Der Rettungsball
Kleine Bilder aus der Gegenwart.
Es ist eine der ersten Pflichten, die der Verwaltung eines großen, volk- und verkehrsreichen Gemeinwesens obliegen, durch äußere Hilfsmittel aller Art die Möglichkeit von Unglücksfällen, sei es durch Wasser oder durch Feuer, im Innern der Häuser oder auf öffentlichen Straßen und Plätzen, auf das denkbar geringste Maß zu beschränken. Freilich, die trefflichste Fürsorge macht derjenige zu nichte, der freiwillig das Unglück, den Tod sucht. Der Kampf gegen Unglücksfälle dieser Art liegt auf einem andern, dem sozialethischen Gebiete, da helfen keine Mittel äußerer Abwehr, da kann nur die Nächstenliebe einen rettenden Damm vorschieben.
Sicher weisen die Polizeiberichte der großen Metropolen New-York, London und Paris eine größere Anzahl von freiwilligen und unfreiwilligen Unglücksfällen auf als Berlin. In diesen Weltstädten befindet sich, entsprechend der größeren Einwohnerzahl, auch ein zahlreicheres Proletariat, und im allgemeinen mag der Kampf ums Dasein dort Beispiele verzeichnen, die einen weit furchbareren Charakter tragen als in der Hauptstadt des Deutschen Reiches.
Aber auch die Berliner Zeitungen erzählen uns täglich von genug Elend und Jammer. Oft treibt die äußerste Noth, der nagende Hunger den Menschen zum Aeußersten, und während der eine zu Gift oder zur Mordwaffe greift, sucht der andere im Wasser ewiges Vergessen.
In Berlin sind die Fälle sehr häufig, daß sich Lebensmüde in den Kanal stürzen, ja, der Ausdruck „in den Kanal stürzen“ ist bei der häufigen Wiederholung solcher Todesart ein allgemeiner in dem Sinne geworden, daß er fast so viel bedeutet, wie „seinem Leben ein Ende machen“.
Es hat sich nun neuerdings der Magistrat entschlossen, zur Rettung solcher Verunglückter oder Lebensmüder eine Vorrichtung an verschiedenen Berliner Brücken, und zwar zunächst an der Gertraudten-, Kurfürsten-, Kronprinzen-, Bellealliance-, Herkules-, Moabiter-, Potsdamer- und Schleusenbrücke anzubringen, um dem Publikum Gelegenheit zu geben, einen Akt menschlicher Barmherzigkeit auszuüben oder den Verirrten, der der Verzweiflung wich, vom Tode zu erretten.
Oft genug wissen freilich die Geretteten dafür keinen Dank! Sie wollen sterben und sehen sich nach kurzer Zeit demselben Elend wieder gegenüber! Häufig aber wird die Oeffentlichkeit erst durch einen solchen furchtbaren Akt der Verzweiflung aufmerksam auf den Hilfsbedürftigen und es gelingt, Zuversicht und Lebensfreude noch einmal in demselben wachzurufen. Der Rettungsapparat ist ein mäßig großer, rothbekleideter, festumwundener, sich auf der Wasseroberfläche haltender und nach dem System der Schwimmgürtel konstruirter Ball, der mit starken Seilen versehen und an dem Geländer der Brücke aufgehängt ist. Jeder ist imstande und berechtigt, denselben zu lösen und ihn dem Verunglückten zuzuwerfen. Der Ertrinkende findet an ihm einen sicheren Halt, klammert sich an und wird von dem Retter ans Ufer gezogen. Auf einem einfachen dunklen Schilde an den Brückengeländern stehen die Worte: „Dem Schutze der Bürger empfohlen. Der Magistrat.“
Die Verwaltung der Stadt Berlin, die in jeder Weise eine musterhafte zu nennen ist, hat sich durch diese Einrichtung abermals den Dank der Einwohner erworben und es ist nicht zu bezweifeln, daß durch den Rettungsapparat manchem Unglück nach dieser Richtung vorgebeugt werden wird.