LXXVIII. Interlaken in der Schweiz Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LXXIX. Der Theseus-Tempel bei Athen
LXXX. Das Pantheon (La Rotonda) in Rom
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DER THESEUS-TEMPEL
zu Athen

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LXXIX. Der Theseus-Tempel bei Athen.




Athen hat keine Aehnlichkeit mit den andern Königsstädten unsrer Tage. Die Pracht, den Glanz, das Geräusch und Leben der Residenzen suche man nicht in seinen Mauern. Schweigen, Einsamkeit und Verwüstung ist sein Gepräge, und was bisher von seinem Könige geschah, um dieß Gepräge zu verwischen: das Ansiedeln der Beamten und Fremden, das Garnisoniren seiner baierischen Krieger, die Errichtung einiger Gebäude zu Regierungszwecken, ist im Ganzen zu unbedeutend und dient mehr dazu, durch den Kontrast jenes schärfer hervorzuheben. Noch liegen hunderte von Häusern in Schutt, noch sind ganze Straßen ungangbar ob der Verwüstung aus dem letzten Kriege. Ueber die Akropolis hinaus scheint das Menschengeschlecht fast aufzuhören. Keine Ackerleute, kein Heerdengebrüll, keine Dörfer. Nur wenige verfallene Pachthöfe zeigen sich auf den nackten Gefilden; zunächst der Stadt einige alte Hütten, einige Heuschuppen, Gärten und einsame Weinberge.

Mitten auf diesem verwilderten Boden erheben sich die Denkmäler der alten Athenae wie Schatten eines untergegangenen Heroengeschlechts. Ihres Schmucks beraubt, scheinen sie sich in ihrem Stolze ganz abgeschieden zu haben und gleich Königen, die vom Throne gefallen, ihr Unglück in der Einsamkeit bergen zu wollen. Die [83] Seele des Betrachtenden wird überwältigt durch den Anblick dieser Ruinen der Minervenstadt, aus der Cultur und Civilisation hervorgingen, um über die Erde zu schreiten.

Der Tempel des Theseus, erbaut von Cimon, des Miltiades Sohn, hat unter allen Monumenten Athens und ganz Griechenlands den Kampf mit der Zeit am siegreichsten bestanden und von den plündernden Händen antiquarischer Räuber am wenigsten gelitten. Er steht auf einem wüsten Hügel am Westende der (neuern) Stadtmauer, zwischen den Thoren von Morea und Thrako. – Wie alle altgriechischen Tempel, ist er vom Fundament an bis zum Dache durchaus von Marmorquadern aufgerichtet, die auf’s genaueste, als wären sie zusammengeschliffen, an einander gefügt sind: – ganz unähnlich den Bauwerken Roms, welche ihrer Marmorbekleidung beraubt, mit wenigen Ausnahmen, nur Massen von Ziegelwerk darstellen, die durch ihre Größe in Erstaunen setzen, aber selten das Auge erfreuen. – Der Theseus-Tempel ist das vollkommenste Muster des dorischen Styls; er zeigt die Schönheit und Anmuth desselben mit der größten Wirkung. Obschon die Ornamente im Innern und Aeußern längst verschwunden sind bis auf wenige verstümmelte, so ist doch der architektonische Theil des Gebäudes, bis auf das Dach der Cella und bis auf einen kleinen Theil des Portikus, noch ganz erhalten. Der Tempel hat 6 Säulen auf jeder Fronte und 13 auf der Seite, zusammen also 34. Sie haben jede 20 Fuß Höhe. Rund um den Tempel standen kolossale Götter- oder Heroenbilder; an der westlichen Seite erkennt man noch ihre Postamente. Das Innere des Portikus ist (jetzt fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt) mit Skulpturen geschmückt; Frieße, welche den Kampf der Centauren und Lapithen vorstellen. Das Innere der Cella ist wüst und dient seit vielen Jahren als Begräbnißstätte der in Athen verstorbenen Fremden. Lord Byron, der für Griechenruhm begeisterte und gefallene Dichterheld, wünschte hier seine Ruhestätte zu haben; aber die Familie forderte seine Gebeine und schaffte sie nach England.

Der Theseustempel ist schon von Baumeistern des Alterthums oft kopirt worden; häufig auch in unsern Tagen, in München, Manchester, Wien, Philadelphia und Petersburg. – Alle diese neuern Nachbildungen aber geben von der Herrlichkeit des Atheniensischen Baues nur unvollkommene Begriffe.