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Walther Kabel: Der Mann mit dem Kautschukgesicht (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 3)

Der Mann mit dem Kautschukgesicht. – Einer der berühmtesten Polizeibeamten Frankreichs zur Zeit Napoleons III. war Hektor Duperdin, der für die Sicherheit des Kaisers zu sorgen hatte. Duperdin verlor in Brest, wo er Mitglied der Oper war, seine Stimme und fand, um seiner schauspielerischen Verwandlungsfähigkeit willen, durch Vermittlung eines Gönners Anstellung bei der Pariser Polizei. Die hochentwickelte Gabe, seine Gesichtszüge ohne besondere Hilfsmittel nach Ansehen und Ausdruck völlig zu verändern, nach Wunsch und Absicht dauernd zu behalten, war so bedeutend, nach Anlage und durch Übung gesteigert, daß ihn schon in Brest Freunde oft nicht erkannten.

Als er dem Polizeidirektor in Paris sein Anliegen vortrug, ohne ihm das Empfehlungsschreiben seines Gönners vorzuzeigen, fertigte ihn Cascal kurz mit der Erklärung ab, für gewesene Komödianten habe er keine Verwendung. Duperdin versuchte es mit Bitten, doch ohne allen Erfolg. Betrübt ging Duperdin weg. Kaum war der Polizeidirektor allein, als es abermals klopfte. Ein altersgebeugtes Männchen mühte sich unbeholfen ins Zimmer und überreichte dem Beamten wortlos einen Brief. Cascal las kopfschüttelnd das von einem hohen Regierungsbeamten an ihn gerichtete Schreiben, worin er angelegentlich ersucht wurde, den Überbringer, Hektor Duperdin, bei der Polizei unterzubringen. – Duperdin! So nannte sich doch auch der Mann, der kurz vor dem Alten dagewesen war. – Als er aufsah, um von dem neuen Bittsteller Aufschluß über diese Seltsamkeit zu erlangen, stand er verblüfft auf. Der altersschwache, bartlose, faltendurchfurchte Greis mit den dürftigen Haarsträhnen war verschwunden; an seiner Stelle stand ein kräftiger, beschränkt dreinschauender Bursche mit kurzgeschorenem Blondhaar. – Cascal begriff. In dem Empfehlungsschreiben stand es ja, daß der frühere Opernsänger vor dem Polizeidirektor „Proben seines gerade im Polizeidienst vorzüglich zu verwertenden außerordentlichen Talentes“ ablegen würde. Was Cascal eben gesehen, war vorläufiger Beweis genug dafür.

Mit Duperdin ging es in der Kriminalabteilung rasch vorwärts. Anfang April des Jahres 1855 kam der Pariser Polizei

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Walther Kabel: Der Mann mit dem Kautschukgesicht (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 3). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1916, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Mann_mit_dem_Kautschukgesicht.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)