Der Rheinfall bei Schaffhausen (Meyer’s Universum)

XV. Cootub-Minar, Ruinen von Delhi Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Erster Band (1833) von Joseph Meyer
XVI. Der Rheinfall bei Schaffhausen
XVII. Taj-Mahal in Agra
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DER RHEINFALL BEY SCHAFFHAUSEN.

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XVI. Der Rheinfall bei Schaffhausen.




Gleich dem Leben eines großen Menschen, – voller Unfug und Unbändigkeit in seiner Kindheit, jach und kühn und zu allen Wagstücken fähig als Knabe, feurig und thatenschnell in seiner Jugend, durch bittere Erfahrungen und Nachdenken geläutert als Mann mit gesetztem Muthe einen festen Lebensplan verfolgend und sich ausbildend zur stillen Menschen-Größe, die Herrliches schafft und Segen streut ringsum, Undank und Vergessenheit erndtend im Alter – so ist das Bild des Rheins, des schönsten Stromes im Vaterlande!

Die wilden Knabenstreiche des großen Mannes erfährt man nur in seiner Heimath; so die des Rheins in den Thälern und Ebenen von Bündten, Sargans und im Rheinthal. Da wissen alle Bewohner von seinem Unfug zu erzählen. Und schwiegen sie, so gäben Zeugniß davon die Gründe an seinen Gestaden. Vom jungen Strom zerrissen und aus Furcht vor seinen verheerenden Einbrüchen fast verlassen, sind sie wenig angebaut und meist bloß als Gemeinde-Weidplätze benutzt. Berge von Kies und Felsstücken thürmen sich oft mitten in seinem breiten Bette auf, seiner unstäten Fluthen muthwillige Arbeit. Jeder anhaltende Regen, jeder warme Frühling, der die Schneefelder seiner Geburtsstätte, der Hochalpen, schmilzt, erzürnt ihn, wie den Knaben das versagende Wort der Magd, und aufgeschwollen im Nu überbraußt oft urplötzlich die Ufer und überschüttet die Matten weit und breit mit unfruchtbarem Gerölle und Kies. Auf der felsigen, von Thal und Höhe durchschnittenen Bahn stößt er in seinem Laufe bei jedem Schritte vorwärts auf Hindernisse, die ihn bald stauen, bald, wenn überwältigt, seinen Lauf beschleunigen. Stets wechselt [35] die Schnelligkeit seines Stroms und oft in ganz kurzer Strecke auf die überraschendste Weise. – Hier strömt er in Hast und gräbt beim geringsten Widerstand, der ihn empört, schreckliche Tiefen ein, reißt tief eingeschlagene Pfahlwände um, stürzt Schutzmauern nieder, unterwühlt die festesten Damme und führt ganze Strecken angrenzenden Landes fort. Dort fließt er sanft und langsam; allein es ist nur scheinbare Sanftheit, denn ihm dient die Ruhe bloß dazu, die auf steilerer Strombahn fortgerissenen Steine und Erde in Sandbänke abzusetzen, welche bald sein Bette so erhöhen, daß er nicht mehr Raum in demselben findet; dann überströmt er es und gräbt sich in Triften und Feldern ein neues Rinnsal. Dort rauscht er in scharfen Winkeln dahin, und an solchen Stellen ist es, wo er am häufigsten Land weg führt und die furchtbarsten Zerstörungen anrichtet. Die Anwohner auf der ganzen Uferstrecke vom Bündtner Thal bis nach Rheineck sind in ununterbrochenem Kampfe mit dem Strome begriffen und beständig beschäftigt, seiner wilden Kraft durch Dämme und Schutzmauern zu wehren, oder sie zu mäßigen.

Erst von Rheineck an gewinnt der Strom ein freundlicheres Ansehen. Die glücklichen Bewohner seiner lachenden Ufer von Constanz bis Schaffhausen wissen wohl von seiner ungleichen Höhe und etwa von Ueberschwemmungen zu erzählen, aber wenig von so zerstörender Wuth. Er hat sich in dem Bodensee gewaschen. Das schmuzige Grau seiner Gewässer ist verwandelt in das schönste, reinste Blau, und verdoppelt in Breite und Tiefe entfließt er dieser zweiten Geburtsstätte und schlängelt sich freudig durch eines der schönsten Thäler der Erde. Zwischen hohen Borden fließt er anfangs majestätisch und sanft dahin, fahrbar für so große Flußschiffe, als er zwischen Mainz und Cöln trägt, und benutzt vom Handels- und Gewerbfleiße auf tausenderlei Weise. Seine Gestade bieten hier einen steten Wechsel der lieblichsten Ansichten. Dörfer und Flecken ohne Zahl lagern sich, zum Theil in Fruchthainen versteckt, an seinen Ufern und vor allen Häusern stehen Kähne oder Schiffe. Wo man hinblickt ist Leben, Thätigkeit und Wohlstand; überall ist Seegen des Rheins, wie früher überall Fluch und Zerstörung war.

Unfern Schaffhausen nimmt der Rhein abermals einen neuen Charakter an. Sein Bette verengt sich, die spiegelglatte Fläche fängt an sich zu furchen, das Rauschen der Gewässer wird lauter, immer schneller ihre Strömung. Mit reißender Eile wälzt er sich bei Stein über ein Felsenwehr; – doch nicht in jähem Sturze, sondern in sanft abschüssiger Richtung mit mächtigem Gewässer. Die Hinabfahrt der größten Fahrzeuge, obschon nicht ohne Gefahr, ist hier noch möglich. Von den Steiner Schnellen wälzt sich der Strom in einem sehr tiefen und großentheils sehr schmalen Felsenbette bis Schaffhausen fort. Hier endet die Fahrt mit größern Fahrzeugen gänzlich; denn die Natur macht sie in dem klippenvollen Bette bei den steten Krümmungen um Felsen bis zum Rheinfall hin unmöglich. Nur sehr schmale, lange Nachen, die man beim Herabfahren zu 2 oder 3 an einander bindet, wagen sich noch auf die tobenden Fluthen und dienen den Bewohnern beider Ufer zum Mittel des Verkehrs. Mit Blitzesschnelle tanzen sie den Strom hinab und mit jedem Augenblick wechseln den Schiffenden die Ansichten der immer wilder und romantischer [36] werdenden Ufer. Bald wird der Donner des Rheinsturzes hörbar. Die Nachen suchen das Ufer und der schäumende Strom ist, eine Viertelstunde von Schaffhausen, gänzlich verlassen. –

Ein Spaziergang von einer halben Stunde führt den Wanderer von Schaffhausen auf der rechten Seite des Flusses dem alten Bergschlosse Laufen gegenüber zu jenem Becken hin, in welches sich der auf 300 Fuß eingeengte Strom über eine Felsmauer von achtzig Fuß Höhe, durch zwei mitten aus den Strudeln hervorragenden Klippen ungleich in drei Theile zerspalten, siedend und dampfend herabstürzt. Ein Paar alte Mühlen sind fast in den Strom hineingebaut, und dicht dabei ist die Stelle, von der man die schönste Ansicht des erhabenen Schauspiels genießt. Sie war der Standpunkt für den Zeichner unsers Bildes.

Aber welches Bild wäre fähig, dieß Wunder der Natur treu zu veranschaulichen, welche Erinnerung so stark, es zu vergegenwärtigen in Worten? In unserm Erdtheil ist Nichts, was einen größern Begriff von der Kraft der Natur und der Allmacht ihres Schöpfers geben könnte, als der Anblick dieses ungeheuern Gewölbes von Schaumwogen, dieser donnernden Fluthenmasse, welche kochend, zischend, Wolken von Schaum dem Himmel zuspritzend, in den Abgrund dahinrollt. Der Mensch steht klein wie ein Nichts davor; keiner, ohne im Innersten erschüttert zu werden, kann den tobenden Aufruhr der losgebundenen Kräfte betrachten. Selbst der schlaffste Geist wird des Wassergetümmels nicht satt werden, hundertmal kann man’s sehen, und eben soviel mal wird der erste Eindruck neu und ungeschwächt wiederkehren. Dem Schauenden ist’s, als ob er in Gottes heiligster Werkstatt sich befände, – er fühlt sich selbst nicht mehr, – seine ganze Seele ist nur Auge und Ohr. – Aufgelöst zu tausend Quellen, die Quellen zu Milliarden Wasserstäubchen, sieht er den majestätischen Strom aus dem Abgrund in Dampf und Rauch sich aufkräuseln und sich drehen wie im Wirbelwind das dürre Laub; der feste Boden unter seinen Füßen zittert und die das Getümmel der Gewässer überschauenden Felsen schütteln ihre schwarzen Häupter, gleichsam als entsetzten sie sich der Wuth des erzürnten Elements. Das Erbeben, das Donnerbrausen des Wassersturms über, um und unter ihn durchfährt seine Seele wie Musik der Cherubim und heilig! heilig! heilig! brüllt’s und bebt’s ihm durch Mark und Gebein.

Am Allererhabensten ist der Anblick in stiller, schweigsamer Nacht beim zitternden Lichte des Vollmondes. Dann erscheinen die grauen Felsen wie riesige Engel, die weißen Schaum- und Wasserstaubwolken wie deren Gewänder, und selbst der fühlloseste und ungläubigste Mensch kann sich der Schauer religiöser Gefühle nicht erwehren. Mancher hat an der Stelle gebetet, der nie betete, mancher stolze Wüstling und Bösewicht erflehete in heißen Thränen des Schmerzes, der Reue und der Wehmuth vom Ewigen hier ein Zeichen, daß er ihn höre. So öffnet der Anblick der unendlichen Kraft und Hoheit der Natur, vor welcher alles Hohe im Menschen verrinnt wie ein Tropfen im Meer, das zagende Herz der tröstenden Religion und führt den schwachen Sterblichen zum Glauben an Gott und die Ewigkeit.