Textdaten
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Autor: E. W.
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Titel: Der Werth der Milchzähne
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 855
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[855] Der Werth der Milchzähne. Man begegnet noch immer und besonders in den unteren Volksschichten vielen Eltern, denen an der Erhaltung der Milchzähne ihrer Kinder wenig oder gar nichts gelegen ist und die, wenn man sie auf das Unrecht aufmerksam macht, das sie begehen, sich einfach damit entschuldigen, daß diese Zähne ja nur eine verhältnißmäßig kurze Zeit Dienste thun und dann von selbst ausfallen und durch bleibende ersetzt werden.

Wenn diese Leute Gelegenheit hätten, die vielen Schäden, welche durch Vernachlässigung der Milchzähne entstehen, zu beobachten, so würden sie vielleicht von der Wichtigkeit einer aufmerksamen Zahnpflege bei den Kindern besser zu überzeugen sein, als alle wohlgemeinten Ermahnungen des Zahnarztes dies vermögen. Schon die Thatsache, daß zu frühes Ausziehen eines oder mehrerer Milchzähne fast immer Unregelmäßigkeit in der Stellung der nachfolgenden bleibenden Zähne bedingt, ja daß aus demselben Grunde zuweilen diese zweiten Zähne infolge Verengerung des Zahnfaches ganz ausbleiben, sollte Grund genug sein, mehr Sorgfalt auf die Milchzähne zu verwenden.

Das Ausziehen eines Milchzahnes sollte nur im äußersten Nothfalle vorgenommen werden; in den meisten Fällen, wo das Kind über Schmerzen in einem Zahne klagt, liegt gar kein Grund vor, diesen Zahn nun ohne weiteres herausnehmen zu lassen. Die Ursache liegt gewöhnlich im Hohlsein (Caries), und man kann einen Milchzahn ebenso gut mit einer Masse ausfüllen, „plombiren“, wie einen bleibenden Zahn. Ein so gefüllter Milchzahn wird dann seine Bestimmung erfüllen, bis seine Zeit gekommen ist und er durch seinen Nachfolger ersetzt wird; und dann wird auch nicht zu befürchten sein, daß der bleibende Zahn an einer Stelle erscheint, wo er nicht hingehört.

Ist durch unzeitiges Ausziehen von Milchzähnen eine Unregelmäßigkeit in der Stellung der bleibenden Zähne entstanden, so läßt sich dieser Fehler durch orthopädische Vorrichtungen und entsprechende Behandlung seitens des Zahnarztes oftmals wieder gutmachen; aber in manchen Fällen bleibt der Erfolg aus, und jedenfalls ist die Behandlung, da sie mit viel Mühe und Zeitverlust verbunden ist, nicht so wohlfeil, als wenn man zur rechten Zeit den Milchzahn hätte füllen lassen.

Die Beschaffenheit der Knochen bestimmt auch die Güte der Zähne; ein Kind mit schwachen Knochen wird auch weiche Zähne haben, und da wird wohl der Arzt am besten entscheiden, was zur Kräftigung des Knochenbaues für das Kind räthlich ist. Aber deshalb muß auch den Zähnen knochenschwacher Kinder besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Auf eine Unsitte möchte ich noch aufmerksam machen, welche für die Milchzähne von unbedingtem Nachtheile ist. Dies ist das sogenannte „Schlotzen“ an einem Gummisauger, um den eine Hornscheibe gelegt ist, damit das Kind ihn nicht verschlucken kann. Man begegnet diesem „Schlotzer“ oder „Schnuller“ vorzugsweise in Süddeutschland und nicht selten im Munde von Kindern, bei denen man die Anwesenheit sämmtlicher Milchzähne voraussetzen darf. Ich habe Kinder gesehen, die bis zu ihrem dritten Jahre noch dieser geradezu ekelhaften Gewohnheit huldigen durften, nicht nur des Nachts im Schlafe, sondern auch am Tage auf offener Straße beim Spielen etc.

Abgesehen davon, daß diese Gummischlotzer meistens mit Zuckerwasser befeuchtet werden, wodurch der Magen geschwächt und der Appetit beeinträchtigt wird – es werden auch die Zähne, besonders die weicheren, durch die mechanische Reizung des Schlotzens so abgerieben, daß fast nur noch die Wurzeln übrig bleiben. Ich hatte einmal Gelegenheit, ein Kind vom Lande zu sehen, das mit 21/2 Jahren infolge schwacher Knochen noch nicht gehen konnte und dessen Zähne durch das fortgesetzte Schlotzen so abgenutzt waren, daß da, wo man Zähne hätte vermuthen sollen, nur schwarze Stellen am Zahnfleische sichtbar waren, die das Vorhandensein von Milchzahnwurzeln andeuteten.

Wenn man bedenkt, wie durch gesunde, gleichmäßige Zähne das Gesicht unserer Kleinen verschönt wird, so muß man die armen Kinder bedauern, die infolge der Unvernunft ihrer Eltern dieses Schmuckes entbehren und bei denen auch die Verdauung Noth leiden muß; demnach ist es unsere Pflicht, die Eltern auf die Wichtigkeit der Milchzähne und deren Erhaltung aufmerksam zu machen, damit sie ihren Kindern zu einem kräftigen und gesunden Kauapparat verhelfen. Dr. E. W.