Der Mann mit dem Kautschukgesicht

Textdaten
Autor: Walther Kabel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Mann mit dem Kautschukgesicht
Untertitel:
aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1916, Dritter Band, Seite 205–208
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[205] Der Mann mit dem Kautschukgesicht. – Einer der berühmtesten Polizeibeamten Frankreichs zur Zeit Napoleons III. war Hektor Duperdin, der für die Sicherheit des Kaisers zu sorgen hatte. Duperdin verlor in Brest, wo er Mitglied der Oper war, seine Stimme und fand, um seiner schauspielerischen Verwandlungsfähigkeit willen, durch Vermittlung eines Gönners Anstellung bei der Pariser Polizei. Die hochentwickelte Gabe, seine Gesichtszüge ohne besondere Hilfsmittel nach Ansehen und Ausdruck völlig zu verändern, nach Wunsch und Absicht dauernd zu behalten, war so bedeutend, nach Anlage und durch Übung gesteigert, daß ihn schon in Brest Freunde oft nicht erkannten.

Als er dem Polizeidirektor in Paris sein Anliegen vortrug, ohne ihm das Empfehlungsschreiben seines Gönners vorzuzeigen, fertigte ihn Cascal kurz mit der Erklärung ab, für gewesene Komödianten habe er keine Verwendung. Duperdin versuchte es mit Bitten, doch ohne allen Erfolg. Betrübt ging Duperdin weg. Kaum war der Polizeidirektor allein, als es abermals klopfte. Ein altersgebeugtes Männchen mühte sich unbeholfen ins Zimmer und überreichte dem Beamten wortlos einen Brief. Cascal las kopfschüttelnd das von einem hohen Regierungsbeamten an ihn gerichtete Schreiben, worin er angelegentlich ersucht wurde, den Überbringer, Hektor Duperdin, bei der Polizei unterzubringen. – Duperdin! So nannte sich doch auch der Mann, der kurz vor dem Alten dagewesen war. – Als er aufsah, um von dem neuen Bittsteller Aufschluß über diese Seltsamkeit zu erlangen, stand er verblüfft auf. Der altersschwache, bartlose, faltendurchfurchte Greis mit den dürftigen Haarsträhnen war verschwunden; an seiner Stelle stand ein kräftiger, beschränkt dreinschauender Bursche mit kurzgeschorenem Blondhaar. – Cascal begriff. In dem Empfehlungsschreiben stand es ja, daß der frühere Opernsänger vor dem Polizeidirektor „Proben seines gerade im Polizeidienst vorzüglich zu verwertenden außerordentlichen Talentes“ ablegen würde. Was Cascal eben gesehen, war vorläufiger Beweis genug dafür.

Mit Duperdin ging es in der Kriminalabteilung rasch vorwärts. Anfang April des Jahres 1855 kam der Pariser Polizei [206] ein Brief ohne Unterschrift in die Hände, der offenbar von Frauenhand stammte und dunkle Andeutungen über einen gegen Napoleon III. geplanten Mordanschlag enthielt. Man übertrug Duperdin die nötigen Ermittlungen. Das Schreiben wies auf eine übelberüchtigte Kneipe im Montmartreviertel hin, in der seit langem fast nur Italiener verkehrten; dort, im „Lustigen Jakobiner“, würde man alles erfahren. Duperdin setzte nun eine ganze Komödie ins Werk, um sich das Vertrauen des Wirtes zu sichern. Verkleidet als ein gewisser Perigod, der vor drei Monaten ein Londoner Bankhaus beraubt und bisher nicht hatte ergriffen werden können, ging er in die Kneipe, nahm den Besitzer beiseite, offenbarte sich ihm als der steckbrieflich Verfolgte und bot eine hohe Summe, falls er sicheren Unterschlupf hier finden könne. Auf Fragen des Wirtes, wie er dazu käme, sich ihm anzuvertrauen, erzählte Duperdin allerlei überzeugende Geschichten und nannte einen italienischen Gipsfigurenhändler in London, der ihn an den „Lustigen Jakobiner“ verwiesen als sichersten Ort für die Stunde der Not. Der Wirt blieb zurückhaltend, bis Perigod-Duperdin eine Londoner Zeitschrift hervorholte, worin er abgebildet war, und so den Mißtrauischen überzeugte, daß er wirklich der gesuchte Einbrecher sei, auf dessen Ergreifung fünfhundert Franken Belohnung gesetzt waren. Nun saß der falsche Perigod im „Lustigen Jakobiner“, wo ihm bald auszukundschaften gelang, was zu wissen nötig war. Der Führer der gegen das Leben des Kaisers gerichteten Verschwörung war ein gewisser Pianori, von dem der Plan stammte, bei der Fahrt zur Truppenschau am 28. April nach Napoleon eine Bombe zu werfen.

Als Duperdin über die Absichten der Italiener, die alle zu einer Geheimgesellschaft gehörten, im klaren war, fing er an dem Wirt beweglich zu klagen, daß er sich in Paris nicht mehr sicher fühle und versuchen wolle, nach Amerika zu entkommen. Der angebliche Perigod verschwand, und fünf Tage später, noch ehe der Kaiser zur Truppenbesichtigung aufbrach, wurden vier der Verschworenen auf der Straße verhaftet, darunter auch Pianori, bei dem sich zwei Wurfbomben fanden. Das Gericht [207] verurteilte die Italiener zu lebenslänglicher Verschickung nach einer der Strafkolonien. Inzwischen war der echte Perigod in Brüssel, wo er sich monatelang zu verbergen gewußt, verhaftet worden. Die Zeitungen berichteten über die Ergreifung des Bankräubers mit allen Einzelheiten, woraus dem Wirt vom „Lustigen Jakobiner“, dem man keine unmittelbare Schuld an dem Anschlage auf den Kaiser hatte nachweisen können, endlich klar ward, daß er einem verkleideten Polizeibeamten an Stelle des wirklichen Perigod den Schutz seines Hauses geboten. Die übrigen Mitglieder der Geheimgesellschaft trachteten nach dein Namen des Beamten, der den Anschlag zu vereiteln gewußt und ihre Genossen den Behörden in die Hände gespielt hatte. Als sie erfuhren, wer es gewesen war, versuchten sie im Zeitraum von zwei Monaten nicht weniger als sechs Mordanschläge auf Duperdin, nachdem sie in einem Drohbrief geschworen hatten, ihn zu töten. Bei dem letzten Mordversuch traf den inzwischen zum Kommissar beförderten Duperdin ein Schuß in die Schulter. Der Vorstand der politischen Polizei, zu welcher der frühere Sänger inzwischen übergetreten war, ließ Duperdins Tod in den Zeitungen melden und die Täuschung bis zum Begräbnis durchführen – wobei man einen leeren Sarg der Erde übergab – alles nur, um den bei Napoleon III. in hoher Gunst stehenden Beamten vor weiteren Nachstellungen zu schützen.

Der französische Geschichtschreiber Hugo v. Fourlanier teilt über die ferneren Schicksale Duperdins in seinem Buche „Napoleon III. und seine Zeit“ folgendes mit. „An dem Tage, als Hektor Charles Godefroy Duperdin, das angebliche Opfer der trotz aller Bemühungen nicht zu fassenden italienischen Geheimgesellschaft, auf dem Sacré-Coeur-Kirchhof beerdigt worden war, tauchte in der Umgebung des Kaisers ein älterer graubärtiger Herr, Baron Roger v. Surlarge, auf, dessen wahren Namen und Beruf nur wenige vertraute Napoleons kannten. Selten hat ein Mann ein so abenteuerliches Leben geführt wie dieser Baron, der angeblich in der Normandie ein Schloß besaß, das er hin und wieder aufzusuchen pflegte – dann nämlich, [208] wenn die Pflicht den Kommissar Duperdin im Dienste seines kaiserlichen Herrn nach auswärts rief. Die Verkleidungskunst dieses Beamten, der auch das von Orsini gegen den Kaiser geplante Attentat im Jahre 1858 im letzten Augenblick vereitelte, war so groß, daß er in stets glänzend bis in die kleinste Kleinigkeit durchgeführter Maske sich in alle jene Kreise unter den verschiedensten Namen eindrängte, wo man politische Gegner des herrschenden Regimes vermutete. Eingeweihte nannten Duperdin nur den Mann mit dem Kautschukgesicht. Beliebt war er eigentlich nur bei seinem kaiserlichen Herrn, der ihn auch mit politischen Missionen betraute. Sonst fürchtete man ihn überall, da niemand wissen konnte, ob dieser begabteste aller Spione, der je in Diensten eines Herrschers stand, nicht in irgend einer neuen Verkleidung mit völlig anderen Gesichtszügen in der Nähe stand und jedes Wort belauschte. Den wahren Duperdin hat seit dem Jahre 1855 nur noch der Spiegel zu sehen bekommen. Als Napoleon 1870 abdanken mußte, verschwand der vielgestaltige Beamte, der inzwischen zu großem Vermögen gekommen war, aus Frankreich und ließ sich in Genf unter dem Namen eines Doktor Nenquist nieder, wo er 1881 starb. Da er Angehörige nicht besaß, vermachte er sein Vermögen aus alter Anhänglichkeit dem Prinzen Viktor Bonaparte als dem derzeitigen Oberhaupt des ehemaligen Kaiserhauses. Seine Denkwürdigkeiten und Erlebnisse, zwei starke Bände, die den eigenartigen Lebensweg dieses feingebildeten Mannes erst so recht enthüllt haben, erschienen in Paris ein Jahr nach seinem Tode, ohne viel Beachtung zu finden.
W. K.