Textdaten
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Autor: Moritz Dessauer
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Titel: Der Sokrates der Neuzeit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 148–151
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Sokrates der Neuzeit.


Am einundzwanzigsten Februar waren es zweihundert Jahre, daß Baruch Spinoza seine irdische Laufbahn beschlossen hat. Er gehört zu jenen Entschlafenen, die nicht gestorben sind, deren Geist noch bewegend und urkräftig in unsere Tage strahlt. Von ihm kann man auch mit größerem Rechte, als von manchem Anderen sagen, daß er einer der Bestverehrten und Bestgehaßten gewesen sei. Denn wie er, so war kaum jemals ein Sterblicher zugleich verdammt und hochgeachtet, zugleich gemieden und aufgesucht, verabscheut und bewundert, bei Lebzeiten wie nach dem Tode. „Ich erinnere mich noch gar wohl,“ sagt Goethe, „welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblättert; ich ergab mich dieser Lectüre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.“ Lichtenberg behauptet, Spinoza habe den größten Gedanken gedacht, der je in eines Menschen Kopf gekommen ist. Feuerbach schwärmt von diesem „erhabenen, gedankenhellen Charakter“; Berthold Auerbach stellt ihn auf die oberste Stufe ethischen Lebens als „Charaktergenie“. Hamann hingegen findet nicht genug scharfe und bittere Worte, um die Gottlosigkeit des Spinozismus und seines Urhebers zu bezeichnen. Und Franz von Baader tadelt seinen Freund Schelling darüber, daß dieser noch immer nicht „von dem dürren Magister Spinoza“ loskommen könne. Die Frommen gar empfanden einen innerlichen Schauder, wenn der Name Spinoza’s über ihre Lippen kam; dennoch fand Schleiermacher in seinen Lehren „tiefe Frömmigkeit“ und Hegel behauptete sogar: „Es giebt keine reinere und erhabenere Moral, als die Spinoza’s.“

Muß schon bei so seltsam sich widersprechenden Urtheilen ein Sporn der Neugierde uns antreiben, Näheres über Leben und Charakter, Denken und Schaffen dieses Mannes zu erfahren, so wird hier unsere Wißbegier noch durch den Umstand gesteigert, daß jener heiße Meinungskampf nicht über einen Mächtigen in angesehener Stellung entbrannte, sondern über einen schlichten, kindlich-sanftmüthigen und einsamen Denker in ärmlicher Dachstube.

Spinoza war ein Philosoph durch die innerste Bestimmung seiner Natur, ein „glücklicher Genius“, in dessen Geiste, so abgeschlossen er auch von dem Getriebe der Welt lebte, die ewigen Gesetze der Weltordnung sich klar und sonnenhell spiegelten, ein [149] Weltweiser, der mit der Weisheit nicht blos liebäugelte, sondern sie zum heiligsten Lebensberufe erkor. Nicht wie ein Geschäft hat er die Philosophie betrieben, mit seinen Ueberzeugungen, seinem Leben und Thun hat er sie in völligen Einklang gebracht. So steht er vor uns als ein gefesteter, nach innen wie nach außen ebenmäßiger Charakter, der Sokrates der Neuzeit. Obgleich aber seine Moral, sowohl die, welche er lehrte, wie die, welche er selbst zur festen Richtschnur seines Daseins machte, von den besten Männern für die „reinste und erhabenste“ gehalten wurde, so war dennoch der Name Spinoza’s bei Mit- und Nachwelt als der eines „Religionsschänders“ und „Gottesleugners“ verpönt. Ein ganzes Jahrhundert nach seinem Tode war er sammt seinen Schriften sogar vergessen und verschollen, bis ihn der gewaltige Scharfsinn unseres großen Lessing von Neuem entdeckte und sich das Verdienst erwarb, wieder nachdrücklich auf die eminente Geistesgröße des verfehmten Denkers und auf den Werth seiner Werke hingewiesen zu haben. Seitdem ist die Anzahl der Schriften über diesen Philosophen und über die von ihm ausgegangene Richtung in der Philosophie (den Spinozismus) derart angewachsen, daß man beinahe von einer Spinoza-Literatur sprechen könnte.

Trotz aller Verketzerung war Spinoza ein echter Sohn seiner Zeit, obschon aber die geistige Strömung seines Zeitalters um Kopfeslänge hinausragend. Es war dies die Zeit, wo eine neue Ideenwelt von den knechtischen Anschauungen des Mittelalters sich losrang, die Epoche der Reformation und ihrer Gedankengährung, das erste Aufathmen des modernen Freiheitsgeistes, der alte Bande sprengte und neue Maßstäbe der Prüfung an alles Bestehende legte. Namentlich das eigene Vaterland Spinoza’s gab damals das kühnste Beispiel eines heldenmüthigen Abschüttelns aller politischen und religiösen Fesseln. Der Freiheitskampf der Niederlande, jenes „anziehende Capitel der Weltgeschichte“, wie es noch Goethe und Schillerr zu dichterischem Schaffen begeisterte, hatte sicher auch den nachfolgenden Geschlechtern die Erbschaft des Freimuths hinterlassen. In Holland herrschte seit seiner schwer errungenen Unabhängigkeit wie in keinem andern Staate jener Zeit umfassende Religionsfreiheit, Anerkennung und Vollberechtigung aller Religionen. Das Land hatte unter Spaniens Joch die schwere Hand des Glaubensfanatismus fühlen gelernt; es wählte den guten Theil, als es zum Freihafen aller verfolgten Meinungen und Religionen sich erhob und auch den der portugiesischen Inquisition entronnenen Juden eine Sicherheit gewährende Zufluchtsstätte bot. Aus einer solchen eingewanderten portugiesisch-jüdischen Familie war Benedict von Spinoza – mit seinem jüdischen Namen hieß er Baruch – am 24. November 1632 geboren worden. Seine Vorfahren in der frühern Heimath scheinen zu den vornehmen Geschlechtern gehört zu haben, seine nach Amsterdam geflüchteten Eltern jedoch nahmen hier keine besonders hervorragende Stellung ein. Sein Vater war ein Kaufmann von geringem Vermögen, der aber dennoch seinem vielversprechenden Sohne eine gründliche, obzwar zunächst auf’s Hebräische und Talmudische gerichtete Bildung in der gutorganisirten Lehranstalt der dortigen israelitischen Gemeinde angedeihen ließ. Die von allem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Juden erzogen damals ihre Kinder zumeist nur für ihr inneres Gemeindeleben. Die Begabtesten wurden für das einzig erreichbare öffentliche Ehrenamt eines Rabbiners erzogen.

Der Talmud, in dessen besondrer Verehrung und Erforschung der junge Baruch aufwuchs, ist ein eigenartiges Studium, ein sehr dunkler Schacht, in den man tief hinabgestiegen sein muß, um edles Metall herauffördern zu können. Auf der Oberfläche sieht man da nichts als werthloses Gestein und Gerölle, und von Hunderten, die über den Talmud schreiben, hat ihn vielleicht Einer tiefer erfaßt, von Hunderten, die auf ihn schimpfen, hat kein Einziger eine Zeile in ihm gelesen. Der Talmud ist noch heute der großen Welt gegenüber ein Buch mit sieben Siegeln und wird es wohl noch lange bleiben, weil seine tiefere Kenntniß wegen der Knappheit der Ausdrucksweise und des fremdartigen Idioms, besonders aber wegen der ureigenen, bald schwerfällig fortschreitenden, bald kurz nur andeutenden Methode eine ganz besondere Hingabe und Jahre hindurch den angestrengtesten, ausschließlich nur diesem Studium gewidmeten Fleiß erfordert. Verschrobene Menschen macht dieses Talmudstudium allerdings noch verschrobener, aber für geisteshelle Köpfe hat es sich meistens, wegen der Vielseitigkeit des logisch bearbeiteten Stoffes aus den entlegensten Gebieten und den verschiedensten Zeiten, als ein Gedankenwecker und Geisteshebel von ganz besonderer Kraft erwiesen. Die fromme Scheu vor der Göttlichkeit der heiligen Schrift, die darin angeregt wird, hat unser Baruch allmählich abgeschüttelt, aber die Geistesschärfe und Begriffsklarheit, das Erbtheil diesem Studiums, blieb ihm durch’s ganze Leben eigen und hat jedenfalls bedeutend dazu beigetragen, ihn zum vielbewunderten Denker zu machen.

Allerdings damals, als er zu den Füßen seiner frommen Talmudlehrer saß, trübte noch kein Wölkchen religiösen Zweifels des Lehrens und Lernens selige Freude. Die Lehrer fühlten sich mehr als belohnt durch dieses Schülers ungewöhnliche Fortschritte, der Schüler aber war gehoben durch seinen wachsenden Scharfsinn, den schwierigsten Stoff eben so klar wie tief zu durchdringen. Nur ab und zu soll eine überraschende, an Ketzerei streifende Frage des fünfzehnjährigen Knaben seine Lehrer stutzig gemacht haben, aber die gewaltige Gährung in seinem Innern begann erst, als er über das begrenzte Wissensziel dieser Umgebung hinaus in mathematische und physikalische Studien, die zur Zeit in hoher Blüthe standen, wie in die Schriften neuerer und älterer Philosophen, namentlich des jüdisch-mittelalterlichen Maimonides etc., sich vertiefte. Zum Theologen von seinen Eltern bestimmt, hatte ihn noch während seiner eifrigen theologischen Studien ein jüdischer Schriftsteller aus dem zwölften Jahrhundert, ein heller Kopf von tiefem Forschergeiste, Ebn Esra, wegen seiner freisinnigen Ideen ganz besonders angezogen und doch wieder abgestoßen durch die Art, wie er den offenbarsten Ketzereien das Gepräge der Frömmigkeit zu geben verstand. Diese Bemäntelung mißfiel unserm jugendlichen Freigeist, obgleich er seine Seele von den freien Gedanken mächtig ergriffen fühlte. Indem er aber vom Baume der Erkenntniß pflückte, trieb es ihn nun immer weiter weg aus dem Paradiese der Glaubenstreue. Ein unbezwinglicher Reiz stachelte ihn, halb freie, halb verstohlene Blicke in andere Wissenszweige zu thun.

Hierzu aber mußte er zunächst die damalige Literatursprache, die lateinische, gründlich erlernten. Er nahm bei einem deutschen Philologen Privatstunden und vervollkommnete sodann sein classisches Wissen, wie seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse bei einem berühmten Arzte und gründlichen Kenner des römisch-griechischen Alterthums, Franz van den Ende. Dieser stand in dem Rufe, auf den Geist seiner zahlreichen Schüler nicht nur durch die Feinheiten der classischen Sprachen, sondern auch durch den Samen des Unglaubens zu wirken. Van den Ende war ein vielseitiger Gelehrter, ein Weltmann und kirchenfeindlicher Freigeist, sein Haus ein Sammelpunkt zahlreicher lernbegieriger Jünglinge und Männer. Vielleicht war es nicht einzig und allein sein reiches Wissen und die tüchtige Lehrkraft, welche Viele an sein Haus fesselten. Er hatte auch eine ungewöhnlich kenntnißreiche Tochter, die ihn, so oft seine ärztliche Berufspflicht ihn vom Hause abrief, in gewandter Weise vertrat. Clara Maria unterrichtete die Jünglinge ebenso geschickt in der Musik wie in lateinischer Stylübung, und obgleich kein weltlicher Blick und Gedanke während des Unterrichts den erforderlichen Ernst unterbrach, sollen doch mit der Zeit lebhafte Regungen anderer Art die Lehrerin sowohl als zwei ihrer Schüler ergriffen haben. Unser streng jüdisch erzogener Philosoph wagte sich wohl anfangs kaum einzugestehen, daß es Liebe sei, die ihn so unwiderstehlich an Blick und Wesen der katholischen Maria gefesselt hielt. Im Uebrigen beweist der höchst elegante neulateinische Styl in allen seinen Werken, daß er bei Erlernung dieser Sprache nicht allzu viel Zeit auf den Liebesrausch verwendet haben kann. Es bestehen sogar Zweifel, ob er überhaupt jemals wirklich eine andere Liebe gefühlt, als die Liebe zur Philosophie.

Das Haus van Ende’s, wo er noch mit andern strebsamen Freunden verkehrte, ist der Rubicon gewesen, wo er den entscheidenden Schritt vom tiefwurzelnden Glauben seiner Kindheit in das freie Gebiet der Vernunftanschauung gethan. Von dieser Höhe ist er nur noch als Gegner in das Lager seiner streng orthodoxen Amsterdamer Glaubensgenossen zurückgekehrt. Seine Eltern und frommen Angehörigen gewahrten bald mit Schmerz den allmählichen Umschlag seiner Gesinnung und seiner Lebensweise, und je höher die Erwartungen in Bezug auf ihn gestiegen waren, desto erbitterter war man jetzt allgemein in seinem israelischen Kreise, als man ihn seine reichen Gaben und Kenntnisse zu einem [150] Rütteln an der väterlichen Religion verwenden sah. Harte Kämpfe müssen zu jener Zeit sein Inneres bestürmt haben. Hier ein traulich-inniger Verwandtenkreis, dort ein wissenschaftlicher Freundescirkel, hier frische Jugendeindrücke, dort blasse, abstrakte Anschauungen; es kämpfte Gemüth gegen Verstand, Herz gegen Kopf, und vielleicht auch die Liebe gegen Brauch und Herkommen. Aber auch aus ihm sprach’s entschieden: „Ich kann nicht anders.“ Ein Apostel kalter, speculativer Vernunft sollte er werden, und je tiefer und kühner sich seine Gedanken entfalteten, um so schärfer und schroffer sonderten sich seine neugewonnenen von den hergebrachten Anschauungen.

Solch einen Weg aber konnte er nicht betreten, ohne schwere Prüfungen, harte Angriffe seiner Angehörigen und Glaubensgenossen wider sich heraufzubeschwören. Wohin er auch kam, zu seinen Lehrern, zu den Verwandten und Freunden seines elterlichen Hauses, überall dröhnte ihm jetzt bereits das verhängnißvolle Wort „Abtrünniger!“ „Ketzer!“ „Verräther!“ entgegen. In seinem Herzen fühlte er alle jene Fäden reißen, die ihn bisher mit einer Umgebung verbunden hatten, welche ihn nicht verstand und nicht verstehen mochte. Seinem durch und durch offenen und consequenten Charakter blieb eben jede Verstellung fremd. In Spinoza’s Leben und Schriften blieben Klarheit und Wahrheit die leitenden Gesetze. Als wahr stellte er nur das hin; was dem Denken als völlig, als mathematisch bewiesen und ohne Widerspruch sich ergab. Dies aber erklärte er als unumstößlich und über allem Irrthum erhaben, ohne sich irgendwie an Rücksichten, an alte Gewohnheiten und ererbte Gefühle zu stoßen. Was er that, das that er offen und frei, und was er nicht anerkannte, das bekannte er auch niemals mit den Lippen.

Darin war er ganz anderen Schlages als sein ketzerischer Vorgänger Uriel Acosta; dieser wollte persönlich ungebunden, frei von allen Satzungen sich bewegen und doch als vollberechtigtes Mitglied mitten in der Gemeinschaft der Religionsgenossen verbleiben. Unsre Gegenwart denkt darüber ganz ebenso und fragt: warum sollte man dies nicht dürfen? Damals aber war eine solche Toleranz noch nicht an der Tagesordnung; damals mußte jeder Einzelne in Reih und Glied einer Kirchengemeinschaft stehen und alle üblichen Pflichten derselben erfüllen. Selbst das freie Holland duldete eine solche von aller Confession losgebundene Freiheit nicht. Ein öffentliches Aergerniß in dieser Hinsicht zog unfehlbar den Kirchenbann mit den schädlichsten Folgen auch für das bürgerliche Leben nach sich. Auch die neu constituirte jüdische Gemeinde Amsterdams gelüstete es nach diesem Nimbus eines straffen Kirchenregiments. Oder wollten vielleicht diese so gastfreundlich aufgenommenen Flüchtlinge der christlichen Welt nur zeigen, daß auch sie in ihrer Mitte nicht gleichgültig duldeten, was von aller Welt als „Gottlosigkeit“ bezeichnet wurde? Uriel Acosta war verzweifelt, als er in Folge des über ihn verhängten Anathems von Allen gemieden ward, und er wurde noch mehr gereizt und verbittert nachher, als er mit dem Unglauben im Herzen, um seine bürgerlichen Verhältnisse zu bessern, zum Scheine widerrufen und Buße geheuchelt hatte. Unter Groll, Verbissenheit, Zerrissenheit und stetem Aufruhr seines Innern härmte er sich ab und nahm sich schließlich das Leben.

Und gewiß, es gehört ein starker, heldenhafter und ruhiger Geist dazu, alle früheren Beziehungen eines herzlichen Familienlebens freiwillig zu durchschneiden und in einsamer Denkerarbeit der Welt den Rücken zu kehren. Ein so gearteter Geist war Spinoza. So wie er einmal mit den religiösen Anschauungen seiner Zeit gebrochen hatte, konnte er auch nichts mehr gegen seine Ueberzeugung bekennen oder äußerlich thun. Zum Scheine und aus Nützlichkeitsgründen schwanken und widerrufen, wie Acosta, oder gar mit der alten Religionspartei liebäugeln und doch in Wort und Schrift die Fundamente derselben erschüttern, wie sein Meister Cartesius, das widerstrebte Spinoza’s geradem Wesen. So verzweifelte er denn auch nicht kleinmüthig, als das erwartete Ungewitter sich endlich über seinem Haupte zusammenzog. Furchtlos trat er hin vor das religiöse Tribunal, welches ihn zu Vertheidigung oder Widerruf vor sich forderte; unerschrocken legte er seine Ansichten dar. Zu diesem Zwecke verfaßte er eine besondere Vertheidigungsschrift, welche wahrscheinlich in sein später so berühmt gewordenes und vielgeschmähtes Werk, den „Theologisch-politischen Tractat“, verflochten ist, worin in der Hauptsache dargethan wird, daß die Freiheit zu philosophiren, unbeschadet des Glaubens und auch des Friedens im Staate, nicht blos gestattet werden könne, sondern daß ihre Entziehung sogar das Gemeinwohl schädige. Dies zu beweisen, unterwarf er die Bibel, speciell die Prophetie, die Wunder, die Gesetze und Lehren einer gründlichen Untersuchung. Als gewissenhafter Mensch wollte er in seinem durch theologischen Hader ohnehin schon genugsam aufgeregten Vaterlande auch vor der Außenwelt – denn Spinoza hatte sich bereits einen ausgebreiteten Ruf erworben – sein Denken und Thun rechtfertigen und besonders seine oft gethane Aeußerung verfechten: „In einem freien Staate müsse einem Jeden erlaubt sein, zu denken, was er wolle, und zu sagen, was er denke.“

Nachdem aber endlich über den „unverbesserlichen Abtrünnigen“ der Bann in aller Form ausgesprochen war, sollte er noch alle Bitterkeiten eines Geächteten und Ausgestoßenen durchkosten, bis es ihm vergönnt war, von aller Welt zurückgezogen, nur der stillen Weltbetrachtung zu leben. Weder eine Verkennung seines unbestechlichen Charakters, als ihm eine bedeutende Pension angeboten wurde, falls er seine spitze, gegen die Glaubenssatzungen gerichtete Feder mäßigte, noch der glücklicher Weise fehlgegangene Dolchstoß eines tollen Fanatikers, noch eine Anklage beim Magistrate gegen den „Gotteslästerer“, die zu seiner Verweisung aus der Stadt führte – keinerlei Drang und Verfolgung konnte ihn wankelmüthig machen. Dergleichen Ausbrüche menschlicher Leidenschaften, Haß, Zorn, wie alle widrigen Affekte ertrug er ohne Gereiztheit, ohne Abscheu und Bedauern; in seiner erhabenen Anschauungsweise betrachtete er dieselben nicht einmal als Fehler der menschlichen Natur, sondern als Eigenschaften, welche zu ihr so gehören, wie Hitze, Kälte, Sturm und Donner zur Natur der Luft, Bewegungen, die unangenehm, aber doch nothwendig sind und bestimmte Ursachen haben. Erhabene Anschauung – würdig eines Weisen, ähnlich dem bekannten Ausrufe des Sokrates: „Nach Ungewitter Regenschauer!“

Ob er auch ebenso ruhig die verschmähte Liebe hingenommen? Oder ob seine Liebe zu Van Ende’s gelehrter Tochter überhaupt, wie schon angedeutet, geschichtlich nicht stichhaltig ist? Es wird wenigstens erzählt: ein angesehener Jüngling, Namens Kerkering, aus einem Lübeck’schen Patriziergeschlechte, habe durch einen Perlenschmuck von bedeutendem Werthe das Herz dieser von Spinoza lediglich ihres lebhaften Geistes wegen heißgeliebten Clara Maria mit Erfolg für sich eingenommen. Auch sie hatte wohl längere Zeit eine tiefe Neigung für den hochbegabten Philosophen empfunden, der auch äußerlich wohlgestaltet war und mit seiner bräunlichen portugiesischen Gesichtsfarbe, mit seinen feinen Zügen, dem gekräuselten glänzend schwarzen Haar und dem lebhaften Blitzen seiner kleinen schwarzen Augen einen sehr angenehmen Eindruck machte. Aber bei der ernsten Wahl eines Lebensgefährten gab das Mädchen Kerkering den Vorzug; denn dieser war sehr reich und Spinoza nur sehr geistreich, aber arm; ernährte er sich doch durch das Schleifen optischer Gläser. Mag er, geleitet durch seine eifrigen mathematisch-physikalischen Studien oder durch die bedeutenden Entdeckungen jener Zeit mittelst des Fernrohres, oder aus sonstiger Vorliebe gerade für dieses Handwerk sich bestimmt haben, so war es doch überhaupt sein fester Vorsatz, nur von der Arbeit der eigenen Hände zu leben. Alle Unterstützungsanerbietungen seitens mehrerer sehr begüterter Freunde wies er standhaft zurück. Bei seiner überaus mäßigen Lebensweise in dem ländlichen Aufenthalte bei Amsterdam und später in Rhynburg bedurfte es der Ausübung jenes Handwerks nur während weniger Stunden des Tages. Er sehnte sich nur nach Unabhängigkeit und stiller Abgeschlossenheit. Seine Wirthsleute staunten über solche genügsame, mit so Wenigem zufriedene Natur, besonders da sie tagtäglich sehr hohe Herren bei ihm ein- und ausgehen sahen. Er pflegte zu bemerken: „Die Natur ist mit Wenigem zufrieden, und wenn sie es nicht ist, bin ich es dennoch.“ Als er bei einem Bankerotte zweihundert Gulden verloren, sagte er gleichgültig: „Um diesen Preis erwerbe ich mir Gleichmuth.“ Einst besuchte ihn der Staatsrath und Großpensionarius Jan de Witt, der bekannte Märtyrer der Freiheit, das Opfer des blindwüthenden Pöbels. Spinoza studirte mit Diesem Mathematik. De Witt traf den Freund in einem ärmlichen Hausrocke; erstaunt darüber, bot er ihm sogleich hülfbereit Unterstützung an. Lächelnd lehnte jedoch Spinoza dies mit den Worten ab: „Es wäre unvernünftig, ein kostbares Gewand um ein so geringes Ding zu legen.“

Trotz seines ungesunden Körpers blieb er beharrlich in ununterbrochener Thätigkeit; Lebensfreuden im gewöhnlichen Sinne [151] des Wortes drangen fast gar nicht in seine engumfriedete Einsamkeit. Erheiterung quoll ihm einzig aus der ungetrübten Gemüthsruhe. Freudenstrahlen waren ihm nur die Strahlen der wachsenden Erkenntniß. Solch’ ein mäßiges, kampf- und entsagungsvolles Dasein war ihm mit der Zeit so sehr zum Grundsatz geworden, daß es ihm von dem Wesen eines aufrichtig strebenden Philosophen untrennbar schien. Einem gelehrten Freunde, der verschiedene philosophische Fragen an ihn gerichtet, antwortete er: „Ich muß Sie noch darauf aufmerksam machen, daß all’ dies Ihr fortwährendes Nachdenken und die höchste Beharrlichkeit des Geistes und des Willens erfordert; dazu ist vor Allem nothwendig, sich eine bestimmte Lebensweise und Lebensart vorzuschreiben.“

Und in dieser Abgeschiedenheit und beschaulichen Ruhe dachte er himmelstürmende Gedanken, rüttelte er an allen Säulen der bestehenden Weltordnung, untersuchte ihre Tragpfeiler und verwarf viele als morsch und wurmstichig; da reihte er seine knappen Begriffsbestimmungen, Voraussetzungen, Lehrsätze und Beweise in mathematischer Methode und Sicherheit aneinander und fügte diese Steine zu kühnem Baue zusammen; da dachte er über das Weltall oder, was bei ihm dasselbe ist, über Gott; denn Gott und Weltall sind bei Spinoza in ihrem innersten Wesen nicht getrennt, sondern Eins; die Welt ist in Gott; Gott oder die eine untheilbare „Substanz“ ist ihm die innere Ursache alles dessen, was da ist, die Welt aber die Selbstdarstellung Gottes; Materie und Geist, die schroffsten Scheidewände des Materialisten und Idealisten, hat er als in einander greifend aufgefaßt und, wie Keiner vor ihm, innig miteinander verschmolzen –; da stellte er tiefeinschneidende Untersuchungen an über Religion und Moral, über Staat und Politik; hier schrieb er ein System der Ethik, welches die Welt halb in Staunen, halb in Angst versetzte. Alle hergebrachten Ansichten von Tugend, Recht, Liebe und Frömmigkeit verwarf er, verwarf Alles, was man gewöhnlich unter gut und böse, recht und schlecht, schön und häßlich verstand, und sprach doch voll Entzückung von der höchsten Erkenntniß und Liebe zu Gott. Die gewöhnliche Vorstellung von einem persönlichen Gotte verwarf er freilich, und doch galt ihm die Gottheit als erhabener Zielpunkt alles Lebens, Liebens und Strebens. Er verwarf die Willensfreiheit, und doch regiert kein Zufall und macht den Menschen zum blinden Werkzeug eines blinden Fatums. Ueberall durchzieht das All, die Gottheit mit eingeschlossen, eine strenge, ewige Gesetzlichkeit, und dennoch kann der Mensch frei und groß sein – durch Erkenntniß und Liebe.

Gewiß, er war nicht blos ein großer, sondern auch ein ganzer Mann, dieser Spinoza. Seinem kühnen Pantheismus, dessen Kernpunkte wir eben kurz andeuteten, hat er zunächst Gestalt und Bedeutung verliehen – durch seine eigene ihr entsprechende Lebensführung. Er bewies der Welt, daß ein Denker wahrhaft frei denken, die hergebrachten Anschauungen von Gott und Welt, Geist und Stoff, Natur, Recht, Tugend und Willensfreiheit anders auffassen, ja sogar gewaltig daran rütteln und dabei doch ein durch und durch reiner, edler und sittenfester Charakter bleiben könne.

Sowohl dieser letztere Umstand wie die Klarheit, Schärfe und der mathematisch geordnete Aufbau der Gedanken haben dem Spinozismus die größten Geister erobert, nicht blos einen Lessing, Goethe, Schelling, sondern auch heute noch eine beträchtliche Anzahl hervorragender Naturforscher. Anfangs freilich hatte die Eigenartigkeit seines Philosophirens vielfach kein rechtes Verständniß gefunden; Anfragen in Menge wurden an ihn gerichtet, welche er sämmtlich mit stets nachsichtiger Freundlichkeit und seltener Geduld beantwortete.

Betrachtet man nun aber die praktische Seite seiner Lehre, so ist diese nicht zu verwirklichen, außer etwa innerhalb einer Gemeinde von lauter sittenrein lebenden Weisen. Ein ganzes Volk mit spinozistisch-pantheistischer Weltanschauung würde auf die Dauer lebensunfähig sein. Nur die harmlose Natur und lautere Gesinnungsweise eines Spinoza konnte sich über die Gemeingefährlichkeit solcher Weltanschauung in ihren praktischen Folgen und Wirkungen täuschen. Wie aber hätte eine noch glaubenseifrige Zeit, in welcher man um die nichtssagendsten Dogmen heftig stritt und darüber in getrennte Secten auseinanderging, wie hätte eine solche Zeit nicht in leidenschaftlichem Zorne gegen einen Philosophen entbrennen sollen, der mit einem scharfen Luftzuge das Lebenslicht aller bestehenden Religionen auszublasen suchte? Spinoza hat, wie schon gesagt, diesen Eifer verstanden, ihn deshalb auch geschont und jedes directe Aergerniß zu vermeiden gesucht, wie er z. B. der Uebertragung seines theologischen Tractats aus dem Lateinischen in’s Holländische sich widersetzte. Kaum begreiflich ist es daher, daß er gerade seinen Stammesgenossen die Anwendung der damals ganz alltäglichen Achterklärung nicht verzeihen konnte.

Mancher Ausdruck dieser Gereiztheit mag indeß auf Rechnung seiner Krankheit zu schreiben sein, welche ihn frühzeitig altern ließ. Die Hälfte seiner Lebenszeit war sein Körper mit der Schwindsucht behaftet, und wohl nur seiner genügsamen Lebensweise und stillen Zurückgezogenheit – von 1664 an in Voorburg und im Haag – verdankte er die Verlängerung seines Daseins und die rüstige geistige Spannkraft. Sein berühmt gewordener Name gestattete es ihm jedoch nicht, so abgeschieden zu bleiben, wie er es wünschte; es fehlte, wie wir gesehen haben, nicht an häufigen Besuchen von Freunden und namentlich Seitens der fremden Wißbegierigen, die den Meister nicht blos aus seinen Schriften, sondern auch persönlich zu kennen wünschten. Von solchen, wie von den Männern, die schriftlich mit ihm in wissenschaftlichem Verkehre standen, namentlich von seinem reichen Schüler Simon de Fries, ward ihm nach wie vor häufig und in der schonendsten Weise reichliche Unterstützung und wesentliche Verbesserung seiner materiellen Verhältnisse angeboten, consequent aber und oft mit sarkastischen Bemerkungen wies er dergleichen Anträge zurück. Simon de Fries, der unverheirathet geblieben, wollte ihn sogar zum Gesammterben einsetzen. Er schlug dies aber beharrlich aus und bat Simon, seine Brüder nicht zu benachtheiligen. Sein Sinn war nicht auf Erdengüter, nicht auf Geld und nicht auf Ruhm gerichtet; er hatte auch nicht den Ehrgeiz, eine philosophische Schule zu stiften; sein denkendes Leben und Forschen gab seinem Gemüthe volle Befriedigung.

Eine ordentliche Professur in Heidelberg, damals für einen Israeliten ein noch nicht Dagewesenes, welche der Kurfürst von der Pfalz ihm freundlich antragen ließ, schlug er in peinlichster Redlichkeit höflich aus, weil er „nicht wüßte, wie er nach seiner Ueberzeugung offen philosophiren und vortragen solle, ohne Anstoß zu geben.“ Auch glaubte er in der Fortbildung der Philosophie, seiner heiligsten Lebensaufgabe, durch ein öffentliches Lehramt behindert zu werden.

Seine Werke (die „Ethik“ ist nach seinem Tode ohne volle Nennung des Namens, blos unter B. d. S. von seinem bewährten Freunde, dem Arzt Ludwig Meyer, herausgegeben worden) haben schon bei seinen Lebzeiten und unmittelbar nach seinem Tode einen heftigen Sturm der Philosophen und Theologen hervorgerufen. Doch bald ruhten auch diese Werke, wie ihr vielgeschmähter Verfasser, geächtet im Grabe der Vergessenheit, bis ein volles Jahrhundert danach ein erneueter wissenschaftlicher Sturm sie an’s helle Tageslicht zog. Gewiß wäre da über Sinn und Verständniß seiner speculativen Ergebnisse nicht so viel gelehrte Debatte und oft so leidenschaftliche Fehde entstanden, wenn es Spinoza durch eine längere Lebensfrist gegönnt gewesen wäre, seine Ansichten selbst zu erklären. Er ist aber zu früh dem Leben entrissen worden. In seinem fünfundvierzigsten Lebensjahre, am 21. Februar 1677, starb er, wie er gelebt hatte, sanft und still. Einer seiner eigenen Aussprüche (Schluß der Ethik) dürfte seine Persönlichkeit uns am kürzesten in’s Gedächtniß prägen: „Alles Hohe ist ebenso schwer wie selten.“

M. Dessauer.