfest war aus der Zeit, da Dinkelsbühl noch nicht als die Klosterstiftung des auf dem Bühel ansässigen frommen „Dinkelbäuerle“ betrachtet wurde, sondern eine auf der Höhe gelegene Dingspill, eine urdeutsche Gerichtsmahlstatt, war.

Aber aller wissenschaftlichen Erörterung und Erklärung ungeachtet behält im Herzen des Volkes die Ueberlieferung mit Fug und Recht doch das letzte Wort. Dinkelsbühl hat seine Privilegien, mit denen 1305 ihm gleiches Recht mit Ulm, 1309 die eigene Gerichtsbarkeit verliehen worden war, eingebüßt, es hat seine Selbständigkeit 1804 an Preußen und 1806 endgültig an Bayern verloren – Eines nur, die „Kinderzeche“, von einem Geschlecht zum andern treulich gehegt als liebste Freude und Erinnerung der Jugend, ist unversehrt geblieben im Sturm und Wandel der Jahrhunderte.

Im guten Glauben, daß

„Die Stadt befreit ward aus Gefahr
Durch ihrer Kinder Flehen“

hielten alljährlich die Kinder, die Knaben mit einem berittenen Obristen an der Spitze, mit Schnurrock, Degen und Partisane, die Mädchen im buntbebänderten weißen Festkleid, ihren feierlichen Umzug, sprachen vor dem Rathaus ihren Spruch und ergötzten, die lecker gefüllten „Gucken“ im Arm, sich auf dem „Wasen“. Vielfach ist in „Jubelliedern“ und sonst in Vers und Prosa die Kinderzeche von einheimischen Dichtern verherrlicht worden, ehe man 1897 auf den glücklichen Gedanken kam, sie zu einem eigentlichen Volksschauspiel zu erweitern.

Dem Dramaturgen Ludwig Stark, der auch den Rothenburger „Meistertrunk“ zu bühnengerechter Wirksamkeit gebracht hat, ward die Aufgabe, die Sage von der gnadeerweckenden Fürbitte der Kinder dramatisch auszugestalten. Ein voller Erfolg krönte 1897 die Erstaufführung des genau den Ortsverhältnissen angepaßten, von vaterländischem Geiste getragenen Stückes, und jede Wiederholung, so namentlich die vom 17. Juli dieses Jahres, bekundet aufs neue die Tüchtigkeit der Gesamt- wie der Einzelleistungen.

Am frühen Morgen des ein für allemal zum Festtag angesetzten dritten Montags im Juli ruft Geschützdonner aus den „Stücken“ auf der Mauer die in Scharen von weit und breit herbeigeströmten Festgäste nach der alten Schranne, dem [541] Schauplatz des Kinderzechspiels. Von St. Georg tönen feierlich die Glocken; die graubärtigen Stadtsoldaten im rotweißen Schlitzwams salutieren, und schon im Banne der echt historischen Stimmung, die bald Aug’ und Ohr völlig gefangen nimmt, steigt man die Treppen zu dem mit Geschlechterwappen schön verzierten, braungetäfelten Saale hinan. Am Ende des in seiner ganzen Länge dichtbesetzten Raumes thut sich die Ratsstube auf. Pergamente mit mächtigen kaiserlichen Insiegeln bedecken den Tisch, massige, mit kunstreichen Eisenschmiedearbeiten beschlagene Truhen bergen wohl die Schlüssel und Schätze der Stadt, die breiten geschnitzten Lederarmstühle sind für den „fürsichtigen, wohlweisen Rat“ bestimmt. Ehe wir noch sattsam den stattlichen Urväterhausrat betrachtet, öffnet sich die Thüre im Hintergrunde und, aufeinander gestützt, treten die beiden ersten Bürgermeister Wigerlein (Lehrer Braun) und Abelin (Kantor Strehl) ein. Sie beklagen die Not der Stadt, die, im Innern durch Religionszwist gespalten, aus eigener Kraft dem übergewaltig heranziehenden Schweden nicht zu trotzen vermag, wenn der um kaiserlichen Entsatz nach Regensburg geeilte Stadtsyndikus Memminger keine Hilfe bringt. Wigerlein wäre der friedlichen Uebergabe geneigt, doch der mittlerweile erschienene Kleine Rat zaudert, selbst als Memminger (Kaufmann Kühl) völlig erschöpft in Bauernverkleidung hereinwankt und bekümmerten Herzens die Erfolglosigkeit seiner Sendung meldet.

Der Aufmarsch der Kinder vor der Schranne und der Spruch des kleinen Obristen.

Der Stadthauptmann (Lehrer Jungmeier) erklärt, Widerstand wäre Selbstvernichtung. Ein schwedischer Hauptmann (Gerichtsvollzieher Faber) heischt und erhält im Namen des Obristen Sperreut Gehör und fordert unbedingte Uebergabe auf Gnade und Ungnade. Die Lage ist verzweifelt. „Engel müßten niedersteigen, soll Dinkelsbühl errettet werden,“ spricht drohend der Schwede. Dies Wort erlauscht, im Begriff Botschaft zu bringen, des Rothenburger Thorwärters Töchterlein, die „Kinderlore“ genannt, weil, von ihrer Herzensfreundlichkeit angezogen, auf Schritt und Tritt alle Kinder der Stadt, arm und reich, sich ihr gesellen. „Engel?“ überlegt sie und gedenkt ihrer kleinen Lieblinge. „Hat nicht der feindliche Offizier berichtet, daß der Schwedenobrist in tiefer Betrübnis ob seines einzigen Söhnleins jähen Todes sei – und er sollte sich der Milde verschließen beim Anblick hilfloser, flehender Kinder?“ Wie von Gott erleuchtet, sammelt sie rasch die Kinder von der Straße und tritt mit ihnen vor den Rat und die Bürgermeister, um voll Demut und Mut zugleich ihren Entschluß kund zu geben. Laßt mich

„Mit ihnen flehend vor den Sieger treten ….
Ob jedem dieser Häuptlein schwebt ein Engel,
Der es bewahrt vor Unglimpf und Gefahr.
Sind sie beschirmt, so sind’s auch wir ….“

Bittend falten die Kleinen, wie unser Bild auf S. 540 in anmutiger Gruppe es veranschaulicht, die Hände, und als die Kinderstimmlein melodisch in dem Choral zusammenklingen: „Ach, bleib mit Deiner Gnade,“ vertraut, innig bewegt, der erste Bürgermeister das Geschick der Stadt den Kindern und ihrer heldenhaften Führerin an. Lore und ihr kleines Gefolge wenden sich zum Gehen, wozu auch der Rat sich anschickt.

Da erst kommt den Zuschauern, die in atemloser Ergriffenheit fortgerissen lauschten, zum Bewußtsein, daß das alles nur Spiel gewesen und sie nicht Zeuge eines wahrhaften, thatsächlichen Vorgangs waren. So ganz und gar bei der Sache waren die Mitwirkenden samt und sonders, vom ersten Bürgermeister bis zum winzigen Büblein an Lorens (Frl. Lina Pickel) Hand, so vorzüglich, typisch geradezu, paßte jede einzelne Erscheinung in die ihr zugeteilte Tracht und Rolle, daß bei absoluter Vermeidung alles Theatralischen und Unechten der Eindruck vollkommener Wahrheit erreicht wurde.

Während der Pause eilt alles durch die mit Flaggen und Gewinden geschmückten malerischen Gassen zum Wörnitzthor, wo unter freiem Himmel das Nachspiel sich entwickelt.

Auf gebieterische Trompetenstöße von außen öffnet sich das Thor und läßt die Schweden ein. Den wallenden Federhut auf dem energisch geschnittenen, bärtigen Blondkopf, den flatternden weißen Mantel auf den breiten stattlichen Schultern, reitet finsteren Blickes Klaus Sperreut (Lehrer Gebhardt), der [542] schwedische Heerführer, ein. Gesenkten Hauptes, Schutz- und Freibriefe in den Händen, nahen zur Rechten Bürgermeister und Rat vom Marktplatz, während zur Linken von der Kirche St. Georg die Lore mit ihren Kindern singend und betend heranzieht. „Ach, bleib mit Deiner Gnade, bei uns, Herr Jesu Christ,“ flehen die Kinder und halten die Händlein empor zu dem erstaunten Obristen. Seine Rührung bemeistert den Unwillen. Das goldlockige Bürschlein dort neben der jugendlichen Fürsprecherin mahnt ihn an das eigene, eben verlorene Kind, und als dann der Kleine, Gnade stammelnd, die Händlein ihm entgegenstreckt, kann er nicht länger an sich halten. Er läßt sich das Kind aufs Pferd reichen, nimmt es in den Arm, und als er fühlt, daß der Knabe sich an ihn schmiegt, erhört er das Flehen der Kinder, zu denen nun gleichfalls bittend der erste Bürgermeister getreten ist, während der Page die Stadtschlüssel dem Eroberer darbietet. Oberst Sperreut, der das Kind liebreich an sich drückt, verheißt der Stadt „Pardon“. Die Trompeten mit den blaugelben Fähnlein schmettern, und mit diesem Augenblick, den der Maler im Bilde auf S. 545 festgehalten hat, ist das Kinderzechspiel in seiner neuen erweiterten Gestalt zu Ende.

Stadtansichten aus Dinkelsbühl.

Die Pietät der Dinkelsbühler reiht aber in unveränderter Weise den altherkömmlichen Umzug des kleinen Obristen mit seinem niedlichen rotweiß in die Stadtfarben gekleideten Rokokoregiment an. Als heitere Nachhut erscheinen dann mit Blumenkörben und Gewinden die Mädchen, in duftiges, bändergeschmücktes Weiß gekleidet, meist blühende Kränzlein im Haar. Voran die aus Knaben gebildete Negimentskapelle, gleichfalls in rotweißer Uniform, den Dreispitz auf der Puderperücke, marschieren die Kinder zum Marktplatz, wo sie vor der Schranne in weitem Halbkreis Posto fassen. Hoch zu Roß „schenkt“ der kleine Obrist nun „gute Märe ein aus der Stadtgeschichte“. Mit einem Segenswunsch auf Dinkelsbühl, Bayern und den Regenten, Kaiser und Reich schließt der Redner. Die Knaben schwingen, wie unser Bild Seite 541 zeigt, ihrem den städtischen, bayrischen und deutschen Farben prangenden Fahnen und die Mädchen streuen ihre Blumen aus.

Hiermit erst hat der offizielle Teil der Kinderzeche sich völlig abgespielt und der private kommt auf dem Bestwasen in fröhlichem Jahrmarktgetümmel zu seinem Recht.

Wir aber treten noch einen Rundgang um die mit ihren 18 Thoren und Türmen wohlerhaltene Stadtmauer an. Wie lautere Poesie mutet uns dieser unvergleichliche Spazierweg an, der an epheuumrankten Zwingergärtlein, an wettergebräunten Kuppen, grasüberwachsenen Erkern vorbeiführt zum lauschigen Sitz unter einem breitästigen, von Vogelgezwitscher wiederhallenden blühenden Lindenwipfel. Streift der Blick von dort hinab zur Stadtmühle, die gleichzeitig mit der St. Georgkirche erbaut, seit mehr als vier Jahrhunderten im Betrieb steht, oder hinüber zu dem breitspurig und doch zierlich am schilfigen Weiher sich erhebenden Wörnitzthor, so empfindet man den Heimatzauber der echt deutschen Landschaft. In ihrem ganzen Liebreiz thut sie sich auf vor dem Rothenburger Thore, an dem man, wieder in die Stadt einbiegend, Abschied nimmt von der „wonnereichen Wanderung“.