Der gefrorne Bodensee
Der Winter dieses Jahres, der so streng begonnen und die Welt so frühzeitig in seine eisigen Ketten und Banden geschlagen hatte, hat nach der Hand doch ein so mildes und lobenswerthes Regiment geführt, daß ihm vor Allem die wackern Schlittschuhläufer, deren kunstgeübte, stahlbeschwingte Schaar sich mit jedem Jahre in der erfreulichsten Weise mehrt, gar nicht Dank genug sagen können.
Da mag es mir denn in diesen Tagen vergönnt sein, in der weit verbreiteten Gartenlaube einem interessanten, sehr seltenen, von mir selbst als Augenzeuge erlebten Naturereigniß (ich war damals zweiunddreißig Jahre alt) ein kleines, nur in der Gestalt eines Genrebildes dargestelltes „Denkmal“ zu setzen, welches die verehrten Leser und Leserinnen mit einigem Wohlgefallen betrachten mögen.
Der Bodensee, der im (südwestlichen) Garten unseres deutschen Vaterlandes gelegene Landsee, dem eine frühere Zeit den prächtigen Namen des „schwäbischen Meeres“ zu ertheilen pflegte, liegt 12231/10 Pariser Fuß über der Nordsee (nach Andern 1164 bis 1199) und hat sechsundzwanzig Meilen im Umfang. Seine Länge beträgt von der südlich gelegenen österreichischen Stadt Bregenz bis zu dem nördlichen Ende bei dem badischen Dorf Sernatingen, jetzt Ludwigshafen, fünfzehn badische oder achtzehn würtembergische Stunden. Seine Breite ist sehr verschieden, und beträgt von Friedrichshafen (Würtemberg) bis Rorschach (Schweiz), wo er am breitesten ist, bei fünf badische oder sechs würtembergische Stunden. Seine Tiefe ist ebenfalls verschieden, und mißt eine Stunde von Arbon (Schweiz), in der Breiterichtung gegen das Schloß Hofen bei Friedrichshafen, wo er am tiefsten ist, tausendzweiundfünfzig Fuß.
Und diese ganze weite, prachtvolle Fläche zeigte sich im strengen Winter 1829 bis 1830 mit nur wenigen kleinen Unterbrechungen vollständig zugefroren.
Theilweise gefriert der See wohl alle Jahre zu, z. B. an seinem westlichen Ende bei der Stadt Radolfzell und Reichenau, und es finden sich über das stückweise Zufrieren in den Städtechroniken viele Aufzeichnungen seit dem Jahre 574; aber das Phänomen auf der ganzen Ebene kommt in den Chroniken während der seither verflossenen 1256 Jahre nur sechs Mal vor, und zwar in den Jahren 1363, 1435, 1573, 1695 (in diesem Jahr am vollständigsten), 1709 und 1830.
Das Ueberfrieren einer so großen Wassermasse richtet sich nicht blos nach dem zunehmenden Grade der Luftkälte. Letztere muß allerdings wochenlang anhaltend sein, was auch im Januar 1830 der Fall war; allein es gesellten sich damals zwei Erscheinungen zu ihr, welche das Ereigniß wesentlich bewirken halfen. Anfangs Januar 1830 peitschten die rauhen Nord- und Ostwinde bei hellem Wetter das Wasser in mächtigen Wogen durcheinander; doch schon nach den ersten acht Tagen hörten die scharfen Winde allmählich auf, der See wurde ruhiger und auf ihm lagerten sich fortwährend düstere Nebel, welche sich mit dem Wasserspiegel vermengten und denselben in Eis verwandelten.
Die Dicke der Eisdecke wurde auf verschiedenen Punkten gemessen. Das Resultat war:
Auf 10,000 Schuh von Uttweil an 6½ Zoll; „ 15,000 „ „ „ „ 5 „ „ 20,000 „ „ „ „ 4 „ „ 30,000 „ „ „ „ 3½ „
Das Thermometer stand in einer Entfernung von:
5000 Schuh vom Uttweiler Ufer auf 18 Grad, 20,000 „ „ „ „ „ 21 „
Das Eis lag von seiner Entstehung – zweiten und dritten Februar bis zum Vergehen gegen die Mitte März – auf der Oberfläche des See’s auf; dieser bildete daher eine das Brechen des Eises verhindernde Grundlage, auf der es schwamm, da es bekanntlich specifisch leichter ist, als das Wasser.
Als die Unterlage durch das allgemeine Abnehmen der Höhe des ganzen Sees aufhörte, versank das Eis in wenigen Tagen spurlos gerade hinab in die Tiefe, ohne an den Ufern Zerstörungen anzurichten. Auf diese Weise entstand und endete das Phänomen.
Um aber meine Eingangs erwähnte Bezeichnung eines „Denkmals“ zu rechtfertigen, genügt es nicht, das Beispiel nachzuahmen, welches – nach einer im Volksmunde gehenden Sage – bei einer weit frühern ähnlichen Katastrophe der weise Rath eines Seeortes dadurch gegeben haben soll, daß er „zum ewigen Angedenken“ die Jahreszahl auf das Eis eingraben ließ, sondern es liegt mir ob, zu erzählen und zu schildern, was sich von dieser denkwürdigen Thatsache nur erzählen und schildern läßt.
Am Morgen des 2. Februar 1830 war die sonst so liebliche Wasserfläche in einen undurchdringlichen Nebel eingehüllt, den die Sonne erst gegen Mittag zu durchbrechen vermochte. Nun aber erkannte man auch überall, daß das von der Fama schon aller Orten verbreitete Gerücht: „Der See sei zugefroren,“ sich bestätige. Von allen Seiten strömten die Uferbewohner an die Gestade und betrachteten mit Staunen die überraschende Verwandlung ihres jugendlichen Lieblings in einen leblosen Greis; denn in solcher traurigen Gestalt lag der sonst lustbringende See, soweit das spähende Auge reichte, vor ihren mit Wehmuth erfüllten Blicken.
Aber bald verwandelte sich die düstere Gemüthsstimmung der „Seehasen“ (so nennt das Sprüchwort die Bewohner der deutschen Seeufer) in die Regung des Muthes der „Seelöwen“.[1] Jung und Alt wagte sich hinaus auf die schaurige Fläche. Der Erste, den ich in Ueberlingen sprach, war ein Schiffknecht aus dem am westlichen Ufer gelegenen Orte Dingelsdorf, ein geborener Reichenauer. Das in seiner Heimath heute noch bestehende Sprüchwort: „Wenn das Eis einen Handschuh trägt, so trägt es auch einen Auer,“ hatte [123] ihn besorgt gemacht, und sein Ehrgefühl, der Erste zu sein, sowie die Gewißheit einer Belohnung trieben ihn an, den ungebahnten, gefahrvollen, drei Viertelstunden langen Weg von Dingelsdorf nach der von dort etwas nördlich gelegenen Stadt Ueberlingen unter die Füße zu nehmen und zwar nicht auf Schlittschuhen. Er unternahm das Wagstück am Morgen des 2. Februar vor zehn Uhr in leichter Knechtskleidung vom Kopf bis zu den Füßen, die Hände mit Handschuhen angethan und mit einer langholmigen Axt bewaffnet. Die Handschuhe bestanden aus starkem, mit grober dicker Wolle gefütterten Zwillich; derlei wiegen aber zusammen drei bis dreieinhalb Pfund, und werden auf Segelschiffen gewöhnlich vom Steuermann getragen; nur mit dem Daumenfinger versehen, sind sie so groß und weit, daß der sie tragende Mann Hände und Finger darin leicht bewegen, den Axtholm mit ganzer Kraft umfassen und nach Erforderniß dirigiren kann. Langsam und bedächtig beschritt unser Held das Eis, stellte den einen Fuß fest auf dasselbe und schritt mit dem andern vorsichtig vorwärts, untersuchte mit demselben die Eisdecke, prüfte sie durch einen Schlag mit der Axt, und warf sodann einen Handschuh einige Schritte weit vor sich hin, dann zog er den andern Fuß an sich, und setzte so dieses Manöver fort, bis er den Weg zurückgelegt hatte. Diesen langsamen bedächtigen Marsch lehrte ihn die Erfahrung. Er kannte von Jugend auf die eigenthümliche Beschaffenheit des Sees und wußte, daß aus seiner Tiefe quellenförmige Aufsprudelungen des Wassers stellenweise durch das Eis heraufdringen und es in Spalten zertheilen, die man entweder überspringen oder umgehen muß; ebenso wußte er, daß das Eis nicht überall gleich dick, sondern da und dort so laubdünn sei, daß es nicht einmal einen Schifferhandschuh, geschweige einen „Auer“ trage, weshalb eine so genaue Sondirung in der absoluten Nothwendigkeit liege. – Konnte er denn – hör’ ich ängstlich fragen – nicht Vorsichtsmaßregeln treffen? einen Kahn vor sich herschieben? oder einen Begleiter mit sich nehmen? – Das Erste nicht, weil ein Kahn doppelte Aufmerksamkeit erfordert und ihn im Laufe verhindert hätte, zumal wenn derselbe eingefroren wäre; auch konnte ein Muthvollerer als er ihn um Rang, Ehre und Belohnung bringen; das Zweite nicht, weil nur Einer der Erste sein konnte, und er diesen Vorzug und diese Berühmtheit keinem Andern gönnte, sondern die Eiskrone auf seinem Haupte wollte glänzen lassen.
Um elf Uhr Vormittags trat der junge Mann wohlbehalten, mit Handschuhen und Axt versehen, in den städtischen Rathhaussaal (mein damaliges Arbeitslocal) zu Ueberlingen und präsentirte sich mir als den ersten classischen Zeugen des eingetretenen Ereignisses. Der umständlichen Erzählung seiner gewagten Fußreise auf dem See fügte er schließlich die Bitte und Behändigung der in solchen Fällen uralt herkömmlichen Ehrengabe eines Kronenthalers aus der Stadtcasse bei (diese Ehrengabe ist wirklich durch Rathsbeschluß vor Jahrhunderten dem Ersten zugesagt), nach dessen Empfang er sich dankend entfernte und – wohl nicht ohne vorher eine Erfrischung eingenommen zu haben – seinen Heimweg antrat, den er wie den Herweg, auf die gewohnte Weise, muthig und vorsichtig zurücklegte.
Auf den von seinen Tritten zurückgelassenen Spuren wurde nun alsbald von Amtswegen eine sichere ziemlich breite Straße gebahnt und auf derselben beiderseits durch Stangen die Grenze bezeichnet, innerhalb welcher man bei Strafvermeidung das Eis sollte begehen dürfen. Aber die polizeilichen Vorschriften haben alle und überall das gleiche Schicksal: sie werden befolgt von elf Uhr bis Mittag; und Feuerbach hat mit Scharfsinn sein System des Strafrechts auf den psychologischen Grundsatz gebaut, daß die Lust zur Begehung von Vergehen und Verbrechen größer sei, als die Furcht vor Strafe. Kaum war das Mittagsmahl genossen, so trieb die Neugierde alle Uferbewohner, die gehen oder doch hinken konnten, hinaus auf die weite Ebene, welche nunmehr während der ganzen Dauer des Gefrierens nicht nur bei schönem Wetter zum Tummelplatz des Vergnügens, sondern auch täglich zum Betrieb aller jener Geschäfte diente, die sonst mittelst der Schiffe besorgt wurden. Kaufleute erhielten und versendeten Waaren auf Schlitten, von Menschen und Thieren gezogen, über den See. Die auf Ueberlingens großem Markt gekauften Früchte aller Art wurden auf diese Weise sogar bis Uttweil geführt. Von dort bis Immenstadt (ein badisches Dorf unweit Friedrichshafen), also in einer bedeutenderen Tiefe, ließ sich eine Gesellschaft auf einem Schlitten hin- und herziehen, jedoch nur von „Schuhmachers Rappen“ (d. h. von Männern), und nicht von Rossen. Weiter unten fuhr aber auch ein kühner Mann von Unteruhldingen[WS 1] (badisches Dorf), wie ich selbst sah, auf einem Schlitten von zwei rüstigen Pferden gezogen, nach der wunderschönen Insel „Mainau“, die bekanntlich gegenwärtig ein überaus reizendes Besitzthum des Großherzogs Friedrich von Baden bildet und etwa drei Viertel Stunde weit entfernt liegt.
Von den vielen auf dem ganzen See stattgefundenen Vergnügungspartien und anderen Vorkommnissen sollen hier nur einige angeführt werden, die des Andenkens werth und der allgemeinen Teilnahme entsprechend sein dürften.
Die Schnee- und Eisfreuden der Schuljugend, das Jagen der Schlittschuhläufer, die Fahrten pelzverbrämter junger Damen mit dem obligaten galant-homme am Schlitten-„Schalter“, das bunte Gemisch neugieriger Spaziergänger, das langsame Fortschreiten bedächtiger Eheleute, das eifrige Drängen liebender Paare durch die ihnen gefühllos erscheinende Menge – das Alles gehört zu den gewöhnlichen Eisbelustigungen, die man sich auf dieser ausgedehnten Fläche nur recht massenhaft vorzustellen braucht, um sich ohne schriftstellerische Beschreibung ein sprechendes Bild von dem ergötzenden Durcheinander machen zu können. In diesen Tagen fehlten aber auf dem See auch die Musikbanden nicht, selbst Gesangvereine ließen sich in dem bunten Treiben hören und überall waren zahlreiche Buden errichtet, die verführerisch zum Genusse von Speisen und Getränken verlockten.
Doch leider ward auch die Gewalt des Seegottes offenbar. Unter dem Eise gefangen gehalten mochte er über die auf seinem Elemente fröhlich umherwandelnden Menschen zürnen und verlangte Opfer von ihnen, die ihm auch zu Theil wurden, wenngleich zum Glück nur in geringer Zahl. Er öffnete die tiefen Schleußen im See, aus dem, wie schon oben angeführt, Quellen heraussprudelten und das Eis an manchen Orten in Spalten zertheilten, in welche Unvorsichtige hineinfielen, um unter dem Eise spurlos zu verschwinden. Solche Vorkommnisse waren natürlich nur geeignet, die allgemeine Lust wenigstens zeitweise zu dämpfen und zu mildern. Nachdem jedoch der erzürnte Gott durch einige Opfer versöhnt schien, gestattete er die Rettung kühner Jünglinge, die durch einen gewagten Sprung über die Spalte seiner Gewalt zu entrinnen hofften, und begnügte sich damit, dieselben, wenn sie in’s Wasser gefallen und vom Eise überglast herausgezogen waren, dem Spott der umherstehenden Zuschauer zu überlassen.
Hiermit wäre denn durch meine Erzählung Alles gethan, was ich vermochte, um die Erinnerung an das geschilderte denkwürdige Ereigniß dauernd zu bewahren; es fehlt nur noch die Beurkundung. Diese sollte – wie mir erzählt wurde – nach der scherz- und ernsthaften Ansicht einer Anzahl von Ortsbewohnern ebenfalls auf dem Eise protokollarisch aufgenommen und das Protokoll aufbewahrt werden. Die Beschließenden begaben sich auf’s Eis, wählten einen Vorsitzenden, und dieser ernannte seinen Sohn, einen Schönschreiber, zum Schriftführer. Derselbe setzte sich auf Eisschollen an einen herbeigetragenen Tisch und verfaßte die Urkunde, umgeben von vielen neugierigen Spaziergängern, welche der Arbeit beifällig zusahen. Inzwischen ward das kurze Protokoll gefertigt; der Schriftführer las es laut vor; es wurde von mehreren Anwesenden unterzeichnet, worauf es der Schreiber sandete – aber unglücklicherweise mit der Tinte. Die Stirn des etwas heftigen Vaters legte sich in Falten; doch bewältigte er den Unmuth und befahl dem erschrockenen Sohn kurz und ernst: „Schreib’s noch emal!“
Es geschah sogleich. Aber wenn das Schicksal einen Menschen zum Schicksal seiner Laune erkoren hat, so – läßt es ihn auch zum zweiten Male mit der Tinte sanden, wie es denn wirklich dem unseligen Schriftführer begegnete. Einen Augenblick herrschte allgemeine Stille; in diese hinein aber rief der zornige Vater mit Stentorstimme: „Hochgeehrte Anwesende! Sehen Sie, dieser Talkenbacher[2] ist mein Sohn!“
Nun erscholl ein allgemeines Gelächter; der beschämte Schriftführer packte betrübt seine Papiere zusammen; die Anwesenden zerstreuten sich; eine Eis-Urkunde aber kam nicht zu Stande.
- ↑ Diesen Ehrentitel gaben in der zweiten badischen Kammer des denkwürdigen Landtags von 1831 die Deputirten des Unterlandes uns Abgeordneten aus dem Seekreise. Von den dreiundsechszig Kammermitgliedern leben zur Zeit noch unser Fünf.
- ↑ Mit diesem Titel bezeichnet der Volksmund hier zu Lande einen ungeschickten Menschen. Stammwort: vertalken – etwas Gelungenes mit Talg – Talk – übergießen – durch Ungeschicklichkeit verderben – schlechtes Brod backen (provinziell: bachen).
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Unterhuldingen