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Titel: Der Tanz der Willis
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 415–416
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[415] Der Tanz der Willis. Wer kennt das reizende Ballet „Gisela oder die Willis“ nicht? Es hat auf allen Bühnen Furore gemacht, doch ist es Niemanden eingefallen, nachzugrübeln, ob das Ganze blos eine poetische Idee, eine Erfindung sei oder eine auf eine Sage gegründete Volkssitte darstelle. Dies letztere ist indes der Fall, denn diese Sitte lebt noch jetzt unter dem Volke und zwar in Ungarn im Gömörer Comitat, unter den sogenannten Galóczen, deren Sprache sich von der anderer Ungarn nur durch die breitere, vollere Betonung der gedehnten Selbstlauter A und E unterscheidet. Die Sage selbst, die der Dichter Alexander Kisfaludy in Verse gebracht hat, ist die folgende: Der Ritter Lóránth zog mit dem Heerbanne Andreas des Zweiten nach Palästina und ließ daheim eine ihn liebende Braut. Als er nach mehreren Jahren aus dem heiligen Lande zurückkehrte, war sie bereits todt: er wanderte zu ihrem Grabe und benetzte mit seinen heißen Thränen die kühlen Matten, welche ihre irdischen Ueberreste deckten. In seinem Leid bemerkte er gar nicht, wie schnell die Stunden verstricken und daß der Mond hoch am Himmel und Mitternacht vorbei war. Mit Einem Male erblickte er die Gestalten mehrerer Mädchen und zwischen ihnen auch die seiner verstorbenen Braut; sie forderten ihn zum Hochzeitsreigen auf, und er mußte mit ihnen so lange tanzen, bis er, vorn Schlag getroffen, todt zu Boden stürzte und somit seiner Geliebten in’s Jenseits folgte. Bis hierher geht die Sage. Die Volkssitte aber besteht darin, daß, wenn eines jungen Mannes Braut stirbt, er von den Freundinnen der Verstorbenen nach dem Gottesacker gerufen wird und hier mit ihnen so lange tanzen muß, bis er wenigstens halb todt vor Erschöpfung zusammensinkt, ja, es geschieht sogar oftmals, daß er nie wieder aus eigenen Kräften aufsteht, sondern, vom Schlag getroffen, dem Beispiel des Ritters Lóránth folgt. Ich selbst war einmal Zeuge eines solchen Tanzes; zwar wohnte ich dem Ende desselben nicht mehr bei, doch erhielt ich vom traurigen Ausgange Kunde.

Es war in den ersten Tagen des Januarmonates, im Jahre 1849, als ich mit Ladislaus von Ujházi nach der unglücklich ausgefallenen Schlacht bei Kaschau in das Gömörer Comitat reiste; seine Gattin und drei seiner Kinder befanden sich dort im Hause seines Schwagers, Samuel von Dráskóczy, zu Harkács; diese wollte er von dort abholen und mit sich nach Debreczin nehmen, wo damals der ungarische Reichstag versammelt war. Bald nach unserer Ankunft kam ein junger Bursche, ein Stallknecht des Hausherrn, aus dessen Zimmer; er war in seinem besten Staat, hatte einen Blumenstrauß auf seinen Hut gesteckt und einen anderen an seine Brust, sah aber sehr traurig aus. Thränen glänzten in seinen Augen, seine Stimme war matt und gebrochen, man sah es ihm an, daß ihm ein großes Leid zugestoßen sei. Er bat seinen Herrn um Erlaubniß, auf die Hochzeit gehen zu dürfen.

„Deine Braut ist ja gestorben,“ bemerkte Dráskóczy, „und erst vor Kurzem; Du bist ein leichtsinniger Bursche, daß Du nicht einmal das Ende der Trauerzeit, sechs Wochen, abwartest, sondern jetzt schon eine Andere heirathest. Ihr habt Euch ja so sehr lieb gehabt, daß ich glaubte, Ihr könntet ohne einander nicht leben.“

„So ist es auch, gnädiger Herr,“ entgegnete der Bursche mit von Thränen halberstickter Stimme, „ich kann auch ohne meine Panni nicht mehr leben; eben deshalb will ich heute Abend Hochzeit an ihrem Grabe halten, die Willis werden dort sein, sie erwarten mich.“

„Das ist ein noch größerer Unsinn, und gut, daß Du es mir meldest, denn jetzt laß ich Dich durchaus nicht fort. Ich werde es meinem Beschließer sagen, daß er Dich in’s Loch steckt; dann werden Dir alle diese tollen Gedanken vergehen.“

Dráskóczy ertheilte die nöthigen Befehle, man sollte ein wachsames Auge auf den Burschen haben, und der Beschließer versprach, ihn auf’s Strengste beobachten zu lassen.

„Der Martzi wird dennoch durchgehen,“ sagte der Kutscher dem Sohne Dráskóczy’s und mir, als wir hinabgingen, um die Wagenpferde einiger Herrschaften zu besehen, die soeben als Gäste hierher gekommen waren.

„Glaubst Du?“ fragte der junge Dráskóczy.

„Ich weiß es gewiß; die Dorfmädchen werden ihn in Freiheit setzen; und wenn er unter der Erde verborgen wäre, sie fänden ihn doch auf, und die Bursche und alle Leute werden ihnen dabei helfen, der Herr Beschließer mag thun, was er will.“

„Es wäre vielleicht gut,“ meinte ich, „wenn ihn Dein Vater aus dem Comitate senden würde.“

„Er käme zurück, ohne daß man es ahnete,“ sagte der junge Herr. „Uebrigens, lassen wir den Leuten ihre Sitten, wenn sie sich dabei wohl befinden; es ist doch der poetischste Selbstmord, den der Bursche an sich begehen kann, und nicht bei allen diesen Tänzen folgt nothwendig der Tod. Der Mensch wird so lange tanzen, wie ihn seine Beine tragen; stürzt er einmal zusammen, dann lassen sie ihn liegen. Er schläft seinen Rausch aus, hat der Sitte und seinem Gewissen genug gethan und darf heirathen, denn nur wenn er den Willitanz glücklich überstanden, darf er es thun; eher würde ihm kein Mädchen die Hand am Altar reichen. Wenn Du willst, komm’ mit mir um Mitternachtszeit in den Friedhof, Du kannst diesem Todtenballe beiwohnen; ich selber habe noch keinen solchen gesehen, sondern nur davon gehört. Ich werde Dich abholen.“

„Ich aber werde Alles versuchen, um ihn zu verhindern,“ sagte ich.

Es war nicht möglich etwas dagegen auszurichten; weder der alte Herr von Dráskóczy, noch der Beschließer, noch auch ich konnten den Tanz hindern, die Bauern wären ohne Zweifel zum Aeußersten geschritten, wenn man Gewalt gebraucht hätte.

Gehen elf Uhr nahm mich der junge Dráskóczy bei Seite und fragte mich, ob ich mit ihm auf den Friedhof gehen wolle. Ich hoffte, noch immer den Menschen retten zu können und folgte meinem Freunde. Als wir in die Einzäunung traten, erblickten wir bereits einige Mädchen in weißen Gewändern, mit aufgelösten Haaren und Rosmarinkränzen auf den Häuptern. Wir lehnten uns mit dem Rücken an die Wand der Capelle und warteten hier. Bald kam die Zigeunermusikbande, darauf der Bursche von zwei Willis geführt: offenbar hatte er schon mehrere Glas Wein hinabgestürzt. Die Mädchen sangen, die Musikanten spielten, er begann den bacchantischen, [416] orgienartigen Csárdás mit der Schwester seiner verstorbenen Braut, dann mit einer Andern, mit einer Dritten, und nach jeder Tour ließ man ihn wieder trinken; er taumelte bereits. Ich forderte den jungen Dráskóczy auf, dagegen einzuschreiten, und wir versuchten es die Leute zu überreden, doch es war nicht möglich; am Felsen der Vorurtheile scheiterten alle unsere Vernunftgründe. Als wir ihn aber fortreißen wollten, bemächtigten sich die Willis unserer Personen. Drei, vier von ihnen überfielen Jeden von uns, sie drehten uns im wirbelnden Kreisel, dem wir nicht widerstehen konnten, und wir waren froh, als sie uns endlich losließen und wir den Friedhof verlassen durften, ohne selber zu Tode getanzt zu werden. Am nächsten Morgen erkundigte ich mich nach Martzi; er war in total bewußtlosem Zustande nach Hause gebracht worden und mußte das Bett hüten.

Im Herbste desselben Jahres, als ich wieder mit dem jungen Dráskóczy zusammentraf, erfuhr ich von ihm, daß sich der Bursche in jener Nacht eine Lungenentzündung zugezogen, an deren Folgen er wenige Wochen darauf starb.