Textdaten
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Autor: M. R.
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Titel: Des Künstlers erster Kranz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 53–55
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[53]

Des Künstlers erster Kranz.

In dem nahe bei Gotha gelegenen Dörfchen Siebeleben pflegte sich bei schönem Wetter eine Gesellschaft von Künstlern zu versammeln, um unter den schattigen Bäumen des Parkes die Aussicht auf den Thüringerwald zu genießen und die Stunden durch heitere und ernste Gespräche zu kürzen. An ihrer Spitze stand der würdige Veteran und Mitdirector des Gothaer Hoftheaters, Herr Konrad Eckhof, der Vater des deutschen Schauspiels, der durch sein Genie und sein unablässiges Bemühn, wie durch strenge Sittlichkeit die versunkene Bühne zu einer nie geahnten Höhe gehoben und eine neue Aera für das deutsche Theater herbeigeführt hatte. Um den alten Meister schaarten sich seine strebsamen Jünger, der gewissenhafte Iffland, der geniale, schwermüthige Beil, der liebenswürdige Beck und noch manche frische Kraft, den Worten eines solchen Lehrers lauschend. Sein Lob war ihr höchster Triumph; doch selbst sein Tadel verletzte nicht, weil er wie ein Vater nur das Beste seiner Kinder wollte, wie er die ihm treu ergebene Schaar zu nennen pflegte. –

Alle Anwesenden waren von derselben Liebe zur Kunst beseelt; sie bildete den Mittelpunkt ihrer Unterhaltung. Hier wurden bei einem Glase Bier oder, wenn es hoch kam, bei einer dampfenden Punschbowle die Leistungen der einzelnen Mitglieder einer gründlichen und stets gerechten Kritik unterworfen, die Schönheiten der Dichtung hervorgehoben und über die Auffassung der verschiedenen Charaktere hin und her gestritten. Der alte Eckhof sorgte dafür, daß die Debatte nie zu heftig wurde, und dämpfte durch die Würde und Erfahrung des Alters die Hitze und den Ungestüm der feurigen Jugend.

Es war eine schöne Zeit für sämmtliche Betheiligte, unvergeßliche Abende voll Erhebung und Begeisterung.

So saßen die Freunde wieder eines Tages versammelt, auf ihren Gesichtern lagerte ein feierlicher Ernst. Der würdige Meister hielt in seinen Händen einen frischen Lorbeerkranz, womit er nach einstimmigem Beschlusse das Haupt des bescheidenen Beck für sein ausgezeichnetes Spiel bei der gestrigen Aufführung der „Emilia Galotti“ zu krönen gedachte.

„Nimm,“ sagte der greise Eckhof, „den wohlverdienten Kranz, den Dir Deine Kunstgenossen zuerkennen. Hätte Dich mein unsterblicher Freund, der große Lessing , in der Rolle des „Prinzen“ gesehen, so würde er Dich wie wir bewundert haben. Leider fehlt mir seine Wundergabe, meine Gedanken in Worte zu kleiden, meinen Empfindungen den richtigen Ausdruck zu verleihen. Darum mußt Du Dich mit diesem Zeichen unserer Anerkennung begnügen. Ich schmücke damit Deine jugendliche Stirn und rufe laut: Es lebe unser Beck!“

„Es lebe unser Beck!“ wiederholte mit neidloser Begeisterung der Künstlerchor.

Als aber Eckhof dem überraschten Jüngling den Kranz auf das Haupt setzen wollte, wehrte dieser mit Entschiedenheit, ja mit Heftigkeit die ihm zugedachte Ehre ab.

„Fort mit dem Kranze!“ rief er entsetzt. „Ich kann ihn nicht sehen!“

Seine Wangen waren bleich, seine Stimme zitterte, so daß Eckhof und die Freunde ihn erschrocken anstarrten.

„Was fehlt Dir?“ fragte nach einer Pause der würdige Meister. „Warum verschmähst Du den Lorbeer, welchen Dir Deine Collegen durch mich überreichen? Dies Uebermaß von Bescheidenheit ist, wie mir scheint, hier nicht angebracht. Du beleidigst uns, indem Du unsere wohlgemeinte Anerkennung zurückweisest.“

[54] Von Neuem näherte sich Eckhof mit dem Kranze, und wieder stieß der junge Schauspieler mit allen Zeichen der höchsten Aufregung die verehrte Hand des Veteranen zurück.

„Ich kann nicht anders,“ stammelte er bebend. „Verzeiht mir, aber den Anblick des Lorbeerkranzes ertrag’ ich nicht. Er regt alle Leiden und Schmerzen auf, die in meiner Seele schlummern!“

Beck war auf die nahe stehende Bank hingesunken und bedeckte mit beiden Händen das Gesicht, um seine hervorströmenden Thränen zu verbergen.

„Wir wollen Dir gewiß nicht weh’ thun,“ beschwichtigte Eckhof, indem er sanft zusprechend seine Hand auf die Schultern des Weinenden legte. „Wie es scheint, hat der wohlgemeinte Kranz alte Erinnerungen in Deiner Brust geweckt.“

„So ist es,“ entgegnete der Jüngling, nachdem er mühsam sich wieder gefaßt hatte. „Ich bin Euch eine Erklärung meines seltsamen Benehmens schuldig. Ihr müßt mich für einen eingebildeten Thoren halten.“

„Das nicht, aber ich ahne einen tiefen Kummer. Hat doch jeder Mensch einen geheimnißvollen, wunden Fleck in seinem Herzen, den selbst die Hand des Freundes nicht berühren darf. Wir wollen Dein Geheimniß ehren und uns nicht in Dein Vertrauen drängen.“

„Nicht doch! Ich darf ohne Erröthen Euch erzählen, warum der Anblick des Lorbeer’s mich mit Entsetzen erfüllt hat. Ich habe die Erinnerung der Vergangenheit nicht zu scheuen, so traurig sie auch für mich ist. Wollt Ihr die Geschichte von dem „ersten Kranz des Künstlers“ hören?“

„Gewiß!“ entgegnete Eckhof. „Wenn Dich die Erzählung nicht von Neuem aufregt.“

Die Anwesenden lagerten sich im Kreise voll Erwartung, während Beck mit noch bewegter Stimme die nach seiner Meinung ihnen schuldige Aufklärung gab.

„Ich bin,“ begann er, „wie Ihr Alle wißt, von armen, aber redlichen Eltern geboren, die selber darbten, um mir eine angemessene Erziehung zu geben. Besonders hätte es der Vater gern gesehen, wenn ich studirt hätte und Geistlicher geworden wäre. Mich aber zog es mit unwiderstehlicher Gewalt zu der bunten Welt des Theaters. Mehr oder minder kennt Ihr Alle, meine Freunde, jene Kämpfe mit dem Vorurtheil, die jeder angehende Schauspieler zu bestehen hat. Gilt doch noch immer unser Stand selbst in den Augen der Gebildeten gewissermaßen für minder ehrenvoll, als jeder andere, obgleich die Schriften eines Lessing, der Schutz des hochherzigen Dalberg und das Beispiel unseres Eckhof in dieser Beziehung Wunder gewirkt haben.

„So lange mein Vater lebte, durfte ich nicht daran denken, meiner Neigung zu folgen; erst nach seinem Tode trat ich mit meinem Wunsch hervor. Wie groß die Liebe meiner armen Mutter gewesen, könnt ihr daran abmessen, daß sie mir keinen ernstlichen Widerstand entgegensetzte, obgleich auch sie meine Wahl nicht billigte und im Stillen darüber seufzte. Sie unterstützte mich nach ihren Kräften und trennte sich nicht von mir.

„Es ging uns Beiden im Anfange herzlich schlecht, meine Gage betrug nicht mehr als drei Gulden wöchentlich, und auch diese wurden nicht immer regelmäßig gezahlt. Dennoch litt ich keine Noth; denn sie arbeitete bis in die späte Mitternacht, nähte und stickte für fremde Leute, sodaß ihre ohnehin schwachen Augen fast zu erblinden drohten.

„Aus Liebe für mich legte sie sich die größten Entbehrungen auf; wir bewohnten ein kleines Dachstübchen, das sie so reinlich hielt, daß es wie ein zierliches Schmuckkästchen aussah. Das einfache, von ihrer Hand bereitete Mahl schmeckte mir besser als die theuersten Leckerbissen, und immer wußte sie es so einzurichten, daß ich ein Leibgericht fand. So viel Zärtlichkeit und Aufopferung spornte mich zum höchsten Fleiße an; ich hatte nur den einen Wunsch, ein großer Künstler zu werden und einst ihre Liebe zu vergelten. Ich betete sie wie eine Heilige an, und kein anderes Weib auf Erden schien mir werth, meiner Mutter die Schuhriemen aufzulösen.

„Ich machte in der That mächtige Fortschritte, mit jeder neuen Rolle gewann ich mehr und mehr die Gunst des Publicums und die Anerkennung der Gebildeten. Wie freute ich mich auf den ersten Lorbeerkranz, nicht aus Eitelkeit und Stolz, sondern um ihn meiner Mutter zu Füßen zu legen!

„Bisher hatte ich sie nie dazu bringen können, das Theater zu besuchen. Ich weiß nicht, ob sie aus religiösem Vorurtheil, oder vielleicht aus Scheu vor der allzugroßen Aufregung sich fortwährend weigerte, mich auf der Bühne zu sehen. Vergebens suchte ich sie dazu zu überreden, sie wies meine Bitte sanft aber entschieden zurück, sodaß ich nicht weiter in sie drang, obgleich es mich schmerzte, daß sie nie Zeugin des Beifalls war, der mir jetzt öfter zu Theil wurde.

„Da wurde zum ersten Male Lessing’s „Emilia Galotti“ gegeben, worin ich die Rolle des „Prinzen“ spielen sollte. Ihr wißt, welches Aufsehen dieses Meisterwerk des unsterblichen Dichters machte; ein ähnliches Drama hatte die deutsche Bühne noch nicht aufzuweisen; es war der erste Lichtstrahl nach einer langen, finstern Nacht.

„Ich war von der feinen und doch so gediegenen Charakterzeichnung, von der geistreichen, edlen Sprache, von der dramatischen Gewalt der Dichtung so begeistert, daß ich meine ganze Kraft anstrengte, um meine Aufgabe würdig zu lösen. Ich vertiefte mich in meine Rolle und dachte bei Tag und Nacht nur daran, das Höchste in ihr zu leisten.

„Diesmal,“ sagte ich zu meiner Mutter mit jener inneren Gewißheit, die uns zuweilen überkommt, „diesmal bringe ich Dir einen Kranz nach Hause. Ich fühle, daß ich den Prinzen mit großem Beifalle spielen werde. Wie schade, daß Du mich nicht sehen, meinen Triumph nicht theilen willst!“

„Sie sah mich verwundert, aber mit liebevollen Blicken an und schien mit sich selbst zu kämpfen, aber zuletzt schüttelte sie, wie gewöhnlich, lächelnd mit dem Kopfe; worauf ich nicht weiter in sie drang. Am Abend der Vorstellung packte sie, wie sie stets zu thun pflegte, mir die nöthigen Garderobestücke zusammen und reichte mir dann die Hand zum Abschiede.

„Viel Glück!“ rief sie mir nach und lächelte dabei so eigen, daß ich unwillkürlich stutzig wurde. Ein wunderbarer Zug von Schalkhaftigkeit überflog das alte, treue Gesicht und erinnerte mich an meine Kinderzeit, wenn die Mutter am heiligen Abend sich im Voraus über die mir bevorstehende Ueberraschung freute. Da sie aber kein Wort hinzusetzte, so ging ich ruhig in’s Theater, wo ich bald nur noch an meine Rolle dachte. Ich zog mich an und schminkte mich in meiner Garderobe, auf das Zeichen zum Beginn der Vorstellung wartend.

„Kurz vor dem Aufziehen des Vorhanges entstand in dem Hause eine große Unruhe, die mich auf einen Augenblick aus meinen Gedanken und Träumen riß. Ich fragte nach der Ursache, und ein College erzählte mir, daß sich ein Unglück im Treppenhause des Gebäudes ereignet habe. Nach seinem Bericht war eine alte, halb blinde Frau, die wahrscheinlich zum ersten Male in ihrem Leben das Theater sah, beim Suchen nach ihrem Platze in der Dunkelheit über die Brüstung der Gallerie herabgestürzt und auf das Pflaster des Vorsaals gefallen. Man hatte sie nach Hause geschafft und schien an ihrem Aufkommen zu zweifeln.

„Ich weiß nicht, wie es kam, daß mich plötzlich ein Schauer befiel und ich unwillkürlich an meine Mutter denken mußte. Gern wäre ich nach Hause geeilt, aber ich hatte keine Zeit mehr, da im nächsten Augenblick schon die Vorstellung ihren Anfang nahm. Mühsam bekämpfte ich die aufsteigende Besorgniß und bald wurde ich wieder Herr meiner unerklärlichen Aufregung. Muß doch der Schauspieler nur zu oft seine Gefühle unterdrücken und mit schwerem, oft gebrochenem Herzen ruhig und selbst heiter erscheinen. Was kümmert sich die Menge um unsere Schmerzen, um die Angst des Mannes, dem ein sterbendes Weib zu Hause auf dem Lager liegt, um den Jammer der Mutter, welche ihren Liebling so eben begraben hat!

„Wieder mit meiner Rolle beschäftigt, auf mein Stichwort lauschend hatte ich die alte, verunglückte Frau vergessen. Als ich auf die Bühne trat, der Glanz der Lampen mir entgegenstrahlte, zu meinen Füßen die Zuschauer sah, von deren Urtheil mein Loos mehr oder minder abhing, erfaßte mich jener wahnsinnige Rausch, den Ihr Alle ja am besten kennt. Die übrige Welt verschwand vor meinen Augen, ich war nur noch Schauspieler, nur noch der „Prinz“ in Lessing’s „Emilia Galotti“, mit dem darzustellenden Charakter so innig verschmolzen, daß ich mir selbst ein Fremder geworden war. So spielte ich meine Rolle, und ich darf wohl sagen, daß ich sie nie später ähnlich gespielt habe, woran vielleicht meine innere Aufregung schuld war. Von Scene zu Scene steigerte [55] sich der Beifall, die Zuschauer jubelten, und als der Vorhang fiel, dröhnte das Haus von ihrem begeisterten Applaus. Ich wurde gerufen und mit Blumen und Kränzen überschüttet. Ein Lorbeer, von schöner Hand geworfen, fiel zu meinen Füßen, ich hob ihn auf, um ihn meiner Mutter zu bringen. Erst jetzt dachte ich wieder an sie und bedauerte, daß sie nicht Zeugin meines ersten, großen Triumphes gewesen.

„Eine unnennbare Sehnsucht nach ihr hatte mich ergriffen; ich gönnte mir nicht so viel Zeit, um meine Kleider abzulegen. In der Garderobe des Prinzen, nur mit meinem Mantel bedeckt, stürzte ich aus dem Theater auf die Straße hinaus. Eine unerklärliche Eile beflügelte meine Schritte, bald stand ich vor der kleinen Thür, die ich mit klopfendem Herzen öffnete. Den Kranz hielt ich in meinen Händen, um sie damit zu überraschen.

„Sie lag auf ihrem Bette und schien zu schlafen. Ich wunderte mich nicht wenig, da sie sonst immer wach zu bleiben und mich zu erwarten pflegte, bis ich aus dem Theater zurückkam, um mit mir zu plaudern. Um sie nicht zu stören, schlich ich auf den Zehen an ihr Bett, auf das ich leise meinen Lorbeer legte. Ich konnte mich jedoch nicht enthalten, einen Kuß aus ihre Hand zu drücken; sie fühlte sich eisig und erstorben an. Ich erschrak, ein furchtbarer Gedanke durchzuckte mich plötzlich. Wenn sie jene verunglückte Frau wäre?

„Ich wollte mir Gewißheit verschaffen; an allen Gliedern bebend, griff ich nach der Nachtlampe, welche auf dem Tische stand, und leuchtete ihr in das treue Angesicht; es war mit Blut bedeckt und leichenblaß.

„Mutter!“ rief ich schluchzend vor innerer Angst.

„Sie antwortete nicht, Alles still!

„Mutter!“ wiederholte ich lauter, aber sie blieb stumm.

„Mein Rufen weckte sie nicht mehr; sie war – todt.

„Ich legte „den ersten Kranz des Künstlers“ auf den Sarg meiner Mutter. Seitdem weckt der Lorbeer nur trübe Erinnerungen; ich habe ihn zu theuer mit dem Liebsten erkauft, was ich auf Erden besessen habe.“

„Das ist des Künstlers Loos,“ sagte Eckhof tief ergriffen und reichte Beck die Hand, mit der andern eine Thräne leise trocknend.

Ernst und still traten die Freunde im milden Glanz des Mondlichts ihren Rückweg nach Gotha an.

M. R.