Der Rabbi von Sadagóra
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Unabsehbar breitete sich die Fläche aus, die der Herbst in seine fahlgelben und braunen Farben kleidete. Das tiefste Schweigen herrschte ringsum; nur das Rascheln der Stoppeln, das ferne Rauschen des Pruth war hörbar; rückwärts floß die Stadt auf dem Berge in pittoreske weiße Linien zusammen, von Kuppeln und Thürmchen überragt, die farbenbunt und glitzernd in der Sonne schimmerten und glänzten. Hier und da erhob sich eine halb in den Boden gesunkene, schornsteinlose Hütte mit hochgiebeligem, zerzaustem Strohdache, aus der tischplatten Ebene, ein mageres Roß knusperte die Stoppeln ab; ein zerlumpter Bauer mit spitzer Lammfellmütze trieb eine Heerde Hammel vor sich her. Alles hatte ein asiatisches Gepräge. Die Steppe ist einförmig und dem Leben, welches sich auf ihr entfaltet, prägt sie die gleiche Einförmigkeit auf; wie diese Steppe bei Czernowitz, so ist jene bei Samarkand oder Taschkend. Auch dort erhebt sich da und dort eine verfallene, strohgedeckte Hütte aus dem Boden, ein mageres Roß knuspert an den dürren Stoppeln; ein zerlumpter Hirt mit spitzer Lammfellmütze treibt eine Heerde Hammel vor sich her, und fern im Hintergrunde hebt sich in weißen Linien, von farbenbunten und glitzernden Kuppeln und Spitzen überragt, die Stadt vom tiefblauen Himmel ab.
Nach einer Stunde etwa zeigten sich neue Gestalten; bärtige Männer mit Ringellocken, in langen, schwarzseidenen Kaftans, die weißbestrumpften Füße in flachen Schuhen steckend, das Haupt mit einer spitzen hohen Sammtmütze, die ein schmaler Wulst struppigen braunen Fells umbrämte, bedeckt, schritten sinnend den Feldrain entlang. Zwei Reihen Hütten, ebenso elend und verwahrlost wie jene, die vereinzelt aus der Steppe sich erhoben, traten dicht an die Straße – ich fuhr in Sadagóra ein.
Dieser überaus armselige und verwahrloste Theil des Ortes, den der aus Czernowitz Kommende zuerst betritt, ist das „Christenviertel“ von Sadagóra; es zieht sich fast eine halbe Stunde längs der Straße hin. Dann tauchen etwas stattlichere Häuschen auf; eine Gruppe netter Villen mit hohen Fenstern, durch deren Scheiben grüne Jalousien und weiße Vorhänge schimmern oder vor welche „Marquisen“ gespannt sind, ist malerisch zwischen Baumgruppen gestreut; ein castellartiger maurischer Bau, von achteckigen rothen Thürmen flankirt, erhebt sich mitten unter ihnen, und ein weiter Park dehnt sich im Hintergrunde aus. Dieser Anlage gegenüber liegt das Gewirr der Gäßchen und Gassen des „Judenviertels“ von Sadagóra. Der Wagen hielt vor der Pforte des weißen Staketenzaunes, der die Villenanlage ihrer ganzen Ausdehnung nach umgiebt. Ich trat in den Hof der Residenz des Rabbi von Sadagóra.
In seinem weiten Raume befanden sich in diesem Augenblicke etwa zweihundert Juden, die leise sprechend auf- und abgingen, in Gruppen zusammenstanden oder auf Treppen, Prellsteinen und Bänken saßen. Keiner würdigte mich eines Blickes. Kurz entschlossen, ging ich auf die erstbeste Thür zu und ergriff die Klinke. Doch rasch trat einer von den auf den Bänken sitzenden Juden an mich heran, und leicht die Mütze lüpfend flüsterte er mir mit unterwürfig-mißtrauischer Miene in dem polnisch-jüdischen Dialekte die Frage zu: „Wus will der Herr? Ech bitt’!“
Da ich wußte, wie schwierig es sei, zum Rabbi zu gelangen, hatte ich mir vorgenommen, sein Personal einzuschüchtern und mir den Einlaß zu ertrotzen. Ich schrie also den höflichen Frager barsch an: „Zum Rabbi! Ist hier der Eingang?“
Er fuhr erschreckt zusammen, blinzelte mich argwöhnisch an und antwortete mit größter Devotion in Miene und Haltung: „Dus is nischt du; dus is dort.“ Er führte mich um die Ecke des Hauses, in das einzutreten ich versucht hatte, zu einer kleinen Hinterpforte. Ich trat in eine enge, schmutztriefende, dumpfe, von abscheulichen Gerüchen erfüllte Stube. Ein rohgezimmerter Tisch stand an dem durch Schmutzkrusten geblendeten Fenster. Ein schmutziges grobes Leinwandstück bedeckte ihn nur halb; eine halbleere Branntweinflasche und eine Schüssel mit Fleischbrocken standen darauf. Zwei Juden langten mit bloßen Fingern hastig in dieselbe hinein; sie unterbrachen ihre appetitliche Mahlzeit, als sie meiner ansichtig wurden, und traten auf mich zu. Ein Dutzend anderer war rasch durch die Thür getreten, und in compactem Klumpen gegen mich vordrängend, nöthigten sie mich, Schritt um Schritt zum Fenster zurückzuweichen. Aller Augen ruhten forschend auf mir. Endlich frug Jener, der mich in die Stube geführt, wieder: „Wus will der Herr?“
„Zum Rabbi. Ich hab’s Euch ja schon gesagt.“
„Dus geiht nischt.“
„Warum geht es nicht?“
„Er schluft itzt.“
„So werde ich warten, bis er erwacht.“
„Dann bietet er.“
„Er soll später beten.“
„Dus geiht nischt.“
„Es muß gehen. Haltet mich nicht länger auf und führt mich zum Rabbi!“ schrie ich.
„Wer is der Herr?“
„Hier ist meine Karte; geben Sie sie dem Rabbi und sagen Sie ihm, daß ich ihn durchaus sehen muß!“
Drei Juden traten zum Fenster und bemühten sich, die Karte zu entziffern. Es gelang ihnen nach einigen Minuten, die ersten zwei Buchstaben zu enträthseln.
„Ihr könnt ja nicht lesen – gebt die Karte dem Rabbi!“
„Er kenn auch nischt datschisch leinen.“
„So gebt die Karte her (ich riß sie ihnen aus den Händen) und meldet mich mündlich an!“
Sie sahen einander fragend an. Ich schritt auf eine Seitenthür der Stube zu.
„Ich gehe unangemeldet hinein. Ihr seid mir viel zu langweilig.“
„Chaswe scholem (Gott behüte!)!“ rief der Chorus und drängte sich, die Arme abwehrend gegen mich vorstreckend, zwischen mich und die Thür. Ich machte Miene, mich durch den Haufen zu drängen.
„In a Schuh,“ rief mir der Vorderste beschwichtigend zu, „wird der Herr zum Rabbi hinein derfen.“
„In einer Stunde erst? Das ist mir viel zu lange. Ich will ihn sofort sprechen.“ Ich stieß die zwei mir zunächst Stehenden zurück und drängte vor.
„Ech bitt’, in a halber Schuh –“
„In einer halben Stunde? Ist mir auch zu lang.“
„In zwanzig Minüten, in a Vertelschuh! Nu, ech bitt’!“
Ich sah auf die Uhr.
„Erst Viertel Vier. Um halb Vier gehe ich zum Rabbi hinein.“
Die Stube wurde leer. Nur der Eine, der mich hinein geführt, und noch Einer blieben zurück.
„Dus is a Stüb vün die Meschorßim (das ist eine Gesindestube),“ erklärte der Erstere, als er bemerkte, daß ich das Schnupftuch vor die Nase hielt, weil mir der abscheuliche Gestank, der den Raum erfüllte, unerträglich geworden war. „Will der Herr nit im Garten warten?“ setzte er dann hinzu.
Ich nahm den Vorschlag gern an. Wir traten wieder in den Hof hinaus; dieser war jetzt von einer ungeheuren Menschenmenge erfüllt. Es müssen sich damals mehr als zweitausend Juden in demselben befunden haben. Ein großer Theil derselben umdrängte mich mit jener ungestümen und doch halb scheuen Neugier, mit der die Neger eines centralafrikanischen Dorfes einem weißen Reisenden entgegenzueilen pflegen. Einer meiner beiden Begleiter stellte sich vor mich hin und rief mit Stentorstimme: „Aweg! Zürück!“ Die Menge theilte sich und ließ eine schmale Gasse frei, durch die wir dem Garten zuschritten. Ich fand einen schönen, wohlgehaltenen, geräumigen Garten, reich an schattigen Alleen, blumenreichen Rabatten, Lauben, Gartenhäuschen, Teichen und Fontainen. Nachdem ich ihn eine Weile betrachtet, fragte mich einer meiner beiden Begleiter: „Will der Herr den Tempel sehen?“
Wir durchschritten wieder unter den gleichen Schwierigkeiten wie früher den Hof und erreichten den castellartigen maurischen Bau. Ein schön geschnitzter und zierlich beschlagener [456] Thürflügel drehte sich in den Angeln, und ich trat in den Betsaal des Rabbi.
Dieser Betsaal ist ein hohes, luftiges, mäßig geräumiges Gemach. In der Schulterhöhe sind die Wände mit Getäfel aus massivem Nußbaumholze umkleidet, das reich mit Kränzen Festons, Guirlanden und Blatt-Ornamenten, die schön in halb-erhabener Plastik aus dem Holze herausgeschnitten sind, erfüllt ist. Die Fenster- und Thürpfosten sind aus gleichem Materiale in ähnlicher Weise gearbeitet. Die Sopraparten und Karnieße sind wohl aus demselben Holze, aber in abweichendem, gothischem Stile ausgeführt, die freigelassenen Wandflächen mit einer hübschen gepreßten Goldtapete bekleidet; von der schön ornamentirten Decke schwebt ein Krystallleuchter nieder. Den Parquetboden deckt ein schwerer persischer Teppich. Weißlackirte Fauteuils, mit reicher Blumenornamentik geziert und mit rother Sammetpolsterung versehen, ein eleganter Bronzetisch mit Marmorplatte, ein Pult aus Olivenholz, auf dem ein schön geschriebenes „Sidur“ (Gebetbuch) in Einband von demselben Holze liegt, bildet das Meublement des, wie man sieht, mit aller modernen Eleganz ausgestatteten Gemaches. Der Eingangsthür gegenüber befindet sich, in die Wand gefügt, das Sanctuarium, die „Bundeslade“, die in blendendem Juwelenglanze schimmert.
Der Vorhang dieser Bundeslade hat unschätzbaren materiellen Werth. Die Grundfläche ist aus rothem Sammet gebildet; auf diese sind in Goldfäden die Gesetzestafeln, über dem siebenarmigen Leuchter von zwei heraldischen Löwen gehalten und von einer Königskrone überschwebt, gestickt. Weinblattgewinde, mit vollen großen Trauben untermischt, bildet die Umrahmung, während zierliche Linien-Ornamente die Zwischenräume ausfüllen. In den Reif der Krone ist ein mehr als daumnagelgroßer Sapphir eingesetzt und ein gleich großer Stein derselben Art deckt den oberen Fugenwinkel der beiden Gesetzestafeln. Der erstere ist viereckig, der letztere oval geschnitten. Ein noch größerer traubenförmiger Smaragd deckt den unteren Fugenwinkel der beiden Tafeln. Die Contourlinien derselben, sowie die Zahlbuchstaben der zehn Gebote sind mit kleinen Brillanten besetzt, der Reif der Krone, rechts und links des großen Sapphirs, mit etwas kleineren, aber noch immer recht gewichtigen Smaragden und Rubinen in wechselnder Folge. Die Zinkenreifen der Krone setzen sich aus dichtgereihten achteckigen Rubinen und großen orientalischen Perlen zusammen, und die Zinkenschließe bildet ein großer, tropfenförmiger, etwas wolkiger Smaragd. Die Köpfe, die Mähnen, die Tatzen und Schweif-Enden der Löwen sind gleichfalls reich mit Edelsteinen besetzt, die mit vielem Geschick zur Hebung und Markirung der Zeichnung verwendet wurden. Den Mittelpunkt der Mittelornamentik, die verschwenderisch mit Rubinen und Perlen ausgestattet ist, bildet ein taubeneigroßer, tropfenförmiger Sapphir, den ein leichter Wolkenstreif trübt und dem zwei noch größere schön geformte Perlen rechts und links zur Seite gesetzt sind. Der siebenarmige Leuchter hat gar keinen Juwelenschmuck. Das Weinblattgewinde ist dicht mit kleinen Smaragden besetzt, und die Trauben, die natürliche Größe haben, sind aus Perlen gebildet, die in lückenlos aneinander gestellten, gegen die Spitzen abgestuften Größenreihen gruppirt sind. Den Vorhang krönt eine schmale Draperie, gleichfalls aus rothem Sammet. Die Mitte derselben nimmt der juwelenbesetzte österreichische Reichsadler ein, mit einem Sapphir, der an Größe vermuthlich nur dem größten, den der Graf Xaver Branicki in Paris besitzt, nachsteht, auf der Brust und einem kleineren in der Krone. Die Weinblatt- und Traubenumrahmung des Vorhanges ist auf dieser Draperie wiederholt. Der Effect dieses Vorhanges läßt sich nicht schildern; das Auge wird von dem Glanze geblendet, und man schwindelt förmlich, wenn man es versucht, sich die Ziffer zu vergegenwärtigen, welche den Werth dieser Juwelen annähernd ausdrücken könnte. Nachdem ich diesen Vorhang bewundert hatte, forderten mich meine beiden Begleiter auf, den allgemeinen Betsal zu besichtigen, der durch eine Thür mit dem des Rabbi verbunden ist. Er bietet nichts sonderlich Bemerkenswerthes; eine Reihe kleiner Fenster mit mattgeschliffenen Scheiben über der Thür, welche die beiden Säle verbindet, erleichtern dem Rabbi die Gebete hören und ihnen folgen zu können, ohne von der Gemeinde gesehen zu werden.
In den Saal des Rabbi zurückgekehrt, fand ich einen Juden meiner wartend. Er machte einen tiefen Bückling und meldete, daß der Rabbi um meine Karte ersuchen lasse.
„Er kann ja nicht lesen,“ bemerkte ich ihm, als ich sie ihm einhändigte.
„Ober die Kinderleben, die könnens.“
In wenigen Minuten erschien dieser Bote wieder mit der Meldung, daß der Rabbi „sich freuen werde, den Herrn zu sehen.“
Das Gedränge im Hofe hatte mittlerweile noch zugenommen; es war ein unabsehbares Gewimmel. An Laternenpfählen, auf den Staketen, auf Prellsteinen, auf Dachrinnen hingen und standen bärtige Männer, sonst so ernstblickend, und kleine Jungen mit altklugen blassen Gesichtern; sie sahen mit fieberischer Neugier nach mir. Der Anprall der Menge nöthigte mich, mich in den Betsaal zurückzuflüchten. Der Zuruf meiner Führer blieb diesmal ohne Erfolg; die Menschenmasse schien undurchdringlich zu sein; ich sah mich in dem Tempel des Rabbi von Sadagóra von den frommen Pilgern, die zu ihm gewallfahrtet kamen, förmlich belagert. Doch es rückte bald Entsatz heran; eine Schaar „Meschorßim“ (Knechte) unter Führung einiger „Gaboim“ (Hausbeamte des Rabbi) brachen sich mit robusten Fäusten Bahn durch das Gedränge, nahmen mich in ihre Mitte, und kämpfend, stoßend, scheltend brachten sie mich langsam, Schritt um Schritt, durch diese Menschenfluth. An der Thür, durch die ich zuerst eintreten wollte, standen zwei Gaboim; sie rissen die Flügel auf und schlossen sie hinter mir. Ich befand mich in dem mit einfacher Eleganz möblirten Vorzimmer. Eine Minute später stand ich vor dem Rabbi von Sadagóra, dem fast abgöttisch verehrten Oberhaupte der jüdischen Chassidim-Secte, den frommer Glaube und religiöser Wahn Hunderttausender seiner Glaubensgenossen mit der Glorie überirdischer Heiligkeit und Wundermacht umgiebt, ihn zum Nachkommen David’s und zum Oberhaupte der Familie macht, welcher der Messias entstammen soll – ich stand vor dem „Zadik“ und „Bal-Schem“, dem „Gerechten“ und dem „Herrn Gottes“.
Nicht fern von der Stelle, aus der ich dem gegenwärtigen Oberhaupte des „neuen Essäerthums“ oder des „Chassidismus“ gegenüberstand, war diese Secte entstanden. Dort, wo allmählich und langsam die Steppe dem Gebirge entgegenschwillt, wo die Romantik der Gebirgswelt mit der Melancholie der Steppe zusammenklingt, ist der Geburtsort dieser neuen Secte. Zu Ausgang des siebenzehnten Jahrhunderts (um 1698) ward in irgend einem der armseligen Dörfchen dieses armen Landwinkels, an den Quellen des Pruth, zwischen den beiden Nestern Kuty und Kassow ein Judenknabe geboren, den das Geschick bestimmte, auf Jahrhunderte hinaus dem Gemüthsleben, der religiösen Anschauung, den socialen Verhältnissen von Millionen seiner Stammes- und Glaubensgenossen die verderblichste Richtung und Gestaltung zu geben. Früh verwaist, ohne Erziehung und ohne jenen Unterricht genossen zu haben, der die Judenknaben in Polen schon frühzeitig mit der Kenntniß der hebräischen Sprache und des Talmud vertraut macht, auf die karge Mildherzigkeit der Nebenmenschen angewiesen, trieb er sich ziellos in den Wäldern seiner Heimath herum, da und dort bettelnd, da und dort durch kleine Handlangerdienste sich ein Stückchen Brod erwerbend. In den armseligen Hütten der Bauern war er häufig Gast. Schwärmerischen Gemüthes und voll aufgeregter Phantasie, horchte er auf die Spukgeschichten und Zaubermärchen, die in den rauchigen Stuben erzählt wurden. Bei der „Rozumna Baba“, der „weisen Frau“, seines Dorfes stand er in besonders großer Gunst. Er ging mit ihr in den Wald und half ihr die Kräuter suchen, mit welchen sie, unter Hersagung von Beschwörungsformeln, ihre Wundercuren an Mensch und Vieh vollzog. Von ihr lernte er jene empirische Heilkunst, die in der Steppe zahllose hochverehrte Vertreter und Vertreterinnen hat. Einer derselben, ein gewisser Potobenko, der in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in einem Dorfe der Ukraine „curirte“, hatte eine ausgedehnte und einträgliche Praxis, wie sich ihrer nur wenige der berühmtesten Jünger Aesculaps zu erfreuen haben. Der Judenjunge Israel oder, wie man ihn hätschelnd nannte, „Isrulczie“, hatte in dem Umgange mit der Rozumna Baba die heilsame Kunst bald vollkommen inne und assistirte ihr in ihrem segensreichen Wirken. Das gewährte [457] ihm den nothdürftigsten Lebensunterhalt, und er gewann Zeit, sich seinen schwärmerischen Neigungen hinzugeben.
Einsam durchstrich er die Wälder. Er sprach für sich allerlei tolles Zeug hin, sang Synagogenlieder, recitirte Gebete, und das Echo antwortete ihm aus Höhlen und Klüften. In seiner überreizten Phantasie glaubte er himmlische Stimmen in diesen Echorufen zu vernehmen. Er wähnte sich in unmittelbarem Verkehr mit Gott und mit den Engeln, und in gesteigerter Ekstase hatte er förmliche Visionen, führte mystische Reden und glaubte sich im Besitze der Gabe, „in die Zukunft sehen zu können“. Die Ausgeburten seiner krankhaften Einbildung erfüllten seine Seele, und mit tiefster Innigkeit glaubte er an die Wahnvorstellungen, die sie ihm vorgaukelte. Er trug in sich das Bewußtsein, ein auserwählter, gottbegnadeter, seinen Mitmenschen überlegener Mensch zu sein.
Bei all’ seiner verzückten Schwärmerei und bei all’ seinem verworrenen Gemüthsleben war Israel doch des praktischen Lebensinstinctes seines Stammes zu voll, um an dem thatenlosen Hinträumen an den Quellen des Pruth für die Dauer Gefallen zu finden.
Er ging nach Podolien und ward dort Lohnfuhrman, später Pferdehändler und pachtete zuletzt eine Dorfschenke in Miedziboz (Podolien). In dem beschaulicheren Leben dieses stätigeren Berufes steigerte sich seine religiöse Exaltation. Als Wunderdoctor hatte er starken Zulauf und viel Glück, und einige zufällig eingetroffene Prophezeiungen verliehen ihm auch starkes Prophetenansehen. Christen so gut wie Juden, von weiter Ferne und alle Stände vertretend, wallfahrteten gläubig zu dem Wundermann in Miedziboz. Jene hatten die Jesuiten, diese die Kabbalisten für solche Gläubigkeit gehörig präparirt.
Nothwendiger Weise mußte seine Ekstase in ihm eigene religiöse Anschauungen bilden. Ohne die Gelehrsamkeit zu besitzen, welche im rabbinischen Judenthum die Grundlage und den eigentlichsten Inbegriff der Religiosität bildete, wußte er sich doch bei Gott in höherer Gnade und Gunst als die gelehrtesten Rabbiner und gefeiertesten Talmudisten. Die Folge hiervon war, daß er diese Grundlage der Religiosität negirte. Selbst derb und einfach, wenn er nicht gerade in Ekstase war, lustig und aufgeräumt, ein Freund von Späßen, konnte er in den Kasteiungen und Bußübungen, die das rabbinische Judenthum seinen Bekennern auferlegt, nicht den Weg zur göttlichen Gnade erblicken, die ja ihm, der sich nicht kasteiete, wie er überzeugt war, wie keinem Mitlebenden sonst, voll zu Theil geworden. „Man muß Gott in Fröhlichkeit dienen,“ sagte er, und die Gläubigen, die sich in seiner Schenke immer zahlreicher zusammenfanden, verrichteten die Andacht unter possirlichen Sprüngen, fröhlichem Singen, übermüthigem Händeklatschen und flochten nicht selten derbe Späße und plumpe Neckereien ein. Dieser Andacht maß aber Israel große Heilskraft bei. Nach seiner Meinung wohnt dem Gebet eine mystische Gewalt inne; er hatte davon eine Vorstellung wie von einer Zauberformel, wie sie in den Märchen, die er als Knabe in den Bauernhütten gehört, vorgekommen. Wie ein ordentlicher Hexenmeister oder Zauberer den Teufel durch Spruch und Bann zu seinem Dienste zwingen kann, so bildete er sich ein, durch sein Gebet Gott zur Erfüllung seiner Wünsche zwingen zu können. „Das Gebet,“ lehrte er, „ist eine innige, eine eheliche Verbindung des Menschen mit Gott.“ Der Kraft seines Gebetes trauete er alles zu. Indem er jenen, die bei ihm Hülfe suchten, die Hand auflegte und eine Gebetformel hersagte, glaubte er Gott zur Leistung dieser Hülfe zwingen zu können. Von dieser seiner Wunderkraft erhielt er den Beinamen „Bal-Schem“, der „Herr Gottes“.
So ungeheuerlich und gotteslästerlich dieser Wahnwitz auch war, er fand rasch zahlreiche Gläubige. Der Sabateismus hatte die polnischen Juden in religiöse Erregtheit versetzt und sie mit der Erwartung naher messianischer Erlösung erfüllt. In solcher Zeit ist das Gemüth für die verrücktesten religiösen Ideen voll gläubiger Empfänglichkeit. Als Israel von Miedziboz (1750) starb, hinterließ er bereits eine Secte von mehr als zehntausend Mitgliedern. Er starb arm; von den reichen Geschenken, die ihm gespendet wurden, hatte er nichts für sich behalten; er hatte alles an die Dürftigen vertheilt. Seine Söhne und Schwiegersöhne erbten nicht sein Ansehen; sie verschollen. Ein Mann, der den „Bal-Schem“ (in der hebräischen Buchstabenkürzung dieses seines Beinamens wurde er auch „Bescht“ genannt) erst kurz vor dessen Ableben kennen gelernt hatte, ward sein Nachfolger.
Dieses neue Oberhaupt der jungen Secte hieß Dob Beer [458] oder mit dem gebräuchlicheren Kosenamen Dob Berisch. Er war, als Israel starb, um zwei Jahre jünger als dieser, überlebte ihn aber um zweiundzwanzig Jahre. Geschickt wußte er den Ruhm seines Vorgängers, das Ansehen, welches sein Name genoß, die verworrenen Glaubenssätze, die er aufgestellt hatte, zu seinen Gunsten auszunützen. Er brachte System in den Wahnsinn und erhob den ekstatischen Wahnwitz des ungebildeten Dorfschenkers zu einem raffinirt und teuflisch klug ausgesonnenen Organismus, der allmählich die ganze Judenschaft von den Karpathen bis zum Ural umklammerte und ihm unterwarf.
Er verließ vor allem Miedziboz und die Schenke und übersiedelte nach Mizricz in Volhynien. Hier kaufte er ein Haus, in welchem er, nur dem engsten Kreis seiner Vertrauten zugänglich, lebte. Nur mit Mühe und nach mehrtägigem Warten konnten die gläubigen Wallfahrer, die nach dem neuen Mekka und zu dem neuen Propheten ebenso pilgerten, wie nach und zu dem alten, „vor sein Antlitz treten“. Er trat ihnen hoheitsvoll und milde, imponirend und doch leutselig entgegen. Seine hohe Gestalt umhüllte ein weißseidener Kaftan; ein weißes Käppchen deckte seinen Scheitel; die Füße steckten in weißen Pantoffeln. Vom Scheitel bis zur Sohle durchaus in die lichte Farbe der Unschuld und Reinheit gekleidet, das dunkle Auge freundlich und doch durchdringend auf den Besucher gerichtet, nahm er von vornherein auch die skeptischeren seiner Besucher für sich ein. Er ließ sie aber nicht zu Worte kommen; halb scherzend, halb mit prophetischem Ernst sprach er von ihren Angelegenheiten. Die verborgensten Geheimnisse schienen vor ihm offen zu liegen; in die tiefsten Falten des Herzens, in das innerste Innere des Gemüthes schien sein Prophetenauge zu dringen. Und für alle die Leiden und Beschwernisse, die man ihm vorbrachte und vorzubringen vermochte, hatte er helfenden Rath oder zum mindesten ein tröstendes und stärkendes Wort und scherzte den herbsten Kummer mit heiterer Rede weg.
Was die Beschwörung Gottes durch Handauflegen und Gebet betrifft, so übte er sie ebenso wie sein Vorgänger, aber nicht so häufig. Er erklärt diese seine Macht für einen besonderen Gnadenschatz, den man nicht verschwenden dürfe. Um ihn zu bewegen, daß er durch die Kraft seines Gebetes drohende Gefahren abwende oder schwere Krankheiten heile, das heißt Gott zwinge, jene abzuwenden und diese zu heilen, mußte man ein „Pidion“, das ist ein reiches Geschenk, ihm spenden. Dieses Pidion ward bald zu einem wohldurchdachten Steuersysteme ausgebildet, welches den Säckel des Propheten constant füllte. Er erhob das Spenden zu Gunsten seiner Casse zu einem Fundamentalartikel des Religionssystems, in welches er die tollen Phantasmen seines Vorgängers brachte. Der Mittelpunkt dieses Religionssystems war er selber; er nahm den Titel „Zadik“, das ist der Fromme und Gerechte, an, und der Glaube an den Zadik bildete den ersten und vornehmsten Grundsatz des neuen Glaubens. Wer sich zu ihm bekannte, mußte von der Ueberzeugung durchdrungen sein, daß der Zadik der vollkommenste, ein sündenloser Mensch, daß er der Stellvertreter und das vollkommene Abbild Gottes auf Erden sei und daß jede seiner Handlungen, auch die geringfügigste, zugleich eine That Gottes sei. Wenn er sich den Bart kämmt, die Schuhriemen bindet, wenn er seinen Tschibuk raucht, so ist das Alles ein Ausfluß des göttlichen Wesens. Wer fromm und gottgefällig leben will, muß in Allem dem Zadik nachzuleben suchen; wer genau so die Schuhe sich schnürt, wer genau so den Tschibuk raucht wie er, ist Gott wohlgefälliger und des ewigen Heils gewisser als der gelehrteste Talmudist und der frömmste Büßer. Diese überirdische Stellung des Zadik in der irdischen Schöpfung legt den Bekennern seines Glaubens drei Pflichten auf: die Pflicht, zu ihm zu wallfahrten, ihm zu beichten und ihm Geschenke zu spenden. Wer diese drei Pflichten erfüllt, ist ein „Chassid“, ein Frommer.
Indem Dob Beer so die urwüchsige Tollheit seines Vorgängers in ein raffinirtes System brachte, vervollständigte er auch den äußeren ritualen Apparat, den Jener geschaffen. Den Grundsatz, daß man Gott „in Fröhlichkeit dienen“ solle, behielt er bei. Das Springen, Singen, Klatschen beim Gebete wurde immer grotesker und wilder. Scherz und Lachen bildeten regelmäßig die Introduction des Gottesdienstes, und zuweilen wurde eine solenne Prügelei in der Synagoge veranstaltet, um die ermatteten Lebensgeister zu beleben. Der Zadik empfahl auch den Genuß des Tabakrauchens vor dem Gebete – Samstag ausgenommen – als ein zur würdigen Stimmung anregendes Mittel.
Israel von Miedziboz war ein betrogener, Berisch von Mizricz war ein raffinirter Betrüger. Um seinem Prophetengeschäfte sichere Grundlagen zu verschaffen, organisirte er eine förmliche Kundschafterpolizei, die geradezu vollkommen zu nennen war. Die Gläubigen, die zu ihm kamen, wurden, wie schon oben erwähnt, erst nach Verlauf mehrerer Tage vor ihn gelassen. Diese Frist benutzten seine Vertrauten, um auf jede erdenkliche Weise, mit einem Aufgebote außerordentlicher Schlauheit und Verschlagenheit die Art ihres Anliegens, ihre Verhältnisse und Wünsche zu erkundschaften.
[471] Der Ruf des „Weisen von Mizricz“ ward rasch ein außerordentlicher. Von weit und breit strömten Personen aller Religionen, Nationalitäten und Stände zu ihm herbei, um Hülfe und Rath zu erflehen. Seine Reichthümer mehrten sich und seine Secte wuchs. Die Propaganda für diese organisirte er gleichfalls in großem Maßstabe. Wanderprediger und Glaubensboten durchzogen in seinem Auftrage die polnische Republik und die angrenzenden Gebiete und gründeten immer mehr chassidische Religionsgemeinden. Einzelne dieser Apostel gelangten selbst zu hohem Ansehen und zu dem Rufe der Heiligkeit. Der neue Glaube fand unter den polnischen Juden rasch ungeheure Verbreitung. Bei all’ seiner Tollheit befriedigte er doch das Gemüth mehr, als die kalte und dürre Talmudscholastik des rabbinischen Judenthums. Dann befreite er seine Bekenner von der Pflicht langen, aufreibenden und fruchtlosen Studiums; er enthob sie der lästigen Kasteiungen und Bußübungen; er war mit einem Worte „eine fidele Religion“, welche die große Masse mächtig anzog.
Dob Beer, der Gründer der Dynastie, die heute zu Sadagóra prunkreich Hof hält, der Begründer des Chassidismus, starb 1772. Sein Sohn und Nachfolger Abraham war ein unbedeutender Mensch, ebenso dessen Nachfolger Salomon. Doch der von Dob Beer geschaffene Apparat arbeitete so vortrefflich, daß die Unbedeutendheit seiner unmittelbaren Nachfolger keine Störung in dem Organismus hervorzubringen vermochte. Der Nimbus ihrer Gottähnlichkeit, der davidischen Abstammung, der messianischen Bestimmung erhob sie hoch über alle Zweifelsucht. Der dritte Zadik nach Dob Beer war Israel, in welchem das ganze Genie, die volle Energie, die ganze geistige Kraft und Ueberlegenheit seines Ahnen wieder auflebte. Er gehört bereits unserem Jahrhunderte an und ist heute noch im ganzen Osten unter seinem Kosenamen „Isruliniu“ populär. Er war der erste „Rabbi von Sadagóra“; sein Sohn Abraham Jacob ist gegenwärtig das Haupt der Chassidim.
In der Nähe von Berditschew liegt ein kleines, schmutziges elendes Judennest, welches Rizin heißt. Vor einigen Jahren, als noch keine Eisenbahn Berditschew mit Kiew verband, hielt die Posttroika ein paar Stunden in diesem Neste und nöthigte die Reisenden, es näher kennen zu lernen. In solch einem elenden Steppenorte ist nicht viel zu sehen; wenn man eines dieser Nester kennen gelernt hat, kennt man sie alle. Aber Rizin hat seine besondere Sehenswürdigkeit, eine Ruine, die jeder Durchreisende in Augenschein nimmt. Es sind das ein paar Backsteinmauerfragmente, die einen Hügel krönen. Reste von Wandmalereien und Sculpturen, einige Säulentrümmer von vollendeter Stilreinheit und Schönheit geben einen Begriff von der einstigen Würde und Pracht des Gebäudes, von dem nichts als diese wenigen Spuren erhalten blieben. Das sind die Ruinen des Palastes Isruliniu’s – er hatte seinen Sitz von Mizricz nach Rizin verlegt –, von dessen Pracht die wunderbarsten Schilderungen coursirten. Architekten, Bildhauer, Maler, Decorateure waren aus Paris und Italien in das entlegene volhynische Nest gekommen, um diesen Bau aufzuführen und auszuschmücken. Mit der Eleganz und der Pracht seiner Ausstattung stand der verschwenderische Aufwand kostspieligen Materials im Einklange. Die Thüren, die Thürverkleidungen und Fenstereinfassungen des großen Speisesaales waren aus Malachit, und der Estrich desselben soll nach einem vermuthlich übertreibenden Gerüchte mit blanken Silberrubeln gepflastert gewesen sein. Der Bernstein ist in Rußland sehr rar und theuer. Die Klinken aller Thüren dieses Palastes waren aus Bernstein. Der verschwenderische Reichthum in Möbeln und Geräthen soll jeder Beschreibung gespottet haben. Weitläufige Nebengebäude umgaben diesen Palast; sie enthielten die Stallungen und Remisen des Zadik. Sein Marstall genoß in der russischen Sportswelt hohen Ruf und die Pracht seiner Carossen erregte den Neid mancher Grandseigneurs. Er fuhr immer sechsspännig; wenn er durch’s Land reiste, waren seine eigenen Relaispferde vorangeschickt. Eine lange Reihe zweispänniger Wagen, in welchen sich die „Gaboim“ befanden, fuhr dem seinigen voran; eine andere Reihe Wagen mit der Dienerschaft, dem Schlächter, dem Küchenpersonale folgte ihm. Eine Cavalcade goldstrotzender tscherkessischer Reiter umgab seine Carosse. Nachts fuhr eine Reihe zweiräderiger Karren mit brennenden Pechtonnen voraus, um den Weg zu beleuchten. Es war ein königlicher Hofhalt, den dieser Zadik führte.
Er gründete sein Ansehen nicht mehr allein auf den Heiligennimbus, der seine Familie umgab, nicht auf die davidische Abstammung und die messianische Prädestination; er imponirte durch seinen Reichthum, den Glanz seines Hofhaltes. Er hatte richtig gerechnet. Die polnischen Juden, an kümmerliche, elende Daseinverhältnisse gewöhnt, wurden durch die königliche Pracht, die ihren Zadik umgab, förmlich geblendet. Nicht der Wunderthäter, nicht der Balschem war es mehr, den sie verehrten, sondern der „Sohn David’s“, der legitime König ihres Volkes, dem sie Unterthanentreue widmeten, zu dem sie mit scheuer Ehrfurcht emporblickten, dem sie legal opferfreudig Tribut zollten.
Isruliniu war noch viel schwerer zugänglich, als seine Vorfahren. Es bedurfte reicher Geschenke, um vor ihn gelassen zu werden. Die Wenigen, die das Glück hatten, ihn einen Augenblick lang persönlich zu sprechen – ein immerhin sehr theuer erkauftes Glück – wurden selbst als geheiligte Personen verehrt und von ihren Glaubensgenossen mit Auszeichnung behandelt und mit Ehrenbezeigungen überhäuft. Die wohlhabenden Chassidim boten Alles auf, um sich diese Ehre erkaufen zu können, und die immensen Reichthümer des Zadik wuchsen immer mehr. Eine Reliquienverehrung, dem monotheistischen Judenthum bishin vollständig fremd, entsproß dieser Vergötterung des schlauen Zadik. Seine Dienerschaft machte mit Gegenständen, die er berührt und dadurch geheiligt hatte, glänzende Geschäfte. Sein Kutscher gestattete, wenn der Zadik von einer Ausfahrt heimkehrte, gegen eine beträchtliche Spende einen Augenblick lang auf den Wagensitz, den er kurz zuvor eingenommen, sich setzen zu dürfen; es galt bei den fanatisirten Chassidim als ein unvergleichliches Glück, sich von dem Kutscher Seiner Heiligkeit diese Erlaubniß erkaufen zu können.
Ein armer Chassid, vom Unglück schwer heimgesucht, war aus einem entlegenen Gouvernement nach Rizin gekommen, um bei dem Zadik Hülfe zu suchen. Die weite Reise hatte seine wenigen Baarmittel erschöpft; er hatte nur noch einen halben Rubel, als er in Rizin anlangte. Das war keine Summe, mit der man sich Eintritt beim Zadik verschaffen konnte. Doch der arme [472] Teufel bestand durchaus darauf, nur ihm persönlich sein Anliegen vorzutragen, und wies die Intervention der Gaboim zurück. Man verweigerte ihm natürlich den Eintritt; er setzte sich auf die Freitreppe des Palastes nieder und wartete. Man jagte ihn fort – er kehrte wieder; zwei Tage und zwei Nächte saß er auf der Treppe. Er nahm weder Speise noch Trank zu sich und erklärte, hier den Hungertod erleiden zu wollen, wenn man ihn nicht vor den Zadik lasse. Man trug diesem die Sache endlich vor, und er befahl, ihm den Mann vorzuführen. Als dieser in das Cabinet des heiligen Mannes getreten war, warf er sich zu Boden und streckte ihm den halben Rubel entgegen.
„Rabbi! Zadik!“ rief er, „ich bin ein vom Unglück hart verfolgter, gänzlich zu Grunde gerichteter Mann. Dieser halbe Rubel ist der letzte Rest meines Vermögens. Nehmt ihn wohlgefällig an! Ich kann Euch nicht mehr geben, und verwendet Euch bei Gott, damit ich wieder Glück in meinen Geschäften habe!“
Der Zadik berührte lächelnd das Münzstück, murmelte ein Gebet und sagte dann zu dem armen Kerl:
„Behalte Deinen halben Rubel! Gott wird machen, daß er Dir Glück bringt.“
Freudig trat der so gesegnete Bittsteller aus dem Palaste heraus; draußen harrte bereits eine tausendköpfige Menge, um dem Glücklichen, dem es vergönnt gewesen den Gottesmann zu sprechen, ihre Huldigungen darzubringen. Er erzählte hastig, welchen Bescheid er bekommen. Im Nu begann man auf das zum Talisman gewordene Münzstück zu bieten; seinem Besitzer war es jedoch nicht feil. Endlich bewog ihn doch Einer, es ihm zu überlassen: er bot ihm achttausend Rubel dafür. Das Wort des Zadik hatte sich so erfüllt: der von ihm berührte Rubel hat seinem Besitzer Glück gebracht.
Der Zadik bereiste zuweilen die benachbarten Provinzen. In einem ukrainischen Städtchen besuchte er mit seinem Gefolge das Bad. Bäder und Waschungen spielen in dem Ritual der Chassidim eine große Rolle. Die Bäder in den kleinen russischen Städten sind noch jetzt so eingerichtet, wie es die „Schwitzbäder“ im Mittelalter bei uns waren. In der Stube brennt in einem [473] großen Backofen ein mächtiges Feuer, in welchem Steine glühend gemacht werden. Mit riesigen Ofengabeln werden diese dann herausgeholt, auf den Boden gelegt und mit kaltem Wasser übergossen; so wird der Dampf in diesen primitiven Dampfbädern erzeugt. Die Badenden sitzen auf Holzbänken an den Wänden entlang. Während der Zadik mit seinem Gefolge in diesem Bade saß und draußen eine tausendköpfige Menge das Haus umdrängte, trat aus einer dunklen Ecke ein Mann vor den Zadik und richtete an ihn eine Anrede. Er wiederholte in ihr alle die Beschuldigungen und Vorwürfe, die in den gegen den Chassidismus gerichteten Schriften wider den Zadik und seine Secte erhoben wurden. Er sprach mit vielem Eifer und wurde immer heftiger und rücksichtsloser in seinen Ausfällen. Der Zadik saß anfangs sprachlos vor Erstaunen über die Kühnheit des unbekannten Eindringlings da, dann gerieth er in Zorn, und als der Sprecher immer leidenschaftlicher und heftiger wurde, sprang er auf und zornbebend herrschte er seinen Begleitern zu:
„Werft ihn in’s Feuer, den Gottesleugner!“
Im Nu wurde der Aermste gepackt und in die hochaufprasselnde Gluth geschleudert; mit Ofengabeln wurde er in den Flammen festgehalten, und der Zadik blieb im Bade, bis sein Opfer gänzlich verkohlt war. Er reiste noch an demselben Tage nach Rizin zurück.
Die ruchlose That ward bald bekannt. Die Wittwe des Ermordeten rief die rächende Justiz an. Aber der metallische Klang der Imperialen und Rubel des Zadik übertönte ihren Jammer. Sie machte, als sie die Fruchtlosigkeit ihrer Schritte einsah, ihre geringe Habe zu Geld und reiste nach Petersburg. Dort erwirkte sie eine Audienz beim Zaar, und dieser entsandte eine specielle Untersuchungscommission an Ort und Stelle. Der Zadik und seine Genossen wurden verhaftet, nach den Casematten von Kiew gebracht und nach mehrmonatlicher Untersuchung unter die Anklage des Meuchelmordes gestellt. Als die Wache sich in seinen Kerker begab, um ihn zur entscheidenden Gerichtssitzung abzuholen, fand sie den Kerker leer – der Gottesmann war verschwunden.
[474] Die Chassidim behaupteten, Engel hätten ihn befreit und entführt; die anderen Leute waren der Ansicht, die Engel wären aus Gold und Silber und hübsch geprägt gewesen. Einerlei, er war der russischen Justiz entrückt und tauchte ein paar Monate nach seinem Verschwinden in dem Ursprungslande seiner Secte, in der Bukowina, auf. Er schlug in Sadagóra seinen Sitz auf, und die vielen tausend Pilger, die früher nach Rizin gingen, wallfahrteten jetzt nach Sadagóra. Als er 1850 starb, übernahm der älteste seiner Söhne, Abraham Jakob, das sehr heilige und höchst rentable Amt eines wundermächtigen Gottesmannes.
Ihm stand ich nun in dem kleinen, geschmackvoll ausgestatteten Empfangssalon gegenüber.
Der Rabbi saß an einem Tischchen; bei meinem Eintreten erhob er sich und ging mir einige Schritte entgegen.
Er ist ein schmächtiges Männchen. Sein etwas schmales, marmorblasses Gesicht ist edel geschnitten. Ein langer, silberheller, doppelspitzer Bart und weiße, kurze, geringelte Schläfenlocken umrahmen es. Die dunklen Augen blicken halbverschleiert und ausdruckslos kühl unter den schön gezeichneten weißen Brauen. Kein Lächeln umspielt die schmalen, blutlosen Lippen, und die hohe, von blauen Aederchen durchschimmerte Stirn ist furchenlos. Ein mattseidener Kaftan umkleidete enganliegend den Leib; das Haupt deckte eine hohe, spitze, schwarzsammtene „Jarmerke“ (Hauskäppchen). Die Nettigkeit und Sauberkeit seines Aeußeren stach wohlthuend gegen den Schmutz und die unordentliche Nachlässigkeit der anderen polnischen Juden ab. Er ging mir hochaufgerichtet, in fast militärischer Haltung, festen Schrittes entgegen, reichte mir zu flüchtiger Berührung seine schmale, weiße Hand und deutete, indem er seinen Sitz wieder einnahm, auf einen Stuhl, der diesem gegenüber stand.
„Sie und zu den Festen nach Czernowitz gekommen?“ sprach er mich eintönigen, schleppenden Tones mit leiser Stimme an, in richtiger deutscher Aussprache, die nur wenig durch jüdisch-polnische Dialect- und Accentanklänge verundeutlicht wurde. „Ich habe gehört,“ fuhr er dann fort, „daß dort eine Universität eröffnet wird; wird auch eine Akademie für Medicin dabei sein?“
„Anfangs nicht.“
„Das ist schade; unsere Leute werden daher trotz der Universität zum Professor nach Lemberg oder Wien fahren müssen, wenn sie krank sind.“
Er sann eine Weile nach, dann fuhr er fort: „Ist es wahr, daß bei dieser Feier der Chor in der griechischen Kirche ganz aus Juden und Jüdinnen bestehen wird?“
„Nicht ganz, aber zu zwei Dritttheilen.“
„Das sollt’ nicht sein.“
Er sah starr vor sich hin. Dann winkte er. Zwei Gaboim standen kerzengerade an der Thür, wohlerzogene Diener, achtsam auf die Winke ihres Herrn, aber taub und blind für Alles, was in ihrer Gegenwart vorgeht. Auf den Wink des Rabbi entfernten sie sich und erschienen bald wieder mit einer großen silbernen Platte, auf der ein Gläschen goldig funkelnden süßen Weines und ein Teller mit Schnitten stark gezuckerten flaumigen Kuchens standen. Der Rabbi lud mich mit einer verbindlichen Handbewegung ein, vom Gasttrunk zu nippen.
„Rabbi,“ sprach ich ihn dann an, „macht es mir klar, weshalb so viele Tausende Euch so inbrünstige Verehrung zollen!“
Er zuckte leicht die Achseln und schwieg. Ich fuhr fort:
„Die Kraft Ihres Gebetes muß eine außerordentliche sein. Man erzählt zahllose Wunder, die Sie durch dasselbe wirkten.“
„Wem Gott helfen will, dem hilft er,“ erwiderte er lakonisch.
„Man sagt, Sie stammen von David ab und der Messias solle aus Ihrer Familie hervorgehen.“
„Die Leute sagen es; ich weiß es nicht.“
Ich hatte mich bemüht, ihm verfängliche Fragen zu stellen; er entschlüpfte ihnen aalglatt mit wohldurchdachten Phrasen, die ihn an der ganzen religiösen Verirrung, deren Mittelpunkt und Träger er ist, als vollkommen unschuldig darstellen sollten. Das beweist aber klar, daß er durchaus kein Fanatiker oder Schwärmer ist, der selbst an seine Heiligkeit oder Wundermacht glaubt, sondern ein vorsichtiger Betrüger, der die Dummheit und den Wahn der Menge auszubeuten weiß. Ich sann einen Augenblick nach, während ein überlegen-spöttisches Lächeln den Mund des Rabbi umspielte, und entschloß mich, mit rohem Finger eine verwundbare Stelle dieses unerregbaren Gemüthes zu berühren. Ein jüngerer Bruder dieses Gottesmannes residirte gleichfalls als Zadik in Leviada in der Moldau. Irgend ein Ungefähr spielte ihm die Satiren des Dr. Isaak Erter gegen den Chassidismus in die Hände. Die Lectüre dieser Schriften machte ihm die Schmach der Rolle klar, die er spielte. Von edler Regung erfaßt, verkündete er muthvoll seinen Abfall vom Chassidismus und enthüllte in flammenden Worten die Charlatanerie, deren Opfer die Verehrer seiner Familie geworden. Wäre die Masse dieser Verehrer nicht eine stupide Horde, sein Auftreten hätte die heilsamsten Folgen haben müssen und jene abscheuliche Mißreligion, deren Begründer Dob Beer gewesen, hätte ein Jahrhundert später durch seinen Urenkel, der den gleichen Namen führte – der Rabbi von Leviada hieß auch Dob Beer – eine heilsame Reform und Reinigung erfahren. Aber sein muthiges Auftreten machte ihn blos zum Gegenstand frommer Trauer für die einen, die den Gottesmann in die Gewalt des Bösen gerathen wähnten, der erbitterten Verfolgung für die anderen, deren fanatischem Zelotismus sein Abfall in die Quere kam. Um dieser sich für ihn immer bedrohlicher gestaltenden Verfolgung zu entrinnen, faßte er den Entschluß, Christ zu werden. Die Ausführung dieses Entschlusses hätte auf das Ansehen seiner Familie die verhängnißvollste Rückwirkung ausüben müssen. Der Rabbi von Sadagóra vereitelte sie; er ließ durch seine „Meschorßim“ seinen Bruder bei Nacht und Nebel entführen und in einem seiner Häuser in Sadagóra ihn in strenger Haft halten. Die Sache gelangte zur Kenntniß der Gerichte in Czernowitz. Mit bewaffneter Macht wurde der Gefangene befreit und in Czernowitz unter Polizeibewachung gestellt. Gegen seinen Bruder wurde die Untersuchung wegen „Menschenraub“ eingeleitet. Sie wurden dann aus unbekannten Gründen niedergeschlagen. Dob Beer schwor seinen Abfall ab, that Buße und lebt jetzt in stiller Zurückgezogenheit in Sadagóa. Welche geheime Umtriebe und dunkle Mittel diesen kläglichen Ausgang der Affaire herbeiführten, wird wohl niemals ganz klar werden. Das alles trug sich im Jahre 1868 zu; auf diese Vorgänge spielte ich an, indem ich an den Rabbi die Bemerkung richtete:
„Man hat mir erzählt, daß einer Ihrer Brüder sich hat taufen lassen wollen.“
„Gott behüte,“ antwortete er mit dem bisherigen Phlegma, „die Leute erzählen so viel über uns, und so wenig ist daran wahr. Mein Bruder hat nur seinem Stande entsagt, er ist aber Jude geblieben.“
Er lenkte dann das Gespräch auf den Vorhang im Betsaal und ließ ein in massives Silber gebundenes Bibelmanuscript auf Pergament, mit hübschen Miniaturen geschmückt, bringen, um es von mir bewundern zu lassen. Sein Neffe und Schwiegersohn, der Nachfolger im Rabbinat von Sadagóra, war in Begleitung von zwei Gaboim eingetreten. Er ist ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren und bereits gleichfalls ein Gegenstand frommer Verehrung. In Physiognomie, Gestalt, Haltung und Kleidung ist er dem Rabbi sehr ähnlich. Auch sein Blick ist halbverschleiert und kühl, auch seine Haut ist von durchsichtiger Weiße, nur färbt seine Wangen, die ein kleiner kastanienbrauner, spitzer Bart umrahmt, zartes, rosiges Incarnat. Man erzählt sich in Czernowitz Wunderdinge von der Pracht, mit der seine Vermählung gefeiert wurde. Von weit und breit war man nach Sadagóra geströmt, um den Hochzeitszug zu sehen; für fabelhaft hohe Preise wurden Fenster in den Gassen, die er passiren sollte, gemiethet. Die Braut fuhr in einem mit himmelblauem Atlas ausgeschlagenen reichvergoldeten Prunkwagen, der Bräutigam in einem gleichen, der mit rothem Sammet ausgeschlagen war. Den Wagen der Braut zogen vier Schimmel, den des Bräutigams vier Rappen. Fünfzig „Meschorßim“ des Rabbi in goldstrotzendem Tscherkessencostüm umgaben hoch zu Roß die beiden Wagen, welchen ein langer Zug Equipagen folgte. Pferde und Wagen stammten aus dem Marstall und den Remisen des Rabbi, die fürstlich reich bestellt sein sollen.
Das Gespräch drehte sich um das Alter des Manuscriptes, welches mir gezeigt worden war. Es wurde der Hausgelehrte des Rabbi, ein Herr Leibisch, geholt, der mit einiger Mühe herausfand, daß es im Jahre 5012 „nach Erschaffung der Welt“ geschrieben worden sei.
[475] „Wir zählen jetzt,“ erklärte mir der Rabbi, „das Jahr 5636. Das Buch ist also sechshundertvierundzwanzig Jahre alt.“
Ich verabschiedete mich vom Rabbi und folgte einer Einladung seines Schwiegersohnes, ihn in seinem Hause zu besuchen. Wir gingen wieder über den Hof. Das Gewühl war womöglich noch größer als vordem, doch wich jetzt die Menge mit ehrfurchtsvoller Scheu vor dem jungen Rabbi, der sie keines Blickes würdigte, zur Seite. Wir traten in seine Villa, durchschritten einige hübsch eingerichtete Zimmer und gelangten in das Empfangszimmer. An der Hauptwand desselben stand ein großer Glaskasten mit Silbergegenständen, meist russischer Arbeit.
„Mein Silber,“ bemerkte der junge Rabbi, „stelle ich zum Theil aus, weil ich wenig habe. Der Schwiegervater stellt das seine nicht aus, denn es ist viel, und es ist jetzt nicht mehr Mode, es sehen zu lassen. Beim Großvater Isruliniu war es anders.“
„Man sagt, er hätte sogar einen Tisch aus Silber besessen.“
„Das ist richtig; der Tisch ist jetzt mein Eigenthum.“
Er winkte. Vier Meschorßim traten ein und zogen mit vieler Anstrengung eine große eiserne Kiste, die in einer Ecke stand, hervor. Die Gaboim schlossen die zahlreichen Schlösser derselben auf; der Deckel fiel zurück und eine mächtige Silberplatte, in Hirschleder weich gebettet, blinkte hervor. Mit vereinten Kräften hoben die sechs Männer die Platte heraus und lehnten sie an die Kiste.
Es war eine viereckige Platte mit abgerundeten Ecken, etwa einen Meter lang und einen halben Meter breit. Die Dicke der durchwegs massiv anklingenden Platte mochte beiläufig acht Millimeter betragen; die in den Rand eingeschlagene russische Punze bewies, daß sie aus vierzehnlöthigem Silber bestand. In die obere Fläche war eine Landschaft gravirt: in der Mitte ein Berg mit Stufen, von einigen Palmen und anderen Bäumen umgeben, rechts ein Widder und eine Kuh.
„Was stellt das vor?“ frug ich.
„Die Akeide (die Opferung Isaak’s).“
„Da ist ja aber weder Abraham noch Isaak zu sehen.“
„Es ist verboten,“ erwiderte der junge Rabbi, „einen Menschen abzubilden; darum ist hier nur die Opferstätte und der Widder zu sehen, und überdies eine Kuh, damit das Ganze nicht so leblos aussieht. Die Menschen muß man sich dazu denken.“
Nachdem mir so gründlich die Principien der orthodox-jüdischen Kunst erklärt worden, wurden die übrigen Theile des Tisches aus der Kiste gehoben. Vier Füße – Rehschenkel mit reicher Blätterschmückung am Oberansatz – ein ovaler blumenumwundener Fußkranz, auf vier Löwentatzen ruhend, mit einer von Guirlanden gehaltenen Vase in der Mitte; alles von vierzehnlöthigem Silber in getriebener Arbeit.
„Das ist ein sehr kostbares Stück,“ bemerkte der junge Rabbi, „aber in meinen Augen hat es nur geringen Werth. Ich kann mir so einen Tisch für Geld wieder machen lassen. Werth hat in meinen Augen nur das, was um alles in der Welt nicht wieder zu bekommen ist. Solchen Werth hat aber von allen unseren Besitzthümern nur ein Stück, und das kann ich Ihnen jetzt nicht zeigen, weil wir es am Samstag nicht berühren dürfen. Es ist ein ‚Burstin‘ (Bernstein), so lang (er breitete beide Arme aus); mein Schwiegervater raucht daraus.“
Er holte aus einem Glaskästchen dann einen sehr schön mit hebräischen Quadratbuchstaben beschriebenen Quartband heraus; es war dies der von ihm selbst geschriebene Katalog seiner reichhaltigen, die gesammte chassidische Literatur umfassenden Bibliothek, in die er mich sodann führte.
„Giebt es außer Mendelssohn,“ frug er mich dort im Verlaufe eines literarischen Gespräches, „noch jüdische Schriftsteller, die deutsch schrieben?“
„Gewiß.“
Einer der Gaboim trat rasch auf mich zu.
„Ech mein’,“ redete er mich an, „Schiller war jo auch a Jüd; tomer (vielleicht) nischt?“
Die Kuppeln und Thürme von Czernowitz leuchteten bereits im Abendroth, als ich in die Stadt wieder einfuhr. Die frommen Sadagórapilger hatten mich mit Blicken scheuer Ehrfurcht begleitet; nur wenigen von ihnen wurde das Glück zu Theil, mit dem Rabbi so cordial verkehren zu dürfen, wie ich mit ihm verkehrte. Mehrere Jahre zuvor war der damalige Statthalter von Galizien (die Bukowina war damals ein galizischer Kreis), Graf Mensdorff, nach Sadagóra gekommen. Er wollte den Rabbi sehen, wurde aber nicht vorgelassen. Als er aber auf seinem Verlangen beharrte, empfing ihn der Rabbi endlich, aber – mit einem dichten Schleier vor dem Gesichte, da „kein Ungläubiger würdig ist, den Heiligen von Angesicht zu sehen“. Seitdem ist der Zadik allerdings zugänglicher geworden, denn in die Zeit zwischen damals und heute fällt eine Katastrophe, die den Stolz des Heiligen sehr beugte.
Die russische Regierung, beunruhigt durch die große Masse falscher Assignaten, die auf unbekannte Weise aus dem Auslande in das Reich strömten, sandte ein Heer Polizeiagenten aus, um den Fälschern auf die Spur zu kommen. Die gepflogenen Recherchen ergaben bald die Gewißheit, daß die Falsificate in London fabricirt werden und daß die Chassidim, die alljährlich nach Sadagóra pilgern, die Einschmuggelung derselben nach Rußland besorgen. Die Residenz des Zadik war eine förmliche Messe der Banknotenfälscher, und der Rabbi selbst nahm in mächtiger Weise an diesem Handel Theil. Das Strafgericht in Czernowitz verfügte seine Verhaftung; die Untersuchung förderte sehr gravirende Verdachtsgründe gegen ihn zu Tage. Seine Familie und sein Anhang boten Alles auf, um der Angelegenheit eine für ihn günstigere Wendung zu geben. Aber alle Versuche scheiterten an der Strenge des Untersuchungsrichters. Sie griffen zu einem letzten Mittel, welches die ganze Verschmitztheit dieser Leute beweist. Eine Deputation Bukowinaer Bürger, aus Mitgliedern aller Stände und Bekenntnisse zusammensetzt, erschien vor dem Kaiser und trug ihm die Bitte vor, dem höchst verdienstreichen und ausgezeichneten Richter N., dessen Verdienste bisher nicht die gebührende Anerkennung gefunden zu haben scheinen, ein Zeichen kaiserlicher Gnade zu geben. Der Monarch, gerührt durch diesen Beweis loyaler Gesinnung, ertheilte dem Justizminister die erforderlichen Befehle, und dieser beförderte den verdienten Richter zum Rathe des Oberlandesgerichts in Lemberg. So ward der Rabbi seinen strengen Inquisitor los, und dessen Nachfolger gewann eine mildere Anschauung von der Sache. Noch achtmonatlicher Untersuchungshaft erhielt der Rabbi „wegen Mangels an Beweisen“ seine Freiheit wieder. Die erfreueten Chassidim machten ihm ein Schloß, welches sie dem Grafen Goluchowski abkauften, zum Geschenk. Es liegt in der Nähe seiner Domäne Putek.
Anderen Tages glänzte die Hauptstadt der Bukowina im Festschmucke, um den Einzug der Musen zu feiern. Die Muse wohnt nun in Czernowitz, aber über der Steppe brütet die Nacht, und am Fuße des Secina feiert der Aberglaube und der religiöse Wahn Triumphe. Wird es dereinst Tag in jenen Gebieten werden, aus welchen die Sonne zu uns kommt? Es wage Keiner die Frage zu entscheiden – der menschliche Geist ist unlösbarer Räthsel voll, und die Kette seiner Verirrungen scheint endlos.