Die „Frau von Auvernier“
Die „Frau von Auvernier“.
Wer ist die Frau von Auvernier? Diese Frage wird sich jedem sogleich aufdrängen, der diese Zeilen zu lesen beginnt und das beigefügte Porträt aufmerksam betrachtet. In der That gehört das Gesicht zu denjenigen, welche man nicht so leicht wieder vergißt, und die Trägerin desselben wird vielen auf den ersten Blick als eine ganz eigenartige Person erscheinen. Das ist sie für uns wirklich; denn das Urbild dieser Büste hat vor mehreren Jahrtausenden in einem Pfahldorfe am Neuenburger See in der Schweiz gelebt, zu einer Zeit, als ein großer Teil Mittel- und Nordeuropas noch ein sehr rauhes Klima besaß und der Mensch sich mit steinernen Geräten und Waffen behelfen mußte. Bildhauer, die eine Porträtbüste anzufertigen imstande waren, gab es damals natürlich noch nicht, und wenn es uns heute möglich ist, nach Verlauf von manchem Jahrtausend, den Gesichtsausdruck dieser ehemaligen Pfahlbaubewohnerin zu betrachten, so verdanken wir dies lediglich den Fortschritten der wissenschaftlichen Forschung. Diese Büste ist nämlich auf Grund anatomischer Untersuchungen von J. Kollmann und W. Büchly rekonstruiert worden. Der Schädel, welcher als Grundlage diente, wurde in Auvernier am Neuenburger See, von Schlamm bedeckt, aufgefunden, nachdem er dort jahrtausendelang gelegen hatte.
Es ist bekannt, daß die Paläontologen aus den Knochen vorweltlicher Tiere nach den Lehren der vergleichenden Anatomie deren Skelett aufzubauen wissen und, indem sie es nach denselben Lehren mit Weichteilen bekleiden, uns das vorweltliche Tier nach seinem wirklichen Aussehen vorführen. In derselben Weise läßt sich auch die Büste eines Menschen, der vor langer Zeit gelebt hat und von dem nur der Schädel noch vorhanden ist, herstellen. Der erste Versuch dieser Art wurde vor einigen Jahren in Leipzig ausgeführt.
Der berühmte Komponist Johann Sebastian Bach wurde am 31. Juli 1750 auf dem Johannisfriedhofe zu Leipzig in der Nähe der gleichnamigen Kirche begraben. Im Laufe der Zeit ist aber die Stelle, an der sich die Gruft befand, in Vergessenheit geraten. Als man nun im Jahre 1894 zum Neubau der Kirche schritt, stellte man Nachgrabungen an, um die Gebeine Bachs zu finden. Am 22. Oktober 1894 hob man in der That die Gebeine eines Mannes aus, die allem Anschein nach die sterblichen Ueberreste des großen Komponisten bildeten. Mit der Untersuchung derselben wurde u. a. der Professor der Anatomie an der Leipziger Universität Dr. Wilhelm His beauftragt. Um die Streitfrage zu entscheiden, wählte er folgenden Weg.
In Leipzig waren gute Porträts von Bach erhalten. His meinte nun, wenn der fragliche Schädel wirklich der von Bach war, so müßte ein Bildhauer um denselben eine Büste modellieren können, die in ihren charakteristischen Zügen den Bildnissen Bachs ähnlich wäre. Mit der Lösung dieser Aufgabe wurde der Bildhauer Karl Seffner beauftragt. In der That gelang es ihm leicht, eine solche Büste zu schaffen. Es wurde aber der Einwand erhoben, daß ein Künstler wohl imstande sei, über jeden Schädel einen beliebigen Kopf zu modellieren. Seffner modellierte nun über den Schädel von Bach den Kopf Händels; die Büste schien gelungen; aber das war sie nur bei oberflächlicher Betrachtung. Die nähere Untersuchung lehrte vielmehr, daß sie ein anatomisches Unding war. Stellen, die im Leben nur wenig Weichteile über den Knochen aufweisen, erschienen auf dieser Büste stark gepolstert, und umgekehrt.
Um nun alle Einwände zu beseitigen, stellte Professor His Untersuchungen an, in welcher Weise beim Menschen die Knochen des Schädels mit Weichteilen bedeckt sind. Es ergab sich dabei, daß die Verhältnisse immer die gleichen seien, wenn es sich um Menschen gleichen Alters, gleichen Geschlechts und gleicher Ernährung handelt. Für die Rekonstruktion der Bachschen Büste wurden darum nur Maße von Personen, die im Alter von 50 bis 70 Jahren standen, verwertet. Die Ergebnisse seiner genauen Messungen übergab der Anatom dem Bildhauer. Seffner arbeitete nun ganz genau nach den gegebenen Zahlen, indem er stets die vorgeschriebene Dicke der Weichteile im Modellierthon auf einen Gipsabguß des Schädels auflegte. So fertigte er eine neue Büste, deren Züge eine geradezu überraschende Uebereinstimmung mit den vorhandenen Bildnissen Bachs aufwiesen.
Gegen die Berechtigung dieser Rekonstruktion läßt sich nichts einwenden. Bach lebte vor 150 Jahren, und seit jener Zeit hat sich der Bau des menschlichen Körpers gewiß nicht verändert. Die Messungen, die der Anatom an jetzt lebenden Menschen angestellt hatte, ergaben Resultate, die ohne Zweifel auch für die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts maßgebend waren.
Ist es aber erlaubt, in derselben Weise nach einem gefundenen Schädel Büsten von Menschen zu modellieren, die vor Jahrtausenden gelebt und einem anderen, heute völlig verschollenen Volke angehört haben? Man glaubt, diese Frage wohl bejahen zu dürfen. In den letzten Jahrzehnten hat die mächtig emporblühende Wissenschaft der Anthropologie festgestellt, daß die Menschenrassen sich in Bezug auf ihre charakteristischen Eigenschaften seit Jahrtausenden nicht geändert haben, sondern heute noch die gleichen Merkmale aufweisen wie in jener altersgrauen Vorzeit, als unsere Ahnen den Gebrauch der Metalle noch nicht kannten. Die direkten Beobachtungen und Erfahrungen der letzten Jahrhunderte zeigen, daß die äußere Umgebung zwar einen gewissen Einfluß auf manche individuellen Eigenschaften des Menschen ausübt, daß aber die Merkmale der Rasse dadurch nicht verändert werden.
Wenden wir uns nach Aegypten, so sehen wir auf den dortigen Denkmälern, die mehrere Jahrtausende alt sind, Darstellungen von Menschen, die in ihrem ganzen Typus den heute dort lebenden Eingeborenen völlig ähnlich sind. Weder die Neger noch die Semiten noch die Indogermanen (Arier) haben ihren Typus seit Jahrtausenden verändert, und während die einzelnen Völker, wie Griechen, Römer, Kelten, Helvetier etc., im Laufe der Jahrhunderte emporkamen und wieder verschwanden, haben die Rassen alle Zeiten überdauert. Um daher Rassenporträts vorhistorischer Menschen zu liefern, hat man lediglich die Dicke der Weichteile der jetzt lebenden Varietäten wissenschaftlich festzustellen und entsprechend auf einen der vorgeschichtlichen Schädel zu übertragen.
Dies ist von Professor Kollmann geschehen; auf Grund genauer Messungen an einer Gipskopie des obengenannten Schädels, der sich durch tadellose Erhaltung der Gesichtsknochen auszeichnet, hat er mit größter Genauigkeit die entsprechenden Dicken der Weichteile aufgetragen, und so ist die Büste entstanden. Sie hat von den obengenannten Forschern den Namen „Frau von Auvernier“ erhalten.
Dieses Gesicht ist also das älteste Menschenantlitz aus Mitteleuropa, welches wir heute kennen. Es ist breit, hat eine flache Stirn,
vorspringende Wangen, kurze etwas aufstrebende Nase, vollen Mund und schwellende Lippen und deutlich markierte Kieferwinkel. Diese Darstellung
beruht nicht auf Phantasie, sondern für all diese Merkmale liegen, wie die genannten Forscher sagen, die unverrückbaren Dimensionen in den Knochen, die das Fundament darstellen! Jahrtausende sind ins Meer der Ewigkeit gezogen, seit diese Frau an dem Ufer des Neuenburger Sees lebte, aber ihre Gesichtszüge sind uns nicht fremd, wir sind ähnlichen unter den heute Lebenden schon begegnet, und sie werden sich auch noch viele Jahrtausende hindurch erhalten. z