Der Kongo und die Gründung des Kongostaates

Textdaten
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Autor: Stanislaus von Jezewski
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Titel: Der Kongo und die Gründung des Kongostaates
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 329–332, 334
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Rezension von Henry Morton Stanleys Buch „Der Kongo und die Gründung des Kongostaates“
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Der Kongo und die Gründung des Kongostaates.[1]

Bericht über das neue Werk von Henry M. Stanley.

Ein hoher Berg langer bedruckter Zettel liegt vor mir. Mit neugieriger Hast durchfliege ich Seite um Seite. Bald fühle ich mich wie von einem Zauber erfaßt, der Wirklichkeit entrückt, in eine andere Welt versetzt.

Fremdartig sind die Menschen, die ich schaue, fremdartig die Wälder und Berge, durch die ich schweife, und selbst das Licht, das auf die Landschaft niederstrahlt, ist so sonderbar, so eigenartig. Nicht das warme Gold, in dem die Wälder meiner Heimath erröthen, sendet hier das Tagesgestirn hernieder – über diesen „feierlich aussehenden Hügeln“ waltet der seltsame „afrikanische Sonnenschein“, der, trotz seiner Gluth einer Art stärkeren Mondlichts vergleichbar, die Schatten vertieft und das schwärzlich-grüne Laubwerk der Wälder verdunkelt. Seine Wirkung ist ein erkältender Ernst, eine unbeschreibliche Feierlichkeit.

Bald jedoch ändert sich das Bild. Mit tobenden Stürmen stürzen Regenmassen auf das stille, todte Land hernieder; weicher und anmuthiger wird der Anblick; auf den früher sonnverbrannten Flächen schaukeln üppige Grasfluren, und Vögelvölker und ganze Heerden von Rindern und Ziegen erfreuen das Auge.

Und jetzt ruhe ich im tiefen Schatten des Urwaldes; kreischende Papageienschaaren schwirren über meinem Haupte, und ihrem Zuge folgend, besuche ich weite Seen, deren tiefschwarze Gewässer geheimnißvoll mein staunendes Antlitz wiederspiegeln.

Orientirungskarte des Kongostaates und des centralafrikanischen Freihandelsgebiets.

Ein Land der Märchen und Wunder! Aber die Größe der Natur allein ist es nicht, die mein Sinnen und Trachten gefangen hält. Fesselnderes soll ich noch schauen als die Pracht der tropischen Urwälder und die Majestät eines gewaltigen Weltstromes. Zwischen Palmen und Bananen grüßen mich Werke der Menschenhand, von den Hügeln wehen Flaggen neugegründeter Siedelungen – Spuren des Kampfes, den der weiße Mensch mit der tropischen Natur unternommen, Zeichen der Siege, die er über ihre feindliche Macht errungen. –

Die langen bedruckten Streifen, aus denen es mich so zauberisch anweht, werden bald zu einem Buche geordnet, mit Bildern geschmückt, in Tausenden von Exemplaren in die weite Welt hinausgehen und vor den Nationen Europas zum ersten Male ein vollständiges Bild des mühseligen Ringens entrollen, das der Gründung eines afrikanischen Staatswesens voranging: das längst mit so großer Spannung erwartete Werk Stanley’s habe ich endlich in der Hand und will versuchen, einen Bericht über dasselbe zu schreiben.

Wer jemals in der Nothlage war, über ein gewaltiges Epos auf wenigen Seiten gedrängt zu berichten, der wird meine Verlegenheit begreifen; denn kein gewöhnliches Reisewerk ist es, was uns Stanley heute bietet, eine große Episode aus den Lebensschicksalen der Entdecker und Staatengründer liegt vielmehr vor unseren Augen ausgebreitet – reich fürwahr an Abenteuern und Kämpfen, an Hoffnungen und Enttäuschungen.

*      *      *

Das große Publikum ist genügend vorbereitet, um dieses Buch zu verstehen. Die früher so leere und einfache Karte von Afrika wird von Jahr zu Jahr bunter, reicher nicht allein an neu entdeckten Flüssen, Seen, Gebirgszügen und Städten, sondern auch an politischen Grenzen, welche aufblühende Machtbezirke der Kultur andeuten. Diese Veränderungen beschränken sich nicht allein auf die Küstengebiete, sie reichen schon tief in das Innere des dunklen Welttheils hinein. Quer durch das äquatoriale Afrika ist ein breiter Gürtel gezogen, der das Freihandelsgebiet darstellt, jenen unermeßlichen Länderstrich, auf dem alle [330] Völker im friedlichen Wettstreite die brachliegenden Felder der Kultur erschließen sollen. Den Mittelpunkt und sozusagen das Herz desselben bildet der junge Kongostaat, der, jetzt unter der Souveränetät Leopold’s II. von Belgien stehend, trotz der an Frankreich und Portugal abgetretenen Gebiete noch fünfmal so groß ist wie das Deutsche Reich und von etwa 43 Millionen Menschen bewohnt wird. An ihn grenzen im Norden und Westen die Besitzungen Frankreichs und im Süden die alten Kolonialgebiete der Portugiesen. Im fernen Osten leuchtet wie eine Oase inmitten „herrenloser Länder“ das deutsche Usagara, und auch dort, wo am unteren Kongo die Grenzen der neuen Staatsgebiete hart an einander stoßen, weht von den Stationsgebäuden Nokkis unsere Flagge, ein kleines deutsches Gebiet bezeichnend, das bestimmt ist, den Ausgangspunkt größerer Unternehmungen zu bilden.

Wer vor zehn Jahren diese Wandlung der Dinge in Afrika prophezeit hätte, er würde keine Gläubigen gefunden haben; denn unerforscht war damals noch das Innere des Landes, unbekannt selbst der Lauf des gewaltigen Stromes, der heute die wichtigste Handelsstraße jenes Welttheils zu werden verspricht. Aber der Zauberer ist erschienen, der den Schleier zu lüften vermochte, der das Unglaubliche gethan, und er selbst schildert uns heute die Geschichte seiner Schöpfung.

Es ist gewiß verlockend und interessant, diese Geschichte aus Stanley’s Munde zu vernehmen, obwohl uns der Umstand zugleich zwingt, vorsichtig zu sein, zu prüfen, ob wir ein objektives Geschichtswerk oder eine Rechtfertigungs- und Anklageschrift vor uns haben.

Ja, wenn Stanley mit bitterer Ironie über die Handlungsweise seiner Stellvertreter spricht, wenn er gegen den Schluß seines Werkes die Erklärung abgiebt, daß er, da er über die Zufriedenheit des Königs von Belgien mit seiner langjährigen bitteren Arbeit keine schriftliche Anerkennung besitze, dem Leser es überlassen müsse, sich sein eigenes Urtheil zu bilden – dann sind wir geneigt, jenem Verdacht Raum zu geben.

Aber solche Betrachtungen bilden keineswegs den Hauptkern seines Werkes; sie bilden auch nicht das Fesselndste in ihm.

Es ist schon interessant, wenn wir den kurzen Brief Gordon’s, des Opfers von Khartum, lesen, in dem er seine baldige Ankunft am Kongo seinem „lieben Stanley“ anzeigt, um „mit ihm und unter ihm“ die Sklaverei zu bekämpfen. Es ist interessant, solche Worte von einem Manne zu lesen, der bald darauf, unter schwierigen Verhältnissen, die Sklaverei im Sudan wieder gestattete. Es hat auch gewissen Reiz, zu erfahren, daß Stanley über den neuen ihm aufgedrungenen Kollegen nicht besonders erfreut war und aus Brüssel Aufklärung über diese ihm mysteriöse Sendung wünschte. Aber das Hauptinteresse bei der Erörterung dieser Fragen liegt mehr zwischen den Zeilen, als in dem sehr vorsichtig Erzählten.

Auch die wissenschaftlichen und handelspolitischen Kapitel des Werkes bringen wenig durchaus Neues. Ueber den Europäer in Afrika, über das Klima etc. ist schon viel geschrieben worden, und alle Welt kennt die vielleicht zu optimistischen Ansichten Stanley’s, der in seinen Kongo so innig verliebt ist, daß er dessen Schwächen nicht sehen will oder besser gesagt nicht sehen kann.

Aber wer das Buch bis ans Ende gelesen, der wird auch finden, daß Stanley weder ein schlauer Diplomat noch ein Händler oder Rechner ist, daß er andere große Vorzüge besitzt, die in der Geschichte der Gründung des Kongostaates wie helle Sterne leuchten und leuchten werden.

Stanley, der Städtegründer, der Straßenbauer, der Missionär der Kultur am Kongo, der kühne Entdecker – das ist der Mann, der unsere Sympathie im Sturme erobert. Auf diesem Gebiete seines Wirkens und Schaffens müssen wir ihn aufsuchen, dort ist er der Meister für Viele, ein leuchtendes Vorbild kommenden Geschlechtern.

Stanley, der Städtegründer – haben wir gesagt. Ja, dieser Titel gebührt ihm, wenn wir auch zugeben müssen, daß die afrikanischen Städte, die er ins Leben rief, vorerst nur Stationen, nur einfache Niederlassungen bilden. – Der Titel gebührt ihm, denn nur dort ließ er Häuser bauen, wo ihm der Platz zur künftigen Gründung einer Stadt geeignet erschien, wo seine Station die Akropolis, die Burg zu werden versprach, um die sich später die Häuserflucht einer blühenden Handelsstadt schaaren würde. Darum beginnt auch sein Werk mit dem Kapitel „Die Gründung von Vivi: Eine Geschichte der Arbeit“ so ungemein fesselnd zu wirken.

Dort, wo im unteren Laufe des Kongo die wildrauschenden Stromschnellen die Schifffahrt unterbrechen, liegt die düstere Gegend von Vivi. Der Handel hat sie gemieden, der religiöse Eifer dort kein passendes Feld für seine Thätigkeit gefunden und die Rauheit der Natur sogar den Zeloten abgeschreckt. Aber Stanley ruft aus: „Jetzt laßt sehen, was aufmerksame Sorgfalt, geduldiger Fleiß und ein vertrauender Glaube aus derselben machen kann; die Kraft des Menschen ist groß, obgleich er nur ein schwaches vergängliches Geschöpf ist, doch mit kleinen, aber vielen Zügen hat er schon wiederholt Wunder vollbracht; seine Lebenszeit dauert nur eine kleine Anzahl von Stunden, aber in jeder derselben legt er, vom Fleiße beseelt, einen Stein, und viele Steine machen eine Straße.“

Mit solchen Ansichten begab er sich ans Werk, und bald krönten Gebäude den Hügel von Vivi und schon jetzt gaben dem muthigen Unternehmer die staunenden Eingeborenen den Titel „Bula Matari“, das heißt Felsenbrecher. Aber die neue Station steht auf nacktem Stein, den sengenden Strahlen der äquatorialen Sonne ausgesetzt. Auf dem Felsen muß ein Garten hervorsprießen und schattenspendende Baumkronen sollen über die Dächer ragen. So will es Stanley, und die Eingeborenen schleppen zwanzig Tage hindurch schwarze fruchtbare Erde vom Thal herauf, bis der Boden für einen 2000 Quadratfuß großen Garten bereitet ist. Nun pflanzt der Gründer Vivis die ersten Mango-, Orangen- und Limonenschößlinge, säet Zwiebeln, Lattich, Pastinak, steckt Rüben, Tomaten und Melonen.

Nachdem Vivi gegründet war, unternahm Stanley eine Rekognoscirung nach Isangila, um die zweite seiner wichtigsten Aufgaben zu erfüllen, eine fahrbare Straße zwischen den beiden genannten Orten zu bauen und auf ihr die Stromschnellen des Kongo umgehen zu können. Bevor er aber an die Arbeit ging, hielt er mit den Häuptlingen ein Palaver ab, in dem die Koncession des ersten Straßenbaus am Kongo ertheilt wurde. Es ist ein sonderbares Aktenstück – ein mündliches, das er uns aufbewahrt hat. Wir geben es in Rede und Gegenrede wieder:

„Häuptling De-de-de“, schreibt Stanley, „ist heute eine sehr wichtige Persönlichkeit; er hat aber auch seine Sache gut gemacht, indem er Boten durch das ganze Land geschickt hat, um die Mächtigen von Nsanda zu einer wichtigen Konferenz zusammenzuberufen. Nachdem die ceremoniellen Begrüßungen vorüber sind und ich die mir gebrachten Gegenstände in gehöriger Weise entgegengenommen habe, eröffne ich das Palaver, indem ich ihnen den Zweck meiner Anwesenheit in Vivi mittheile und sie über die Gründe aufkläre, welche zur Berufung dieser Versammlung Veranlassung gegeben haben. Sie sind ihnen allerdings längst bekannt, die Etikette verlangt jedoch, daß dieselben ihnen nochmals öffentlich erläutert werden.

‚Ich beabsichtige eine Straße durch Euer Land von Vivi nach Isangila herzustellen, aber ich bin erst auf Euern eigenen Pfaden hierhergekommen, um auszufinden, ob es möglich ist, eine Straße anzulegen, auf welcher große, mit schweren Booten etc. beladene Wagen passiren können; ferner um in persönlicher Unterredung mit Euch zu erfahren, ob Ihr Einwendungen dagegen zu machen habt, daß Ihr mir das Recht zur Herstellung dieser Straße gebt, denn es könnte vielleicht vorkommen, daß Euere Gärten und Felder gerade in der Linie einer guten Straße lägen und daß diese nicht anders gebaut werden kann als direkt durch jene Gärten. Ehe ich Geld an die Herstellung einer Straße wende, welcher der erste beste Garten, auf den wir stoßen, ein Ende machen kann, muß dieser Punkt nothwendigerweise besprochen und aufgeklärt werden. Auch muß ich von Euch wissen, ob Ihr, wenn ich eine solche Straße mache, die für Euch ebenso offen ist wie für mich, von mir erwartet, daß ich jedesmal, wenn ich auf meiner eigenen Straße reise, Euch dafür bezahle. Ebenso will ich erfahren, ob Ihr gestatten werdet, daß Eure jungen Leute für einen guten Lohn an der Straße für mich arbeiten, wie die Bevölkerung von Vivi mir beim Bau meiner Stadt geholfen hat.‘

Gegen vier Uhr wurde, nachdem sie mehrere geheime Berathungen abgehalten hatten, zu denen sie sich in einiger Entfernung von De-de-de’s Dorfe versammelten und bei welchen es, nach dem lauten Sprechen und den lebhaften Geberden einiger der Redner zu urtheilen, zu sehr heißen Debatten zu kommen schien, bei dieser ersten allgemeinen Berathung der Häuptlinge der verschiedenen Distrikte zwischen Vivi und Isangila Folgendes mündlich vereinbart und mir mitgetheilt:

‚Sie seien sehr erfreut darüber, daß wir in ihr Land gekommen seien. Es würde für das Land sehr gut sein, wenn eine Straße gebaut werde. Kein Häuptling habe irgend etwas gegen dieses Projekt einzuwenden. Ihrer Ansicht nach würde das Kommen des weißen Mannes nur Gutes schaffen, Gutes für die Häuptlinge und das Volk. Es bedeute Handel und sie seien alle Kaufleute. Der Weg nach Boma sei weit und viele fürchteten denselben und seine Schwierigkeiten. Sie würden sich daher alle sehr freuen, wenn der Handel zu ihnen, bis vor ihr Haus komme. Deßhalb könne die geplante Straße ohne Furcht angelegt werden, und es solle von derselben in Zukunft keine Abgabe mehr erhoben werden; wenn der weiße Mann ein Papier für jeden Häuptling unterzeichnet habe und demselben jeden Monat ein kleines Geschenk für das Wegerecht gebe, dann solle die Straße das Eigenthum des weißen Mannes werden. Wenn dieselbe [331] Gärten, Felder und Dörfer erreiche und es sei kein besserer Weg zu finden, dann solle der Eigenthümer des Gartens oder Feldes oder Dorfes in gerechter Weise sagen, wieviel an Waaren er für die Zerstörung seines Eigenthums verlange, und nach der Bezahlung solle die Straße in Zukunft ungestört bleiben, und Niemand brauche etwas zu bezahlen, wer dieselbe passirt. Die jungen Leute aus den verschiedenen Distrikten, welche sich durch Arbeit Geld zu verdienen wünschen, haben die volle Erlaubniß, sich auf so lange Zeit engagiren zu lassen, wie es ihnen beliebt. Es solle dadurch keine Schwierigkeit entstehen, und wenn die Wagen durch diesen Distrikt kommen, solle jedes Dorf Hilfe senden, dieselben weiterzuziehen, bis sie den Distrikt passirt haben, und wenn das Dorf nicht Leute genug habe, sollen demselben die benachbarten Dörfer helfen.‘“

Auf Grund dieser Koncession begann Stanley das Riesenwerk. Es wurde glücklich vollendet, obgleich er dabei den Tod von 6 Europäern und 22 seiner schwarzen Leute zu beklagen hatte, obgleich er nicht allein mit den Hindernissen der wilden Natur, sondern auch mit dem Aberglauben der Eingeborenen kämpfen mußte. Als er im Begriff stand, die tiefen, hohen Wälder des Njongena zu durchdringen, waren seine eingeborenen Hilfskräfte von Besorgniß erfüllt. Böse Geister, behaupteten sie, noch schlimmer als diejenigen von Inga, bewachen den Wald, und schon mancher unglückliche Wicht aus dem Innern, der seine Tiefen durchschreiten wollte, ist aus dem Bereiche der Menschen entführt worden. Als sie jedoch sehen, daß die übrigen Arbeiter diese Furcht nicht theilen und gemeinsam zum Angriff gegen die gezeichneten Bäume vorgehen, als die Aexte gehandhabt werden, das zähe, harte Holz zu Boden stürzt und es in der unbekannten Gegend Licht wird, da fassen sie wieder Muth und beginnen mit den scharfen Hacken das kleine Unterholz auszurotten und mit Plantagemessern die Oeffnung und den Blick zu erweitern.

So schreitet der Bau der Straße vorwärts. Dann wird der schwere mit dem Dampferboot beladene Wagen über steile Hügel geschafft – bald schallt dabei durch den Wald der monotone Gesang der Afrikaner, bald hört man ein lautes kräftiges „Hip, hip, hip, Hurrah“, wenn die Mannschaft auf der Krone des Hügels angelangt ist. Felsen versperren den Weg, aber sie werden fortgeräumt, gesprengt – Bula Matari’s Name bewährt sich und steigt im Ansehen bei den Eingeborenen.

„Ein seltsames Kapitel“ nennt Stanley diese Abtheilung seines Werkes – seltsam und wunderbar ist es in der That!

Als Stanley an einem Sonntag während des Straßenbaues in sein Lager zurückgekehrt war, stürzte ihm ein junger Eingeborener entgegen und überreichte ihm einen Papierstreifen, auf welchem die mit Bleiftift geschriebenen Worte standen: „Le comte Savorgnan de Brazza“. Eine Visitenkarte im Urwald! Ob sie Stanley freudig überraschte? Wie er selbst gesteht, kannte er damals noch nicht die Bedeutung des französischen Forschers – er ahnte nicht, daß ein gleichwerthiger Rival ihm gegenüber stand, der schon am Stanley-Pool die Station Brazzaville besetzt hatte, während sich Stanley erst anschickte, Leopoldville zu gründen. Vor dem Sergeanten Malamine, den Brazza dort zurückgelassen, mußte Stanley vom rechten auf das linke Kongo-Ufer weichen. Er hat das Gebiet nie wieder erobert, er mußte auf der Berliner Konferenz noch mehr dem gallischen Nachbar ausliefern.

Mit Stanley’s Erscheinen am Stanley-Pool, jener seeartigen Erweiterung des Kongo, beginnt der interessanteste, spannendste Theil seines großen Werkes. Bis jetzt hat er den Widerstand der Natur zu bezwingen gewußt, nun muß er Menschen zwingen. Schwierig war jener Kampf, dieser wird aber noch schwieriger. Auch der Wilde ist die Spitze der Schöpfung, und seine Schlauheit und List sind nicht minder gefährlich wie die fieberschwangere Luft der Sumpfniederungen.

Die Gründung von Leopoldville hat eine seltsame Geschichte, voll von zwar unbedeutenden, aber interessanten Ereignissen, welche sich um zwei im Mittelpunkte stehende Personen drehen, um die „Blutsbrüder“ Ngaljema und „Bula Matari“.

„Ohne Zweifel,“ sagt Stanley, „ist ‚Bula Matari‘ bekannt, wenigstens glauben viele, die seine Werke über Afrika gelesen haben, sich eine Idee von dem Manne machen zu können; allein wer könnte Ngaljema beschreiben, ohne im Einzelnen die vielen erklärenden Vorfälle zu schildern, welche seinen eigenen Blutsbruder erst nach geduldigem Studium diesen Mann ganz verstehen ließen.“

Wer ist denn Ngaljema? Ein mächtiger Häuptling? Ja, für eine solchen hielt ihn Stanley, als er auf seiner ersten denkwürdigen Kongofahrt mit ihm die Blutsbruderschaft schloß, als solchen begrüßte er ihn und als solchem vertraute er ihm, da er zum zweiten Male nach dem Stanley-Pool gekommen war. Von ihm hatte auch Stanley Land in Kintamo zur Gründung einer Station gegen viele Geschenke gekauft, denn Ngaljema wußte zu rechnen und kostete der Expedition mehr als alle andern Häuptlinge am Kongo zusammen. Aber Ngaljema verkaufte, was nicht sein Eigenthum war. Er war kein Häuptling, sondern nur ein geschickter Elfenbeinhändler, der sich großen Reichthum (Stanley schätzte seine Waarenvorräthe auf 60 000 Mark) erworben und seine Macht durch kluge Heirathen befestigt hatte. Er war außerdem ein Fremder im Lande, der nur mit Erlaubniß der eingeborenen Häuptlinge sich in demselben niederließ. In Folge dieses falschen Kaufes gerieth Stanley in die größten Verlegenheiten und Verwickelungen, wobei Ngaljema bald als der größte Feind seines Blutsbruders sich geberdete. Wir können hier unmöglich ein vollständiges Bild dieser romanartigen Vorgänge geben, die viele Kapitel füllen – nur eine Episode möchten wir erzählen, die eine der Künste veranschaulicht, mit welchen Stanley seinen „Freund“ zu einem fügsamen Menschen zu erziehen wußte.

Durch einen Boten des befreundeten Königs Makoko erfuhr Stanley, daß Ngaljema mit Gewehren aufgebrochen sei, um ihn aus dem Lande zu vertreiben.

„Das waren nicht sehr angenehme Nachrichten,“ schreibt der Verfasser, „die keineswegs dazu dienten, mich in sanften Schlummer und ruhiges Vergessen einzuwiegen. Daß Ngaljema 18 km so rasch zurückgelegt hatte und so plötzlich erschien, deutete darauf hin, daß seine Absicht ernst und sein Entschluß, meine soeben voll erblühten Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der Angelegenheit zu zerstören, ein unbeugsamer war.

Der folgende Tag, Dienstag der 8. November, begann mit triefendem Regen, doch brach die Sonne gegen 10 Uhr durch und der Tag versprach schön zu werden.

Ngoma’s Dorf, in dessen Nähe das Lager aufgeschlagen war, liegt auf einem schmalen, aber ebenen Ausläufer der östlichen Abhänge des Ijumbi-Berges, von denen noch mehrere ähnliche Rücken hervorragen, die durch bewaldete oder mit Unterholz bedeckte Schluchten – die Betten kleiner krystallheller Ströme – von einander getrennt werden. Auf dem, dem unsrigen zunächst gelegenen Ausläufer stand das Residenzdorf Makoko’s und wir erwarteten deßhalb aus dieser Richtung das Herannahen Ngaljema’s, was freilich, wenn erst die offenen Feindseligkeiten erklärt waren, ohne die Gefahr vollständiger Vernichtung gänzlich unmöglich war. Ngaljema, obgleich ein Barbar, war jedoch viel zu schlau, um seine Operationen auf diese Weise zu beginnen, viel wahrscheinlicher war, daß er im Vertrauen auf die frühere Brüderschaft und das gegenseitige Austauschen von Höflichkeiten, mit lächelndem Gesichte die brüderliche Liebe zur Schau tragend, zur prahlerischen und lärmenden Begrüßung ins Lager kommen und hoffen würde, uns beim geselligen Trinken des Palmweins zu überraschen.

Ich ließ daher meinen Leuten durch meinen Zeltdiener sagen, sie sollten sich am äußersten Ende des Ausläufers, wo sie von etwaigen Spionen auf Makoko’s Hügel nicht gesehen werden konnten, versammeln, und begab mich wenige Minuten später selbst dorthin, um mich zu überzeugen, daß sie auch wirklich Alle am Platze seien.

Die Instruktionen, welche ich ihnen ertheilte, waren nur kurz, damit sie dieselben besser im Gedächtniß behalten könnten:

‚Gehe Jeder von Euch in seine Hütte und lege den Patronengürtel um, achtet Alle darauf, daß die Taschen mit Patronen gefüllt sind. Legt Eure Gewehre unter die Schlafmatten oder Grasbetten. Ihr Alle, mit Ausnahme von Susi’s (20) Leuten, vertheilt Euch dann in dem Busche auf dieser Seite des Hügels. Einige legen sich im ‚En Avant‘[2] auf dem Wagen, andere hinter meinem Zelte, ein Dutzend im Vorrathszelte nieder und Einige bleiben als angeblich Kranke in den Hütten. Einerlei wie viel Leute ins Lager kommen oder was Ihr hört, Ihr dürft Euch nicht von der Stelle rühren, bis Ihr den Gong hört. Aber wenn Ihr den Gong hört, dann springt Alle auf, ergreift Eure Gewehre, stürzt, wie Verrückte schreiend, herauf und schwingt die Gewehre so wüthend, wie die Ruga-Ruga von Unjamwesi! Habt Ihr verstanden?‘

‚Inschallah!‘[3] riefen sie.

Susi’s Abtheilung mußte sich dagegen auf dem offenen Terrain niedersetzen und eine gleichgültige indolente Haltung annehmen.

Eine Viertelstunde später sah ich eine lange Reihe von Männern an Makoko’s Hügel nach dem zwischenliegenden Thale hinabsteigen; ich zählte im Ganzen 197 Personen jeglichen Ranges in der Expedition Ngaljema’s. Trommeln, Trompeten und Eingeborenenmusik kündigten an, daß der Häuptling in großem, feierlichem Staatsaufzuge komme.“ – –

Wir übergehen den spannenden Dialog, der sich nunmehr zwischen den beiden Blutsbrüdern entwickelte und den Ngaljema mit folgenden Worten unterbrach:

„Genug, genug!“ schrie er. „Ich sage Dir zum letzten Male, daß Du nicht nach Kintamo kommen sollst. Wir wollen keine Weißen in unserer Mitte haben. Laß uns gehen, Endjeli!“

„Mit diesen letzten Worten,“ fährt Stanley fort, „schob er die Thür des Zeltes beiseite und schritt hinaus, während die unterdrückte Leidenschaft deutlich in seinen Zügen zu lesen stand. In der Nähe des Zeltes [332] einen Augenblick unschlüssig stehen bleibend, entdeckte er den großen chinesischen Gong, der an einer von zwei gabelförmigen Stangen getragenen Brechstange hing.

‚Was ist das?‘ fragte er, auf den Gong zeigend.

‚Ein Fetisch,‘ erwiderte ich bedeutungsvoll.

Sein Sohn Endjeli, der weit gewitzigter zu sein schien als der Häuptling, flüsterte diesem zu, er glaube, es sei das eine Glocke, worauf Ngaljema rief:

‚Bula-Matari, schlage dies; laß mich es hören.‘

‚O Ngaljema, ich darf nicht; es ist der Kriegsfetisch!‘

‚Nein, nein,‘ erklärte er ungeduldig. ‚Schlage es, Bula-Matari, damit ich den Klang höre.‘

‚Ich darf nicht, Ngaljema. Es ist das Zeichen zum Kriege. Es ist der Fetisch, der die bewaffneten Männer herbeiruft; es würde zu schlimm sein.‘

‚Nein, nein, nein! Ich fordere Dich auf zu schlagen. Schlage es, Bula-Matari,‘ wiederholte er nochmals, in kindischer Ungeduld mit dem Fuße stampfend.

‚Gut denn,‘ entgegnete ich, den Klöppel in die Hand nehmend. ‚Aber bedenke, daß es ein böser Fetisch, der Fetisch des Krieges ist.‘ Und während ich den Schlägel hoch hob, fragte ich nochmals: ‚Soll ich jetzt schlagen?‘

‚Schlage, ich sage Dir, schlage!‘

Mit aller Kraft schlug ich auf den Gong; der laute glockenähnliche Ton klang bei dem allgemeinen Schweigen, welches während unserer Unterredung unter den aufmerksamen Begleitern Ngaljema’s und auf dem ganzen Schauplatze herrschte, schon äußerst beunruhigend; aber als die rasch auf einander folgenden Schläge auf den Gong fielen, glaubten sie den Donner zu hören. Noch hatten sie sich nicht von ihrer ersten Ueberraschung erholt, als sie Menschengestalten über den gerade über ihrem Kopfe befindlichen Bord des ‚En Avant‘ springen sahen, aus meinem Zelte das Kriegsgeschrei in ihr Ohr schallte und in der schwarzen Schlucht hinter ihnen ein Strom wüthender Wahnsinniger aus dem Erdboden hervorzudringen schien. Das Vorrathszelt war in heftiger Bewegung und stürzte schließlich zusammen, und aus dem Innern sprang eine Horde Dämonen heraus, einer noch wilder als der andere. Die einzelnen trägen, verschlafenen Männer wurden zu Wütherichen, aus allen Hütten, unter den Schlafstellen strömten die bewaffneten Krieger hervor, sodaß die von panischem Schrecken ergriffenen Eingeborenen glaubten, Himmel und Erde seien in Bewegung gesetzt, um die beständig zunehmende Zahl der bewaffneten Krieger noch zu vermehren. Alle anwesenden Eingeborenen, ob Freund ob Feind, verloren vor dieser fürchterlichen Scene die Fassung, die noch sitzenden Krieger ließen ihre Gewehre im Stich, sprangen auf und ergriffen vor dieser seltsamen Sündfluth die Flucht, die Munitionsträger warfen ihre Flaschen fort, sodaß dieselben zerbrachen und das Pulver und die Metallstückchen über den Erdboden zerstreut wurden, und Ngaljema stand stumm und starr, wie vom Schlage getroffen. Ihn beim Arm fassend, sagte ich sanft zu ihm:

‚Fürchte Dich nicht, Ngaljema. Bedenke, daß Bula-Matari Dein Bruder ist. Stelle Dich hinter mich, ich werde Dich schützen!‘

Vor mir schrieen und wütheten die Sansibarer, indem sie mit gellendem Kreischen ausriefen:

‚Ha, ha, Ngaljema! Du bist gekommen, um mit Bula-Matari zu kämpfen. Wo sind Deine Krieger, Ngaljema?‘

Unbarmherzige, blutdürstige Wuth könnte kaum natürlicher dargestellt werden, als wie es von meinen schwarzen Schauspielern bei dieser so plötzlich improvisirten Scene geschah. Ihre scheinbare Raserei streifte fast an Wirklichkeit, und wäre ich nicht in das Geheimniß eingeweiht gewesen, so würde auch ich mich haben täuschen lassen; die Tapferkeit, mit welcher ich meinen armen Bruder vertheidigte, der mich mit beiden Händen um den Leib gefaßt hielt und von einer Seite zur andern tanzte, um den wüthenden Streichen der wie Wahnsinnige ausschauenden Krieger zu entgehen, während der junge Endjeli sich an seinem Vater festhielt und dessen Bewegungen mitmachte, erinnerte mich an das längst vergessene Spiel ‚Henne und Küchlein‘, mit welchem wir in der Schule die Freistunden hinzubringen pflegten.

‚Rette mich, Bula-Matari, laß sie mir nichts thun!‘ schrie Ngaljema. ‚Ich habe keine böse Absicht gehabt.‘

‚Halte Dich fest, Ngaljema; halte Dich gut an mir fest. Ich werde Dich vertheidigen, fürchte nichts! Kommt nun, kommt alle! Ah, ha!‘

Das Lager war fast leer von unsern Besuchern, welche größtentheils die Munition zurückgelassen und die Gewehre über den Boden verstreut hatten. Die Posse war ausgezeichnet zu Ende gespielt worden.

‚Genug, Leute; stellt Euch auf und Stillgestanden!‘ schrieen Susi und die andern Aufseher, und die gehorsamen, gut einexercirten Burschen kamen sofort zusammen und stellten sich mit der Präcision alter gedienter Soldaten mit ‚Gewehr über‘ auf. Als Ngaljema dann, von diesem neuen Schauspiel und der veränderten Scene aufs höchste überrascht, mich los und die Arme sinken ließ, faßte ich ihn bei der Hand und fragte mit gewinnendem Lächeln:

‚Nun, Ngaljema, wie denkst Du jetzt über den Fetisch des weißen Mannes?‘

‚O, ich habe mich nicht gefürchtet; glaubst Du das? Sieh, meine Leute sind alle davongelaufen. O, die Feigen! Nur Endjeli und Gantschu sind bei mir geblieben. Aber sage mir, Bula-Matari, woher sind alle diese Leute gekommen?‘

‚O, das ist der böse Fetisch, von dem ich Dir gesagt habe. Willst Du noch mehr sehen? Komm, ich will den Gong nochmals schlagen, vielleicht ist die nächste Scene noch wunderbarer als die erste.‘

‚Nein!‘ kreischte er und legte die Hand auf meinen Arm. ‚Nein, nein, berühre es nicht. O, das ist gewiß ein böser Fetisch,‘ fügte er ernsthaft hinzu, die runde unschuldige Oberfläche des Gongs mit Kopfschütteln betrachtend.

‚Nun, blicke nochmals jene Leute an, Ngaljema,‘ sagte ich, auf die lächelnden Gesichter meiner Arbeitersoldaten deutend.

‚Achtung! Augen rechts! Vorwärts marsch, Ihr Alle, und ruhig, kein Geräusch; legt Eure Gewehre fort und gehe Jeder wieder an seine Arbeit. Vorwärts marsch!‘ Damit setzte sich die Truppe in Bewegung und verschwand; Ngaljema begann wieder Muth zu fassen und Endjeli und Gantschu schrieen und riefen, die Flüchtigen sollten wieder herbeikommen. Nach einer halben Stunde waren Alle wieder im Lager und unter allgemeiner lärmender Heiterkeit, bei welcher Ngaljema’s lautes Lachen dasjenige aller übrigen übertönte, erzählte der eine dem andern seine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen.“

Aber Ngaljema und seine Leute machten trotz dieser Lehre Stanley noch viel zu schaffen, verstiegen sich wohl auch zu schlechten Witzen, indem Endjeli Stanley auf dessen Zimmer einschloß und mit dem Schlüssel davonlief. Dabei verlor aber Stanley niemals die gewohnte Ruhe, er klagte gegen die Missethäter bei den Häuptlingen und gewann glänzend seine afrikanischen Processe. Wer wissen will, wie Stanley zu Macht und Ansehen in Afrika gelangte, der lese dieses Kapitel, der präge sich dieses fesselnde Bild des Lehrers und Civilisators der wilden Stämme ein. Wenn der künftige Kongodichter, von dem Stanley spricht, wenn ein Cooper des Kongo jemals erstehen wird, dann werden in seinen Werken die beiden Gestalten „Bula-Matari“ und Ngaljema gewiß die Hauptrolle spielen müssen. –

Wir haben noch Stanley’s als Entdeckers zu gedenken, denn auch in dieser seiner hervorragenden Eigenschaft stellt er sich uns in seinem neuesten Werke vor. Mit dem [k]leinen Dampfer „En Avant“ fährt er gegen den Strom, und da ihn neue Probleme fesseln, so kehrt er trotz der falschen Berichte der interessanten Königin Gankabo nicht um, bis er den großen Leopold II.-See entdeckt. Auch aus diesem Kapitel wollen wir eine Episode herausgreifen; sie schildert den überwältigenden Eindruck, den das Erscheinen des ersten Dampfers auf die Eingeborenen ausübte, und zugleich die Gutmüthigkeit und das launige Temperament des kühnen Forschers.

„Als wir gegen 10 Uhr aus einer langen baiartigen Bucht des Landes herauskamen, bemerkten wir in der Mitte des Sees ein halbes Dutzend Kanoes, 3 km weiter hinaus noch ein anderes und, nachdem wir eine felsige Spitze umfahren hatten, das Dorf, in welchem jene Fahrzeuge zweifelsohne zu Hause waren. Wir hatten also eine ausgezeichnete Gelegenheit, um uns über das Land zu informiren und vielleicht frische Fische und Nahrungsmittel zu erhalten. Wir hielten deßhalb nach den Fischern zu; da diese eifrig mit dem Einholen ihrer Netze beschäftigt waren, konnten wir uns bis auf 1½ km Entfernung nähern, ehe sie unsere Gegenwart bemerkten. Und wie müssen wir ihnen erschienen sein! Ein langes weißes Boot mit weitem, ausgebreitetem Flügel, das ein ganz seltsames Geräusch machte und nicht die geringste Aehnlichkeit mit irgend einem Thier hatte, von dem sie je gehört! In Verzweiflung heben sie die Hände auf. Einer scheint mehr Geistesgegenwart zu haben, als die anderen, ergreift sein Ruder und treibt das Boot instinktmäßig zur Flucht. ‚Ein vorzüglicher Gedanke‘, sagen offenbar die anderen, und alle tauchen ihre Ruder tief in das schwarze Wasser, sodaß die kleinen Kanoes mit großer Schnelligkeit fortgetrieben werden und im Fluge über den See hinjagen. Nur der Mann in dem einsamen Kanoe ist so gründlich in das Einholen der Netze vertieft, daß er noch immer keine Ahnung von der ihm drohenden Gefahr hat. Da, horch! Was ist das? Was ist das für ein seltsam stöhnendes, puffendes, klatschendes und klapperndes Geräusch? Er dreht sich nach unserer Richtung um und erblickt ein wunderbares Ungethüm, ganz weiß, mit einem hohen Flügel und ein paar sich drehenden Klappern, welche das Wasser hinter sich in langgestreckte Wellen aufwühlt. Er fällt wie vom Schlage getroffen ins kleine Kanoe und scheint sich klar machen zu wollen, ob das Wirklichkeit oder ein ihn äffender Traum ist. Ohne Zweifel fliegt der Gedanke durch sein Hirn: ‚Noch vor einem Augenblicke sah ich mich nach allen Seiten um und bemerkte nichts Seltsames, das mir Furcht oder Angst machen könnte, und nun? Woher kann das Ungethüm gekommen sein? Es ist sicher ein wilder Traum!‘

Aber unaufhörlich wieder trägt der leichte Wind die starken regelmäßigen Töne und das tiefe aber kräftige Seufzen an sein Ohr; er hört das verzweifelte Herumwirbeln der Schaufelräder und sieht die langgestreckten, rollenden Wellen im Kielwasser. Mit wilder Energie springt er auf, wirft noch einen raschen Blick um sich und begreift nun die Wirklichkeit, daß, während er als gedankenloser Narr am hellen Mittag seinen Träumereien nachgehangen hat, er von seinen Freunden im Stiche gelassen worden ist. Allein so lange noch Leben, ist auch noch Hoffnung; er kauert nieder, ergreift das Ruder, taucht es auf dieser Seite und auf jener Seite ein, und willig seinem Befehl und den langen Schlägen gehorchend, springt der zierliche, wie eine Speerspitze scharfe Kahn über das Wasser.

‚Zieht das Segel ein, Jungen!‘ Das Segel wird aufgerollt und es zeigt sich eine hohe dünne Stange, während hinter demselben eine schwarze Säule steht, welche Feuer und Rauch aus ihrem Munde speit.

Näher und immer näher kommt der Dampfer dem fliehenden Kanoe, allein plötzlich treibt der schwarze Insasse dasselbe mit einer Drehung des Ruders in rechtem Winkel zur Seite, während der ‚En Avant‘, überrascht von der unerwarteten Schwenkung, in rasendem Laufe geradeaus stürmt; aber binnen kurzem setzt er die Jagd fort, indem er dieses Mal jede [334] Bewegung des Kanoes genau beobachtet. Der geängstigte Mann hat mittlerweile wilde Blicke über die Schulter geworfen; er bemerkt, wie das Ungethüm, das seiner aufgeregten Phantasie immer größer erscheint, rasch herankommt, und er hört das schreckliche Geräusch der Räder, das Aechzen der Maschine und das Puffen des Dampfers. Noch einen Blick wirft er hinter sich, aber derselbe scheint ihn vollständig zu überwältigen; im nächsten Augenblicke springt er, ‚ach Gott!‘ über Bord und wir jagen an dem leeren Kanoe vorbei.

‚Uledi, Dualla! Wir wollen um die Stelle herumkehren, wo er über Bord sprang; wenn er wieder auftaucht, springt über Bord und fangt ihn.‘

Wir wandten den Dampfer um und fuhren langsam nach dem leeren Kanoe zurück, in dessen Nähe der Schwarze schwamm. Als wir in die Nähe kamen, tauchte er plötzlich unter, doch waren unsere beiden Matrosen wie der Blitz hinter ihm her. Es war ein hübscher Anblick, als die beiden graziösen Gestalten wie Haifische auf ihre Beute losstürzten; sie brachten ihn bald herauf und schwammen, ein Jeder einen Arm des Eingeborenen haltend, nach dem Dampfer. Wir hoben ihn sanft herauf und setzten ihn auf das Segel, geduldig wartend, bis sein Puls weniger wild schlage und seine fürchterliche Aufregung sich beruhigte.

‚Komm, Ankoli, sprich milde mit dem armen Mann.‘

Die liebegirrenden Worte und klagenden Töne Ankoli’s erhalten keine Antwort.

‚Versuche es noch einmal – noch sanfter, Ankoli.‘

Und wieder fragt Ankoli ihn in beruhigendem, flüsterndem Tone, wie sein Name sei.

‚Was habt Ihr mit mir vor? Es sind in unserem Dorfe viele bessere Leute als ich.‘

‚Wieso bessere Leute?‘ frage ich. ‚Was meint er?‘

‚Er meint,‘ sagte Ankoli, ‚es seien bessere Sklaven im Dorfe als er.‘

‚Ah, es sind also Sklavenfänger hier gewesen. Woher sind sie gekommen?‘

‚Wie kann ich das wissen? Ich habe diesen See nie vorher gesehen; vielleicht Gankabi oder Ingja von Ngete.‘

Nachdem wir offenbar alle Informationen erhalten hatten, die der arme Teufel uns geben konnte, nahm Dualla zwei Hände voll glänzende Perlen und ein Dutzend Tücher, holte dann das Kanoe längsseits und ersuchte den Eingeborenen, sein Boot zu besteigen, worauf er Letzterem die Tücher, Perlen und ein kleines Päckchen Kauries (Muschelgeld) ins Boot gab. Sobald der Eingeborene begriffen hatte, daß er ein freier und reicher Mann sei, brachte er eine solche Distanz zwischen sich und uns, daß es uns zur Unmöglichkeit wurde, ihn wieder zu fangen, selbst wenn wir dies gewollt hätten. Als das Boot noch wie ein kleiner Punkt erschien, richtete er sich zu seiner vollen Höhe auf, ein Zeichen, daß er nun erst sicher war, sein altes Leben wieder beginnen zu können.“

Doch genug der Auszüge! Das, was wir berichtet haben, beweist ja deutlich, daß Stanley bei der Abfassung seines Buches nicht ausschließlich die Gelehrten als seine Leser im Auge hatte. Sollte seine Geschichte der Gründung des Kongostaates jemals volksthümlich werden, so mußten in dieselbe auch alle jene kleinen Züge aufgenommen werden, die den Charakter der Eingeborenen wiedergeben, alle jene kleinen Erlebnisse, die für sich einzeln genommen als lustige Abenteuer erscheinen, in ihrer Gesammtheit aber eine Kette lästigster Hemmnisse bilden, die nur durch Klugheit und Geduld überwunden werden konnten. Mit vielen Gleichnissen und Beispielen hat Stanley sein Werk ausgeschmückt, und er hat damit das Richtige getroffen – er wird nicht allein von den Weisen, sondern auch von den Völkern der civilisirten Welt verstanden werden. Das Buch wird wandern von Haus zu Haus und Sympathien werben allüberall für den „Felsenbrecher“ am Kongo und für den jungen Staat, dem noch viele Kämpfe beschieden sind, über den aber die Götter des Friedens und Glückes wachen mögen. St. J.     



  1. Unter diesem Titel beginnt Mitte Mai, noch vor der Ausgabe des englischen Originals, die deutsche Uebersetzung des längst mit so großer Spannung erwarteten Werkes des berühmten Afrikaforschers im Verlage von F. A. Brockhaus in Leipzig zu erscheinen. Unsere Leser machen wir ganz besonders darauf aufmerksam, daß dieses hochinteressante Buch auch in einzelnen Lieferungen durch jede Buchhandlung zu beziehen ist, sodaß dasselbe auch denjenigen Kreisen, welche ein derartiges Werk lieber nach und nach durch kleinere Zahlungen erwerben, zugänglich wird. Der Verlagshandlung von F. A. Brockhaus, die uns durch ihr überaus freundliches Entgegenkommen die rechtzeitige Besprechung ermöglicht hat, sagen wir hiermit unsern besondern Dank. Die Red. 
  2. Der kleine Dampfer, den Stanley mit sich führte.
  3. „Wie Gott will.“ Die Sansibar-Neger sind bekanntlich Mohammedaner.