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Titel: Des Engländers Gastrolle
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 541–544
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[541]
Des Engländers Gastrolle.
Eine Erinnerung an Goethe und den „alten Herrn.“[1]

Wir saßen in einem großen Kreise um das rothglühende Kaminfeuer, das unsere Oberkörper vorn versengen zu wollen schien, während es vom Rücken her und an den Füßen – trotz des dicken brüsseler Teppichs – Schnupfen und Rheumatismus drohend entsetzlich „zog“. Die großen Bequemlichkeitsstühle, wie man sie in jedem höheren englischen Gesellschaftszimmer findet, hatten nicht hingereicht, allen Gästen den Rücken gegen den Charakter-„Zug“ aller englischen geheizten Stuben zu sichern. Ich hatte nichts als einen Rohrstuhl mit durchbrochener Lehne und saß dazu in furchtbarer Nähe der Thür, durch deren Ritzen und Spalten sich fortwährend zwölfreaumurgradige Eisluft heulend und heißhungrig nach dem Feuer drängte, während sich von vorn ein Klumpen Weißglühhitze mit Erfolg damit zu beschäftigen schien, mir die Kniescheiben und Schienbeine braunkrustig zu braten. Meine neuen Beinkleider gab ich mit einer gewissen Gleichgültigkeit auf, aber die Masse Rheumatismus, welche die Zugluft auf ihrem Wege in meinen Ohren, im Nacken, im Rücken, im Kopfe absetzte, durchschauerte mich mit einer schrecklichen Ahnung von Zahnschmerzen und einer stillen Wuth gegen den Konservativismus der Engländer, die solch’ einen Zustand, welcher genau dem der Verdammten in Dante’s Hölle gleicht (die bekanntlich unten im Eis sitzen, während sie oben fortwährend gebraten werden) noch immer „comfortabel“ nennen. Sobald ich Gelegenheit fand, fing ich denn auch an gegen dieses Comfortable zu protestiren, dem deutschen Ofen mit seinen stillen, im Verborgenen und solid wirkenden Tugenden eine Lobrede zu halten und meinen Platz aufzugeben. Daraus entspann sich ein Frag- und Antwortspiel über die Vorzüge, die Deutschland vor England und andrerseits England vor Deutschland habe. Dabei hatte ich natürlich eine schwere Aufgabe, als einziger Deutscher in der Gesellschaft 39 Vaterländer gegen eine ganze Armee, darunter recht wunderhübsche, blühende, naseweiße Damen, zu vertheidigen und obendrein mich selbst.

Der Kampf schwebte lange unentschieden hin und her. In meiner Disputirwuth vertheidigte ich sogar Kurhessen, da es wenigstens Oefen und eine schöne Stadt Bockenheim habe, einen klassischen Ort für England, welches schon vor 70 Jahren von daher Hülfstruppen gegen die Republikaner in Amerika und neuerdings angeblich 27 Mann Fremdenlegion bezogen habe. Doch selbst diese Geisterbeschwörung, selbst dieser erhabenste, aufopferndste Beweis von Patriotismus gab mir noch keinen entschiedenen Vortheil im Kampfe, so daß ich jedenfalls als der Besiegte mich hatte ergeben müssen, wenn nicht der Patriarch des Hauses, der Vater von neunzehn verheiratheten Kindern und Großvater von etwa vierzig Enkeln und Enkelinnen siegreich zu Hülfe gekommen wäre.

Er nahm die Brille ab, strich sich sein weißes Haar und gab mir in ganz hübscher, deutscher Sprache die Versicherung, daß er die schönsten Stunden seines nun vierundsiebenzigjährigen Lebens in Deutschland verlebt habe.

„Grandpapa,“ rief ihm jetzt eine sechzehnjährige, rosige Enkelin zu, „jetzt mußt Du Deine Geschichte erzählen. Mr. B., der auch zur Literatur gehört, wird sich sehr darüber freuen. Und dann ist sie für uns auch so hübsch, daß wir sie immer gern wieder hören.“

Well, well,“ fuhr der Alte wieder englisch fort, „das wollt’ ich eben. Auch sind noch Mehrere hier, welche Deutsch lernen und Goethe lieben und meine Geschichte noch nicht gehört haben. Nun gebt Acht, ich werde Euch zugleich erzählen, daß ich schon einmal Schauspieler gewesen bin und mehr Gage erhalten habe, als mancher erste Tenor.

„Meine Kinder haben schon oft gehört, daß ich mit dem Franzosen gar nicht übereinstimme, welcher ein Buch über Deutschland mit der Behauptung anfing: „Die Deutschen sind ein Volk, das Schulze heißt.“ – Ich nämlich behaupte, daß die Deutschen ein Volk seien, welches Müller heißt. Wir wollen hier diesen Streitpunkt nicht weiter untersuchen. Meine Kinder wissen wenigstens, daß mein deutscher Hauslehrer Müller hieß und eine ganze Menge Verwandte hatte, die auch alle Müller hießen. Alle Deutsche, bei denen ich eingeführt wurde, als er mit mir, seinem achtzehnjährigen Schüler eine Reise durch Sachsen, Thüringen u. s. w. machte, hießen ohne Ende und Aufhören Müller. Gut. Also wir reisten durch Central-Deutschland.“

„Muß Mittel-Deutschland heißen,“ fiel ich ein, „der Ausdruck „Central-Deutschland“ ist sogar gefährlich, da dies manchen kleinern Staaten ein Uebergewicht geben und die Extremitäten des deutschen Vaterlandes in Gefahr bringen könnte, ihr Selbstgefühl zu verlieren.“

„Schön, also Mittel-Deutschland. Aber damals war’s Central-Deutschland, wie die Sonne Centrum unseres Planetensystems [542] ist. Wir fußwanderten durch Wälder und Felder, durch Schaf- und Kuhheerden, Dörfer und Städte und an Personen vorbei, die alle so aussahen, als ob sie Müller hießen, bis wir in das niedliche Großherzogthum Sachsen-Weimar kamen, wo wir in einer niedlichen Landschenke am Saume eines duftigen Waldes mit Wiesen, von denen der würzigste frische Heugeruch hervorquoll, festen Fuß faßten, um einige Verwandte Müller’s in der Nähe, die alle ohne Ausnahme wieder Müller hießen, zu besuchen und uns von unseren Wanderungen zu erholen.

„Müller las und rauchte bis spät in die Nacht und stand spät auf, ich aber, damals jung und blühend, voller Kraft und Hoffnungen, stand nicht selten mit der Sonne auf und streifte durch das thaubeperlte Gras, kletterte auf Hügel, suchte Vogelnester auf und guckte hinein – natürlich ohne ihnen das Geringste zu Leide zu thun, las Stellen aus Thomson’s „Frühling“ oder auch im Shakespeare, trank irgendwo auf einem Dorfe Milch und amüsirte mich über die Kinder mit verbrannten Gesichtern und hellblonden Haaren, die Viertelstunden lang wie angewachsen standen und mich mit aller Macht anstarrten, bis ich sie anredete und sie davonliefen. So bekam ich meinen Mentor und Hauslehrer Müller in der Regel erst Nachmittags beim Essen zu sehen. Gegen Abend machten wir wieder Ausflüge und entdeckten manche verborgene Schönheiten des Waldes. Eines Morgens war ich früher wie gewöhnlich aufgestanden, um eine Lieblingsstelle in ziemlicher Entfernung, die wir ein paar[WS 1] Tage vorher aufgefunden, wieder zu suchen. Müller sollte mir zum Mittag nachkommen. Es war ein breiter Wildhügel, an welchem ein lustiges Flüßchen mit einem herrlichen Wasserfall herunter sprang und mit seinem klaren Geschwätz allein die Stille unterbrach, insofern man wenigstens der Gewohnheit wegen die Musik der Vögel nicht rechnet und glaubt, sie gehöre im Juni just zu der Stille des Waldes. Am Fuße des Hügels breitete sich zwischen Bäumen ein halbkreisförmiger Wiesenteppich aus. Das Ganze sah wie ein von der Natur eingerichtetes Amphitheater, durch welches das silberne Flüßchen, noch aufgeregt von seinem Falle, mit unermüdlicher Munterkeit zu den Bäumen hinaufplauderte. Hier wollt’ ich Shakespeare’s Sommernachtstraum lesen, um mir seinen „Puck“ und sonstige sonderbare Geister lebendig zu machen und einsam zu genießen, wie ein – Engländer. Auch war ich damals ein Stück von Geolog, und etwas Botaniker dazu, so daß ich mich leicht durch Blumen oder Quarzstückchen verleiten ließ, Steine zu klopfen oder Staubfäden zu zählen. So hatte ich mich auch diesen Morgen aufhalten lassen, weshalb es bald Mittag war, als ich durch den Wald das grüne Theater im freudigsten Sonnenschein aufleuchten sah.

„Aber ich machte gar große Augen, als ich sah, daß der Sommernachtstraum, den ich lesen wollte, hier eben von lebendigen Personen aufgeführt zu werden schien. Achtzehn oder zwanzig Damen und Herren und etwa ein halb Dutzend in Grau und Silber gekleidete Diener plauderten und sprangen auf dem Wiesenteppich herum. Die Herren trugen eine Art von Jagdkostüm, und die Damen sahen in ihren leichten Sommerkleidern mit ihren schlanken elastischen Gestalten, freudestrahlenden Augen und geröthet von der duftigen Junisonne, feenhaft schön aus.“

„Früher hast Du gesagt, daß eine von den Damen sehr korpulent gewesen,“ bemerkte hier eine der Damen.

„Gut, mein Kind, mag sein. Aber sie waren sehr schön, denn ich war noch nicht zwanzig Jahre alt und stand noch in der Ferne. Uebrigens braucht Ihr nicht zu fürchten, daß ich mir jetzt noch eine Frau und Euch eine Großmutter aus Deutschland, holen werde. Die Dienerschaft beschäftigte sich,“ fuhr der alte Herr fort, „eben damit, bemalte Holzbretter zu einem Theater und Kissen und Umschlagetücher zu Sitzen vor demselben zurechtzumachen, so daß ich alle Vorbereitungen zu meinem Sommernachtstraume im hellsten Sonnenscheine vor mir zu sehen glaubte. Aber etwas mußte schief gegangen sein, denn sie hatten sich inzwischen alle um einen jungen Herrn von majestätischer Größe und noblem Aeußern versammelt und führten eine lebhafte, ängstliche Unterhaltung, welcher der Majestätische keine bessere Wendung geben zu können schien. Auf einmal wandte die ganze Gesellschaft ihre Blicke mit der größten Ueberraschung auf mich, der ich weißhosig und verlegen am Rande der umgebenden Bäume stand, zu meinem Leidwesen noch obendrein grell von der Sonne beschienen. Ich hatte in Verwunderung verloren dagestanden und konnte jetzt am Wenigsten davonlaufen, um so weniger, als die ganze Gesellschaft in ein freudiges Gelächter ausbrach, mit schönen Händen mir Beifall klatschte und ehe ich mich dessen versah, mich in ihre Mitte genommen hatte, um mich mit Fragen und Bitten zu überschütten, ohne daß ich ihnen erst ceremoniell mich vorgestellt hatte.“

„Besitzen Sie Darstellungstalent?“

„Kennen Sie „die Bürgermeister?“

„Wollen Sie den Hermann spielen?“

„Ach ja, bitte mein Herr, spielen Sie den Hermann?“

„Lesen Sie ihn, wenn Sie die Rolle nicht kennen, bitte!“

„Sie sind uns vom Himmel gesandt, Sie dürfen höhern Weisungen sich nicht widersetzen.“

„Auf irgend eine Weise werden Sie den Hermann übernehmen, wenn Sie uns auf das Höchste verbinden wollen.“

„Bitte, kommen Sie, versuchen Sie’s!“

„In der glühendsten Verlegenheit starrte ich von einem schönen Gesicht zum andern, ohne ein Wort zu finden, das ich hätte sagen können. Zum Theater übergehen, Bürgermeister, Hermann, vom Himmel gesandt, ohne Weiteres als solcher Gesandter in Funktion treten, mich wohl gar in eine oder mehrere Damen verlieben –“

„Aber Großvater, das hast Du früher nicht gesagt in Deiner Erzählung.“

„Schon wieder ein Fragezeichen, ob sich, nicht Jemand in Dich verlieben will, Lousi, he? – Kurz, ich wäre wahrscheinlich stumm geblieben, wäre nicht der Majestätische zu meiner Rettung herbeigekommen.“

„Das ist ein seltsamer Empfang, mein Herr, nicht wahr?“ sagte er. „Erlauben Sie, Ihnen unsere Situation zu erklären. Wir sind eine Gesellschaft herumziehender Schauspieler und spielen Komödie, Tragödie, Burleske, Drama in Deutsch, Französisch, Italienisch mit der größten Unparteilichkeit. Heute wollten wir hier „die Bürgermeister“ einstudiren, haben aber unglücklicher Weise für unsere Hauptrolle plötzlich eine Vacanz, da der betreffende Schauspieler (hier zeigte er auf einen Herrn, der im Schatten eines Baumes auf Kissen lag) sich auf unserer Wanderung hierher den Fuß verrenkt hat. Wir haben keinen andern, der ihn ersetzen könnte. Wenn Sie daher den Hermann für ihn übernehmen wollten, würden wir Ihnen alle auf das Herzlichste dankbar sein.“

„Ja gewiß, mein Herr,“ fielen hier mehrere klangvolle, süße Stimmen aus schönen Gesichtern ein.

„Es lag so etwas Nobles und Gewinnendes in der Art des majestätischen Herrn, obwohl ich ihn jetzt blos für den Direktor einer herumziehenden Bande hielt, so etwas Reizendes in der ganzen Situation, so etwas Unwiderstehliches in den schönen Augen um mich herum, daß ich ohne Weiteres beschloß, mich in die Gefahr zu stürzen. Zufällig hatte ich eine entfernte Ahnung von den „Bürgermeistern,“ da ich einer Aufführung derselben mit Müller in Frankfurt beigewohnt, so daß ich mich nicht für so unfähig hielt, als ich im ersten Augenblicke fürchtete. So wurde ich nach wenig Minuten auf die extemporirte Bretterwelt geführt und hinter den Coulissen mit den übrigen Mitwirkenden aufgestellt. Fest hielt ich mein Buch in der Hand und las nach, bis mein erstes Stichwort kam. Kühn und entschlossen trat ich heraus, die Augen fest auf mein Buch gerichtet und scharf Achtung gebend, daß ich auch kein deutsches Wort englisch ausspräche, und so las ich und schritt ich und gestikulirte ich mit der rechten Hand dazu, sogar manchmal mit der linken, obgleich diese als „Buchhalter“ sich im Ganzen eines gesetzten Betragens vor meinen Augen befleißigte.

„Kurz die Sache machte sich Scene für Scene, Akt für Akt zu meiner und der Zuschauer steigender Befriedigung. Der Herr, dem das Theater zu gehören schien, eine schöne, würdige Dame, die ich für seine Gattin hielt und die mir gar nicht wie eine herumziehende Direktrice vorkommen wollte, eine andere sehr geistvoll aussehende Dame und der schöne Herr mit dem verrenkten Fuße bildeten unsere Zuschauer vom grünen Rasen her. Dahinter standen zwar noch einige Personen außer den silbergrauen Dienern, an Bäume gelehnt, aber ich entsinne mich nicht, eine davon persönlich kennen gelernt zu haben.

„Doch besinne ich mich noch sehr genau, wie unsere erste Liebhaberin, eins der reizendsten Mädchen mit der süßesten Stimme, die ich je gehört, die größte Besorgniß und Theilnahme für den invalid gewordenen Schauspieler merken ließ. Ihre reinen, strahlenden Augen verirrten sich während jeder Pause nach ihm; seine [543] leisesten Beifallsbezeugungen erhöhten jedesmal das blühende, jungfräuliche Roth auf ihren zarten, runden Wangen; die Worte ihrer Liebe, die mir, ihrem Herrmann, gelten sollten, wanderten in derselben unkünstlerischen Richtung, bis ein feines, sarkastisches Lächeln bei einer solchen Gelegenheit von Seiten des Theaterdirektors von ihr aufgefangen und verstanden ward, so daß sie in liebenswürdigster Verwirrung feuerroth ward und sehr zu kämpfen hatte, um nicht ganz aus der Rolle zu fallen.

„Glücklicher Invalide, dacht’ ich. Dir schlagen die schönsten Herzen entgegen, ohne daß Du sie suchst, und unsereins in voller dramatischer Liebesglut auf zwei gesunden Beinen (blos mit einer invaliden „buchhaltenden“ Hand) muß just Feuer anblasen, damit sich Andere daran erwärmen! Bin ich ein höherer, reisender Engländer? Warum machen mich diese herumziehenden Mimen zu einem bloßen Blasebalg?“

„Warst Du denn wirklich eifersüchtig?“ fiel hier eine neckische Stimme mit jugendlichem, klangvollem Lachen in die lächelnd ruhige Erzählung des Greises ein.

„O, das war wohl, Tochter Nr. 17,“ erwiederte er. „Kleine Fliege, Du wirst doch nicht eifersüchtig sein auf die nicht aufgegangene, vor fünfzig Jahren stets vor mir vorbei wehende Flamme? – Um von den Bürgermeistern hier weiter nicht zu reden, laß’ ich den Vorhang fallen, denn meine Rolle fing nun erst an. Wir stiegen von den Brettern auf das Gras zu unsern Zuschauern und hörten Urtheile über unsere Darstellung, die in Lob und Tadel ganz von den bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen Phrasen abwichen und den feinsten Geschmack, den gebildetsten Sinn für Verkörperung und Personifikation ideeller Figuren und Zustände kund gaben. Inzwischen waren die Silbergrauen eifrig bemüht, ein kaltes Mahl unter einer schattigen Linde zu arrangiren, das eben so wenig, wie die Schüsseln und Geräthe, am Hungertuche nagende herumziehende Jünger des Thespis Karren verrieth. Wir setzten und lagerten uns herum, aßen und tranken und fühlten uns viel glücklicher und seliger im Feuer der gediegensten, freien und doch fesselndsten Unterhaltung, als in dem des Johannisberger. Wir scherzten, lachten, stießen mir den Gläsern an und waren übermüthig lustig, ohne daß je ein Wort, eine Miene unterhalb des feinsten Tones fiel. Der Invalide nannte mich zuerst seinen Deputirten und trank mit mir aus einer schwanenhalsigen Rheinweinflasche.

„Von dieser Zeit an ward ich stets Herr Deputirter angeredet, ohne daß Jemand nach meinem Namen fragte. Da ich nun meinerseits keinen meiner Collegen, keinen Zuschauer beim Namen kannte und von steifen, gegenseitigen Vorstellungen nie die Rede war, nannte ich meine Collegen ohne Komplimente bei den Namen ihrer Rollen und die Zuschauer nach den Nummern, die sie eingenommen. Vielleicht hießen doch auch die Meisten nur Müller, wie ich damals dachte.“

„Ihre Gesundheit, Herr Deputirter!“ rief der schöne Invalide. „Dieser alte Johannisberger ist wie ein Gedicht von Schiller oder Wieland oder einem andern Dichter, je älter, desto edler die Blume. Viva it vino!“

„Die Gläser klirrten. Der Majestätische stieß mit an, indem er lächelnd bemerkte, daß man hoffentlich auch Kotzebue einschließe.“

Kotzebue!“ rief der Invalide, sich aufrichtend mit einem finstern Gesicht. „Kann man einen Tropfen dieser Gottesgabe nur ansehen, und an diesen Quak-Poeten denken? Eingebildeter denn ein Pfau! Ein Guckguck, der nichts singt, nichts kennt, als sein Bischen Ich! Wo er auch hinkommt, nirgend erkennt er einen Himmel, eine Erde, neue Situationen und Menschen, nirgend die Weihe der Kunst an, die den Künstler in sich aufnimmt und auslöst. Im Gegentheil, immer belächelt er nur eitel sein eigenes Sagen und Thun. Selbst in Tobolsk ist er überzeugt, daß die Sibirier nichts zu thun haben, als seine Stücke zu übersetzen, zu lesen, einzustudiren und auszuführen.“

„Obgleich in diesen Worten nichts bestechend Originelles lag, fiel mir doch dabei zum ersten Male das überaus geistvolle, ausdrucksreiche, edle Gesicht des Sprechenden so auf, daß ich mich desselben noch heute in ganzer Klarheit erinnere. Ich konnte meine Augen nicht von ihm wenden, wie er da auf dem Grase ausgestreckt lag, den Kopf auf die Hand gestützt. Er war schön und intelligent zugleich, Nase und Mund von der schönsten klassischen Form, der Vorderkopf gewölbt zur höchsten, schönsten Stirn, Augen von einem brillanten Schwarz wie die eines der blühendsten Italiener. Doch waren es weniger die eigentlichen Gesichtszüge, als der edle Charakter und die volle Bedeutsamkeit seiner Physiognomie, was den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck auf mich hervorrief; und so horchte ich auf jedes seiner lebhaften Worte und kühn herausgesprochenen Urtheile mit einem Interesse, das ich mir damals kaum zu erklären im Stande war.

„Kotzebue,“ sagte die einfache Dame, die ich Nr. 3 nannte, „ist mehr ein Sitten- als Charakterzeichner.“

„Verbrechen-Maler, sagen Sie lieber, Madame!“ rief der Invalide. „Die Verdorbenheit und Haltlosigkeit der höheren Klassen, des gebildeten Pöbels, ist die Sphäre seines Griffels. Wahre Schönheit des Charakters ist ihm völlig unbekannt und unzugänglich. Er kennt nur Menschen, wie sie nicht sein sollen. Kotzebue weiß wahre Größe, die Herrlichkeit der Mission des Menschen auf Erden nicht zu würdigen. Der Mensch aber war der erste Dialog, den die Natur hielt mit Gott.“

„Es würde ganz unmöglich sein, die Wärme und den eindringenden Ton dieser letzten von ihm gesprochenen Worte zu erklären. Sie zitterten durch mein ganzes Wesen wie eine vibrirende Saite. Auch alle Uebrigen schienen auf ähnliche Weise ergriffen und dem Nachklange dieses Tones in ihren eigenen Gemüthern zu lauschen.

„Sie verlangen von jedem Schriftsteller so viel Originalität,“ sagte der Majestätische nach einer Pause. „Ich preise mich oft glücklich, daß ich nie ein Gedicht zu fabriciren versucht habe, denn ich weiß, er würde mich ganz unbarmherzig mitgenommen haben.“

„Originalität ist blos ein Wort,“ erwiederte der Invalide, der sich in Paradoxen zu gefallen schien. „Es gibt keine Originalität. Der größte Genius wird nie viel werth sein, wenn er sich einbildet, blos aus seinen eigenen Mitteln schaffen zu können. Es gibt freilich Philosophen, die wähnen, daß sie sich 30 Jahre in ihre Bücherstube einschließen können, ohne jemals die Welt eines Blickes zu würdigen, immer ausschließlich aus ihrem eigenen armen Hirn zu spinnen und daraus die Welt mit großen, originellen Schöpfungen zu beglücken. Was kommt dabei heraus? Wolken, nichts als Wolken, Hirngespinste!“

„Bei alledem,“ sagte die Frau des Majestätischen, die blos Madame genannt ward, „kann es keinen Genius geben ohne eigene Mittel, ohne Originalität, die Sie so zu verachten scheinen.“

„Na denn, bitte, Madame, sagen Sie mir gefälligst, was Genius sei, wenn es nicht die Gabe ist, Alles, was uns packt und ergreift, zu ergreifen, zu begreifen und daraus etwas zu machen, alle Dinge zu ordnen und mit Leben zu durchathmen, alle Stoffe, die sich uns bieten; hier Marmor, dort Metall, dort andere Materialien zu nehmen und mit Geist Monumente daraus zu fügen? Ein Werk des Genius bedarf der Stoffe der Natur und des Menschen und wird versorgt und zu Stande gebracht von Tausenden von Personen und Sachen, was nur das eitle, oberflächliche Talent verkennt, um sich mit fremden Federn zu schmücken. Der Genius gerade macht es bescheiden, der Gelehrte, der Unwissende, der Weise und der Thor, alle tragen das Ihrige zu jedem Werke des Genius bei. Sie säen den Herbst, den der Dichter, der Philosoph, der Historiker erntet. Ein großes literarisches Meisterwerk ist deshalb nichts als eine künstlerische Sammlung von Wesen aus dem Reichthum der Natur, welches man je nach den Sammlern hier Plato, dort Shakespeare u. s. w. nennen mag. Glauben Sie mir, um groß, um genial zu sein, muß man social sein. Auch Herkules bedarf der Nahrung. Und durch Umgang mit Astronomen, Botanikern, Chemikern, Mathematikern, Architekten, Professoren und Professionisten aller Art kann der Dichter und Künstler Rohmaterial, Nahrungsstoffe sammeln. Deshalb finden wir die wahrhaft großen Männer inmitten ihrer Nebenmenschen. Plato und Sokrates waren keine Eremiten. Bacon, Camoens, Boccaccio, Dante waren Bürger großer, volkreicher Städte.“

„Darin haben Sie Recht,“ sagte „Madame,“ lächelnd. „Ich für meinen Theil denke hierbei besonders an Paris und verdanke dieser Schwäche sehr viel.“

„Sehr viel? Nein sagen Sie Alles! Es wäre unmöglich zu sagen, wo und in welchem Gegenstande oder Geschäfte,. oder in welcher Wissenschaft wir oft Ideen, die mit diesen Gegenständen, Geschäften oder Wissenschaften gar nichts gemein haben, finden und benutzen. Ich habe Mineralien, Moose, selbst Fische gesehen, welche mir die herrlichsten physiologischen und selbst psychologischen [544] Aufschlüsse über die Menschenwelt gaben. Diese Dinge sind die geheime Zeichensprache der Natur, und wer sie entziffern kann, mag erst im Stande sein, ohne Nachtheil Gesprochenes und Geschriebenes bei Seite zu schieben.“

„Es ist wahr,“ sagte ein moderner junger Herr, „daß eine bis jetzt noch nicht in ihrem ganzen Zusammenhange gefundene Verwandtschaftskette von Kunst zu Kunst, Wissenschaft zu Wissenschaft, Erscheinung zu Erscheinung läuft, wodurch das Eine zum mysteriösen Dolmetscher des Andern wird. So habe ich Gemälde gesehen, die mich ergriffen wie ein Gedicht. So hab’ ich Musik gehört, die mich an Orte meiner Kindheit, bis dahin vergessen, zurückführten.“

„Baukunst ist gefrorne Musik,“[2] rief die schwarzäugige Dame lebhaft.

„Der Invalide sprang mit freudigem Erstaunen aus seiner Lage in eine sitzende Position auf: „Ein reizendes Bild, in der That!“ rief er, „das ich sehr oft gefühlt, doch bis jetzt noch nicht deutlich fassen konnte. Als ich z. B. den Straßburger Münster besuchte, fühlte ich mich durchaus hingerissen von der Erhabenheit und Grazie seiner Proportionen. Ideen von unendlicher Ordnung und Harmonie sprangen in mir auf und fanden sich verkörpert in dem Verhältniß unzähliger, schön ausgeführter Theile zu einem großen einheitlichen, systematischen Ganzen. Es ging mir eine neue Offenbarung des Einfachen und Ewigen, der Universal-Naturgesetze auf. Es war, als lauscht’ ich einem Psalm oder Choral von Bach oder Palästrina mit allen ihren Harmonieen, auf einmal in erhabener Einheit eine über die andere gebaut, und zugleich als säh’ ich die verkörperte Auflösung eines mathematischen Problems.“

„Ich habe manche sonderbare Beispiele von Verwandtschaft zwischen Tönen und Farben[3] gefühlt und erzählen hören,“ entgegnete die Schwarzäugige. „Ich glaube, ein verdienstliches Werk über die Verwandtschaft der Künste muß erst geschrieben werden.“

„Nicht blos über die Verwandtschaft der Künste,“ fügte der Invalide hinzu, „sondern auch der Künste mit dem Menschen, des Menschen mit der Natur, der Natur mit den Künsten. Ich für meinen Theil sehe nie einen Baum oder einen Berg, ohne eine gewisse Verwandtschaft mit ihm zu fühlen – als ob er Theil und Theilnehmer in eines eigenen Wesens sei. Die Analogien zwischen unserer inneren und der Außenwelt sind seltsam und universal. Und dabei dürfen wir nicht die Verwandtschaft der Naturdinge unter sich vergessen. Die Combinationen auf diesem Gebiete gehen in’s Unendliche, selbst bis in den Humor hinein. Nehmen wir z. B. die Schmarotzerpflanzen: wie viel Phantastisches, Komisches, Vogelartiges finden wir unter ihren charakteristischen Eigenschaften![4] Ihre geflügelten Samenkörner setzen sich wie Vögel auf einen Baum, nisten sich auf ihm ein und zehren von ihm, bis die Pflanze groß gewachsen. Seht den Baum dort am Flusse, wie der Mistelzweig sich der Rinde desselben als Nahrungsquelle bedient und aus ihm herauswächst wie ein Adoptivkind. Sein Saft gibt Vogelleim. Nicht damit zufrieden, sich als ungebetener Gast aufzudringen, incommodirt er den Baum so lange, bis er ihm Holz von seinem Holze gibt, um es nie wieder zurückzugeben, und erfüllt es mit einem Safte, der den ungebundenen Schmarotzerpflanzen der Bäume, den Vögeln ihre Freiheit kostet. Die Moose und Schwämme gehören zu derselben Klasse. Die Linde, unter die ihr mich vorhin legtet, ist voll von – von –“

„Er hielt plötzlich inne und sah überrascht und fragend nach einem Punkte hin, den die ganze Gesellschaft sofort aufsuchte und fand. Der Punkt war aber eine lange Latte, die zwischen den Bäumen und unserem Cirkel stand und mit ganzer Seele gehorcht zu haben schien.

„Wen haben wir hier vor uns?“ fragte der Redner ziemlich stolz und ungehalten.

„Ich mußte lachen, schämte mich aber auch zugleich nicht wenig, denn die Latte war eine Person, Namens Herr Müller, mein Mentor und Hauslehrer, der eine gar zu komische Figur bildete, als er in seiner Verlegenheit nicht wußte, ob er die Hacken oder das Gesicht zeigen sollte.

„Dieser Herr ist ein Freund von mir,“ sagte ich etwas verlegen, „in der That mein Hauslehrer, der hierher kam, um mich verabredeter Maßen hier zu treffen. Ich wollte diesen Vormittag hier Einsamkeit und Shakespeare genießen und den Nachmittag mit ihm verleben. Natürlich dachte ich nicht, die Zeit viel erfreulicher und edler in solcher Gesellschaft zubringen zu können.“

„Sie sind sehr gütig,“ erwiederte er, „doch sind wir Ihnen jedenfalls verpflichtet für Ihre Rettung in unserer Noth um einen Hermann. Vielleicht war es auch für Sie gut, uns zu treffen, andernfalls dürften Sie jetzt wohl sehr hungrig sein. Bitte, laden Sie Ihren Freund gefälligst ein, näher zu kommen und ein Glas Johannisberger zu nehmen.“

„Ich winkte Müller, zu kommen. Er folgte mir zögernd und so ungeschickt und verschämt mit seinem Hute in der Hand, daß ich lauter lachen mußte, als die Uebrigen, welche ihre Lachmuskeln gewaltsam im Zaume hielten. Bei jedem Schritte machte er eine Verbeugung, indem er mit Hals und Kopf zwischen die Schultern hineinfuhr, wie eine neugierige Ente, die nachdenkt, ob sie davonlaufen oder den Gegenstand ihrer Besorgniß noch näher kommen lassen soll, ehe sie sich entscheidet. Nach jedem Schritte und Zusammenklappen des Kopfes zwischen den Schultern schien er zu erschrecken und durch neue Ceremonien und Verbeugungen Abbitte dafür thun zu wollen. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte ihn noch nie so ungeschickt und unbeholfen gesehen.

„Bitte, treten Sie näher!“ sagte der invalide Apollo ziemlich ungeduldig. „Wir können Ihnen keinen Stuhl anbieten, auch keinen Tisch, aber wenn Sie den Rasen und ein Glas Wein für nicht zu niedrig halten, sind Sie ganz willkommen.“

„Ich – ich –“ stotterte Müller, noch nervöser und leidenschaftlicher knicksend und duckend, „ich würde d. h. wenn Ihre Durchlaucht –“

„Durchlaucht? Was sollte das heißen? Ich sprang auf und fühlte mich plötzlich eben so verlegen als Herr Müller – Ich sah von Einem zum Andern und wußte gar nichts zu sagen.

„Der Majestätische lächelte und sagte mit mehr Würde, als er bisher gezeigt: „Da nun der Knoten unsers Naturspiels: „Incognito“ so unerwartet gelöst ward, muß ich mich wohl selbst in meiner irdischen Person vorstellen. Ich bin Karl August von Sachsen-Weimar und diese Dame ist die Herzogin Louise. Die gütigen Freunde und Dilettanten um uns sind die Damen und Herren meines Hofes. Wir erheitern uns oft während des Sommers in der Weise wie heute; und da dies in Weimar allgemein bekannt ist, stört uns Niemand in dieser Waldeinsamkeit. Die Bewohner ringsum sind sogar durchweg sehr sorgfältig, unsere Privatvergnügungen hier nicht zu stören. Auf diese Weise wußten wir gleich, daß Sie nur ein Fremder sein konnten. Wir beschlossen, Sie zu unsern scenischen Spielen einzuladen, ohne unser Incognito aufzugeben, das ich für eins der angenehmsten Privilegien eines Fürsten halte.“

„Eure Durchlaucht,“ sagte ich darauf, „wird mir vielleicht noch eine Bitte erlauben, ehe ich mich entferne. Die Unterhaltung, der ich die Ehre hatte, zuzuhören, hat mich mit solcher Freude erfüllt und mir einen so hohen Genuß gewährt, daß ich mir die Freiheit nehme, um eine fernere Ausdehnung Ihrer Güte zu bitten. Diese Dame, deren Anschauungen so geistreich und lebendig, dieser Herr, dessen Ideenreichthum so herrlich und trotz seiner Abneigung gegen dieses Wort – so originell, so tief und mannigfaltig, dessen Ausdrucksweise so malerisch – wer mögen sie sein? Denn ich fühle, daß ich in ihnen keine bloßen Personen des – ja ich sage es gerade heraus – Hofes, keine Alltagsdenker vor mir sehe.“

„Diese Dame,“ entgegnete der Herzog mit einer edeln Verbeugung zu ihr, „ist Madame de Staël. Dieser Herr –“

„Dieser Herr, mein edler Hermann,“ unterbrach der Invalide mit glänzendem Lachen seiner Augen den Herzog, „wird sich erlauben, sich selber vorzustellen.“ Er lehnte sich auf seinen Ellbogen, sah mich heiter an und fuhr fort: „Dieser Herr ist Einer von denen, die Ihnen ohne Zweifel gelegentlich schon unter verschiedenen Namen vorgekommen sein mögen, sonst hätten Sie unmöglich meinen „Hermann“ so ohne Weiteres übernehmen können. Diesen Herrn haben Sie hier und da als lächerlich und abscheulich und wohl auch als lobenswerth nennen hören.

„Mein Name ist Goethe.“

  1. Vergleiche Gartenlaube Nr. 1 und 2 von 1854.
  2. Ein Ausspruch, angeblich zuerst in Jean Paul’s „Vorschule zur Aesthtik“ vorkommend und vielleicht von dieser grünen Wiese her nur zuerst in ein Gewand von Druckerschwärze gekleidet.
  3. Wer denkt hier an Bettina’s Schilderung schöner, brauner Augen, „sie blickten wie die Töne eines Violoncello?“
  4. Der Orchideen-Kultus neuerer Zeit hat also wohl seine Quelle in deren humoristischem, phantastischem Wesen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine paar