Textdaten
<<< >>>
Autor: A. Noël
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Didiers Braut
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5–7, S. 154–162, 175–183, 213–220
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[154]

Didiers Braut.

Novelle von A. Noël.

Seit drei Tagen lief der Premierleutnant Detlev von Bode auf der Suche nach einer passenden möblierten Wohnung die Straßen von Metz ab. Er war erst vor kurzem mit seinem Regiment hier angelangt und wohnte bis jetzt im Hotel de Paris am Kammerplatz. Länger als sonst wohl war er in dem Allerweltsheim, wie es ein Hotel vorstellt, geblieben. Die allgemeinen Klagen über die Metzer Mietwohnungen klangen zu abschreckend. Allein endlich raffte er sich zu einem Entschluß auf. Es mußte sich doch etwas Passendes finden lassen.

Aber wahrlich die Schilderungen waren nicht übertrieben gewesen. Wo hatte er seit drei Tagen nicht schon vergebens gesucht! In allen Quartieren der alten Festungsstadt, im Umkreis der Kathedrale und des Paradeplatzes, in der Römer- und in der Esplanadenstraße, am „Staden“ des Moselarmes, wo dem Theaterplatz gegenüber die Häuser bis ans Wasser reichten, endlich in dem seiner Kaserne nahe gelegenen Teil der Stadt auf der Chambrièreinsel, zwischen dem Französischen und dem Diedenhofener Thore.

Schon war er halb entschlossen, das Suchen für eine Weile ganz aufzugeben, um sich von dem Gesehenen erst gründlich zu erholen, als er in der Belle Islestraße wieder einen Zettel erblickte, der eine Wohnung ausbot. Er blieb stehen und sah sich das Haus an. Es war ein zweistöckiges graues Gebäude mit stark nachgedunkeltem Anstrich, die Front einfach, aber nicht so kahl wie die seiner Nachbarn, die bloße Kasten mit Fensterlöchern waren. Es hatte wenigstens einen Stil, etwas von jener französischen Barockvornehmheit, für die Detlev eine gewisse Vorliebe hegte. Ein Kranzgesims schloß unter dem Dach die Fassade ab, und die fünf Fenster der Front wiesen schöne alte Eisengitter auf. Alt, still und ernst sah das Haus aus, aber nicht verwahrlost.

„Wollen es noch einmal versuchen,“ dachte Detlev und trat durch das seitlich gelegene Thor in den Flur. Während er sich nach jemand umsah, der ihm Auskunft erteilen könnte, kam ihm aus der nach dem Hof führenden Thüre eine ziemlich große und rüstige Frau entgegen, die auf ihrem grauen Scheitel mit Seelenruhe einen Wust von grellblonden Zöpfen zur Schau trug. Seine Fragen beantwortete sie in schwerfälligem Deutsch mit zögernder, schleppender Stimme. Detlev sah es augenblicklich: ein deutscher Offizier war in diesem Hause nicht willkommen. Das überraschte ihn nicht. In mehreren der eleganteren Häuser war er unter einem offenbaren Vorwand und mit scheelen Blicken abgewiesen worden. Diese öffneten sich wahrscheinlich nur französischen Mietern. Hier würde es ihm wohl ebenso gehen, obwohl die Frau nicht feindselig aussah, sondern bloß verlegen.

Sie war nicht die Hausfrau oder Vermieterin, sondern die Portiersfrau. Die Wohnung bestand aus einem Salon und einem Schlafzimmer. Die Frau erging sich im Lobe der Zimmer, aber sie wußte nicht recht, ob sie sie vermieten dürfe, Madame sei krank. Erst als Detlev in bestimmtem Ton die Zimmer zu sehen verlangte, überwand die Frau mit einem Achselzucken ihr Bedenken und setzte sich in Bewegung. Ihr folgend, erstieg Detlev eine ausgetretene und düstere, jedoch genügend breite Steintreppe und gelangte auf einen dämmerigen Flur, ein kleines längliches Viereck mit je einer Thüre in der Mitte der drei Wandflächen, welche die Treppe begrenzten. Aus der Thüre zur Linken, die aus Glas war, fiel von oben ein Lichtschein, der genügend den Weg wies. Gegen diese Glasthüre zu bewegte sich die Portiersfrau und verschwand hinter ihr. Nach einer Minute kam sie zurück und hielt nun einen Schlüssel in der Hand, mit dem sie die breite Flügelthür in der Mittelwand öffnete.

„Bitte, wenn’s beliebt,“ sagte sie mit einer einladenden Handbewegung. „Sehen Sie sich immerhin die Zimmer an. Das verpflichtet zu nichts.“

Detlev trat ein und befand sich in einer geräumigen und hohen Stube, die von den meisten der bisher gesehenen in angenehmer Weise abstach, obwohl sie offenbar seit längerer Zeit nicht mehr bewohnt wurde. Dies bewies die dumpfige Luft, von der sie erfüllt war, der Mullsack über dem Kronleuchter und die graugrünen Leinenhüllen, die das Sofa und die Polsterstühle an der Wand rechts vor Staub schützten. Da die Belle Islestraße am Moselufer liegt, hatte das Haus kein Gegenüber, und das Tageslicht fiel unbehindert in den Raum. Begünstigt von dieser Beleuchtung, musterte Detlev aufmerksam prüfend die Einrichtung des Zimmers: die gut erhaltene Rokokotapete, den grauen Marmorkamin an der linken Seitenwand, dem ein schöner Metallofen beigegeben war, und vor allem den großen Mahagonischreibtisch, der in der rechten Ecke nahe dem Fenster stand … Wahrhaftig, eine so vollständige Einrichtung hatte er noch in keiner der ausgebotenen Wohnungen angetroffen! Seine Führerin hob die Staubhüllen von den Polstern und zeigte ihm Utrechter Sammet darunter. Die Farbe war bereits stark verblichen, aber Detlev fühlte sich von diesem Zeichen des Alters eher angeheimelt als abgestoßen. Doch mußte er lächeln, wenn er sich dieses Zimmer als Wohnstube eines deutschen Offiziers dachte. So ungefähr mochten 1870 die Belagerer in Versailles gewohnt haben. Oberhalb des Sofas hing eine dunkle Landschaft, die wie die Kopie eines Poussin aussah, über dem Kamine standen auf vorspringenden Untersätzen zwei gelbliche Büsten, von denen Detlev einigermaßen ahnte, daß sie Corneille und Racine vorstellen sollten, während in der Mitte eine kleine Statue der Jungfrau von Orleans angebracht war und hinter dem Schreibtisch sich auf einer Konsole eine Büste Ludwigs XIV erhob. Ebenso stockfranzösisch sah es in dem Schlafzimmer aus, in das eine Tapetenthür führte. Das Bett war ein mächtig breites Mahagonigestell mit Vorhängen und nahm die ganze Hinterwand des Zimmers ein. Der breite Waschtisch mit dem schönen Porzellan befriedigte Detlev ganz besonders, und so wandte er sich an die Frau mit der Frage nach dem Preise. Sie nannte einen ziemlich hohen, wohl um ihn abzuschrecken, und schien einigermaßen erstaunt, daß das erwartete „Zu teuer“ ausblieb. Detlev vielmehr entgegnete ruhig: „Gut, ich nehme die Zimmer.“

Jetzt sah die Frau auf einmal ganz bestürzt aus. „Ich … ich kann hier gar nichts machen. Ich glaube, Mademoiselle hat schon anders disponiert. Belieben sich Monsieur zu gedulden. Ich will Mademoiselle holen …“

Damit geleitete sie ihn in den Salon zurück, wies ihm einen der Lehnstühle zum Sitzen an und ging. Detlev blieb lange allein, und während er nochmals alles genauer in Augenschein nahm, machte er sich, fast ohne es zu wissen, ein Bild von Mademoiselle: irgend eine kleine und doch hagere Französin, mit südländischem Typus, dunklem Teint, sehr buschigen Augenbrauen, stark ausgeprägten Backenknochen und beflaumter Oberlippe. Doch als sich endlich die Thüre öffnete, wurde er gewahr, wie sehr seine Phantasie irregegangen war, denn vor ihm stand ein schlankes blondes Mädchen mit einem ausgesprochenen Madonnentypus. Strenge, keusche Linien von edlem, wohlthuendem Reiz, beseelt von einem unsagbar ernsten, aber sanften Ausdruck. Trotz der Dürftigkeit des knappen schwarzen Kleides hatte diese jugendliche Erscheinung etwas so Respekteinflößendes, daß Detlev betroffen aufsprang. „Premierleutnant von Bode,“ stellte er sich vor.

Ueber das feine blasse Gesicht flog ein Zucken, das Detlev nicht entging, doch ließ er sich dadurch nicht abschrecken, sondern sagte mit soldatischer Geradheit: „Ihre Zimmer gefallen mir, Mademoiselle, ich bin geneigt, sie zu nehmen. Ich bitte mir nun ohne Umschweife zu sagen, ist Ihrerseits ein Hindernis vorhanden?“

Er sah beide Frauen nacheinander scharf an. Keine erwiderte seinen Blick. Die Portiersfrau blickte zu Boden, während die Augen des jungen Mädchens sich an ihm vorbei auf die Poussinsche Landschaft richteten. Ihre schmalen blassen Hände verschränkt, stand sie da, als ob sie die Frage nicht gehört hätte und seinen Blick nicht fühlte. Endlich schien sie sich aufzuraffen. Sie stieß einen hörbaren Seufzer aus und antwortete tonlos, aber in gutem Deutsch: „Sie können die Zimmer haben ...“

Mit einiger Genugthuung brachte Detlev nun das Geschäft zum Abschluß. Er erklärte, daß er noch einen Raum für seinen Burschen brauche.

„Das läßt sich machen,“ fiel die Beschließerin nun ebenso [155] eifrig ein, als sie vordem zurückhaltend gewesen war. „In der zweiten Etage ist eine Kammer frei. Das würde passen. Wenn Monsieur es wünscht, will ich sie ihm zeigen. Nur ist sie jetzt nicht in Ordnung, doch ich werde sie schon herrichten.“

„Monsieur kann sich in dieser Beziehung ganz auf Madame Joß verlassen,“ erklärte die junge Dame.

„Und der Preis für dieses Zimmer meines Dieners?“

Madame Joß sah das Fräulein an; dieses entgegnete rasch: „Dafür wird nichts besonders gerechnet.“

Detlev verbeugte sich. „Kann ich heute abend einziehen?“

„Heute?“ rief das junge Mädchen mit unwillkürlich abwehrender Bewegung und in so verstörtem Ton aus, daß Detlev betroffen einen Schritt zurücktrat.

„O, o, Monsieur! Das geht nicht!“ legte sich Madame Joß schnell ins Mittel. „Ich habe hier noch viel zu thun. Man muß das Parkett wichsen … es geht wirklich nicht! Morgen vielleicht. Oder wenn Monsieur sich wollte gedulden bis … bis Montag. Da ist gerade Monatsanfang. Das paßt besser!“

Es war, als ob sie sich eine Galgenfrist ausbäte, und da ein Blinder hätte sehen müssen, daß auch ihre Herrin diesen Aufschub sehnlichst wünschte, beschied sich Detlev. „Auch gut! Also Montag!“

Er zog seine Börse, um die Anzahlung zu entrichten, entnahm ihr ein Zehnmarkstück und reichte es mit einer kleinen Verbeugung der jungen Vermieterin. Allein diese machte keine Bewegung, um es zu nehmen. Statt ihrer nahm Madame Joß das Goldstück in Empfang.

Das blonde Mädchen richtete sich höher auf. „Alles, was Sie sonst noch wünschen, mein Herr. bitte ich mit Madame Joß zu besprechen! Guten Tag!“ Sie verneigte sich mit stolzer Höflichkeit und schritt zur Thüre hinaus.

Detlev sah ihr ein wenig befremdet nach.

„Madame ist sehr krank,“ sagte Frau Joß in entschuldigendem Ton, „und Mademoiselle Marguérite weicht nicht von ihrem Bett.“

„Wie heißen die Damen?“

„Dormans … Dormans-La Villette. Madame ist Witwe.“

„Seit kurzem erst?“

„O nein! Seit zwanzig Jahren!“

„Und sie hat nur die einzige Tochter?“

„Natürlich! Madame war überhaupt bloß ein halbes Jahr verheiratet. Mademoiselle ist ein nachgeborenes Kind …“

„Ich habe irgendwo gelesen, daß diese glücklicher werden als andere …“

„Wirklich?“ rief die Frau überrascht. „Das müßte dann noch kommen, denn bis jetzt hat das Glück ihr noch nicht viel gewährt. Soll ich Ihnen das Zimmerchen oben zeigen?“

Detlev willigte ein, weniger aus Begierde, das Zimmer zu sehen, als aus einem dunklen Bedürfnis, das Haus noch nicht zu verlassen … Frau Joß ging ihm also voran, ihn einmal um das andere Mal als „Herr Leutnant“ ansprechend. Detlev mußte lächeln über die veränderte Art der Frau. Die militärische Einquartierung schien ihr gar nicht so unwillkommen zu sein. Mit großer Beflissenheit machte sie ihm auch die Honneurs des Hauses und stellte ihm in Ermanglung der Bewohner wenigstens ihre Thüren vor. Die Wohnung nebenan gehörte den Fräulein Perraul, zwei alten Damen, die somit Detlevs Nachbarinnen zur Linken wurden. Im zweiten Stock wohnte vorn heraus und links ein Agent, der ein Nest voll Kinder hatte, rechts eine Näherin, und zwischen der Küche derselben und der Küche der größeren Wohnung befand sich eben das Zimmerchen, das sie dem Diener des Herrn Leutnants einräumen wollte. Detlev warf nur einen Blick in das mit Möbeln vollgepfropfte Gelaß. Es genügte seinem Zweck vollkommen. Sein Stefan wäre auch mit weniger zufrieden gewesen.

„Sie sind eine Metzerin?“ fragte Detlev im Hinabsteigen.

„Nein, ich bin aus Toul. Madame Dormans ist aus Nancy, aber mein Mann war ein Metzer von Geburt, und Herr Dormans desgleichen. Die Dormans sind eine alte Metzer Familie .... Der Herr Leutnant sind noch nicht lange in Metz? Wie gefällt es Ihnen hier?“

„Ich hoffe, es wird mir gefallen, wenn ich erst einmal eine Wohnung habe.“

„O, mit der Wohnung werden Sie wohl zufrieden sein!“ rief Madame Joß mit Ueberzeugung.

„Hm, aber man sieht nicht gern einen Deutschen in diesem Hause. Gestehen Sie nur!“

Die Frau lachte verlegen: „Mein Gott, der erste Schritt, der kostet Ueber… Ueber…“ der Schluß des Wortes fiel ihr nicht ein – „aber wenn Sie einmal zum Hause gehören, wird Ihnen niemand mehr etwas in den Weg legen. Man muß sich hineinfinden! Sie können ja nichts dafür. Also auf Montag, Herr Leutnant!“ Mit diesen etwas rätselhaften, von Detlev aber doch so ziemlich verstandenen Worten öffnete sie ihm das Hausthor und entließ ihn mit freundlichem Blick und Lächeln.

„Das klingt ja recht tröstlich!“ sagte sich Detlev mit innerer Belustigung. „Nun, wenigstens bin ich jetzt untergebracht! Es war Zeit!“

*      *      *

Vor einem quer über die Zimmerecke gestellten altertümlichen Schrank, dessen unterer Teil von geschweifter Form eine Kommode mit drei Schubladen bildete, während der mittlere, wenn man den schrägen Deckel aufklappte, sich als Schreibtisch benutzen ließ, saß Marguérite Dormans, ein Wirtschaftsbuch vor sich, in das sie einige Eintragungen machte.

Alt wie dieser Schrank war auch die übrige Einrichtung von dunklem, durch die Zeit geschwärztem und gewiß auch wurmstichigem Holz. Das sehr tiefe, aber nicht ebenso breite Zimmer, dessen zwei Fenster nach dem Hofe gingen, war überhaupt ganz in düsteren Farben gehalten: dunkle Tapeten und Vorhänge und ebenso dunkle Polstermöbel ließen es wohl auch bei hellem Tageslicht nicht allzu freundlich aussehen. Obendrein aber war jetzt noch einer der beiden Fensterladen geschlossen, und durch das zweite Fenster fiel – es war spät am Nachmittag – nur eben so viel blasses Licht auf die Schreibplatte, als Marguérite bedurfte, um ihre Ziffern zu schreiben. Der Hintergrund des Zimmers blieb im Schatten, und man konnte kaum erkennen, daß dort im Alkoven, dessen Vorhang zurückgezogen war, eine breite Bettstelle stand, die ihn fast gänzlich ausfüllte. Erst beim Nähertreten hätte man bemerkt, daß unter dem dunkelroten, von dünnen Säulen getragenen Betthimmel eine hagere ältliche Frau lag, mit Zügen, die einmal schön gewesen sein mußten, jetzt aber so spitz geworden waren, daß sie selbst in der Dämmerung, die alle Linien verwischt, noch unvermindert scharf hervortraten.

Marguérite hatte ihre Eintragungen beendet und stützte nun in tiefem Sinnen die Ellbogen auf das Schreibpult.

Die Dämmerung wuchs und verschlang die letzte Spur von Helligkeit; da schreckte ein polterndes Geräusch über ihrem Haupt das junge Mädchen aus ihrem Brüten auf.

„Was ist?“ fragte eine matte und doch schrill klingende Stimme vom Bett her.

„Nichts, nichts, Mama,“ sagte Marguérite beruhigend. „Wohl die Kleinen des Agenten. Du weißt, sie sind unverbesserlich.“ Ihre Stimme klang nicht ganz unbefangen, denn sie sagte ja eine bewußte Unwahrheit. Diesmal beschuldigte sie die kleinen Lärmer mit Unrecht: was da oben rumorte, das war Madame Joß, die das kleine Zimmer für den Diener des deutschen Offiziers ausräumte.

„Marguérite!“ kam es wieder vom Bett her.

„Mama?“

„Du hast also die Zimmer vermietet?“

„Ja, Mama.“

„An wen?“

„Es ist ein … ein Beamter, Mama. Scheint Vermögen zu haben. Der Preis war ihm nicht zu hoch ...“

„Wo ist er angestellt?“

„Bei – bei der Regierung.“

„Bei der deutschen Regierung?“

„Ich weiß es nicht bestimmt, Mama. Vielleicht nicht bei der Regierung. Ein Deutscher ist es leider. Das konnte nicht vermieden werden. Er geht uns ja nichts an, Mama. Wir werden ihn nie sehen, nie …“

Wieder eine Pause. Oben polterte es heftig. Aus dem Stübchen wurde jetzt sicher der überzählige große Schrank entfernt, der so schwer war. Aber trotz dieses Geräusches vernahm Marguerite deutlich den tiefen Seufzer der Mutter, die sich schwer auf ihrem Lager umwendete.

[156] „Gieb dir keine Mühe!“ sagte Madame Dormans endlich mit dumpfem Hohn. „Als ob ich nicht seinen Säbel klirren gehört hätte, als er im Salon war. Ich weiß, es ist ein Offizier. Ich wußte gleich, daß es einer von ihnen sei … du glaubst wohl, daß es so leicht sei, deine Mutter zu betrügen?“

„Mama!“ rief Marguérite schmerzlich betroffen aus.

„Nein, laß nur, ich weiß ja,“ fügte sie milder hinzu, „du wolltest mir diesen Schmerz ersparen. Aber mußte es denn sein?“

„Es mußte nicht sein,“ meinte Marguerite zaudernd, „jedoch in unseren Verhältnissen bedeutet die Summe, die der Preuße als Miete zahlen wird, schon etwas, und wir können das Geld sehr gut brauchen.“

„Sag’: der Doktor und der Apotheker brauchen es, wenn du das Richtige treffen willst. Mir ginge es auch nicht schlechter, wenn ich mich entschlösse, diese beiden abzudanken. Aber du giebst ja keine Ruhe, nur deinetwegen lasse ich an mir herumpfuschen …“

„Es ist dir doch wieder besser nach der letzten Arznei?“

„Ja, ja, noch eine Galgenfrist. Mit diesem deutschen Mörder zum Nachbar wird es um so schneller bergab gehen!“

„Seien wir gerecht. Dieser da hat wenigstens nicht mitgemordet. Er ist noch nicht dreißig …“

„Desto schlimmer!“

„Soll ich ihm das Geld zurückschicken? Ihm abschreiben?“ fragte Marguérite.

Frau Dormans seufzte. „Nein, mein Kind. Verzeih’ deiner Mutter, wenn sie dir Vorwürfe über irgend etwas macht, was du um ihretwillen thust,“ sagte sie nach einer Pause in ganz verändertem und tieftraurigem Ton. „Ich weiß, seit Monsieur Bolséque tot ist, kommst du nicht mehr recht aus. Aber freilich, Gott allein weiß, welche Qual es für mich ist, dieselbe Luft mit diesen Deutschen zu atmen.“

„Eine Qual, Mama, die du dir selbst auferlegt hast. Warum bliebst du in einer Stadt, wo man nicht auf die Straße blicken kann, ohne die Tellermützen der Deutschen zu gewahren? Warum sich krank ärgern über den Anblick? Wärst du doch nach Nancy gezogen, Mama!“

„Ich wollte ausharren! Konnte ich denken, daß die Revanche so lange werde auf sich warten lassen? Auch hätte ich das Haus nur schlecht und schwer verkaufen können. Bedenk’ – die Hypotheken …“

„Dort drüben wäre dein Haß eingeschlafen, der Zorn, der dich noch immer so aufregt, hätte sich gelegt.“

„Er sollte sich nicht legen, und der Haß sollte nicht einschlafen!“ rief Madame Dormans heftig. „Ich will nicht vergessen! … Nun ist dafür gesorgt, daß ich es niemals thue!“ Sie lachte ingrimmig.

„Du wirst unsern Mieter weniger sehen als andere, denen du auf der Straße begegnest …“

„Hoffentlich! Nur gut, daß du wenigstens einen hohen Preis verlangt hast!“ fügte sie einlenkend hinzu.

„Nicht ich nannte den Preis,“ erklärte Marguérite sanft, „Madame Joß war es. Ich hätte niemals den Mut gefunden, so viel zu verlangen. Es ist eigentlich zu viel …“

„Hast du etwa Gewissensbisse?“ fragte Madame Dormans. „Wenn es ihm nicht zu viel ist! Sie haben uns fünf Milliarden abgenommen.“

Marguérite lächelte ein wenig, wie eben die Jugend lächelt, wenn man ihr alte Geschichten erzählt. Was im Jahre Siebzig geschehen war, gehörte für sie wirklich der Vergangenheit an. „Das ist ein bißchen lange her, Mama, und diese Milliarden sollen seitdem in kleiner Münze wieder zurückgeflossen sein über die Grenze.“

„Mag sein! Es würde mich auch nur freuen, einem unserer Feinde sein Geld abzunehmen, wenn man nicht zu gleicher Zeit seine Nachbarschaft erdulden müßte. Nun, bei der ersten Wendung unseres Schicksals zum Besseren erhält der Preuße schleunigst den Laufpaß. Nicht wahr, meine Tochter?“

„Ja, Mama, mit Extrapost!“ antwortete das junge Mädchen heiter, während sie sich darüber verwunderte, daß ihre verdüsterte und verbitterte Mutter doch noch auf bessere Wendungen hoffte.

„Wenn du gewollt hättest,“ begann Frau Dormans nach einer Pause, nicht ohne Zaudern – man sah, sie hatte eine gewisse Scheu, den Gegenstand zu berühren – „so wäre dieser Umschwung zu unseren Gunsten bereits erfolgt.“

„Wie meinst du das?“

„Du weißt recht gut, wie ich es meine. Bloß etwas mehr Entgegenkommen und Liebenswürdigkeit, eine bessere Taktik … Wenn es mit rechten Dingen zuginge, hätte Didier dir längst eine Erklärung machen müssen!“

Marguérite antwortete nicht. Sie faltete die Hände über ihrem Knie und blickte starr in die Glut des deutschen Ofens, der auch hier dem französischen Kamin als Vorspann beigegeben war.

„Es wäre ein Glück, Kind,“ fuhr Madame Dormans fort.

„Und ich, Mama, ich finde, es ginge gegen meinen Stolz, Didier Morels Frau zu werden,“ entgegnete Marguérite nach einer Pause. „Du bist doch sonst so stolz, Mama, und stolz darauf, daß du stolz bist.“

„Sehr gut gesagt! Ich bin stolz und stolz, es zu sein … Andere, die eine so reiche Jugendfreundin haben, würden zweifelsohne in Verlegenheiten, wie ich sie schon durchmachte, diese Freundschaft in Anspruch nehmen, und obgleich sie geizig ist wie eine Italienerin, die gute Lolotte, sie hätte mir doch nicht Nein sagen können … Aber es fällt mir nicht ein, ein Geschenk oder ein Darlehen von Lolotte zu verlangen, und böte sie mir es an, ich würde es ablehnen … Indessen das mit der Heirat, das ist doch ganz etwas anderes! … Ihr Sohn würde doch nicht etwa Herabsteigen, wenn du seine Frau würdest. Im Gegenteil, mein Kind. Was Familie betrifft, können sich die Morels nicht mit den Dormans und auch nicht mit den Fleurys messen, denen ich entstamme!“

„Aber er ist so reich, und ich …“

„Auch du bist nicht ganz arm … Tu erhältst doch nach meinem Tode dieses Haus … Wenn Metz demnächst wieder einmal an das Vaterland zurückfällt und der Bann von der Stadt genommen wird, der jetzt ihr Gedeihen hindert, wird es auch wieder mehr wert sein als heute. Wer weiß, wie es noch einmal im Preise steigt!“

Marguérite lächelte etwas ungläubig.

„Und deine Schönheit, deine Bildung? Ist das nichts? Deine Seele ist mehr wert als alle Morelschen Reichtümer. Ich gestehe dir, daß ich diese Heirat wünsche … Seit Jahren … Nicht aus Selbstsucht, mein Kind, weil ich für mich davon Vorteil erhoffe … Ich werde ja überhaupt nicht mehr lange irdische Bedürfnisse haben!“

„O Mama!“ rief Marguérite schmerzlich bewegt.

Frau Dormans fuhr, ohne den Einwurf zu beachten, fort: „Aber eben deshalb würde es mich glücklich machen, dich versorgt zu wissen. Eine Mutter, die sich darauf vorbereitet, von dieser Erde zu scheiden, möchte natürlich gern die Gewißheit mit sich nehmen, daß die Zukunft ihres geliebten Kindes gesichert ist. Ich könnte nie ruhig sterben, wenn ich dich einsam wüßte, selbst wenn du dabei reich und sorgenlos wärest … Ich muß wissen, mit wem sich dein Leben verknüpfen wird, muß ihn mit eigenen Augen sehen, den Mann, an dessen Seite du es zubringen sollst! Unerträglich wäre mir der Gedanke, zu sterben, ohne deinen künftigen Gatten gekannt zu haben! Begreifst du das?“

„Nur zu gut! Aber reden wir nicht mehr vom Tode, Mama! Sprechen wir vom Leben! Wenn es so geschähe, wie du wünschest, würdest du dann mit mir kommen nach Nancy in mein neues Heim? Denn du weißt: von dir gehe ich nicht!“

„Ich verspreche dir es feierlich: Ich ziehe mit dir! O, es wird schön werden!“

„Mama, Didier hat noch nicht um mich geworben!“ erinnerte Marguérite.

„Er thut es, sobald er sich für gewiß halten darf, mit seiner Werbung nicht fehlzugehen,“ versicherte Madame Dormans. „Und auch Lolotte wird dich gern als Schwiegertochter begrüßen. Liebt sie das Geld, so liebt sie ihren Didier doch noch mehr. Sie kann ihm nichts abschlagen und wird sich gegen seinen Herzenswunsch nicht stemmen. Und Monsieur Morel ist ja nichts weiter als ihr Echo. Von dieser Seite droht kein Hindernis … Du brauchst nur zu wollen. Bei seiner letzten Anwesenheit hier, ich erinnere mich gut, war er Feuer und Flamme … Ich meinte, diesmal würde er sich erklären. Aber du …“

„Nun, was habe ich ihm denn gethan?“ Marguérite lachte leicht auf.

[157] „O, gar nichts!“ spöttelte Madame Dormans. „Du sagtest bloß, daß dir hochgewachsene Männer besonders gefielen. Da der arme Didier nicht allzugroß ist, hat das seine Eigenliebe verletzt ... Er ist ein wenig eitel.“

„Ich wollte seine Eigenliebe gewiß nicht verletzen. Er kann ja nichts dafür. Aber er ist wirklich nicht groß, sogar bedeutend kleiner als ich.“

„Bedeutend? O, kaum merklich. Er hat trotzdem eine hübsche Figur!“

„Sag’, Mama, ziehst du es nicht auch vor, wenn Männer stattlich aussehen?“

„O – ja!“ Das Zugeständnis kam langsam von Madame Dormans’ Lippen. „Dein Papa war ziemlich groß. Aber man kann sich seinen Gatten doch nicht mit dem Meterstab aussuchen. Die Franzosen sind nun einmal im allgemeinen keine solchen Hopfenstangen wie die Preußen ... Wie ist denn unser Mieter? Groß oder klein?“

„Nicht übermäßig groß.“

„Jung? Doch das sagtest du schon. Wie sieht er sonst aus? Wie findest du ihn? Häßlich zum Furchteinflößen, sollt’ ich denken, oder wenigstens abgeschmackt gewöhnlich, mit Haaren, die wie schmutziger Hanf aussehen, ungeschlachten Gliedmaßen und porzellanblauen Augen, die nicht für zwei Sous Geist verraten. Hab’ ich’s getroffen?“

Unwillkürlich sah das junge Mädchen bei dieser Schilderung die schlankkräftige Figur in der knappen, kleidsamen Uniform vor sich, das ernste, männlich streng und doch fein geschnittene Gesicht mit den ganz kurz getragenen dunkelblonden Haaren und dem helleren, ziemlich langen Schnurrbart... Es war gebräunt bis zur Stirne, die weiß davon abstach, und die keineswegs porzellanblauen, wenn auch hellen Augen richteten sich fest und durchdringend auf denjenigen, der ihnen gegenüberstand. So wenig dies alles zu Madame Dormans’ schmeichelhaften Voraussetzungen stimmte, so antwortete Marguérite doch leichthin: „Ungefähr! Ich habe ihn übrigens kaum betrachtet und weiß nicht viel von ihm. Auf sein Aeußeres kommt es ja nicht an, nicht wahr? Und wäre er der Schönste, was kümmert es uns!“

„In dieser Beziehung bin ich deiner sicher. Du hast ein französisches Herz! Mit den Perrauls wirst du einen harten Strauß auszufechten haben ...“

„Ach nein, Du weißt, sie waren so ängstlich, so lange die Zimmer nebenan leer standen. Sie meinen, der Geist des seligen Monsieur Bolséque gehe in ihnen um. Und sie fürchten sich nicht vor ihm allein, auch vor Räubern und Einbrechern.“

„Ich weiß, ich weiß! Die Joß muß jeden Abend aufschließen, die leere Wohnung durchsuchen und unters Bett leuchten, um zu sehen, ob niemand dort versteckt ist. Ich vermute, sie halten einen Dieb für fähig, sich durch das Schlüsselloch einzuschleichen.“

Marguérite lachte über den Scherz der Mutter. „Die Armen! Diese ewigen Aengste! Es wird ihnen nur lieb sein, daß die Räume neben ihnen wieder bewohnt sind.“

Unterdessen war es ganz finster geworden, und Marguérite nahm von einem Seitentisch eine Lampe, zündete sie an und brachte sie zum Bett ihrer Mutter, wo sie sie auf das Nachttischchen stellte. Das Licht bestrahlte ihr Gesicht von unten herauf, und mit dem Abglanz des eben verflogenen Lächelns, der noch auf ihren Zügen lag, erschien die Tochter der Kranken so schön, daß diese davon betroffen wurde, als ob es ihr neu wäre. Die mußte doch jedem gefallen!

So kehrten ihre Gedanken zu dem früheren Gespräch zurück.

„Wenn Didier uns wieder besucht, willst du dann etwas liebenswürdiger mit ihm sein, mein Kind? ... Um meinetwillen?“

Marguerite blickte eine Weile stumm vor sich hin, dann leistete sie ohne Begeisterung, aber auch ohne Widerstreben das verlangte Versprechen.

Der Umzug war beendet; Detlev saß bereits mit einem behaglichen Gefühl des Heimischseins in seiner neuen Wohnung am Schreibtisch und schrieb aus der neuen Garnison den ersten regelrechten Brief nach Hause an seine liebe Mutter, die in Holstein bei seiner verheirateten Schwester lebte.

Das blonde Hausfräulein war bei seinem Empfang unsichtbar geblieben. Frau Joß allein hatte ihn bewillkommt und die Hoffnung ausgesprochen, daß er sich in seinem neuen Heim wohlfühlen werde. Als er dann nach angestrengtem Tagesdienst gegen Abend zum erstenmal heimkehrte, blickten ihm seine Zimmer blitzblank, staubfrei und tadellos aufgeräumt entgegen. Sein Bursche Stefan hatte unterdessen das Auspacken besorgt, und sogar Kisten und Koffer waren bereits auf den Speicher geschafft worden.

Detlev sagte dem Burschen ein Wort der Anerkennung, aber dieser gestand, daß er nicht alles allein geleistet hätte. Madame „Schoß“ habe ihm die Tochter zur Hilfe heraufgeschickt. „Mattmosell Schannett heißt sie, und sie hat natürlich mehr Schick dazu, hübsche Sachen einzuräumen, als unsereiner,“ schloß er bescheiden.

„Das wird wohl die kleine Rote sein, die ich just im Flur traf?“ meinte Detlev, halb fragend.

Stefan hätte nun gern berichtet, daß Mattmosell Schanett nicht rot sondern goldblond sei, aber konnte doch seinem Leutnant nicht widersprechen. „Kann sie Deutsch?“

„Zu Befehl, Herr Leutnant. Und ob! wenn ich so Franzö'sch könnte! Bloß ein wenig possig klingt es ... Die Schoß sind halbe Deutsche, Herr Leutnant. Was der Madame ihr Vater war, der stammte aus der Pfalz.“

[158] „Die ist also keine Feindin, Stefan?“

„Zu Befehl, nein … Die deutsche Uniform gefällt ihr sogar besser …“

„Ah, wirklich?“ Detlev lächelte belustigt, wodurch Stefan sich ermutigt fühlte, fortzufahren: „Aber die anderen im Hause! Lauter Deutschenfresser, Herr Leutnant!“

„Uns werden sie nicht fressen, Stefan,“ beruhigte Detlev.

„Ne! Könnten ihnen im Magen liegen bleiben!“ grinste Stefan.

Detlev hatte bereits bemerkt, daß sein Einzug ins Haus bei den übrigen Hausbewohnern keineswegs ungeteiltes Entzücken erweckte. Im Erdgeschoß befand sich ein Laden, dessen Inhaberin ihm vorhin, als er ins Haus trat, einen unverfälschten Hassesblick zugesandt hatte, und dann war er auf der Treppe mit einem kleinen schwarzen Mann zusammengetroffen – vermutlich der Agent – der ihn mit Entsetzen und Verstörnng angestarrt hatte.

„Mattmosell Schannett hat mir auch gesagt, warum sie uns alle so hassen. Die Frau in der Butike unten verlor ihren einzigen Sohn im Kriege.“

„Wo ist er gefallen?“

„Nirgends, Herr Leutnant. Er war erst ’n paar Jahre alt. Aber während der Belagerung, da kriegte der arme Junge den Typhus, und aus war es. Nun meint die Frau, wenn die Deutschen Metz nicht belagert hätten, wäre es nicht geschehen, und so rechnet sie ihn uns an, als Kriegsopfer. Was dann die beiden alten Damens nebenan sind, die verloren damals im Kriege ’nen Bräutigam. Es ist aber nicht sicher, daß er gefallen ist. Vielleicht hat er sich bloß seitwärts in die Büsche geschlagen. Auch weiß man nicht, welcher von ihnen er eigentlich gehört hat, und so trauern sie noch heute alle beide um einen einzigen Bräutigam.“

Ueber Detlevs Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. „Ist das die ganze Verlustliste?“

Des Burschen breites Lächeln verschwand. „Zu Befehl, nein, Herr Leutnant. Der Vater von dem schönen Fräulein, Monsieur Dormans, der ist richtig bei der Belagerung von Metz gefallen.“ Sein Gesicht war bei dieser Mitteilung ganz ernst geworden. „So ’n schönes Fräulein und keinen Vater von Geburt an … Und die kranke Madame soll nicht wenig griesgrämig sein.“

„Nun hast du mir ja wohl die ganze Hauschronik berichtet,“ schnitt Detlev weitere Erörterungen ab. „Du kannst jetzt gehen, Stefan. Schick mir aber später die Madame Joß herauf. Ich möchte mit ihr sprechen.“

Nach einer Stunde etwa klopfte es an die Thüre und Madame Joß trat mit verbindlichem Lächeln ins Zimmer, nach den Wünschen des Herrn Leutnants fragend.

Detlev hatte bereits mit ihr verabredet, daß sie gegen entsprechendes Entgelt die letzte Hand an die Ordnung seiner Zimmer zu legen und seine Wäsche in stand zu halten habe. Sein Stefan bediente ihn zwar mit Eifer und Geschick und konnte zur Not ein Stubenmädchen ersetzen, aber seine Begriffe waren doch etwas gar zu militärisch. Die Stühle mußten in Reih’ und Glied stehen wie Soldaten, und auch die Nippes stellte er auf wie Rekruten. Weibliche Beihilfe konnte ihm nur zu statten kommen.

Madame Joß nahm Detlevs Anordnungen bereitwillig entgegen und versprach, alles nach Wunsch zu besorgen. Zugleich benutzte sie die Gelegenheit, ihm ihre Tochter als Weißnäherin und Stickerin zu empfehlen. Detlev sagte gern zu, ihr vorkommenden Falls seine Kundschaft zuzuwenden, und durch seine Freundlichkeit ermuntert, kam die Frau dann sofort auf ihre Verhältnisse zu sprechen. Mein Gott, sie hatten den Nebenverdienst recht nötig.

Der kleine Hausmannsposten trug nicht viel, und die Bedienung der Damen Perraul und Dormans noch weniger. Die Fräulein Perraul verfügten nur über eine bescheidene Rente, und Madame Dormans mit ihrer Tochter lebte von der Miete ihres Hauses.

Die hohen Steuern und die Zinsen der Hypothek abgerechnet, blieb ihnen nicht viel, und dieses Wenige verschlang größtenteils Madames Krankheit. „Unser armes Fräulein genießt nichts Gutes. Sie kommt fast nirgends hin als in die Kirche und auf den Friedhof. Ich möchte es ihr wahrhaftig gönnen, wenn ihre Verhältnisse sich ändern würden!“

„Ist dazu Aussicht?“ fragte Detlev.

„Man muß immer hoffen,“ wich Madame Joß aus. „Aber wenn sie auch reich wäre und alle Vergnügungen haben könnte, sie würde doch auf alles verzichten, um bei der Mutter zu bleiben. O, sie ist engelsgut, Mademoiselle! Madame macht ihr das Leben oft sauer, aber Mademoiselle beklagt sich nie.“

„Madame ist also nicht sehr geduldig?“

„Sie leidet zuviel, Monsieur. Das verdirbt den Charakter. Nicht, daß sie unfreundlich wäre gegen Mademoiselle. O nein, sie liebt ihre Tochter unendlich und giebt ihr nie ein böses Wort … Aber sie hat einmal nicht die Natur, daß sie ihre Leiden verbergen könnte, um Mademoiselle nicht zu betrüben. Sie muß klagen und jammern, sie muß! … Und dann ärgert sie sich so viel ...“

„Worüber?“

„Ueber –“ Frau Joß stockte verlegen. „Mein Gott, über alles. Es ist ihr Bedürfnis. Ich weiß nicht, wie sie’s aushielte, sich nicht zu ärgern. Sehen Sie, Monsieur: wenn man auf Dornen liegt und man kann zur Seite rücken, so thut man’s doch, nicht wahr? Sonst hat man kein Recht, sich zu beklagen. Nun, Madame Dormans rückt nicht ab, die Dornen sollen nachgeben, und da sie’s nicht thun …“ Sie schloß mit einem Achselzucken.

Als Detlev Madame Joß entlassen hatte, blieb er in Nachdenken zurück. Zu dem starken Eindruck, den ihm die von der Trauertracht nur gehobene Schönheit und Anmut des jungen Mädchens gemacht hatte, gesellte sich noch das Mitleid über ihre Lage. Abgeschlossen vom Leben, in fast klösterlicher Stille und Einsamkeit verlebte die schöne Blonde ihre Tage an der Seite einer herb gestimmten Mutter, die ihr vermutlich nichts als Haß und Groll predigte zu einer Zeit, wo andere Mädchenherzen sich weicheren Gefühlen hingeben dürfen …

Er bekam sie zunächst gar nicht zu Gesicht, vernahm nur von Madame Joß, daß Madame Dormans wieder einmal einen heftigen Anfall gehabt habe. Sie litte an Herzkrämpfen, die mitanzusehen schrecklich sei, und thatsächlich werde von diesen Anfällen Mademoiselle Marguérite noch mehr mitgenommen als die Kranke selbst. Zum Glück hätte Madame nach solchen schrecklichen Tagen und Nächten immer für längere Zeit Ruhe. Da Detlev häufig nach dem Befinden seiner Wirtin fragte, so nahm Madame Joß die Gewohnheit an, ihm über deren Leiden ausführlicheren Bericht zu erstatten als er verlangte; aber er ließ der guten Frau die epische Breite ihrer Bulletins hingehen, denn zwischendurch erwähnte sie ja immer auch Mademoiselle, und von dieser zu hören, wurde er nie müde. Seine Gedanken beschäftigten sich auch sonst gern mit ihr, doch nahm ihn das Leben in der neuen Garnison so in Anspruch, daß ihm nicht viel Zeit zu müßigen Träumereien blieb. Die altersgraue enggebaute Stadt mit dem stockenden Wachstum, in der man kaum einen Neubau erblickte, hatte für Detlev viel Interessantes, zumal er noch nie in einer Festung gelebt hatte. Die vielen Forts, Lunetten, Brücken, Wälle, Graben und die alten Thore, alles, was dem Nichtmilitär eine solche Stadt verleidet, wurde von ihm mit Aufmerksamkeit besichtigt. Die Umgebung der Stadt mit ihren vielen freundlichen Dörfern und der anmutigen Mosellandschaft lud zu Ausflügen ein, während meistens ungetrübt schönes Wetter herrschte und die Spätherbstsonne ihren goldigen Schein über das Land ergoß. Detlev schaffte sich ein Pferd an, das er freilich außer Haus einstellen mußte, und machte in dienstfreien Stunden lange Spazierritte; alle durch den Krieg berühmten Orte und Schlachtfelder der Umgebung wurden besucht, und daheim warf er sich eifrig auf das Studium der Festungskunde. Seine Geselligkeit beschränkte sich auf jene, die ihm die Kameradschaft gebot.

Diese stille Lebensweise machte ihn zu einem sehr angenehmen Mieter, und wenn Madame Dormans sich nach dem „Preußen“ erkundigte, hatte Madame Joß denn auch nur Vorteilhaftes zu berichten. Madame Dormans hätte eigentlich sehr wohl damit zufrieden sein dürfen, es wäre ihr aber im Gegenteil lieber gewesen, wenn die Hausmannsfrau ihr rechte Schauergeschichten von dem Hochmut und der Roheit des fremden Kriegers hätte erzählen können. Sich über dies oder jenes aufzuregen, bildete ja fast ihre ganze Zerstreuung, denn wenn auch der Herzkrampf sie gerade in Ruhe ließ, so hielt doch irgend ein anderes ihrer Leiden sie im Bett oder wenigstens zwischen ihren vier Wänden fest.

Sie selbst wurde für Detlev, da sie ihm unsichtbar blieb, fast zu einer mythischen Figur. Hingegen konnte es nicht fehlen, daß er Marguérite, die doch wenigstens ihren Kirchgang machte, [159] hin und wieder begegnete. Gewöhnlich befand sie sich dann in Gesellschaft der Damen Perraul. Diesen begegnete Detlev fast täglich im Flur, auf der Treppe oder auf der Straße. Wie früh er auch aufstehen mochte, um sich nach dem Exerzierfeld oder in die Kaserne zu begeben, die alten Fräulein waren ihm doch schon zuvorgekommen und kehrten bereits von ihrem Ausgang heim. Beide Schwestern waren dicke kleine Personen mit runden Gesichtern und blanken Aeuglein, gehüllt in dreieckig gefaltete Umhängetücher von mattem schwarzen Kaschmir und mit haubenähnlichen schwarzen Hüten, die innen weiße Krausen hatten und rückwärts mit langwallenden Trauerschleiern versehen waren. Zwischen diesen rundlichen trippelnden Gestalten erschien Marguérite noch schlanker und größer als sie thatsächlich war. Einigemal war Detlev bereits mit stummem Gruße vorübergegangen. Marguérite dankte stets mit ruhiger Freundlichkeit, und auch die beiden alten Fräulein ließen es nicht an Höflichkeit fehlen. Der Feind sollte ihnen nicht nachsagen, daß man „in Frankreich“ keine Manieren habe. Es kam Detlev übrigens vor, als betrachteten ihn die beiden alten Mädchen nicht ohne Interesse. Sie schienen ziemlich neugierig zu sein, was bei ihrem leeren Leben nur begreiflich war. Und eine der beiden Schwestern wurde denn auch, obwohl unabsichtlich, die Ursache, daß er die Damen ansprach.

Der schöne Herbstmorgen war kaum noch angebrochen. Ueber dem Flusse, der neben der Straße floß, schwebte Nebelhauch, und zarte graue Schleier umzogen den nur tief unten im Osten von der aufsteigenden Sonne goldig gefärbten Himmel. Auf der Straße rasselten Lastwagen in schläfrigem Tempo vorbei, und nur hie und da verriet ein vereinzeltes Peitschenknallen oder ein Zuruf, daß wenigstens der Kutscher wachte.

Detlev war eben aus dem Hausthore getreten, als er die drei schwarzen Gestalten erblickte; Marguerite war etwas voraus, und an ihr war er denn auch bereits vorüber, als eine der Schwestern, durch einen vorübergehenden Jungen angestoßen, ihr Gebetbuch fallen ließ, das gerade vor Detlevs Füße flog.

Er bückte sich, hob es auf und reichte es ihr, die es mit einem so tiefgefühlten: „Merci, oh merci, Monsieur!“ empfing, als habe er ihr den größten Dienst erwiesen. In demselben Augenblick blieb auch Marguérite stehen und drehte sich um. „Wollen Sie die Güte haben, gnädiges Fräulein,“ wandte er sich an diese, „mich meinen Nachbarinnen vorzustellen?“

Marguérite kam seinem Wunsch sofort nach: „Monsieur de Bode, Mesdemoiselles Octavie und Célestine Perraul. Die Damen sprechen aber nicht deutsch.“

„Zu swer, das Deutsche, Monsieur, viel zu swer!“ sagte Célestine. „Eine unmögliche Sprache! Ich wundere mich, wieso die Deutschen selbst sie erlernen können.“

„Nun, wenn man sie in der Kindheit lernt,“ meinte Octavie. „Aber als wir zur Schule gingen, brauchte man noch kein Deutsch in Metz.“

„Man kann auch jetzt noch ohne Deutsch hier auskommen,“ fiel Célestine ein.

„O, was das betrifft, auch ohne Französisch!“ Es war Marguérite, die lächelnd diese Worte geäußert hatte.

„Gewiß,“ bekräftigte Detlev mit einem dankbaren Blick. „Ich kenne Kameraden, die jahrelang hier leben und kein Französisch verstehen, aber die meisten von uns sprechen es doch mehr oder weniger leidlich.“

„Oh, Sie sprechen recht gut!“ versicherte Fräulein Octavie duldsam.

„Es fehlt mir an Uebung.“

„Die können Sie hier leicht erwerben“, meinte Marguérite.

„Nicht so leicht. Der einheimische Teil der Bevölkerung schließt sich von den Offizieren und Beamten zumeist ab. Man verkehrt bloß untereinander, und da ist die Umgangssprache Deutsch. Die Damen waren schon so früh in der Kirche,“ brach er ab. „Im Dom?“

„Nein, bei Sankt Vincent.“

„Auch diese Kirche ist alt und schön. Ich besuchte sie bereits.“

„Aber wohl nicht zum Gottesdienst?“ fragte Celestine. „Monsieur ist natürlich Protestant. Da haben Sie ja Ihre Kirche sehr nah’.“ Und sie drehte den Kopf nach der Richtung, wo der Turm der Protestantischen Kirche in die Luft ragte. In ihrem Blick lag eine Mißbilligung, die Detlev innerlich belustigte

„Ich gehe nicht in diese Kirche, sondern in die Garnisonskirche jenseit des Wassers.“

„Vor dem Französischen Thore,“ ergänzte Fräulein Marguérite. „Beide Kirchen sind hübsch gebaut, aber ein wenig zu – neu. Ich weiß nicht, warum ich die Idee habe, daß es sich in neuen Kirchen schlecht betet.“

„Sie mögen recht haben, mein Fräulein. In alten Räumlichkeiten findet sich mehr Stimmung.“

„Sind Sie mit Ihrer Wohnung zufrieden, Monsieur?“ fragte da Fräulein Marguérite.

„Sehr zufrieden. Ich liebe den Ausblick auf den Fluß und in die Ferne, den sie gewährt.“

„Aber der Lärm! Die vielen Fouragewagen und Soldaten, die täglich vorbeiziehen!“ klagte Célestine. „Es ist entsetzlich! Madame Dormans hat recht, daß sie nur nach dem Hofe hinaus wohnen will.“

„Mich stören die Wagen und Soldaten natürlich nicht!“ erklärte Detlev. „Es ist jetzt eine bewegte Zeit. Herbstübungen ohne Ende. Später wird es wieder ruhiger,“ setzte er tröstend hinzu.

Die beiden Schwestern seufzten zu gleicher Zeit in demselben ungläubigen Tonfall, wären aber doch wohl noch länger stehen geblieben, wenn Marguérite sich nicht jetzt mit einer Kopfneigung verabschiedet hätte, und so folgten sie ihrem Beispiel, und alle drei verschwanden im Hause.

Detlev ging die Straße hinab, der Moselbrücke zu, sich innerlich die Worte des jungen Mädchens wiederholend. Es schien nicht, als ob sie in dem engherzigen Chauvinismus der anderen befangen sei. Alles hatte freundlich und freimütig geklungen, ohne verbissene Gehässigkeit zu verraten. Er glaubte auch trotz ihres fleißigen Kirchenbesuches nicht, daß sie die Bigotterie der Schwestern Perraul teile. Indessen, was ging es ihn an, ob sie dies war oder jenes!

Die drei Damen traten zusammen bei Madame Dormans ein, die noch im Bette lag, aber nicht mehr schlief, und die Schwestern Perraul erzählten sofort von ihrer Begegnung.

„Wir haben mit Ihrem Mieter gesprochen,“ begann Octavie.

„Und denken Sie sich, er ist gar nicht so übel für einen Ketzer und Preußen,“ fügte Célestine lebhaft hinzu.

Die grämliche Dame empfing dieses Bekenntnis mit Hohn und Spott, und als die Schwestern, in ihrer Stimmung sehr ernüchtert, sich empfohlen hatten, sagte sie herb zu Marguérite: „Was dich betrifft, so bitte ich dich, dem Preußen keine Gelegenheit mehr zu geben, mit dir zu sprechen.“

„Es wird sobald nicht wieder vorkommen, Mama,“ erwiderte die Tochter ergeben.

Erst viele Wochen später war es, daß Detlev, in die Buchhandlung und Leihbibliothek, wo er abonniert war, eintretend, Marguérite Dormans bemerkte, die vor dem Ladentisch stand und einige Bücher durchsah. Sie legte eben zwei davon für sich beiseite, als er neben sie trat. Es schien ihm, daß sie bei seinem Anblick zusammenschrecke, wobei ein leichtes Rot in ihre sonst blassen Wangen stieg; doch faßte sie sich bald und beantwortete seinen Gruß mit der freundlichen Gemessenheit, von der er noch immer nicht wußte, in wie weit sie nur eine Maske der Höflichkeit war.

Marguérite reichte dem Gehilfen gerade die gewählten Bücher, damit er sie eintragen könne.

„Die Waffen nieder!“ las dieser laut und schrieb die Titel auf.

„Fräulein lesen also auch deutsche Autoren?“ fragte Detlev nicht ohne Erstaunen.

„Warum nicht?“ fragte Marguerite zurück. „Wir leben so eingezogen, daß wir auf Lektüre angewiesen sind, und unter unseren Autoren sind sehr viele, von denen meine Mutter nicht wünscht, daß ich sie lese. Deshalb muß ich nach deutschen Büchern greifen. Die deutschen Schriftsteller schreiben mehr für die Familie, für junge Mädchen.“

„Alle doch nicht! Wer berät Sie in Ihrer Wahl?“

„Meine Mutter versteht selbst genug Deutsch, um meine Lektüre zu überwachen …“

„In der That?“

Das stimmte wenig zu dem Bild, das er sich von dieser Frau gemacht hatte.

„Um dies zu thun, muß sie die Bücher auch lesen.“

„Das thut sie fast stets. Meine Mutter schläft häufig nicht, [160] und dann liest sie, was ihr zur Hand ist … Deutsche Bücher mit Vorliebe. Sie behauptet, daß sie dabei leichter einschläft …“

„Sie findet sie also langweilig?“

„Nun, vielleicht machen sie sie bloß schläfrig, weil sie mehr Anstrengung von ihr fordern als französische Bücher ...“ Bei diesem Zugeständnis zeigte Marguérite ein reizend sanftes Lächeln.

„Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, den deutschen Schriftstellern diese Ehrenerklärung zu geben … Ich besitze selbst eine größere Bücherauswahl. Wenn Sie mir erlauben würden, Ihnen und Ihrer Frau Mama einige Bücher zur Verfügung zu stellen, so würde ich solche wählen, die die Damen nicht langweilen sollten.“

„Dann würden sie ihren Zweck verfehlen, da Mama sie doch als – Schlafmittel gebraucht. Uebrigens besten Dank! Wenn es uns einmal an Büchern fehlen sollte, werden wir von Ihrem Anerbieten Gebrauch machen.“

Sie schien sich’s vorzuwerfen, daß sie mit dem Deutschen gescherzt hatte, denn sie wurde gleich wieder sehr ernst, aber er hatte nun doch gesehen, wie gut ihr es stand, wenn sie lächelte.

„Madame Dormans geht noch immer nicht aus?“ fragte Detlev teilnehmend.

„Seit zwei Monaten war sie kaum dreimal an der Luft.“

„Und dabei hatten wir einen so schönen Herbst!“ rief Detlev bedauernd. „Ich durchstreifte die ganze Gegend… Ich glaube, ich kenne mich jetzt aus wie ein Einheimischer.“

„Besser als ich jedenfalls. Für mich ist es eine Reise, wenn ich nach Devant les Ponts komme …“

Er schüttelte mißbilligend den Kopf. „Das ist eine schlechte Hygieine für Sie, mein Fräulein, und auch für Ihre Mutter. Ist sie denn wirklich so krank, daß sie nicht ausgehen kann?“

„Der Arzt rät ihr immer dazu, mehr Luft zu schöpfen, aber sie geht nicht gern aus. Dieses Zuhausebleiben ist bereits eine langjährige Gewohnheit, und dagegen kämpft man schwer an.“ Sie schloß plötzlich die Lippen, nahm ihre Bücher und verabschiedete sich ziemlich unvermittelt von Detlev, als bereute sie, daß sie sich mit ihm in ein Gespräch eingelassen hatte.

Als er seinerseits die Buchhandlung verließ, war er innerlich wütend, wie man es über Mißstände ist, die man kein Recht hat, abzuschaffen. Er ahnte, daß Madame Dormans sich den Zimmerarrest angewöhnt hatte, weil sie keine Deutschen sehen wollte. Wohl, mochte sie sich eigensinnig in ihre vier Wände vergraben, aber daß das junge Mädchen dieses Gefängnisleben teilen mußte, das war doch zu toll! Allein vergeblich sann er darüber nach, wie hier Abhilfe zu schaffen sei.

*      *      *

Wenige Tage später stand Detlev eines Nachmittags am Fenster und sah gedankenlos auf die Straße hinab, auf der wie gewöhnlich Lastwagen und militärische Fuhrwerke knarrend und staubbedeckt vorbeizogen. Plötzlich rollte eine Droschke heran und hielt vor dem Hause. Detlev konnte den darin Sitzenden deutlich sehen, denn es war ein offener Wagen. Bei ihm selbst waren die Winterfenster noch nicht eingesetzt worden, und die tief herabgehenden, fast thürenartigen französischen Fenster ermöglichten es ihm, auf die Straße hinabzuschauen, ohne daß er sich dabei besonders vorzubeugen brauchte. Da der Scheibenvorhang zurückgezogen war, konnte Detlev auch von unten aus leicht gesehen werden, und die männliche Gestalt, die aus dem Wagen stieg, blickte denn auch in ziemlich auffallender Weise zu Detlevs Fenster empor. Dann legte der Angekommene eine schon ergriffene Handtasche mit einer Gebärde des Unmuts wieder auf die Wagenkissen zurück, warf auch noch den Mantel dazu, in den er gehüllt gewesen war, schloß den Wagenschlag und verschwand, nachdem er den Kutscher durch eine Handbeweguug entlassen hatte, im Hausflur. Detlev hatte beobachtet, daß der Mann klein und schmächtig war, buschige Augenbrauen und eine scharf ausgeprägte französische Physiognomie hatte. Er hörte ihn nun die Treppe heraufkommen und an der Glasthüre, die zur Dormans’schen Wohnung führte, anklopfen. Die Thüre ging auf, und er vernahm ein heiteres „Me voilà“ von einer nicht unmelodischen Tenorstimme. Dann ward es still, und für Detlev stand nur eins fest: die Damen Dormans hatten Besuch bekommen … Er versuchte es, sich an seine Arbeit zu machen, aber er war seltsam zerstreut und unruhig. So schlug er das Buch zu, schnallte den Säbel um und beschloß, auszugehen. Als er abends nach Hause kam, fand er Stefan mit seinen abendlichen Obliegenheiten beschäftigt. Der Bursche wußte immer alles, was im Hause vorging. Detlev brauchte nur eine Frage hinzuwerfen, um alles zu erfahren, was er wissen wollte. Der Ankömmling sei ein Franzose aus Nancy, berichtete Stefan. „Der Sohn einer Jugendfreundin der Madame … Die Eltern sollen sehr reiche Leute sein, Herr Leutnant. Seidenzeug fabrizieren sie, sagt Madame Schoß … Und der Mossiöh ist der einzige Sohn … Er kommt oft her, denn er reist für seinen Papa … Mir scheint, mir scheint –“ Stefan kraute sich den Kopf, „er hat es auf das schöne blonde Fräulein abgesehen.“

„Woraus schließest du das?“ fragte Detlev scharf.

„Ach, Herr Leutnant, wegen der kranken Madame möchte sich der junge Herr nicht so häufig herverfügen. Da müßten wir doch die Männer nicht kennen!“ Er blinzelte verschmitzt nach Detlev hin. Der Herr Leutnant schien aber an dem Spaß keinen Geschmack zu finden und verabschiedete den Getreuen sehr kurz …

Daß der Franzose den Abend bei den Damen verbrachte, bewies der Lichtschein, welcher aus der Glasthüre der Dormans’schen Wohnung auf den Flur fiel. In dem Empfangszimmer, zu dem diese Thüre führte, war sonst des Abends selten Licht.

Detlev hörte später auch den Gast fortgehen. Es war etwa gegen zehn Uhr, als er das Oeffnen der Thüre und die helle Männerstimme vernahm. Der junge Mann empfahl sich ziemlich geräuschvoll und sprach so laut, daß er Detlev in die Verabredung einweihte, die er mit den Damen Dormans traf. Er wollte sie morgen nachmittag zu einer Spazierfahrt abholen. Nun, das ließ sich ja hören! Dabei kam das junge Mädchen doch wieder einmal an die Luft! Detlev war nicht zu Hause, als die drei wegfuhren, aber abends, als es schon dunkelte, hörte er den Wagen vors Haus rollen. Sie hatten also nicht nur eine Spazierfahrt, sondern einen förmlichen Ausflug gemacht … Auch der Lichtschein fiel abends wieder auf den Flur, doch ging der Franzose heute früher weg als gestern, und seine Abschiedsworte tönten nicht gar so laut durch das Haus.

Des anderen Tages, als Detlev vom Exerzierfeld nach Hause kam, stieß er just auf den Gast seiner Hausdamen, der eben aus dem Thore trat. Heute sah er ihn genau. Obwohl er klein und schmächtig war, fand Detlev sein Aeußeres nicht unvorteilhaft. Seine Figur war zierlich und seine Kleidung ausnehmend elegant. Er trug einen hohen Cylinderhut, der seine Figur etwas größer scheinen lassen sollte, aber beinahe die entgegengesetzte Wirkung hervorbrachte, und hatte ein blasses, volles und doch fein gezeichnetes Gesicht, dessen Kinn und Wangen bläuliche Schatten umgaben. Auch seine schwarzen Augen schwammen in einem bläulichen Schimmer, der den Blick überaus wirksam hob. Jetzt, im Vorbeigehen, schossen sie freilich nur einen spitzig kalten, feindseligen Blick auf den deutschen Offizier, dessen hohe Figur, breite Brust und offenes männliches Gesicht einem von dem seinen so völlig verschiedenen Typus entsprachen. Mit kleinen schnellen Schritten ging der Franzose dann vorüber. Detlev sah ihm über die Achsel nach. Ein recht hübscher Mensch! dachte er. Nicht nach unserem Ideal, aber seinen Landsmänninnen wird er ohne Zweifel gefallen. Ob auch ihr?

Unerwarteterweise wurde Detlev am selben Abend Gelegenheit, den Fremden mit den Dormans zusammen zu sehen.

Im Theater war nämlich französischer Opernabend. Allwöchentlich einmal kam aus Belgien eine französische Gesellschaft herüber, die schon seit Beginn der Saison das Publikum durch die Vorführung „nationaler“ Werke zu erfreuen strebte. Daß unter den aufgeführten Opern auch solche waren, deren reines Franzosentum einigermaßen bestritten werden konnte, wurde dabei von den Darstellern sowohl wie von den Zuhörern einfach übersehen. Die allernationalsten Schöpfungen, welche die Belgier zur Aufführung gebracht hatten, waren bis jetzt die „Hugenotten“ und „Mignon“ gewesen. Meyerbeer galt ja selbst den wütendsten Chauvinisten als Vollblutfranzose, und daß Ambroise Thomas mit seinem Operntext eine Anleihe jenseit des Rheins gemacht hatte, das kam wenig in Betracht. Nun gelangte heute als dritte im Bunde der unanfechtbar französischen Opern Gounods „Faust“ an die Reihe.

Zu den wenigen Offizieren, die bei den französischen [162] Vorstellungen im Theater zu sehen waren, zählte auch Detlev. Ihn unterhielt diese Provinzgesellschaft in mancher Hinsicht mehr als die Große Oper in Paris. Heute hatte ihn besonders der Gedanke ins Theater gelockt, daß er zum erstenmal ein französisches Gretchen sehen sollte, was zufällig bei seinem Pariser Aufenthalt vor einigen Jahren nicht der Fall gewesen war.

Er war etwas spät gekommen und das Theater schon gefüllt. Während die Ouverture begann, nahm Detlev seinen Sitz in der Nähe der Prosceniumsloge des ersten Ranges ein. Zerstreut musterte er das volle Haus mit seiner an solchen Abenden so ganz welschen Physiognomie, als sein Herzschlag plötzlich stockte, um dann in ein um so heftigeres Pochen überzugehen. Er ärgerte sich über sich selbst, daß ihm der Anblick einen solchen Ruck gab. In der Prosceniumsloge ihm gegenüber saß nämlich Fräulein Dormans zwischen dem Franzosen und einer Dame, die Detlev ganz unbekannt war, von der ihm jedoch sein Instinkt sagte, daß es die von ihm noch nie erblickte Madame Dormans sein müsse. Das blaßgelbe Gesicht, dessen Züge die Magerkeit geschärft und zugespitzt hatte, konnte nur ihr gehören. Es paßte mit seinen harten Linien, dem herrisch schroffen Ausdruck und den eigentümlich leidenschaftlichen Augen genau zu der Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hatte. Auch war nicht zu verkennen, daß die Dame sehr leidend war. Die Tochter jedoch schien sich von dem augenblicklichen Wohlsein der Mutter gern und vollkommen täuschen zu lassen. Es wirkte ohne Zweifel beglückend auf sie, die Mutter nach so langer Zeit wieder einmal aufrecht an der Seite zu haben. Der Schatten von Traurigkeit, der das junge Mädchen sonst fast immer umhüllte, war wie weggewischt. Festlich schien ihre Stimmung wie ihre Kleidung. Zwar war sie wie gewöhnlich und gleich ihrer Mutter schwarz gekleidet, aber es war ein Feiertagsschwarz: Seide und Spitzen. Eine lange Boa ringelte sich um ihren Hals, und von dem dunklen Pelz hob sich ihr weißer Teint um so leuchtender ab. Sie lächelte der Mutter liebevoll und fast schelmisch zu und sah dabei so hübsch aus, daß es kein Wunder war, wenn ihr Nachbar sie mit den Blicken verschlang. Es bedurfte keines scharfen Glases, um zu sehen, wie es um ihn stand. An der Brust des jungen Mädchens steckten Rosen, prachtvolle Rosen, die er ihr ohne Zweifel gebracht hatte, auf der Logenbrüstung vor den Damen lag gleichfalls ein Bouquet, und auch eine Bonbonniere verriet die Aufmerksamkeit des Verehrers. Mehr jedoch als dieses alles sprach die Haltung des jungen Mannes den Wunsch zu gefallen aus.

Das französische Gretchen war eine treffliche Sängerin, dafür aber so häßlich, daß man gut daran that, ihr nur zuzuhören, ohne sie anzusehen. Diese weise Vorsicht beobachtete der Franzose um so lieber, als er ja seine Augen auf eine weit glücklichere Verkörperung der blonden Maid richten konnte. Marguérite hingegen gab sich mit einer gewissen kindlichen Rückhaltlosigkeit dem ungewohnten Kunstgenusse hin. Es bereitete Detlev eine eigentümliche Genugthuung, zu sehen, wie vollständig sie bei den Vorgängen auf der Bühne war. Sie hatte kein Auge für ihren Nachbar und bemerkte es gar nicht, wie er sie anschmachtete. Als der Vorhang sich senkte, stimmten Marguérites kleine Hände eifrig in den Beifall ein. Auch während der Pause schenkte sie den Galanterien ihres eifrigen Kavaliers keine tiefere Beachtung. Für Detlev hatte das schöne Mädchen freilich erst recht keine Augen.

[175] Als die Opernvorstellung aus war, fühlte Detlev sich nicht in der Stimmung, das Gasthaus oder das Kasino aufzusuchen, sondern er begab sich still auf den Heimweg. Im Flur des Hauses angelangt, hörte er die Dormans mit ihrem Gast kommen. Er vernahm die Abschiedsworte des Franzosen, und wieder lauteten sie: „Morgen, auf Wiedersehen!“ Reiste der Mensch denn nicht endlich ab? Seine Geschäfte in Metz waren doch jedenfalls abgethan! In sehr verdrießlicher Laune ging Detlev schlafen.

Bei seinen Nachbarinnen herrschte eine erregtere Stimmung. Madame Dormans konnte lange nicht zur Ruhe kommen. Sie schwelgte in Erinnerungen an Nancy und die schöne Jugendzeit, wo sie mit Charlotte Valmont im Kloster gewesen war, der Frohesten und Lautesten eine, mit der die frommen Schwestern ein rechtes Kreuz gehabt hatten. Ja, warum hätte sie damals nicht lustig sein sollen? Ahnte sie doch nichts von dem bösen harten Schicksal, das ihr später beschieden war.

Endlich versiegte ihr Redestrom, Stille trat ein und das Licht wurde verlöscht. Schon glaubte Marguérite die Mutter eingeschlafen, als ein grelles Lachen das junge Mädchen vom Sofa aufschreckte, das ihr Nachtlager bildete.

„Was hast du, Mama? Warum lachst du so?“

„Ueber den Preußen!“ lachte Madame Dormans weiter. „Weißt du was? Er ist in dich verliebt …“

„Wie kann dir nur so etwas einfallen?“ fragte Marguérite betroffen. „Er kennt mich ja kaum …“

„Offenbar doch genügend …“

[176] „Und woran willst du das gesehen haben?“

„O, es war nichts Besonderes an ihm zu bemerken. Er wußte sich gut zu hüten. Aber mein Instinkt hat es gefühlt! Aergere dich doch nicht darüber! Ich mache dir ja keinen Vorwurf. Was kannst du dafür, daß du so hübsch bist? O, er hat Geschmack, der Deutsche! Merkwürdig! Hätte es einem von ihnen gar nicht zugetraut.“

„Ich versichere dir, Mama, du täuschest dich … Vielleicht hat er gar schon eine Braut in seiner nordischen Heimat. Die Joß sagt, daß das Bild eines schönen Fräuleins auf seinem Schreibtisch steht …“

„O, du Kind! Als ob das ein Hindernis wäre, dich reizend zu finden! Ich bin meiner Sache ganz sicher, und ich muß gestehen, meine Entdeckung hat mir sogar Spaß bereitet. Das giebt eine kleine Revanche!“

Marguérite antwortete nichts mehr, sondern starrte im Dunkeln vor sich hin.

„Sie gafften ja übrigens alle nach dir … Didier konnte sehen, daß du aller Welt gefällst … Er hat eine kleine Neigung zur Eifersucht …“

„Du könntest sagen: eine große Neigung,“ verbesserte Marguérite. „Er eifert mit dem Schatten an der Wand, bevor er noch ein Recht hat.“

„Ein Recht! Wenn mich nicht alles täuscht, wird er sich dieses Recht sehr bald zu erwerben trachten. Und was seine Neigung zur Eifersucht betrifft, so schadet sie gar nichts. Eine kluge Frau weiß dies zu ihrem Vorteil zu benutzen.“

„Ach, bitte, Mama, sprich doch nicht so.“

„Gut, gut!“ lenkte Madame Dormans ein. „Du bist ein Lämmchen, eine Seele ohne Arg, die alle Welt für ihresgleichen hält. Didier liebt dich, ich bin dessen sicher, und wie könnte man je aufhören, dich zu lieben?“

„Mama, du wirst dich krank machen, wenn du zu viel sprichst …“

„Nein, nein, fürchte nichts. Ich bin bloß hoffnungstrunken. Weißt du, was ich mir vornehme? Ich werde gar nicht mehr krank sein. Ich fühle mich so wohl wie seit langem nicht. Vielleicht hat mir nur die eine Arznei gefehlt, die in den Metzer Apotheken nicht zu haben ist: ein bißchen Glück!“

„Ein bißchen Glück!“ wiederholten die Lippen des Mädchens leise und träumerisch.

„Aber jetzt mußt du wirklich schlafen gehen, Marguérite, damit du morgen schön bist!“

Der folgende Tag brach trübe an. Gleichförmig bleifarben dehnte sich der Himmel über der Erde aus, und daher erschienen auch die Fluten der Mosel, die ihn widerspiegelten, mißfarbig grau. Die Bäume, die in den Nachtstürmen der jüngsten Zeit ihre letzten Blätter verloren hatten, streckten ihre Aeste kahl zum Himmel empor. Der leuchtende Oktobersonnenschein war trüben Nebeln gewichen, und von den Bergen her kam ein kühler Hauch.

Detlev verspürte ihn nicht, denn er hatte sich warm geritten. Seit Stunden trabte er die schöne Reitallee längs der Mosel dahin, versunken in den Anblick der Landschaft und in seine Gedanken. Vom Rücken seines Rosses genoß er einen weiten Ausblick. Vom Saint Julien bis zum Saint Quentin schweifte sein Auge auf diesem Ritt von einem Fort zum anderen; er überblickte die Windungen der Mosel, die fern in der mattbraunen Ebene schimmerte wie ein silberner Streif, und nur die waldigen Höhen, hinter denen Frankreich lag, hielten seinen Blick auf.

Eben befand er sich auf dem Rückweg in der Richtung gegen das Fort Saint Eloi. Unweit der großen Moselbrücke vor dem Diedenhofener Thore stutzte er plötzlich … Auf einer Bank in der Allee neben dem Reitweg saß eine weibliche Gestalt, die Hände neben sich auf die Bank gelegt und mit den Füßen taktmäßig auf den Boden tippend. Unter der Mütze schimmerte es rötlich. Diese Haarfarbe kannte Detlev. Es war Jeanette Joß. Beim Herannahen des Hufschlags sah sie auf und grüßte den Offizier mit einem ergebungsvollen Lächeln, das zu sagen schien: Ich langweile mich, aber ich mache mir nichts daraus.

Detlev brauchte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sie dasaß. Schon hatte er in einiger Entfernung zwei Gestalten erkannt, die, ihm den Rücken zukehrend, den Alleeweg hinabgingen. Er kannte das schwarze Kleid und das helle Haar, und er kannte auch den glatten, glänzenden Cylinderhut. Der Franzose schien eindringlich auf das junge Mädchen einzureden, das langsam an seiner Seite dahinging, den Kopf geradeaus gerichtet. Detlev hatte das Gefühl, als könnte es sich zwischen diesen Beiden um nichts Gleichgültiges handeln. Gern hätte er das Gesicht des jungen Mädchens gesehen, aber er mochte an dem Paar nicht vorüber reiten. So lenkte er, nachdem er Jeannettes Gruß höflich erwidert hatte, der Brücke zu und sprengte ans andere Ufer hinüber, wo er in der Richtung, von der er gekommen war, zurückritt.

Das Paar hatte den dumpfen Hufschlag des über die Brücke sprengenden Reiters vernommen und sich für einen Augenblick umgesehen. Marguérite warf einen raschen Blick auf das Gesicht ihres Begleiters, aber er erkannte den Offizier offenbar nicht.

„Und etwas Angenehmeres wissen Sie mir nicht zu sagen, Marguérite?“ fragte Didier halb schmeichelnd, halb ärgerlich.

„Die Wahrheit vor allem, Didier … Wenn ich Ihre Frau werden soll, so bin ich Ihnen volle Offenheit schuldig …“

„Gut, gut, das ist auch etwas!“ gestand Didier zu, wenn auch mit einiger Ungeduld im Ton. „Es wäre vielleicht süßer, getäuscht zu werden. Indessen werde ich Ihnen doch dankbar sein, wenn Sie dem Grundsatz der Wahrhaftigkeit immer treu bleiben wollen. Aber warum wollen Sie mich nicht lieben?“

„Es hängt nicht von meinem Willen ab, Didier … Ich möchte Sie lieben, mein Freund, und doch kann ich mir und Ihnen nicht verhehlen, daß ich nur Freundschaft für Sie empfinde.“

„Freundschaft!“ Er schnitt eine Grimasse. „Die macht weder kalt noch warm. Mein Trost ist nur, daß Sie nicht wissen, was Liebe ist. Sie lieben doch keinen anderen?“ Es klang nur halb fragend. Das junge Mädchen sah ja niemand, kannte niemand!

„Ich liebe keinen anderen,“ sprach Marguérite mechanisch nach. Dann wiederholte sie es mit größerer Sicherheit: „Nein, ich liebe keinen anderen.“

„Dann … werden Sie mich lieben lernen. Marguérite, sagen Sie, daß Sie sich Mühe geben wollen!“ Seine Stimme nahm einen zärtlich beschwörenden Ton an und seine schwarzen Augen suchten mit heißem Blick die ihrigen.

„Ich werde mir Mühe geben, Didier,“ betonte Marguérite ernst.

„O, Sie werden sehen, ich werde Sie glücklich machen!“ rief Didier zuversichtlich. „Sie werden aufleben, wenn Sie einmal die deutschen Grenzpfähle im Rücken haben … Das ist nichts für ein patriotisches Herz, das Leben inmitten der Fremden … Wir werden uns ein reizendes Nest bauen, meine süße Marguérite, nicht wahr?“

„Sie kennen meine Bedingung, Didier!“ murmelte Marguérite mit halb erstickter Stimme. „Meine Mutter muß mit uns kommen!“

„Natürlich! Das versteht sich von selbst!“ fiel Didier lebhaft ein. „O, keineswegs lassen wir sie hier zurück!“

„Meine Mutter hat mir viel Sorge gemacht in der letzten Zeit. Sie sprachen ja doch mit Doktor Laurins, wie ich Sie bat? Hat er Ihnen nicht gesagt, daß meine Mutter bedroht ist, daß sie …“

Ihre Blicke hingen angstvoll an seinen Zügen. Er begriff, daß er sie ansehen mußte bei seiner Antwort, wenn diese ihr glaubwürdig scheinen sollte, und so blickte er ihr ins Auge. „Keineswegs! Sie kann noch – sehr – lange leben … Es wird ihr Leben verlängern, wenn sie mit uns hinüber kommt!“ setzte er rascher hinzu. „Seien Sie dessen gewiß, Marguérite, daß ich Ihre Mutter lieben werde wie meine eigene. Und ich bin doch kein schlechter Sohn … was?“ Er lachte und sah dabei wirklich recht liebenswürdig aus.

Marguérite kehrte sich unvermittelt ihrem Begleiter zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Dank, Didier, Dank! Wenn Sie meiner Mutter ein solcher Sohn sein wollen wie [178] der Ihrigen – dann werde ich Sie – gewiß – ich hoffe – lieben lernen, wie Sie es verlangen! Haben Sie Geduld mit mir …“

„Daran soll es nicht fehlen!“ rief Didier, die Hand des jungen Mädchens drückend. „So sind wir einig, nicht wahr? Aber wollen wir jetzt nicht lieber umkehren? Es weht hier ein verteufelt kalter Wind, und gerade jetzt verspüre ich keine Sehnsucht nach einem Schnupfen!“

„Sie haben recht, kehren wir um,“ antwortete Marguérite mit tonloser Stimme.

Am folgenden Vormittag begegnete Detlev der kleinen Jeannette im Flur. Sie blitzte ihn aus ihren dunklen Augen schelmisch und verständnisvoll an. „Heute werden Sie nicht ausreiten, Herr Leutnant!“

Es regnete nämlich. „Und Sie nicht mit Mademoiselle und Monsieur spazieren gehen,“ gab er zur Antwort.

„Das könnte ich auch nicht, wenn es nicht regnen würde. Monsieur Didier ist bereits heute morgen abgereist.“

„So, so … Abgereist ist er … So bald?“

„O, nicht für lange … Er kommt in einigen Tagen wieder ...“ Es glimmte mitteilungsbedürftig in ihren Augen. Die funkelnden hellen Glanzpunkte auf den dunklen Augäpfeln kicherten: Ich weiß was, ich weiß was … Aber Detlev fragte ihnen das Geheimnis, das sie so gern preisgegeben hätten, nicht ab. Es eilte ihm nicht, es zu erfahren.

*      *      *

Nun zog der November ein. Am Allerheiligentage schüttete es vom Himmel, und obgleich der Regen in der Nacht nachließ, so war doch auch der Allerseelentag feuchtneblig, naßkalt und trostlos. Dennoch hatte sich Detlev entschlossen, den Friedhof zu besuchen … Auch Marguérite und die Schwestern Perraul hatte er bereits eine Weile vorher einen mit Kränzen bedeckten Wagen besteigen gesehen, der die Richtung nach dem Ostfriedhof eingeschlagen hatte … Beklommen von der Nebelluft und bis in die Seele hinein angefröstelt von dem Anblick der verregneten Welt, fuhr Detlev hinterdrein. Es giebt einen kräftig und frisch herunter strömenden Regen, der den Lebensmut weckt und hebt – diese langsamen unaufhörlich sich senkenden Regenschnüre hingegen drückten auf Detlevs Lebensgeister wie sonst nicht bald ein Wetter. Die regennasse Friedhofsatmosphäre konnte diesen Eindruck nur verstärken. Die schwarzen Kleider und Schleier, der schwere Duft der verregneten Blumen, die ihre Kelchblätter vorzeitig verloren, die trübbrennenden Lichter, deren Gelb vergebens gegen all das Grau um sie herum ankämpfte, alles trug dazu bei, die traurige Stimmung, die dem Ort und der Gelegenheit so angemessen war, vollkommen zu machen.

Detlev betrachtete zuerst die langen Reihen der Soldatengräber. Hier lagen Tausende von Franzosen, die der Kampf um die Stadt hinweggerafft hatte, und wenn irgendwo, so konnte man es hier verstehen, daß zwanzig Jahre nicht genügt hatten, um Vergessenheit und Versöhnung zu bringen. Langsam wanderte er dann zwischen den Ruhestätten der toten Bürger von Metz dahin. Reichen Naturblumenschmuck trugen nur wenige Gräber; die meisten waren mit Papierblumen, die der Regen schnell verwusch, mit Immortellen oder mit Kränzen und Kreuzen aus schwarzen und weißen Perlen geschmückt. Deutsche Grabschriften wechselten mit französischen, allein die letzteren überwogen.

Endlich gewahrte er unter den Trauernden die schlanke Gestalt, die sein Auge unwillkürlich längst gesucht hatte. Marguérite stand an der Friedhofsmauer vor einem Familiengrab. Einige Schritte weit von ihr befanden sich Célestine und Octavie Perraul.

Lange, lange dauerte die Andacht der Beterinnen. Als sie sich zuletzt aber doch zusammenfanden, um einen Rundgang bei den Gräbern ihrer toten Bekannten anzutreten, näherte sich Detlev dem Grabe, an dem Marguérite gebetet hatte, und las die auf einer Marmortafel eingegrabenen Namen. Der letzte in der Reihe lautete „Alphonse Claude Antoine Marie Dormans-La Villette“, als Todestag war darunter der 11. August 1870 angegeben.

Das war also Marguérites Vater. Das Todesdatum aus der Kriegszeit bewies es. Neben ihm schien der leere Platz noch eines Namens zu warten. Wie erschütternd mußte nicht bei der schwankenden Gesundheit ihrer Mutter gerade diese leere Stelle auf Marguérite wirken! Er hatte mit tiefem Mitgefühl beobachtet, wie schmerzlich sie vorhin in sich hinein geweint hatte.

Beim Verlassen des Gottesackers kam er an seinen Hausgenossinnen vorüber. Als er sie grüßte, strich Marguérites Blick ganz fremd über ihn hin; Mademoiselle Octavie hingegen sah ihn erstaunt an; da erst fiel ihm ein, daß Marguérite ihn wohl gar nicht erkannt hatte, weil er in Civil war.

Ehe er in seinen Wagen stieg, warf er Abschied nehmend einen langen Blick auf das junge Mädchen zurück. Neulich, bei der Entdeckung, daß sie deutsche Autoren las, war es ihm gewesen, als sinke eine Scheidewand zwischen ihnen ein. Sie konnte das Volk nicht hassen, bei dessen Schriftstellern sie Anregung und innere Bereicherung suchte, deren geistige Gastfreundschaft sie genoß. In dieser Stunde jedoch sah er die Trennungsmauer höher als je zwischen ihnen beiden aufgerichtet.

In der nächsten Woche kam Didier Morel mit seinen Eltern zu Besuch. Am Abend nach ihrer Ankunft vernahm Detlev aus dem Salon der Perrauls, der an seine Schlafstube stieß, laute Stimmen und Gläserklirren, was ihn bei den stillen alten Damen ziemlich überraschte. Er nahm an, daß die Perrauls Madame Dormans und ihre Gäste bei sich hatten, aber er konnte doch nicht voraussetzen, daß wegen der Kleinheit der Dormans’schen Wohnung die Verlobung Didiers mit Marguerite bei den Perrauls gefeiert wurde. Indessen überraschte es ihn nicht sonderlich, am anderen Morgen zuerst von Stefan, dann von Madame Joß das Vorgefallene zu vernehmen.

Es schien Detlev sehr wahrscheinlich, daß ihm nun die Wohnung gekündigt werden würde. Der gehässige Blick, den ihm Didier bei einer zufälligen Begegnung zuwarf, ließ den Offizier vermuten, daß der junge Mann das Seinige dazu thun würde, ihn aus dem Hause hinaus zu bekommen. In der That hatte Didier Morel nicht ermangelt, bei Madame Dormans darauf hinzuweisen, daß sie es nicht mehr nötig habe, einem der Feinde Logis zu geben. Er war jedoch nicht durchgedrungen, denn Madame Dormans legte Gewicht darauf, vor der Hochzeit ihre materielle Unabhängigkeit von den Morels zu wahren. Ihr Wunsch ging dahin, ihrer Tochter eine Ausstattung mitzugeben. Sie kannte ihre Freundin Lolotte zur Genüge, um Marguérite nicht als aussteuerlose Braut in das Haus ihrer Schwiegereltern einziehen zu lassen. Um aber aus ihren eigenen Mitteln allen Ausgaben gerecht zu werden, brauchte sie mehr Geld, als sie auf das ohnehin schon belastete Haus auftreiben konnte, und die Miete des Offiziers war ihr nicht entbehrlich. Da sie nun einmal in den sauren Apfel gebissen hatte, mochte der Deutsche noch einige Monate bleiben. Nach Marguérites Verheiratung wollte sie die Wohnung im ganzen vermieten, und dann konnte er sehen, wo er bliebe. Jetzt, wo Marguérite verlobt war, schien ihr seine Anwesenheit im Hause überdies unbedenklicher als früher.

Madame Morel gab der Freundin sogar recht. Deutsches Geld war immerhin Geld. Warum die Wohnung leerstehen lassen? Madame Morel hatte eine starke geschäftliche Ader, und die materiellen Interessen waren ihr stets wichtiger als die nationalen. Da seine Mutter ihn nicht unterstützte, ließ Didier die Angelegenheit fallen, und so kam es, daß die von Detlev erwartete Kündignng ausblieb.

Die Morels reisten wieder ab, und es war alles wie vorher, nur daß Detlev von nun an jedes Zusammentreffen mit seiner jungen Nachbarin eher vermied als suchte.

Doch pflegte Madame Dormans jetzt mit ihrer Tochter auszugehen, und so geschah es, daß Detlev beiden zuweilen hier oder dort begegnete. Bei einem Zusammentreffen im Vorraum ließ sich Madame Dormans den Offizier von ihrer Tochter vorstellen, und an einem lauwarmen Dezembertag, wo Mutter und Tochter auf einer Bank in der entlaubten Mittelallee der Esplanade saßen und Detlev mit stummem Gruß an ihnen vorbeigehen wollte, hielt ihn Madame Dormans, die besonders guter Laune sein mochte, sogar auf, so daß er stehen bleiben und auf ein Gespräch eingehen mußte. Dies befremdete ihn von der sonst so zurückhaltenden und hochmütig kalten Frau. [179] Er wußte nicht, welchem Umstand er das Interesse verdankte, das sich in ihrem Blick ausdrückte, wenn dieser Blick auch etwas Spähendes und Lauerndes hatte und keineswegs freundlichen Anteil verriet.

Man sprach zuerst vom Wetter, das auffallend milde war. Der Winter hatte bis jetzt eine fast südliche Zahmheit gezeigt.

„Bei Ihnen im Norden giebt es wohl nie solch warmes Dezemberwetter?“ fragte Madame Dormans.

Detlev war erstaunt, zu vernehmen, daß sie ein im ganzen fehlerfreies, wenn auch seltsam betontes Deutsch sprach.

„O doch! Solche Wetterlaunen kommen überall vor. Und das Klima in meiner Heimat ist überhaupt gar nicht so rauh, als man es sich vorstellt. Es giebt bei uns in Norddeutschland keine Eisbären, Madame …“

„So? Ich dachte, daß es dort wirklich welche gäbe!“ versetzte Madame Dormans spöttisch. „Es ist wohl sehr schön bei Ihnen?“

„Die Heimat ist immer schön,“ fiel Marguérite sanft ein.

„Das Fräulein sagt es: die Heimat ist immer schön … Aber meine Heimat ist es wirklich.“

„Mag sein, daß Deutsche das schön finden: Ebene, nichts als Ebene… Ich fände es langweilig. Aber ich kann nicht urteilen. Ich war nie in Deutschland. Wir Franzosen sind keine Wanderer. Nicht einmal Italien habe ich gesehen. Meine Tochter wird es schon besser haben. Ihr Verlobter hat versprochen, sie auf der Hochzeitsreise nach Italien zu führen...“ Während des letzten Satzes hielt sie ihre tiefliegenden Augen fest auf Detlevs Gesicht gerichtet … Detlev zuckte mit keiner Wimper, obgleich diese Erwähnung von Marguérites Hochzeitsreise ihm ein unangenehmes Gefühl erregte. Auch dem jungen Mädchen sah er an, daß die Worte ihrer Mutter sie peinlich berührten.

„Wird Ihre Hochzeit bald stattfinden, mein gnädiges Fräulein?“ fragte er mit möglichster Ruhe.

„O, nicht so bald!“ murmelte Marguérite ohne aufzublicken.

„Jedenfalls vor dem Frühling,“ entschied Madame Dormans. Und das Thema wechselnd, sagte sie leichthin: „Wie gefallen Ihnen eigentlich die Metzerinnen – ich meine die jungen?“

„Von den Einheimischen kenne ich nur – eine,“ sagte Detlev und blickte lächelnd auf Marguérite. „Die Damen, die ich sonst hier kennenlernte, gehören fast ausnahmslos deutschen Offiziers- und Beamtenfamilien an.“

„Das konnte ich mir denken!“ rief Madame Dormans lebhaft. „Der französische Typus ist wohl gar nicht nach Ihrem Geschmack?“

„O, warum nicht?“ gab Detlev zögernd zurück.

„Nun, er weicht doch sehr ab von dem Ihrer Landsmänninnen.“

„Wenn Sie meine Schwester kennten, würden Sie staunen, wie ähnlich im Aussehen sie Ihrem Fräulein Tochter ist.“

Madame Dormans verzog den Mund ein wenig. „Ist sie auch so hübsch – wie meine Tochter?“

Er fand das ein bißchen stark. „Beinahe!“ sagte er mit einer leichten Verbeugung.

„Aber, Mama!“ hatte Marguérite gemahnt, allein Madame Dormans war heute nun einmal übermütig. „O, Sie ziehen sich ja recht gut aus der Affaire!“ rief sie.

„Für einen Deutschen!“ ergänzte Detlev ruhig.

„Gut, sagen wir für einen Deutschen.“

„Das Bild meiner Schwester steht auf meinem Schreibtisch. Ich werde mir gelegentlich erlauben, es Madame zu zeigen. Sie werden sehen, daß es keine Anmaßung ist, sie mit Mademoiselle zu vergleichen.“

Madame Dormans blickte flüchtig nach ihrer Tochter. Sie erinnerte sich der schönen jungen Dame auf dem Schreibtisch, von der Marguérite einmal gesprochen hatte. „Ich will es ohne Beweis glauben,“ sagte sie frostiger als bisher. „Mademoiselle wird gewiß einmal einen reichen Mann bekommen?“

„Meine Schwester ist bereits seit zwei Jahren verheiratet. Ihr Mann ist reich, aber vor allem ein sehr guter Mensch.“

„Von Adel?“

„Allerdings,“ bejahte Detlev, ein wenig erstaunt über das fortgesetzte Verhör.

„Nun, von Adel ist mein Schwiegersohn wohl nicht, aber ein reizender junger Mann,“ plauderte Madame Dormans. „Und diese Kinder lieben sich so sehr!“

Marguérite warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu, und Detlev fühlte sich mehr und mehr befremdet. Er begriff nicht, warum Madame Dormans ihm das erzählte, das Zartgefühl ihrer Tochter verletzend. Er ahnte nur so viel, daß eine gewollte und keine unbewußte Taktlosigkeit vorlag, und entzog sich derselben, indem er sich empfahl.

„Mama, was sollte das alles?“ fragte nun Marguérite leise ihre Mutter.

„Ich wollte ihn sondieren. Er hat sich sehr stramm gehalten, das ist wahr. Aber verlaß dich drauf, meine neuliche Vermutung war doch richtig.“ Sie lachte zugleich geschmeichelt und höhnisch auf. „,Es giebt keine Eisbären dort oben,‘ sagt er. Oho, es giebt doch noch welche! Und verliebte Eisbären obendrein … Weißt du, was eine andere thäte an deiner Stelle? Sie würde ihm vollkommen den Kopf verdrehen, und wenn er dann besiegt zu ihren Füßen hinsänke, dann schlüge sie eine Lache auf, eine Lache …“

„Welche Ursache hätte ich, mich seiner Leiden zu freuen?“ fragte Marguérite traurig. Sie hörte ihre Mutter ungern so sprechen. „Er hat die Zustände nicht geschaffen, unter denen wir seufzen. Er fand sie vor, wie ich sie vorfand, als ich zum Bewußtsein erwachte … Gehörte er der besiegten Nation an …“

„So wäre er wohl weniger duldsam als ich,“ ergänzte Madame Dormans. „Gott, wenn Didier dich hörte! Der versteht wenigstens zu hassen!“

„Möchtest du, daß ich hassen könnte, Mama?“

„Ich wünsche es vielleicht nicht,“ gestand Madame Dormans. „Man ist wohl glücklicher ohne einen solchen Vulkan im Busen. Aber Didier? … Der sollte es wünschen … Denn wenn man nicht zu hassen weiß, dann kann man auch nicht recht lieben.“

„Glaubst du das wirklich, Mama?“

*      *      *

Die sonnigen Tage des Dezembers waren gezählt, denn bald darauf brach Frost ein, und auch Madame Dormans’ gute Zeit endigte schneller, als man hätte denken können. Eines Nachts war Detlev ungewöhnlich spät aus dem Kasino nach Hause gekommen und noch nicht schlafen gegangen, als er auf dem Flur einen Schrei zu vernehmen meinte. Er öffnete die Thüre und horchte hinaus in das Dunkel. Jetzt hörte er deutlich ein Stöhnen, dann flammte drüben ein Lichtschein auf, und Detlev vernahm ein Geräusch, wie wenn jemand in der Eile an Stühle stößt. Durch die Glasthür sah er den Schatten einer Gestalt, die zum Fenster eilte und es aufriß.

„Madame Joß! Madame Joß!“ klang es in den Hofraum hinunter, und zu gleicher Zeit wiederholte sich das Aechzen, das zu Detlevs Ohren gedrungen war.

Mit einem Sprung war Detlev im Vorraum und an der Glasthüre, an die er laut klopfte.

„Ach, Sie sind da, Madame Joß?“ erklang Marguérites Stimme im Ton der Erleichterung.

„Nicht Madame Joß, ich bin’s,“ berichtigte Detlev. „Ich hörte Madame schreien. Was ist ihr?“

„Der Herzkrampf! … Und so heftig …“

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Wenn Sie Madame Joß wecken wollten … Sie hört mich nicht … Sie soll den Doktor holen …“

„Welchen Doktor? Wo wohnt er? Ich hole ihn.“

„Doktor Laurins, Rue Serpenoise 12 – Römerstraße,“ verbesserte sie, mit der ihr eigenen Besonnenheit daran denkend, daß sie mit einem Deutschen sprach, der vielleicht mit den französischen Straßennamen nicht Bescheid wußte.

Dann ließ sie ihn stehen und flog zur Mutter hinein, deren halberstickte Schmerzensrufe kaum einen Augenblick aussetzten.

Detlev rannte die Treppe hinab, um Madame Joß zu rufen, fand mit Mühe die Thüre und mußte mehrmals klopfen, bis man ihn drinnen hörte. Als endlich Madame Joß erschien und, [180] nachdem sie erfahren hatte, um was es sich handelte, unbekümmert um ihr fast groteskes Negligé hinauf hastete, holte Detlev sich in seinem Zimmer Mütze und Mantel und eilte dann hinaus in die Winternacht, der Römerstraße zu. Mit einiger Mühe fand er in dieser die Klingel des Doktors, aber es dauerte geraume Zeit, bis ihm geöffnet wurde, und noch länger, bis der Doktor, ein kleiner weißhaariger Franzose mit einer vierschrötigen Figur, aber einem sehr feinen Kopfe, bereit war, ihm zu folgen. Detlev wartete, um den alten Herrn zu begleiten.

Auf dem Wege sprach sich Doktor Laurins über Madame Dormans’ Leiden aus und bestätigte Detlevs Vermutungen, daß es um die alte Dame schlimm stehe. Eine Verurteilte! Wie viel Gnadenfrist ihr gegönnt sei, könne man allerdings nicht wissen. Allein ihre Konstitution, durch viele Leiden erschöpft, würde nicht mehr viel aushalten. „Sie weiß auch recht gut, wie es um sie steht. Nur die Kleine schmeichelt sich noch mit Hoffnungen. Ein sehr gutes Mädchen! Beaucoup de ‚Gemüt‘, Monsieur!“ schloß der kleine Franzose, mit einem gewissen Stolz das deutsche Wort hervorhebend.

Als Detlev, in der Belle-Islestraße angelangt, dem Doktor mit einem Wachskerzchen die Treppe hinaufleuchtete, kam ihnen Madame Joß entgegen.

„O, Monsieur!“ fiel sie den Doktor an, und ein langer Bericht ergoß sich von ihren Lippen. Madame Dormans befand sich sehr schlecht. Man hatte ihr alles gegeben, was zur Hand war, nichts hatte geholfen.

Inmitten dieser wortreichen Klagen verschwand der Doktor hinter der Glasthüre, während Detlev auf dem Flur blieb. Wohl eine Stunde ging er dort in der Kälte auf und ab oder lehnte an dem Thürpfosten und horchte nach den Schmerzenstönen, die von innen kamen. In dem kleinen Empfangszimmer saßen die Perrauls in Nachtjacke und Schlafhaube und beteten für Madame Dormans. Uebrigens war das ganze Haus wach; auch Stefan war heruntergekommen und lief mit dem Rezept, das der Doktor geschrieben hatte, in die Apotheke. Als er zurückkam, dämmerte es bereits. Das Schreien der Kranken und das Hin- und Herlaufen der Frauen hörte auf. Madame Dormans befand sich etwas besser, und die Arznei, die man ihr jetzt eingab, schien die Schmerzen noch mehr zu besänftigen. Die Damen Perraul begaben sich wieder in ihre Wohnung, und Detlev, der das Gleiche nicht thun wollte, ohne vollkommen beruhigt zu sein, trat in das Empfangszimmerchen, das eine Kerze spärlich und mit flackerndem Licht erhellte. Marguérite kam für einen Augenblick heraus. Totenblaß, aber mit einem dankbaren Lächeln, ging sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Wie danke ich Ihnen!“ stammelte sie bewegt.

Detlev hielt ihre Hand einen Augenblick fest. „Es geht besser?“

„Ja, besser! Vielleicht wird sie endlich schlafen. Sie ist nun ganz ruhig geworden, und Doktor Laurins sagt, der Anfall sei vorüber. Geh’n Sie doch auch zur Ruhe!“

„Und Sie?“

„Ich werde schlafen, wenn Mama schläft.“

Detlev drückte noch einmal leise die Hand des jungen Mädchens und ging dann hinüber in seine Wohnung. Einige Augenblicke später hörte er den Doktor fortgehen … Auch Jeannette wurde zur Ruhe geschickt, und zuletzt entfernte sich Madame Joß. Es wurde totenstill, und in dieser Stille drückte der Schlaf bleiern auf Detlevs Lider. Es war aber fast schon heller Morgen, als er völlig einschlief.

Am nächsten Tag, oder vielmehr an demselben, nur einige Stunden später, hielt Detlev es für angezeigt, sich persönlich nach dem Befinden seiner Wirtin zu erkundigen. Zum erstenmal betrat er bei Tageslicht ihre Wohnung. Erstaunt sah er sich in dem kleinen Zimmer um, das ihm in der Nacht und beim unruhigen Licht einer einzigen Kerze natürlich einen anderen Eindruck gemacht hatte. Das Zimmerchen bestand beinahe nur aus Thüren und Fenstern. Einige wenige Sitzmöbel aus verblaßtem roten Rips füllten die Zwischenräume aus. Mit einem solchen Raum als „Salon“ war es begreiflich, daß die beiden Frauen sich so viel wie möglich vom Verkehr abschlossen. Das Zimmerchen machte übrigens trotz alledem keinen unfreundlichen Eindruck. Es war sehr sauber aufgeräumt und jede Spur der nächtlichen Verwirrung daraus verwischt. Marguérite jedoch, die sogleich erschien, als sie die Thüre gehen hörte, hatte nicht so leicht die Spuren der verflossenen Nacht von ihrem Gesichte tilgen können: sie sah bleich und übernächtig aus, und blaue Ringe umzogen die Augen. Doch beeinträchtigten diese Zeichen von überstandener Angst und Aufregung ihre Schönheit nicht, sondern verliehen derselben etwas Rührendes. Wenn Detlev sich später Rechenschaft darüber ablegte, wann sein Zustand unheilbar geworden war, so mußte er sich gestehen, daß dieser Morgen und die kurze und im Grund so belanglose Unterredung entscheidend gewesen waren. Mit Marguérite war eine Veränderung vorgegangen. Das Fremde und Gemessene war aus ihrem Benehmen verschwunden, sie sprach zu ihm mit einer einfachen sanften Freundlichkeit, die ihn unendlich wohlthuend berührte. Sie teilte Detlev mit, daß ihre Mutter sich verhältnismäßig sehr wohl fühle, bloß ein wenig schwach. „Ich hoffe, das Aergste ist wieder einmal überstanden, und Doktor Laurins meint gleichfalls, der Anfall werde sich nicht so bald wiederholen.“

Detlev erinnerte sich dessen, was ihm der alte Arzt gesagt hatte, und wie wenig auf Madame Dormans’ Besserung zu bauen sei.

„Sie lieben Ihre Mutter sehr?“ fragte er leise.

„Ueber alles!“ entgegnete sie einfach. –

Nach diesem Anfall schien Madame Dormans Befinden sich wirklich zu bessern, und als Detlev sich das nächste Mal persönlich nach der Kranken erkundigte, wurde er sogar in die Wohnstube der beiden Damen geführt. Madame Dormans war aufgestanden, und so durfte er den Raum betreten, in dem fast das ganze Leben Marguérites sich abspielte. Der herabgelassene Vorhang verhüllte den Alkoven und somit auch das Bett; einer der Fauteuils war zum Fenster gerückt worden, und in diesem saß die Leidende, dem bleichen Tageslicht ausgesetzt. Detlev erschrak fast über ihren Anblick. Ihr dunkles Hauskleid und das schwarze Haar ließen die Haut noch welker als sonst erscheinen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangen waren hohl, die Schläfen eingesunken.

Sie dankte dem jungen Offizier höflich dafür, daß er in der Nacht sich selbst zum Arzt bemüht habe, und fragte ihn dann, ob er keinen Weihnachtsurlaub antreten werde.

„Allerdings. Ich verreise in nächster Woche auf vierzehn Tage.“

„Und wo reisen Sie hin?“

„An den Niederrhein zu meinem Onkel, der dort ein Gut besitzt. Meine Mutter und meine Schwester kommen auch hin.“

„Wir erwarten gleichfalls liebe Gäste. Der Bräutigam meiner Tochter und seine Eltern wollen uns besuchen.“

„Da werden Sie ja fröhliche Feiertage verleben,“ versetzte Detlev. Aber fast schien es ihm zweifelhaft, daß sie sie erleben werde.

Marguérite schien seine Befürchtungen nicht zu teilen. Sie plauderte mehr und heiterer als sonst, doch vermutete Detlev, daß sie sich der Mutter wegen Zwang auferlege.

Ehe sich jedoch ein rechtes Gespräch entwickeln konnte, kamen die Schwestern Perraul angerückt, und Detlev räumte das Feld. In den folgenden Tagen ließ er sich nur durch Stefan nach dem Befinden seiner Wirtin erkundigen; auch beabsichtigte er, sich bei seiner Abreise von den Damen nicht persönlich zu empfehlen. Er wollte nicht wieder von Didier Morel hören. Ueberhaupt war es besser für ihn, Marguérite nicht zu häufig zu sehen.

Und doch sollte er ihr noch einmal vor seiner Urlaubsfahrt begegnen.

Am Tage vor seiner Abreise hatte er einige Einkäufe besorgt und schlenderte langsam die Esplanade hinunter, dem Flusse zu. Die entlaubten Alleen waren menschenleer, aber diese Einsamkeit verlieh ihnen einen Zug von verlassener Größe, und ihre stille Traurigkeit stimmte mit Detlevs eigenem Seelenzustand überein. Plötzlich stutzte er. An der Mauerrampe am Ende der Esplanade, von wo Treppen zum Bett des Moselarmes hinunterführten, lehnte eine weibliche Gestalt. Die Arme auf die Rampe gestützt und den Schleier zurückgeschlagen, stand sie da und sah hinüber, in die engen alten Gassen hinein, die sich jenseit des Flusses öffneten, und in das weite Moielthal hinaus.

[182] Detlev blieb stehen. War das Marguérite Dormans, die sich hier dieser Träumerei hingab? Dort, hinter jenem von Mauern gekrönten Berg, auf den sie blickte, lag das Land, zu dem sie sich bekannte und wohin sie bald dem Manne ihrer Wahl folgen würde. Sie starrte in die untergehende Sonne, dem von Goldglanz überstrahlten Westen zu, wie ein Pilger das gelobte Land betrachtet, das er demnächst zu betreten hofft. So wollte er denn vorübergehen, ohne sie aus ihrer Versunkenheit zu wecken.

Allein sein Säbel hatte geklirrt. Die schlanke Gestalt schauerte leicht zusammen, drehte sich um und erblickte ihn. Sie war blaß, sehr blaß und sah aus, als ob sie geweint hätte. Betroffen blieb er nun doch stehen. Er hatte sie in einem Augenblick überrascht, wo sie von keinem Menschen gesehen zu werden erwartete, allein er konnte nicht vorübergehen. „Erwarten Sie jemand?“ fragte er unbeholfen.

„Nein. Aber der Ausblick von hier aus ist so schön! Das war ein Lieblingsplätzchen von mir, seit ich groß genug bin, über die Mauer zu schauen.“

„Ja, die Aussicht ist schön,“ wiederholte Detlev. „Man sieht nach Frankreich hinüber oder glaubt es zu sehen. Aber warum haben Sie denn geweint?“

Sein Ton ließ sie aufblicken.

„Fehlt es mir an einer Ursache?“ fragte sie vorwurfsvoll.

„Ihrer Frau Mutter geht es doch wieder besser,“ erwiderte Detlev einlenkend. „Und für Sie kommen ja jetzt so schöne Tage.“

„Glauben Sie das selbst, was Sie da sagen, daß es meiner Mutter besser geht?“ fragte Marguérite zurück. „Nein, es ist nicht Ihre aufrichtige Meinung .. Ich sah, daß Sie neulich betreten waren bei ihrem Anblick.“

„Es war nur zu begreiflich, daß Madame Dormans an jenem Tage schlecht aussah,“ sagte Detlev tröstend. „Was sagt Ihnen der Arzt?“

„Nicht die Wahrheit natürlich. Aber ich ahne sie.“

„Sehen Sie nicht zu schwarz! Ihre Mutter scheint sich so sehr zu freuen über Ihre Verlobung. Vielleicht wird Ihr Glück auch ihr Leben verlängern. Und ich wünsche es Ihnen von Herzen, Fräulein. Sie sind geschaffen, glücklich zu sein und Glück zu geben. Aber volles Glück giebt doch nur die Liebe. Wenn Sie Ihren Verlobten lieben, bin ich über Ihr Schicksal beruhigt. Er wird Sie trösten, wenn Sie trostbedürftig sein werden, und seine Liebe wird Ihnen helfen, jeden Schlag zu verwinden. Aber wenn Sie ihm nicht von ganzem Herzen zugethan sind, wenn Sie ihn nur heiraten wollen, um Ihrer Mutter eine letzte Lebensfreude zu bereiten, dann – thun Sie’s nicht. Sie können ihr unmöglich so viel Glück geben, als Sie sich Elend bereiten!“

In Marguérites Zügen kämpfte es, als suchten zurückgehaltene Empfindungen gewaltsam nach einem Ausweg. Eine glückliche Braut hätte ihn nicht einen Augenblick in Zweifel gelassen. Marguerite antwortete jedoch nach einer Pause bloß ausweichend: „Ich muß Sie bitten, diesen Gegenstand nicht weiter zu verfolgen.“

Detlev verbeugte sich schweigend. Er wußte jetzt, daß sie den anderen nicht liebte, und doch, was half es ihm? Sie war deshalb nicht weniger Didiers Braut, und die Kluft zwischen ihnen schrumpfte dadurch nicht zusammen.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie hier gestört habe in Ihrer selbstgewählten Einsamkeit,“ murmelte er mit Anstrengung.

„Es scheint seltsam, daß ich hier so stehe, nicht wahr?“ versuchte Marguérite zu lächeln. „Aber zu Hause bin ich immer unter den Augen der Mutter, und wir mühen uns beide vergeblich, unsere Stimmung voreinander zu verbergen. Auch für sie ist es eine Erleichterung, wenn ich sie für kurze Zeit verlasse.“

Sie sprach so ruhig – offen zu ihm wie zu einem Freunde, und aus dem Klang ihrer Stimme glaubte Detlev zu erkennen, daß sie erriet, wie es um ihn stand.

„Wann reisen Sie?“ fragte sie, als er stummbewegt vor ihr stehen blieb.

„Heute abend ..“

„Dann wünsche ich Ihnen eine glückliche Reise und frohe Festtage!“ Sie reichte ihm die Hand, die er schweigend nahm, darauf neigte sie das Haupt und ging hinweg, und er sah ihre Gestalt auf der sich nach abwärts neigenden Straße versinken. Auf dem ganzen Heimweg sah er Marguérite dann vor sich. Immer hob sich ihre Silhouette dunkel vom weißgrauen Winterhimmel ab. Er verlor sie nicht aus den Augen, aber er erreichte sie auch nicht. Wie das unerlangbare Glück schwebte sie vor ihm her. –

Mit dem Nachtschnellzug fuhr Detlev nach Norden und langte bei Tagesgrauen auf der Bahnstation an, von der man nach Rheinfeld, dem Gute seines Onkels, fuhr. Auf Rheinfeld fand er bereits Mutter, Schwester und Schwager vor, und einige Wochen gemütlichen Zusammenlebens harrten seiner. Doch bemerkte seine Familie, daß er nicht frohen Herzens unter ihnen weilte, sondern zerstreut und schweigsam war. Die übrigen Verwandten waren geneigt, anzunehmen, daß er im Dienst Verdruß gehabt habe, die Mutter jedoch erwies sich als scharfsichtiger, denn sie flüsterte dem Sohne beim Abschied die Worte zu: „Das nächste Mal, Detlev, bring’ dein Herz wieder mit.“ Sie hatte recht. Sein Herz war diesmal nicht mit daheim gewesen. Die innere Rastlosigkeit, die ihn während der Urlaubstage im Kreis seiner Lieben verzehrt hatte, schwand erst, als er wieder auf der Eisenbahn saß.

In seiner Wohnung war alles beim alten. Auch im Hause gab es nichts Neues. Madame Dormans sollte sich verhältnismäßig wohl befinden. Marguérite jedoch, die Detlev einige Tage nach seiner Rückkehr in dem dämmerigen Flur traf, antwortete auf seine Frage nur mit einer ausweichenden Gebärde.

„Sind Sie mir noch böse?“ fragte Detlev leise.

„Ich war es ja gar nicht!“

„Doch! Als wir uns das letzte Mal sahen, zürnten Sie mir.“

„Davon weiß ich nichts. Ich bin Ihnen nicht böse. Aber unsere Wege führen auseinander, weit auseinander, für immer!“

Sie wandte sich ab und verschwand hinter der Glasthüre. Detlev ließ sie wortlos gehen. Sie hatte ja recht. Am besten wäre es für ihn gewesen, das Haus zu verlassen. Noch konnte er sich aber nicht dazu entschließen, und doch mußte irgend eine Aenderung eintreten. Er fühlte es, es lag in der Luft.

*      *      *

Detlev saß in dem Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch und las trotz des schwachen Lichtes – es dämmerte bereits – in einer Zeitschrift. Draußen stürmte und schneite es, so daß die Fensterscheiben von den angeworfenen Flocken fast verdeckt wurden, hier innen jedoch war es ganz behaglich. Das Blatt sank Detlev aus der Hand, und er verfiel in unbestimmtes Brüten, als er plötzlich ein dumpfes Geräusch wie von einem Fall vernahm. Er legte demselben kein Gewicht bei, weil er voraussetzte, daß die Kinder von oben wieder einmal Springübungen machten, dem Geräusch folgte jedoch ein Hin- und Hereilen auf dem Flur, Thürenöffnen und Rufen, und in der nächsten Minute stürzte Stefan ins Zimmer mit dem Rufe: „Die Madame drüben stirbt!“

Vom Schreibtisch aufspringend, eilte Detlev seinem Burschen nach. Drinnen im Schlafzimmer kniete Marguérite auf dem Boden bei der leblos daliegenden Mutter, während Jeannette, die eben hereinstürzte, die kleine Hausapotheke an der Wand aufriß und alle dort aufgestellten Fläschchen durcheinander warf. Durch das Fenster, das Marguérite geöffnet haben mochte, um die Joß zu rufen, drang die kalte Luft wie feindlich ein, die dumpfe Zimmeratmosphäre verjagend.

Ehe Stefan ihm noch helfen konnte, hatte Detlev Madame Dormans vom Boden aufgehoben und nach dem Sofa getragen. Sie lag schwer in seinem Arm wie ein lebloser Körper, das Gesicht war verzerrt und leichenhaft gelb, die Augen starr offen. Wie Detlev sie niederlegte, kam Marguérite, schob ihn fort, riß der Mutter das Kleid auf und legte ihr Ohr an das Herz.

„Ich höre nichts!“ stammelte sie mit zitternden Lippen. Detlev hatte die Hand der Leblosen ergriffen: der Puls stand still. Eine unheilvolle Gewißheit überkam ihn. Doch rang er sich einige beruhigende Worte ab: „Es wird nur eine Ohnmacht sein!“

[183] Marguérite flog hin und her wie ein aufgescheuchter Vogel. Sie hielt der Mutter ein Riechfläschchen vor und rieb ihr die Stirn mit Kölnischem Wasser, aber umsonst spähte sie nach einem Zeichen zurückkehrenden Lebens. Eben stürzte Madame Joß herein. Als sie die Liegende erblickte, rang sie die Hände und schrie auf. Ein Blick, der sich zu dem Offizier verirrte, verriet, daß sie die Wahrheit erkannte. Doch schickte sie noch Jeannette nach irgend einer Essenz hinunter und bemühte sich um die, der nicht mehr zu helfen war. Obgleich auch er dies erkannte, gab Detlev doch Stefan den Auftrag, einen Arzt zu holen. Die Perrauls kamen mit vielen Mon Dieu! und Jésus Marie! Man brachte belebende Mittel, doch nichts half, kein Hauch trübte den vorgehaltenen Spiegel … Da sank Marguérite mit einem dumpfen Schmerzenslaut an der Leiche nieder, und Detlev, herantretend, drückte leise die Lider der Toten herab, um das schreckliche Starren dieser gebrochenen Augen zu verhüllen. Der preußische Offizier drückte der toten Feindin seines Volkes die Augen zu.

Stefan brachte einen Arzt. Nicht Doktor Laurins. Er hatte aus eigener Machtvollkommenheit den nächsten geholt. Es war ein großer blonder Deutscher, Doktor Schmidt. Nach einem mitleidigen Achselzucken, das seine eigene Hoffnungslosigkeit verkündete, machte er sich ans Werk und stellte alle möglichen Wiederbelebungsversuche an. Aber kein Lebenshauch zeigte sich, die künstliche Atmung verfing nicht, und mit einem Kopfschütteln ließ der Doktor endlich den Körper der armen Frau aus seinen Händen gleiten. „Hier, mein Fräulein,“ sagte er zu Marguérite, „könnte nur mehr der helfen, der den Lazarus und das Kind des Jairus erweckte. Es war ein Herzschlag.“ Marguérite brach lautlos neben dem Bett zusammen, die beiden Joß schluchzten laut, die Perrauls fingen an zu beten … Detlev begleitete den Arzt hinaus.

„Ein kurzer Tod! Ein schöner Tod! Eine Verwandte von Ihnen, Herr Leutnant? Ach so, die Wirtin! Dann geht es Sie ja zum Glück nicht näher an!“

Es ging Detlev nicht näher an, aber Marguérites Schmerz zeigte ihm erst recht, wie teuer sie ihm war. Wie gern hätte er ihr Trost zugesprochen und konnte es doch nicht! Nach und nach kamen auch die Joß und die Perrauls aus dem Zimmer. Marguérite hatte gebeten, sie mit der Toten allein zu lassen. Bis zum Abend blieb sie drinnen, ihrem Schmerz überlassen, während er selbst in seinem Wohnzimmer ruhelos auf und ab ging. Man hätte sie nicht so mit der Leiche allein lassen sollen, aber wer hatte das Recht, sie ihrer Betrübnis zu entreißen? Madame Joß und Jeannette fiel es zu, die nötigen Gänge zu machen. Auch Detlev übernahm einen Teil derselben, unter anderem die Besorgung des Telegramms an die Morels. So mußte er noch den Bräutigam herbeirufen, den einzigen, der berechtigt war, dem weinenden Mädchen Trost zu bringen.

Als er von seinen Gängen zurückkam, wurde Madame Dormans eben drinnen aufgebahrt. Nachdem die Frauen, die dies Liebeswerk übernommen hatten, damit fertig waren, trat Detlev in das Schlafzimmer .. Kerzen brannten zu Häupten des Lagers, ein Kruzifix und ein Betschemel standen zu Füßen .. Marguérite kniete vor dem Lager der Toten, deren wachsgelbes Gesicht einen sanften und friedlichen Ausdruck angenommen hatte. Der Schmerz des jungen Mädchens schien sich erschöpft zu haben. Sie war in sich versunken, blaß und still und in ihrer Trauer so abwesend für das, was um sie vorging, daß Detlev es nicht wagte, an sie heranzutreten und ihr sein Beileid auszusprechen. Bloß von ferne betrachtete er das leidvolle, süße Gesicht, das in seinem Schmerz nichts mehr von ihm zu wissen schien.

Er verbrachte die Nacht schlaflos. Erinnerungen an den Tod seines Vaters wechselten mit trüben Grübeleien. Dieser plötzliche Tod Madame Dormans’ würde wohl die Folge haben, daß Madame Morel, Didiers Mutter, das junge Mädchen mit sich nach Nancy nahm, und er verlor sie auf Nimmerwiedersehen aus den Augen. Wie kurze Frist war ihm doch gegönnt gewesen, sie zu kennen! Zu kurz war sie gewesen oder – zu lang.

Am nächsten Morgen, noch ehe er Marguérite wieder gesehen hatte, kam Madame Morel an. Hinter dem Fenster stehend, sah er sie aus dem Wagen steigen, eine kleine viereckige Dame mit glatten, schwarzen Scheiteln und einem fetten, weißen Gesicht, aus dem winzige, schwarze Vogelaugen glitzerten, die durch keine Gewalt der Erde dazu bewogen werden konnten, traurig drein zu sehen, sondern das würdige Doppelkinn und den Trauerschleier, den die Angekommene trug, Lügen straften. Von dem Augenblick, da Madame Morel drüben eingezogen war, hielt Detlev sich fern. Es bedurfte seiner Einmischung nicht mehr. Madame Morel nahm alles in die Hände, und mehr als einmal klang ihre metallische, nur etwas feiste Stimme zu ihm herüber. Am Abend langte auch Didier an, den man telegraphisch von Paris berufen hatte.

*      *      *

Erst am offenen Grab ihrer Mutter sah Detlev Marguérite wieder. Sie bewahrte während des Begräbnisses eine wunderbare Fassung. Blaß, aber thränenlos starrte sie vor sich hin.

„Aber sie weint ja nicht!“ sagte eine kleine Französin neben Detlev entrüstet. Marguérite hatte alle ihre Thränen schon vorausgeweint. Wer ihr ins Auge sah, erkannte ihren tiefen Schmerz.

Madame Morel schluchzte am Grabe der Jugendfreundin herzbrechend. Wenn sie aber nicht das Taschentuch vor den Augen hatte, blickten diese mit neugierigem Interesse über die Trauerversammlung, und man hatte den Eindruck, daß ihnen nichts entging. Auch Didier Morel weinte heftig in sein Taschentuch hinein und machte bei den Trauergästen dadurch einen guten Eindruck.

Nach dem Begräbnis nahmen Mutter und Sohn mit Marguérite in dem engen Empfangszimmer die Beileidsbezeigungen ihrer Bekannten entgegen, und auch Detlev begab sich, diesmal in Uniform, hinein. In förmlicher Weise hatte er seine Teilnahme Marguérite noch nicht ausgesprochen. Es war seine Pflicht und zugleich sein Recht, dies jetzt nachzuholen.

Auf dem kleinen Sofa thronte Madame Morel bereits wieder ganz ruhig, obgleich sie sich manchmal mit dem Tuch über die Augen fuhr. Der unverminderte Glanz dieser klugen Aeuglein, die spiegelglatten Scheitel und das ganze behäbige Wesen ließen keine innere Erschütterung oder Gemütsbewegung erkennen. Marguérite saß auf einem Stuhl neben dem einen Fenster, vor dem anderen stand Didier Morel, der weit erregter aussah als seine Mutter und mit einiger Ungeduld dem sich im Kreis drehenden Gespräche zuhörte. Als nun auf Madame Morels hellklingendes „Entrez!“ die Thür aufging und der deutsche Offizier erschien in seiner schmucken blauen Uniform, mit der Stirn fast den oberen Rand der Thür berührend, wandten sich alle Blicke ihm zu, und die deutschfeindlichen Besucherinnen sahen ihn ganz entgeistert an. Selbst Marguérite blickte auf und erhob sich langsam. Detlev grüßte die Anwesenden mit einer halbkreisförmigen Verbeugung, dann verbeugte er sich tiefer vor Marguérite und sprach ihr sein Beileid in deutscher Sprache aus. Das verstanden die anderen nicht. Da brauchte er sich also nicht auf die kalte Formel zu beschränken und konnte in seine Worte etwas hineinlegen von dem herzlichen, innigen Bedauern, das ihr Leid ihm abgewann. Marguérite hörte ihm schweigend zu, mit gesenkten Augen. Sie reichte ihm nicht die Hand, und als er geendet hatte, kam nur ein leise gehauchtes „Merci, monsieur!“ von ihren Lippen. Während er sprach, fühlte Detlev sich von allen Seiten mit spitzigen, kalten Blicken beobachtet, kaum jedoch hatte er geendet, so kam auch Madame Morel heran und fragte mit kühler Liebenswürdigkeit: „Monsieur spricht nicht französisch?“ Nachdem sie die Versicherung des Gegenteils erhalten hatte, dankte sie ihm in ihrer Sprache sehr leutselig für die Gefälligkeiten, die er ihrer teuern Marguérite erwiesen hätte. Madame Joß habe von seiner Freundlichkeit gesprochen, und sie nehme das auf, als ob er es ihrer Tochter gethan habe – „denn Marguérite ist ja beinahe schon meine Tochter.“

Detlev verbeugte sich schweigend. Was Madame Morel sagte, klang nicht sehr echt und nicht ganz falsch, ganz so echt wahrscheinlich, wie ihre Dankesäußerungen und Liebenswürdigkeiten gewöhnlich zu klingen pflegten. Es war eine gewisse geschäftliche Höflichkeit in ihrem Benehmen, die Höflichkeit der Kaufmannsfrau, die jedem Kunden ohne nationale oder persönliche Rücksichten gleich liebenswürdig begegnet. Nun näherte sich Didier Morel gleichfalls. „Auch ich danke Ihnen, mein Herr, im Namen meiner Braut,“ sagte er, und zwar deutsch. Noch eine stumme Verbeugung, und Detlev zog sich zurück.

[213] In den nächsten Tagen schwirrten allerlei Gerüchte in der Luft herum. Vermutungen, die sich mit dem Schicksal Marguérites beschäftigten, tauchten auf. Es hieß, daß die Damen Perraul ihr das Haus abkaufen wollten, damit sie von Metz fortkönne und nichts sie mehr da zurückhalte. Allein die Damen Perraul erklärten Detlev, der sie darum befragte, dies sei ein Gerede und ihr Vermögen viel zu gering, um ihnen den Ankauf zu gestatten. Was Marguérite betraf, so würde sie unzweifelhaft mit Frau Morel nach Nancy gehen. Was sollte sie sonst wohl thun?

Drüben in dem düsteren Hofzimmer, wo Madame Dormans gestorben war, wurde dieselbe Angelegenheit behandelt.

„Mein Kind,“ begann Madame Morel, die fetten Händchen über dem Magen gefaltet, „es ist mir recht unangenehm, daß die Fräulein Perraul das Haus nicht zu kaufen gedenken. Das hätte die Sache sehr vereinfacht. Aber schließlich ist das kein Hindernis. Madame Joß ist doch eine vertrauenswürdige Person. Sie kann das Haus verwalten, und Didier wird auf seinen Reisen immer in Metz Station machen und nach dem Rechten sehen. Vielleicht findet sich später eine Gelegenheit, es loszuwerden. Auf jeden Fall wird es dir erwünscht sein, nicht länger hier zu bleiben, wo du dich einsam und verwaist fühlst. Alles, meine arme Marguérite, erinnert dich hier unablässig an deinen Verlust. Du kommst also zu mir. Wir werden trachten, sobald wie möglich den Hochzeitstag festzusetzen. Doch einige Zeit müssen wir immerhin noch warten. Unterdessen wirst du bei uns Trost finden, dich erholen. Blanche und Simonne freuen sich schon sehr auf dich. Die Schicklichkeit wird auch gewahrt, da ja Didier eine größere Geschäftsreise nach dem Norden antritt. Wir werden bereits heute abend daheim erwartet. Also packe deine Koffer, meine Tochter. Ich denke, du kannst noch alles erledigen.“

Dies alles sagte die würdige Dame mit großer Entschiedenheit wie jemand, der nicht gewohnt ist, Widerstand zu finden. Das Kind war es gewohnt, einer Mutter zu gehorchen, woher sollte es einen eigenen Willen haben? Madame Morel erwartete nun zuversichtlich ein Wort dankender Zustimmung von Marguérites Lippen. Statt dessen blieb das junge Mädchen eine Weile stumm, dann sagte sie sanft, aber gar nicht weniger entschieden als Frau Morel: „Ich danke Ihnen für Ihre große Güte, die Ihnen diesen Vorschlag eingiebt. Allein ich kann ihn nicht annehmen.“

„Wie?“ riefen Mutter und Sohn einstimmig. „Warum?“

„Ich verlasse das Grab meiner Mutter jetzt noch nicht, und ich verlasse diese Wohnung nicht, wo wenigstens noch ihre Spuren vorhanden sind. Ich weiß, ich finde bei Ihnen eine Familie, eine Mutter, Schwestern, aber mein Herz ist zu verwundet, um für irgend etwas empfänglich zu sein. Ich muß eine Zeit lang mir selbst leben, mit meinem Schmerz allein sein. Während des ersten Trauerhalbjahres werde ich nicht an den Altar treten. Möge die Hochzeit im Herbst stattfinden! Bis dahin bleibe ich hier.“

Während dieser Rede hatte sich Madame Morel mehrmals auf die vollen Lippen gebissen und ihrem Sohn eigentümliche Blicke zugeschleudert. Auch Didier war rot und blaß geworden vor Ueberraschung. „Hier wollen Sie bleiben, Marguérite?“ fragte er gedehnt, zärtlich vorwurfsvoll, aber lange nicht entrüstet genug. Seine Mutter warf ihm einen strafenden Blick zu. Mit beleidigter Miene und spitzer Stimme sagte sie: „Man hält einer Trauernden manches zu gute, aber auf diese Antwort war ich nicht gefaßt. Mein Kind, daran ist nicht zu denken. Du kannst hier nicht bleiben! Bedenke, du schuldest nicht nur deiner Mutter Pietät. Auch die Lebenden haben Anspruch auf ein wenig Rücksicht. Ein junges Mädchen allein!“

[214] „Ich bin nicht allein. Ich habe die Joß und die Fräulein Perraul, die mich gern überallhin begleiten, die guten Seelen …“

„Und den schönen Offizier nebenan!“ murmelte Didier. „Das ist doch auch etwas!“

Marguerite preßte die Lippen aufeinander, verschmähte es jedoch, auf diese Worte zu antworten.

„Du hörst, mein Kind –“

„Wenn Didier mir nicht traut, hätte er meine Hand nicht verlangen sollen.“

Ein Zornesblitz schoß aus Madame Morels Augen. In ihrer Entrüstung wäre sie jetzt imstande gewesen, es zu einem Bruch zu treiben, aber ein Blick auf Didier belehrte sie eines Besseren. Der Sohn war ihr Liebling, und er liebte das Mädchen nun einmal. „Der Offizier nebenan! Ich frage dich, ist das schicklich? Wenn Didier auch Vertrauen hat! Er muß darauf dringen, daß seine Braut ihren Ruf hütet und die böseste Zunge kein Wort zu reden findet –“

„Das geht sehr einfach“, erklärte Marguerite kühl. „Ich werde dem Leutnant sogleich die Wohnung kündigen. Wenn er auszieht, fällt dieser Grund der Unschicklichkeit weg, nicht wahr? Ich habe zwei Tugendwächterinnen an Octavie und Célestine Perraul. Mehr kann Didier nicht wünschen, und da er selbst die Zeit auf Reisen zubringt, so ist es für ihn gleich, ob ich hier bin oder in Nancy …“

„Es ist gar nicht dasselbe,“ schmollte Didier, „indessen –“

„Du willst die Zimmer leer stehen lassen?“

„Warum nicht? Mamas Krankheit verschlang Geld, und deshalb vermieteten wir die Zimmer. Aber jetzt? Ich komme auch ohne dies aus. Ich kann sie übrigens an jemand anders vermieten: an Damen, an Eheleute oder an einen alten Herrn … An irgend eine Persönlichkeit, über die es nichts zu reden giebt … Madame Joß mag es dem Offizier sagen, daß er ausziehen muß. Wenn dieser Stein des Anstoßes entfernt ist, können weder Sie, Madame, noch Didier etwas gegen meinen Entschluß einwenden!“

„O, nichts!“ Madame Morel zuckte höhnisch die Achseln. Sich an einen fremden Willen zu stoßen, an einen so unsinnigen, unberechtigten Willen obendrein, und dabei nicht die Möglichkeit zu haben, ein Machtwort zu sprechen, das ertrug sie nur sehr schwer. Sie erstickte fast an ihrem Zorn und warf dem Sohn einen herausfordernden Blick zu: „Nun sprich du!“

Didier kam denn auch heran, streckte seiner Braut beide Hände entgegen und rief in leidenschaftlich dringendem Ton: „O, Marguerite, komm zu uns! Niemand wird dich in deiner heiligen Trauer stören! Niemand! Verstehst du denn nicht, daß ich keine Ruhe finden kann, wenn ich dich hier weiß, einsam, mit einem Schatten als Gesellschaft? Wir wollen dich hegen wie unseren Augapfel, und du wirst sehen, in unserem stillen wohnlichen Hause daheim wird deine Seele gesunden! Komm mit uns! Bei meiner Liebe beschwöre ich dich!“ Er sprach in aufrichtigen Herzenstönen, hingebend, beschwörend, leidenschaftlich. Wenn sie ihn liebte, konnte sie nicht ungerührt bleiben.

Aber Marguerite erbleichte wie im Schrecken, sie entzog sich rasch den sie umschlingen wollenden Armen des jungen Mannes und schüttelte den Kopf. „Lassen Sie mich hier, Didier! Es ist besser für uns beide. Ich kann jetzt nicht zu euch kommen. Haben Sie Nachsicht mit mir … Ich kann nicht!“

Ihre Worte klangen angstvoll flehend. Es that ihr weh, ihn abweisen zu müssen, aber die Stimme, die in ihrem Innern „Nein“ rief, war zu laut, zu dringend. Sie konnte nicht … Deutlich genug verriet sie hierdurch, daß sie ihren Verlobten nicht liebte, und Didier fühlte das. Seine Blicke verfinsterten sich, und er sah scheu zur Mutter hinüber, die hocherrötet auf das Paar schaute. O, sie war nicht dumm, Madame Morel, auch sie merkte, wieviel es geschlagen hatte. „Die Beschwörung bei deiner Liebe scheint ja großen Eindruck auf Mademoiselle zu machen!“ sagte sie ironisch. „Meine Gnädigste, man kann manchmal zu weit gehen. Ich finde – Ihren Eigensinn sehr übel angebracht, denn schließlich … Weißt du auch, was du wagst, Marguerite?“

„Mama!“ unterbrach Didier.

Frau Morel ließ sich nicht irremachen. „Du legst deinem Bräutigam eine lange Brautzeit auf und willst ihn noch obendrein von dir fern halten. Dabei läufst du Gefahr –“

„Mama, an meiner Treue soll Marguerite doch wohl nicht zweifeln?“

„Doch muß sie sich sagen, daß ein Verlobter, den man so behandelt, berechtigt ist, sich zu fragen, ob auf seiten seiner Braut überhaupt die Zuneigung vorhanden ist, die er fordern darf!“

Bei diesen halb drohend hingeworfenen Worten errötete Didier dunkel und erhob die Hand, wie um die Mutter am Weitersprechen zu hindern. Marguerite jedoch schien von der bedeutungsvollen Warnung, die Madame Morel an sie richtete, nicht betroffen. Sie sah geradeaus vor sich hin und erwiderte in schwermütig gelassenem Tone: „Didier ist über meine Gefühle für ihn vollständig im klaren.“

Nun errötete Didier noch dunkler, während Madame Morel erbleichte. Sie sah ihren Sohn mißtrauisch an. „Was soll das heißen?“ fragte sie scharf. Indessen fürchtete sie, nur zu gut zu verstehen. Mit der Andeutung der Möglichkeit, Didier könnte sich anders besinnen, hatte sie ihren letzten Trumpf ausgespielt. Und das war der Erfolg! Das junge Mädchen fürchtete sich nicht: sie war ruhig, Didier ängstlich, als fürchtete er Erklärungen. Die argwöhnisch zwischen den beiden jungen Leuten hin und her wandernden blanken Aeuglein Frau Morels bemerkten das wohl, und ihr Verdacht verstärkte sich zur Gewißheit. Immer hatte sie das Mädchen zu kühl gefunden, zu wenig dankbar für die große Ehre. Sie selbst hatte nicht sehr freudig in die Verlobung gewilligt. Germaine Dormans war ihr eine liebe Freundin gewesen, aber den einzigen Sohn, der die reichsten Erbinnen von Nancy haben konnte, an diese arme Kirchenmaus verschleudern? Sie gab ihn nicht gern so billig ab und hatte sich ihre Zustimmung nur abringen lassen, weil Didier sein Lebensglück davon abhängig erklärte. Madame Morel gehörte zu den Müttern, die ihren Sohn überhaupt für jedes Mädchen zu gut finden. Als sie dann bei ihrem ersten Besuch statt der wonneseligen Braut, die sie zu finden erwartete, die scheu in sich selbst eingesponnene Marguerite traf, befremdete sie das wohl ein wenig, aber die französische Mädchenerziehung forderte ja diese Zurückhaltung. Marguerite benahm sich dem Herkommen gemäß. Jetzt aber gab es keine Beschönigung mehr. Wenn Marguerite ihren Sohn geliebt hätte, wäre ihr in ihrer Vereinsamung das Haus seiner Eltern als die beste Zufluchtsstätte erschienen, und sie hätte sich um so inniger an ihn und die Seinigen geschmiegt! Nein, sie liebte ihn nicht, und, was noch mehr: Didier wußte es, sie hatte es ihm gesagt! Diese Entdeckung machte sie so stutzig, daß sie verstummte. Sie wußte nun nicht mehr, auf welche Weise sie einen Druck auf Marguerite ausüben sollte. Und so setzte nach einigem Hin- und Herreden Marguerite ihren Willen durch. Die Morels nahmen von ihr Abschied und kehrten ohne sie nach Nancy zurück. Noch im Hotel hatte Madame Morel eine scharfe Auseinandersetzung mit ihrem Sohne. Didier gestand halb und halb zu, daß Marguerite ihn noch nicht liebte. „Mein Gott, ihr Herz ist eben noch nicht recht erwacht! Sie wird mich lieben lernen!“

„Wozu? Je weniger sie dich liebt, desto mehr wird sie deine Herrin sein!“ spöttelte die Mutter trocken. „O, sie macht kein schlechtes Geschäft, diese liebe Marguerite. Sie nimmt alles und giebt gar nichts dafür. Und das geschieht dir, nach dem zu Hause die hübschesten und reichsten Mädchen schmachten!“

„Mädchen, die ich nicht will, und diese will ich!“ beendete Didier den Streit.

Für Detlev war es keine geringe Ueberraschung, als ihm Madame Joß am anderen Morgen einen Brief von „Mademoiselle“ brachte. Ein wenig betroffen nahm er ihn entgegen. Vorerst dachte er nicht daran, was sie ihm wohl schreiben könne, sein Auge ruhte mit Innigkeit auf den Zügen der Adresse. Das also war ihre Schrift! So schrieben ihre schlanken Finger seinen Namen? Dann öffnete er den Brief und überflog verständnislos die wenigen Zeilen der Mitteilung. Marguerite hatte französisch und sehr kurz geschrieben. Aber es dauerte eine Weile, bis Detlev begriff, daß er mit den ersten Zeilen von dieser lieben Hand – seinen Laufpaß erhielt. Madame Joß gab ihm mündlich die nötigen Erläuterungen. Die Nachricht, daß Marguerite nicht nach Nancy ging, erleichterte ihm ein wenig den schmerzlichen Abschied von ihrem Hause. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens sagte er zu Madame Joß: „Ich begreife die Gründe Ihres Fräuleins und füge mich, so schwer es mir auch fällt. Wann soll ich denn gehen?“

„Sie sind gesetzlich berechtigt, bis zum Fünfzehnten hier zu bleiben,“ erklärte Madame Joß. „Wenn aber der Herr Leutnant früher eine Wohnung bekäme, vielleicht schon zum Ersten –“

[215] „Ich verstehe. Je früher, desto besser!“

„Ach, wenn Sie doch graue Haare hätten, Monsieur!“ rief Madame Joß bedauernd.

„Einige habe ich bereits an mir entdeckt! Doch es scheint, sie genügen nicht. Melden Sie dem Fräulein, daß ich noch heute auf die Suche nach einer Wohnung gehe. Ich werde sie so bald als möglich von meiner Anwesenheit befreien.“

Er sagte das ganz heiter und gleichmütig, und Madame Joß konnte demnach ihrer jungen Herrin mit Recht berichten, daß der Leutnant die Kündigung mit ziemlich guter Art aufgenommen habe und nicht sehr verzweifelt scheine. Es sei offenbar viel leichter, einen Mieter hinaus als herein zu bekommen.

„Und wenn wir auch keinen finden!“ meinte Marguerite. „Ich brauche jetzt so wenig.“

Aber Madame Joß teilte diese Auffassung der Sachlage nicht.

*      *      *

In ganz anderer Stimmung als zum erstenmal ging Detlev diesmal aus, eine Wohnung zu suchen. Es war ihm jetzt ganz gleich, wie das „Loch“ aussah, das ihn aufnehmen sollte. Nur gar zu weit entfernt von der Belle-Islestraße sollte es nicht sein. Er mußte es daher für einen immerhin günstigen Zufall halten, als er am Vincenzplatz ein annehmbares Logis entdeckte. Am Vincenzplatz! Schräg gegenüber, mit ihren beiden gotischen Türmen ein Wahrzeichen der Stadtgegend, die Vincenzkirche, in welche die beiden Perrauls und auch Marguerite ja so häufig zur Messe gingen. Wie leicht war es möglich, daß er sie dort eintreten oder herauskommen sah! Er blieb in ihrer Nähe. Da die Wohnung sofort zu haben war, entschloß er sich, bereits am 1. Februar umzuziehen.

Am letzten Tage, den er in seinen ihm lieb gewordenen Zimmern verbrachte, ging er hinüber, von Marguerite, die er seit dem Leichenbegängnis nicht gesehen hatte, persönlichen Abschied zu nehmen. Auf sein Klopfen an der Glasthüre erfolgte keine Antwort, wohl weil droben auf dem Flur die Kinder des Agenten Räuberspiele aufführten und damit jedes andere Geräusch übertönten. Er drückte also die Klinke nieder und trat ein. Das kleine Zimmer war leer, und vom Begräbnis her schien ihm noch ein leiser Weihrauchduft zurückgeblieben zu sein. An der Thüre der Wohnstube klopfte Detlev lauter, und auf das erfolgte „Entrez!“ trat er gedämpften Schrittes ein.

Marguerite saß in einem der Lehnstühle nahe beim Ofen, der einladende Glut ausströmte. Das Zimmer sah aus wie sonst, nur leerer und noch düsterer. Der Vorhang des Alkovens war herabgelassen und bildete den dunklen Hintergrund, von dem sich Marguerites vom Feuer bestrahltes Profil abhob. Frühe Nachmittagsdämmerung verwischte in dem dunkelfarbigen Raum alle Linien und Umrisse und umgab Marguerites Kopf mit einem blassen, flackernden Heiligenschein. Sie war unbeschäftigt. Ihre Hände ruhten müde in ihrem Schoße, und ihr Gesicht hatte den Ausdruck eines verlassenen Kindes, das auf die Heimkehr seiner Mutter wartet.

„Sie sind es?“ sagte Marguerite aufblickend. Sie erhob sich und kam ihm langsam entgegen.

„Ja, ich, der Verstoßene!“ antwortete Detlev. „Störe ich?“

„Worin sollten Sie mich wohl stören? Sie sahen es ja! Ich saß am Feuer und blickte in die Glut.“

Er faßte ihre Hand, und da sie nun in den Bereich des Fensterlichts getreten war, sah er sie mit mitleidiger Prüfung an. „Es thut Ihnen nicht gut, so viel allein zu sitzen … Ich darf Ihnen nicht Gesellschaft leisten, darein muß ich mich ergeben. Aber warum rufen Sie nicht die Damen Perraul herein? Oder die kleine Jeannette?“

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich muß allein sein, ganz allein!“

Er sah sich unwillig in den vier Wänden um. „Hier allein? Und immer allein! Fast möchte ich wünschen, daß Sie mit Madame Morel nach Nancy gegangen wären!“

Sie hatte ihm die Hand entzogen und ging wieder zu ihrem Sitz am Ofen. Detlev folgte ihr. Sie setzte sich und bot ihm einen Lehnstuhl an, der noch die Stellung hatte, in der ein früherer Besuch ihn verlassen haben mochte.

„Sie hätten mir das geraten?“ fragte Marguerite.

„Doch nein! Wenn es Ihnen nicht genehm war – gewiß nicht. Sie haben sicher Ihre guten Gründe gehabt.“

„Morels sind eine sehr heitere Familie … Zwei lebhafte Töchter sind da … Sie treiben es manchmal toll … Man würde sich alle Mühe gegeben haben, mich zu erheitern. Aber gerade das mochte ich nicht. Man soll sich nicht mit mir beschäftigen, man soll mich ruhig in meinem Winkel lassen. Ich bin nicht einsamer als früher. Meine Mutter ist bei mir.“

Diesmal schüttelte Detlev den Kopf. „Sie gefallen sich zu sehr in der düsteren Stimmung, die dieses Zimmer aushaucht. Wenn Sie mich schon von drüben vertreiben, so ziehen Sie selber hinüber! Da haben Sie doch keine schwefelgelbe Feuermauer vor sich. Die Zimmer sind hell. Sie sehen den Fluß mit seinen Eisschollen, die Straße, die den ganzen Tag voll Leben ist. Man sieht die Kinder aus der Schule kommen, Soldaten –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ach ja, die Soldaten! Vielleicht ist das gerade der Grund, warum Sie nicht drüben wohnen wollen. Aber Sie brauchen gar nicht auf die Erde zu blicken, sondern zum Himmel. Hier haben Sie keinen Himmel und keine Luft.“

„Glauben Sie mir, mir ist am wohlsten hier!“ entgegnete Marguerite, träumerisch ins Feuer starrend. „Ich brauche die gewohnte Umgebung, die vertrauten Gegenstände. Einen Wechsel könnte ich nicht ertragen!“

Detlev sagte nichts mehr. Für eine Weile gab er sich stumm dem beglückenden Gefühle ihrer Nähe hin. Es war vielleicht das letzte Mal im Leben, daß er ihr ohne Zeugen gegenüber saß und, vom Halbdunkel begünstigt, die Blicke an ihrem lieben Gesichte hängen lassen durfte. Ihm war wohl und weh zugleich, wenn er sie betrachtete. Sie war so schön in ihrer sanften Blässe. Jedes Männerherz hätte sie gerührt mit ihrer schmucklosen Lieblichkeit.

„Morgen zieh’ ich aus!“ sagte er dann plötzlich rauh.

Sie hob den Kopf. „Sie haben schon eine Wohnung? Ist sie auch nett und freundlich?“

„Was liegt daran – wenn Sie mich nur los sind.“

„Es scheint undankbar, Sie fortzuschicken!“ gestand Marguerite sanft. „Sie sind sehr gut zu mir gewesen. Was wollen Sie? Es geht nicht anders. Sie werden sich schnell wieder eingewöhnen drüben. Wie heißt Ihre Wirtin?“

„Keine Französin diesmal. Frau Klara Schmidt. Sie werden sie kaum kennen.“

„O, ich kenne sie. Eine von ihren Töchtern ging mit mir in die Schule. Die ist schon verheiratet. Aber es sind noch zwei jüngere Töchter da.“

Detlev hatte die beiden Mädchen gesehen und schnitt eine leichte Grimasse, die ein leises Lächeln auf das ernste Gesicht des jungen Mädchens lockte.

„Sie scheinen zu glauben, daß ich mich gewohnheitsmäßig in meine Wirtstöchter verliebe, Fräulein!“

„O!“ wehrte Marguerite ab.

„Bitte, lassen Sie mich reden … Ich möchte Ihnen doch wenigstens sagen, wie es mir ums Herz ist! Nachdem es mir kaum noch gestattet war, Ihnen einen Schritt näher zu treten, führt uns das Leben wieder auseinander. Auf Ihren Wunsch entferne ich mich aus Ihrem Gesichtskreis. Die Geschichte ist hoffnungslos, ich weiß es. Aber einmal will man sich doch aussprechen. Sie haben es wohl nie geahnt, daß ich Ihnen gut gewesen bin vom ersten Blick an?“ Es war eine halbe Frage, aber Marguerite saß regungslos. Bloß einen Seufzer glaubte Detlev zu vernehmen.

„Und ich habe Sie kennengelernt, als Sie noch unversagt, unverlobt waren! Aber wenn ich mich da auch gemeldet hätte, es wäre ja doch keine Hoffnung gewesen, keine –“

„Keine,“ murmelte Marguerite leise.

„Zu vieles stand zwischen uns. Ihre Mutter … Aber, vor allem würden Sie selbst wohl nie einen Deutschen haben lieben können … Oder wäre es denkbar gewesen, wenn Sie noch über Ihre Hand zu verfügen gehabt hätten? Hätte ich Sie erringen können, wenn der andere mir nicht zuvorkam?“

„Wozu die Frage? Ich bin Herrn Morels Braut!“

„Wozu die Frage?! Es wäre Balsam für mich, zu wissen, daß nicht in Ihrem Herzen das Hindernis lag. Aber, nein, Sie [216] hätten mich nie geliebt. Sie haben gelernt, uns als Feinde zu betrachten, und darüber kommen Sie nicht hinaus …“

„Ich betrachte Sie nicht als Feind.“ Marguerite sagte es weich. „Allein wozu von unmöglichen Dingen reden? Auch wenn ich nicht mit Herrn Morel verlobt wäre, auch dann könnte ich nicht daran denken … O gewiß nicht! Schlagen Sie sich das alles aus dem Kopf, Herr von Bode!“

„Jawohl, ich muß es mir aus dem Kopf schlagen!“ gab Detlev nicht ohne Bitterkeit zurück. „Selbst wenn Sie keinen Bräutigam hätten, stünden noch immer berghohe Vorurteile zwischen uns.“

„Ich hege keine Vorurteile,“ entgegnete Marguerite traurig. „Dennoch könnte und wollte ich nichts thun, was meine Mutter, wenn sie lebte, nicht gutheißen würde. Darin besteht die Pietät gegen unsere Toten, daß wir ihrem Willen nachleben in ihrer Abwesenheit –“

„Und dieser Pietät würden Sie auch die Wünsche Ihres Herzens opfern?“ Detlev sprang erregt auf, sein Blick hing mit schmerzlichem Ausdruck an ihrem Gesicht.

„Ich würde es thun,“ sagte das junge Mädchen langsam. „Aber ich habe nichts zu opfern!“

„Wenn ich gewiß wüßte, daß Sie in dieser Ehe glücklich sein werden, wie gern wollte ich mich bescheiden! Aber Sie glauben das selbst nicht! In Ihrem ganzen Wesen prägt es sich aus, daß Sie nicht auf das Glück hoffen … O, Fräulein Marguerite, lachen Sie mich aus, wenn Sie wollen, aber Sie werden keine Heimat finden in diesem Nancy! Sie mit Ihrer holdseligen sinnigen Anmut, Sie passen nicht zu dem kleinen schwarzen Franzosen … Ihre ganze Natur weist Sie zu – uns!“

Er machte einige Schritte im Zimmer und sah mit zärtlicher Bekümmernis auf das junge Mädchen nieder, das bleich am Kamin lehnte. „So lange Ihre Mutter lebte, da wußte ich, es sei aussichtslos, an Sie zu denken. Aber sie, die die Bitterkeit über ihr beraubtes Leben so tief im Herzen trug, sie ist tot, und es ist unsinnig, sich den Toten zu opfern. Sie fühlen nicht wie die Mutter, nichts scheidet Sie von uns … Hören Sie auf die Stimmen in Ihrem Innern, und wenn da eine sich zu meinen Gunsten erhebt, heißen Sie sie nicht schweigen! Lauschen Sie ihr, es ist die Stimme des Glücks, Marguerite, die sich vernehmlich machen will!“

Marguerite machte eine Handbewegung. „Endigen wir diese Unterredung, Herr von Bode … Ich darf Sie nicht länger anhören, Sie sollen nicht so zu mir sprechen … Ich bin eines anderen Braut! Achten Sie meine Einsamkeit … Gehen Sie, ich bitte Sie darum!“

„Vergeben Sie mir wenigstens, ehe ich gehe. Ich wollte das alles unausgesprochen mit mir hinwegnehmen, aber es ging nicht. Verzeihen Sie mir?“

Statt zu antworten, nickte Marguerite mit dem Kopfe. Er ergriff ihre Hand, die eiskalt war, und drückte sie an seine Lippen.

„Leben Sie wohl! Seien Sie glücklich!“ murmelte er. Dann ging er, ohne sich umzusehen. –

In der neuen Wohnung fühlte sich Detlev sehr unbehaglich. Er ging umher wie einer, der seine Seele verloren hat, und die Schmidtschen Mädchen wunderten sich sehr über den melancholischen Offizier. So einen hatten sie noch nicht gehabt in der bunten Reihe ihrer Mieter.

Stefan sprach fast täglich bei Madame Joß vor und hörte da die kleinen Ereignisse des Tages. Von den Knaben des Agenten war einer auf der Treppe gestürzt, Mademoiselle Octavie Perraul hatte sich in der Kathedrale einen Schnupfen geholt, von Monsieur Morel waren ein Brief gekommen und Blumen, und Fräulein Marguerite hatte diese auf den Friedhof gebracht. Auf diese Weise erfuhr er doch etwas von ihrem Leben, und er drückte deshalb ein Auge zu, wenn Stefan, der ein entschiedener Freund von rotem Haar zu sein schien, den Weg etwas zu oft nach der Belle-Islestraße nahm.

Einige Zeit später fragte ein älterer Major im Kaffeehause Detlev, ob er mit seiner vorigen Wohnung zufrieden gewesen sei und warum er sie aufgegeben habe. Detlev gab kurzen Bescheid über die Ursache seiner Wohnungsverändernng und riet Major Pröhl, die Wohnung zu nehmen, da er gewiß zufrieden damit sein würde.

„Aber recht teuer haben Sie gewohnt, Herr Leutnant!“ meinte der Major. „Mir ist der geforderte Preis ein wenig zu hoch.“

„Wenn Sie die Wohnung mit anderen vergleichen, werden Sie das nicht finden!“ entgegnete Detlev, „doch glaube ich, daß man Ihnen vielleicht etwas vom Preise ablassen wird, wenn Sie es verlangen.“

Dies war dann auch wohl der Fall, denn Major Pröhl bezog wirklich Detlevs verlassene Wohnung. Er war ein älterer Junggeselle, der von der traditionellen Schneidigkeit des preußischen Offiziers sehr wenig abbekommen hatte. Allein trotz seines behäbigen Phlegmas im praktischen Dienst, das mit seiner Neigung zur Fülle in Verbindung stehen mochte, war der Major doch ein tüchtiger Fachmann in militärischer Theorie. Den größten Teil seiner Dienstjahre hatte er in Festungen zugebracht, er besaß eine kleine militärische Bibliothek, die hauptsächlich Werke über Festungswesen enthielt. Detlevs Interesse für das Lieblingsstudium des Majors hatte diesen schon früher auf den jungen Premierlieutenant aufmerksam gemacht. Jüngere Offiziere pflegten diese Teilnahme für Major Pröhls Steckenpferd nur zu bekunden, wenn ihnen daran lag, sich seine Gewogenheit zu sichern. Aber Bode war doch darüber hinaus. Er diente nicht in seinem Regiment. Der Major mußte also wohl voraussetzen, daß nur ein sachlicher und kein persönlicher Grund den jungen Premier bewog, allen seinen Erläuterungen ein sehr aufmerksames Ohr zu leihen. So lud er ihn denn jetzt ein, ihn zu besuchen, um seine Bibliothek zu besichtigen. Auf diese Weise war es Detlev gegönnt, manchmal das Haus zu betreten, das er so ungern verlassen hatte.

Das trauernde blonde Mädchen gewann auch dem alten Herrn großen Anteil ab. „Sollte man glauben, daß das eine Französin ist?“ sagte er zu Detlev in dem an den Exerzierplatz stoßenden Kaffeehaus, wo sie sich zu treffen pflegten. „Ich kann es gar nicht fassen! Nicht nur des Aussehens, sondern auch des Charakters halber erscheint es unglaublich. Sie ist so ernst, so betrübt, das arme Kind … Na, lang’ wird sie nicht mehr im Verborgenen blühen … Kürzlich ist der Bräutigam dagewesen … Im März kommt er wieder. Wenn ich der wäre! So ein Mädchen hätt’ ich in meiner Jugend kennen sollen. Schade, daß so ein windiger Franzose die gekapert hat!“

Ob Didier im März in der That in Metz gewesen war, erfuhr Detlev nicht. Es vergingen zwei Monate, ohne daß er von einem Besuch Morels bei seiner Braut hörte. Er selbst kam selten zum Major; es ergab sich eben nur wenig Gelegenheit dazu, und diese wenigen Male war ihm das Glück nicht günstig: die Glasthüre ließ nichts erblicken, nicht einmal einen Schatten. Die Beobachtung an seinem Fenster hatte ebenfalls keine besonderen Erfolge. Auch konnte er ihr nicht sehr viel Zeit widmen: der Beruf verlangte seine Abwesenheit von Hause gerade zu der Zeit, die zu seinen Fensterbeobachtungen am geeignetsten gewesen wäre. Die Damen Perraul erblickte er freilich sehr häufig, wie sie den Platz überschritten. Marguerite hingegen erspähte er nur sehr selten, und dann verhüllte der dichte Kreppschleier ihr Gesicht, so daß er sie mehr darunter erriet, als daß er sie wirklich erkannt hätte.

Es wurde Frühling … Längst war die letzte Eisscholle aus der Mosel verschwunden, die Luft wehte lau, und der Himmel nahm wieder eine südlich blaue Färbung an. Die Höhen um Metz schimmerten grün vom frischen Grase, das dort sprießte. An den Alleebäumen zeigten sich dicke Knospen, in denen der Saft stieg und stieg, und manche überzogen sich schon mit einem dünnen zartgrünen Schleier. Tag um Tag machte der Frühling neue Fortschritte, entdeckte man Schwellen und Sprießen dort, wo vorher nur dürres Astwerk gewesen war. In der Luft zwitscherten bereits die Schwalben. Doch niemals hatte Detlev dem neuen Werden so wenig Aufmerksamkeit zugewendet wie in diesem Jahre. Er hatte zu viel zu thun mit seinen inneren Zuständen. Nicht nur, daß er seine hoffnungslose Neigung für Marguerite nicht verwand, er litt noch mehr darunter als am Anfang. Das beste für ihn wäre gewesen, sich versetzen zu lassen.

Es traten jedoch Ereignisse ein, die ihm nicht nur eine Versetzung, sondern vielmehr einen ganzen Berufswechsel nahe legten. Schon seit Monaten schrieb ihm sein Onkel, der ihn [218] zum Erben eingesetzt hatte, Brief um Brief, um ihn zu bestimmen, daß er den bunten Rock ausziehe und zu ihm auf sein Gut komme, wo er beizeiten lernen könne, den Herrn zu spielen. Ein solches ihm zugefallenes Erbe gut zu bewirtschaften, sei auch eine Lebensaufgabe, und sein Vater habe immer gewünscht, ihn als Landwirt zu sehen. Detlev war auch nicht abgeneigt, den Wunsch des Onkels zu erfüllen, doch schob er es immer noch hinaus, einen entscheidenden Schritt zu thun. Litt er auch an seiner aussichtslosen Liebe, so waren ihm doch seine Leiden lieb. Metz verlassen hieß, sich auf ewig von Marguerite trennen. Und sie war ja noch nicht verheiratet, noch war der letzte Hoffnungsfunken nicht erloschen. Aber im April, als die weitläufigen Alleen um Metz sich grün umkleideten und die Büsche längs der Mosel im Blütenschauer standen, erlitt der alte Herr auf Rheinfeld einen leichten Schlaganfall, den Frau von Bode ihrem Sohn meldete. Zugleich bat sie ihn dringend, doch jetzt den Wunsch des Oheims zu erfüllen: das Gut brauche einen Herrn … Bald schrieb der Oheim einen Brief voll wehmütiger Todesahnungen. Er wollte noch gern selbst seinen Neffen in den neuen Wirkungskreis einführen und seine letzten Lebenstage durch seine Gegenwart erheitert sehen. Nun stand Detlev am Wendepunkte. Er nahm vorläufig einen längeren Osterurlaub und reichte zugleich sein Abschiedsgesuch ein. So bereitete er sich zur Abreise mit dem Bewußtsein vor, daß er nicht mehr nach Metz und zum Regiment zurückkehren würde … An einem laulichen Apriltage, der die Stadt in ein wahres Bad von Frühlingslicht tauchte, von dem seine Seele aber nichts wahrnahm, ging er in der Stadt umher, bei Vorgesetzten, Kameraden und deren Familien Abschiedsbesuche zu machen.

Den Weg zu Major Pröhl hatte er sich bis zuletzt aufgespart, denn er wollte nachher auch zu ihr gehen. Ein Abschiedsbesuch mußte ihm doch gegönnt werden. Er hatte bis zu ihrer Hochzeit in Metz ausharren wollen, um den letzten Schimmer von Hoffnung festzuhalten, bis sie unwiderruflich gebunden war, aber die Qual dauerte zu lange. Die letzten Monate waren unerträglich gewesen. Es war unmännlich, sich dieser hoffnungslosen Pein länger hinzugeben, und er ging dorthin, wohin ihn die Pflicht rief.

Der Major besprach eingehend seine Verhältnisse und Lebensaussichten mit ihm und gab ihm recht, daß er seinem Oheim willfahrte. „Wenn es zum Dreinschlagen kommt, sind Sie doch wieder da! Wollte, ich hätte vor zwanzig Jahren einen Onkel gehabt, der mir das Seinige hätte angedeihen lassen wollen!“

Dann kamen Regimentsnachrichten, und schließlich sprach der Major wie gewöhnlich auch von seiner jungen Wirtin. „Kirche und Friedhof: schöne Abwechslung für leuchtende Frühlingstage! Heut’ mag sie noch eine besonders böse Viertelstunde gehabt haben, das arme Ding!“

„Warum?“ Detlev fragte es ein wenig zu heftig.

„Stellen Sie sich vor,“ begann der Major mit seiner gemütlichen Langsamkeit, „heute morgen, während sie in der Kirche war, kam der Postbote, brachte mir einen Brief und wollte zu ihr hinein … Thüre verschlossen … Der Postbote wollte also den Brief durch die Spalte unten Hineinschieben, aber ich sage: Geben Sie nur her … Ich besorge das … Gut. Postbote geht … Ich drehe das große Couvert in der Hand um, es ist offen … Dann darf man sich’s doch ansehen, und so ziehe ich das steife Blatt heraus und sehe es an. Natürlich war’s Französisch, ein langes sinnloses Geschreibsel“ – der Major verstand wenig französisch – „der Teufel mag das lesen! Aber die Namen fielen mir auf: Mademoiselle Alphonsine Duval oder Dumont oder Dubois, ich weiß nicht mehr – und was könnte mir auch gleichgültiger sein? – und ein Herr empfahlen sich als Verlobte ... Und der Herr, das war kurios! – Der Herr … Was meinen Sie, wer das war?“

Detlevs Spannung war aufs höchste gestiegen. Er machte eine ungeduldige Bewegung.

„Er hieß,“ sagte der Major mit feierlich dröhnendem Baß, „ob Sie es nun glauben oder nicht: Er hieß – Didier Morel!“

Detlev sprang auf und starrte dem alten Herrn verwirrt ins Gesicht. „Unmöglich!“

„Aber wahr! Ich war auch ganz baff. Als ob es mich in den Fingern gebrannt hätte, schob ich das Couvert durch den Spalt hinein. Mochten ihre Füßchen darauftreten! Ein Bräutigam, der seiner Braut seine Verlobung mit einer anderen anzeigt!“

„Vielleicht war es bloß ein gleichnamiger Verwandter des Bräutigams!“

„Ach!“ sagte der Major überlegen. „Es ist schon so! Die Verlobung scheint schon lange in die Brüche gegangen zu sein; die Kleine hatte nur keine Veranlassung, es uns wissen zu lassen, nicht wahr? Vor einer Stunde war Madame Joß hier oben. Die examinierte ich. Sie sagt, sie hätte längst Lunte gerochen, weil kein Brief mehr aus Nancy kam, nichts. Das Fräulein sei jedoch seitdem weit heiterer. Die Geschichte würde ihr nicht das Herz brechen. Bloß die ‚Madame‘ … die drehte sich wohl im Grabe um, wenn sie’s erführe, meinte die Joß. Indessen, ich denke, bis auf den Ostfriedhof wird die Nachricht nicht dringen … Ob es die Kleine wirklich so leicht nimmt? Vielleicht macht sie bloß gute Miene zum bösen Spiele!“

Detlev verließ den Major so bald wie möglich und benahm sich dabei so auffällig, daß dieser ihm kopfschüttelnd nachsah. Marguerites Thüre war jedoch verschlossen, und Detlev rannte nun stundenlang wie besessen durch die Straßen, um die ungeheure Freude, die ihn erfüllte, in Bewegung austoben zu lassen.

Der laue Frühlingstag umkoste seine Stirne mit schmeichlerisch zärtlichem Hauch wie eine Glücksverheißung, und nun fiel der helle Sonnenschein auch ihm ins Herz und erwärmte es nach langer Winterstarre zum erstenmal wieder. Die ganze Zeit her hatte er sich in einem finsteren Gegensatz mit dem alles Vereiste lockernden und lösenden Lenzhauch befunden, jetzt aber, wo das Knospen der Hoffnung sich auch in ihm wieder zu regen begann, begrüßte er die Frühlingsherrlichkeit ringsum aus froher Seele.

Er war nach dem Friedhof hinausgeeilt, traf aber Marguerite dort nicht. Dann schweifte er planlos in der Umgebung der Stadt umher, wo auf den Höhen Rebenpfähle, zeltartig zusammengestellt, an die Gewehre erinnerten, die zu anderen Zeiten dort so aufgestellt gewesen sein mochten. Zwischen den Forts von Plantières und Saint Julien irrte er umher, kehrte dann auf einem Umweg durch die altertümliche Porte des Allemands in die Stadt zurück und schlug wieder den Weg nach der Belle-Islestraße ein. Es dämmerte bereits. Die Lichtfülle des Tages minderte sich allmählich. Atemlos erklomm er die Treppe, überzeugte sich durch einen Druck auf seine ehemalige Wohnungsthüre davon, daß Major Pröhl, wie er erwartet hatte, nicht zu Hause war, und klopfte dann bei Marguerite an. Es erfolgte kein Herein, doch als er unentschlossen in dem kleinen leeren Zimmer stand, wo sich schon Dämmerschatten aus den Winkeln streckten, rief aus der kleinen Küche zur Linken eine Stimme den Namen der Frau Joß. Der innere Jubel drohte Detlev zu ersticken, als er nach langer Zeit wieder diese Stimme hörte, und so hell und leicht klang sie obendrein. Eine übermütige Stimmung überkam ihn, und er antwortete laut und fröhlich: „Nein, ich bin’s.“

Beim Klang dieser männlichen Stimme kam Marguerite schnell herbei … Das schwarze Kleid mit einer Küchenschürze bedeckt, in einer Hand die Theebüchse, in der anderen ein Löffelchen, so erschien sie an der Schwelle. Als sie Detlev erblickte, lächelte sie, aber es war kein freudiges Lächeln.

Sie sind es, Herr von Bode?“ fragte sie langsam … „Nehmen Sie Platz und entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“

„Ich will Sie nicht in Ihrer Beschäftigung stören … Sie kochen Thee? Empfangen Sie mich doch in der Küche!“

Und ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, trat er hinter ihr in das Küchlein ein. Der kleine Raum war übervoll von der aus einer größeren Küche stammenden Einrichtung, aber gerade deshalb nur um so anheimelnder. Der Küchenschrank und die Geschirrborde an der Wand ließen Mengen von verschiedenem altväterischen Porzellan sehen. Messing und Kupfer glänzten an der Wand um die Wette, und auf dem sauberen und wohl selten benutzten Herde stand ein Spirituskocher, dessen blaue Flamme im Luftzug hell emporloderte. Theekanne und Theetasse daneben [219] verrieten, daß Detlev richtig geraten hatte. Marguerite stellte die Theebüchse, die sie noch in der Hand gehalten hatte, weg und legte jetzt erst die Hand in die, welche Detlev ihr entgegenstreckte.

„Wir haben uns lange nicht gesehen!“ sagte er leise, die Augen an ihr hängen lassend.

„Recht lange!“ gestand Marguerite zu. „Und jetzt … Sie kommen wohl Abschied nehmen, Herr Leutnant? Vorhin traf ich Major Pröhl im Flur, und er sagte mir, daß Sie eine Urlaubsreise antreten.“

„Nicht bloß eine Urlaubsreise … Ich trete aus der Armee aus … Sagte Ihnen Major Pröhl das nicht? Sie verstehen mich doch, Fräulein? Ich werde kein Soldat mehr sein …“ Er hatte sich nicht gesetzt, sondern lehnte an dem Kürhenschrank, zufrieden, daß er sie sah, sie ungestört betrachten durfte, ohne durch den Gedanken an Didier Morel gequält zu werden.

„Kein Soldat mehr?“ wiederholte Marguerite leise.

„Ich werde Landwirt. Ich soll das Gut meines Oheims bewirtschaften, der leidend ist.“

„Ich wünsche Ihnen Glück zu dieser Veränderung. Hoffentlich lieben Sie das Landleben.“

„Ich werde es lieben lernen. Und Sie, mein Fräulein? Lieben Sie es?“

„Ich kenne es kaum. Bedenken Sie doch, daß ich fast nie aus Metz fortgekommen bin … Indessen stelle ich es mir recht schön vor, auf dem Lande zu leben … Reisen Sie bald nach Deutschland?“

„Sehr bald,“ antwortete Detlev mit gepreßter Stimme und sie beobachtend. Der Mut sank ihm; sie schien ihm zu ruhig, unbeteiligt. Ob er blieb oder ging, es schien ihr gleichgültig!

Das Wasser kochte. Marguerite goß den Thee auf und löschte die Flamme. Dann nahm sie das Theebrett, auf das sie noch eine zweite Tasse gestellt hatte, und schickte sich an, es in das Wohnzimmer zu tragen. „Kommen Sie hinein, Herr von Bode, und trinken Sie Thee mit mir – zum Abschied!“

Er folgte ihr stumm. Drinnen im Wohnzimmer, wo es nach den Hyacinthen roch, die in einem Glase auf dem Fensterbord standen, hieß sie ihn auf dem Sofa Platz nehmen und deckte ein lavendelduftiges Tuch auf. Dann stellte sie den Thee, Zucker, Milch und Biskuits vor Detlev und bat ihn, zuzugreifen. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber, und stumm schlürften sie den heißen Trank.

„Wie blaß Sie sind, Fräulein!“ sagte Detlev nach einem langen Blick auf ihr schmales Gesicht. „Sind Sie leidend? Diese ewigen Gänge nach dem Friedhof!“

„Ich war gar nicht auf dem Friedhof, sondern in Plappeville mit einer ehemaligen Freundin, die ich getroffen hatte … Die Frühlingsluft ermüdet so …“

„So haben Sie doch auch Freundinnen? Eine Stockfranzösin natürlich!“

„Im Gegenteil … Die Familie stammt aus Königsberg, und Sie sollten einmal hören, wie die deutsch spricht … Wieso Herr Kühtmann gerade hierher kam, weiß ich nicht … Ottilie ist in Metz geboren wie ich.“

„Was ist Herr Kühtmann?“

„Oberlehrer.“

„Und das ist Ihre Freundin?“

„Wir hatten zusammen Zeichenstunde. Es ist ein recht liebes Mädchen, aber, natürlich, seit sechs oder sieben Jahren habe ich sie kaum mehr gesehen. Mama wünschte es nicht. Herr Kühtmann hat gegen uns gekämpft. Ich werde übrigens nicht wieder mit Ottilie verkehren. Bloß heute, weil wir uns gerade trafen. Sie kommt bald fort von hier. Sie heiratet.“

„Nach Deutschland?“

„Nein … einen Franzosen … Sie wird in Grenoble wohnen.“

„So?“ Detlev wurde ganz heiter. „Ein gutes Beispiel, das sie Ihnen giebt!“

„Mir?“ Marguerite zuckte die Achseln.

„Um es ihr nachzuthun, müßten Sie nach Deutschland heiraten,“ sagte Detlev, einen möglichst leichten Ton anschlagend, „Sie sind ja jetzt frei; denn wie ich hörte, ist Ihre Heirat –“

„In die Brüche gegangen,“ ergänzte Marguerite ruhig.

„Hat er sich Ihnen gegenüber etwas zu schulden kommen lassen?“ fragte Detlev.

„Klagen Sie ihn nicht an!“ fiel ihm das junge Mädchen rasch ins Wort. „Er hat keine Schuld.“

„Schenken Sie mir Ihr Vertrauen,“ bat Detlev, „und erzählen Sie mir, wie sich die Sache verhält. Sie wissen, ich glaubte nie, daß Sie ihn liebten …“

Marguerite senkte den Kopf. „Mama wünschte diese Heirat so sehr, und Herr Morel versprach, ihr ein guter Sohn zu sein. Ich wollte Mama von hier fort nach Nancy bringen. Herr Morel, war damit einverstanden, daß wir sie zu uns nehmen sollten. Er wußte freilich schon damals von Doktor Laurins, daß Mamas Tage gezählt waren. Ich hätte dennoch mein Wort nicht gebrochen … Gott weiß, daß ich die Absicht hatte, den Weg zu gehen, den Mama mir vorgezeichnet hatte. Bloß einige Monate der Freiheit wollte ich mir sichern. Wenn Didier nur Vertrauen und etwas Geduld gehabt hätte! Aber Geduld ist in der Familie Morel nicht zu Hause. Er wollte meinen Gemütszustand nicht verstehen, oder vielleicht verstand er ihn nur zu gut, merkte, daß ich mich bloß zu ihm zwang. Und das verletzte seine Eigenliebe tödlich. Als er zum letztenmal hier war, im März, stellte er mir ein Ultimatum: entweder die sofortige Heirat oder der Bruch unseres Verhältnisses. Ich wählte den Bruch, worauf er es ja abgesehen hatte. So ist es gekommen. Nun eifere ich den Damen Perraul nach, und man wird bald von den drei alten Jungfern aus der Belle-Islestraße sprechen.“

Detlev schob seine Theeschale zurück, daß sie klirrte. „Eine reizende Aussicht! Ich weiß ein anderes Bild. Darf ich es Ihnen ausmalen? In einem schönen Schlosse, dessen romanische Bogenfenster nach dem Rhein gehen, kenne ich ein trauliches Gemach mit behaglichem Eichengetäfel. Ein großer weißblauer Ofen füllt die Ecke. Der Tisch in der Nähe ist sauber gedeckt. Die Theekanne fängt an zu singen, das blaue Flämmchen zischt. Am Theetisch waltet eine schlanke blonde Frau, schön wie ein Madonnenbild und lächelnd wie ein glückliches Weib. Möchten Sie nicht lieber diese blonde Frau sein als die Dritte im Bunde der Perrauls? Marguerite, sprechen Sie! Liebe Marguerite!“

Seine Worte erstarben in einem Flüstern heißer Sehnsucht und Zärtlichkeit.

Marguerite hatte die Hände im Schoß ruhen lassen und vor sich hingestarrt wie gebannt.

Jetzt, als Detlev neben sie auf den Teppich hinkniete und ihren Leib umschlang, stieß sie einen Seufzer aus, fuhr sich mit der Hand über die Augen und murmelte: „O meine Mutter!“

„Marguerite,“ sagte Detlev innig, „glauben Sie nicht, daß Ihre Mutter Ihr Glück höher geschätzt hätte als alles? Daß sie ihren Haß hätte opfern können?“

„Sie würde nie eingewilligt haben,“ murmelte das junge Mädchen. „Wie hat sie gelitten!“

„Aber nun leidet sie nicht mehr!“ rief Detlev, mit herzlichem Druck die Hand des jungen Mädchens fassend und festhaltend.

„Nun ist sie hinaus über irdisch kleinliche Bedenken und Gefühle … Jetzt kann es für Sie, Marguerite, nur ein Bestimmendes geben, Ihr Gefühl … Marguerite, rührt Sie meine Neigung nicht? Habe ich mich getäuscht, wenn ich mir einbildete, Ihr Herz neige sich mir zu?“

„Kann ich eine Wahl treffen, die meine Mutter in Trauer und Bestürzung setzen würde?“

„Sie wollen also lieber mich, den Lebenden, der noch fühlt und leidet, unglücklich machen?“ fragte Detlev hastig, ihre Hand loslassend und aufstehend. „Vermögen abgeschiedene Geister herab zu sehen auf diese Erde, so werden Ihre Eltern Sie lieber glücklich in einem deutschen Heim als einsam und trostlos im Vaterhause sehen. Den Toten stört nichts mehr ihren Frieden, mir aber zerstören Sie, wenn Sie mich abweisen, mein Lebensglück. Wollen Sie das?“

„Ich kann nicht … O Gott, quälen Sie mich nicht …! Ich kann nicht …“ Marguerite erhob sich und floh zum Fenster. Detlev folgte ihr. Er sah wohl, daß er einen mächtigen Bundesgenossen an ihrem Herzen hatte, und das flößte ihm Mut ein. Er kämpfte nicht nur für sein Glück allein. Auch für das ihrige.

„Marguerite!“ begann er wieder in beschwörendem Ton. [220] „Keinem Vorurteil wird es gelingen, uns zu trennen … Ich lasse Sie nicht … Nur eines könnte mich bewegen, mich zu entfernen. Wenn Sie mir sagen, daß Sie mich nicht mögen, daß Sie an meiner Seite nicht glücklich zu sein vermöchten. Können Sie das behaupten?“

Sie schüttelte das Haupt … Zu dieser Lüge fehlte es ihr an Mut, an Kraft … Das Glück lockte wie der warme Herd den bis ins Mark durchfröstelten Wanderer … Da schlang er den Arm um sie und erstickte ihre Bedenken in heißen Küssen … Wieder einmal siegte die Liebe über feindliche Gewalten.

Diesmal verlangte Marguerite keinen langen Aufschub. Wenige Tage, nachdem Detlevs Abschiedsschmerz sich in hohe Freude verwandelt hatte, kam Frau von Bode in Metz an, um der Braut ihres Sohnes beizustehen. Marguerites Angelegenheiten wurden schnell abgewickelt, indem die Damen Perraul sich durch besonders günstige Bedingungen doch dazu bewegen ließen, das Haus – Major Pröhl als Mieter mitinbegriffen – zu übernehmen, und nachdem Marguerite noch einmal an ihren teuren Gräbern geweint hatte, hielt sie nichts mehr fest, und sie verließ ihr Vaterhaus. Aber nicht nach Westen, wie sie einstmals gemeint, sondern nach Norden führte ihre Straße, und nicht an Didiers Seite, sondern als Detlevs erklärte Braut zog sie, begleitet von Lerchentrillern und Schwalbengezwitscher und übergossen von Frühlingsgoldglanz, ihrem neuen Leben entgegen.