Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892/Tag 8

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Achter Verhandlungstag.

Gegen ein viertel 10 Uhr Vormittags eröffnet der Präsident Landgerichts-Direktor Kluth die Sitzung mit dem Bemerken: In der „Kölnischen Volks-Zeitung“ ist berichtet worden, ich hätte zu dem Herrn Rechtsanwalt Gammersbach zweimal gesagt: „es ist nicht wahr“ und Herr Rechtsanwalt Gammersbach habe gesagt: „Ich ersuche, den Vorwurf der Unwahrheit zurückzunehmen“. Es ist dies vollständig unrichtig. Ich ersuche daher den Berichterstatter der „Kölnischen Volks-Zeitung“, dies richtig zu stellen.

Ich habe, wie immer, wenn ich des Morgens am Kaffeetische sitze, so auch heute wiederum einen ganzen Stoß von Briefen erhalten, in denen mir alle möglichen Rathschläge betreffs der Leitung dieser Verhandlung ertheilt werden. Es ist selbstverständlich, daß ich alle diese Schreiben unbeachtet lasse, allein ein mir aus Neuß zugegangenes Telegramm fühle ich mich doch veranlaßt, hier vorzulesen. Es lautet. In dem Prozeß Buschhoff wären die Schwester und die beiden Töchter des Kaufmanns Schlößer hierselbst als Zeugen zu laden. Buschhoff hat nach seiner Entlassung 4 Wochen lang mit seiner Familie bei Schlößer in Neuß gewohnt und bei dieser Gelegenheit haben die vorgeschlagenen Zeugen Vieles über den Mord gehört.“ Unterzeichnet ist das Telegramm von „Schmitts“.

Dieser Name in Neuß ist etwas bedenklich. Ich weiß nicht, ob dieser „Schmitts“ ein Anonymus ist, ich will aber die Verantwortlichkeit allein nicht übernehmen und stelle anheim, Anträge zu stellen.

Oberstaatsanwalt: Ich beantrage, die vorgeschlagenen Zeugen vorzuladen.

Bürgermeister Schleß (Xanten) theilt mit: Gestern Abend erhielt ich folgende Mittheilung aus Xanten: Frau Viktor Overhagen habe den Beekmann Nachts spät in das Haus des jüdischen Kaufmanns Oster eintreten sehen. Am folgenden Morgen war Beekmann schwer betrunken. Frau Overhagen sagte: „Gott, wenn das nur gut geht, der Mann hat so viel Geld“!

Präs.: Wann[WS 1] soll Beekmann des Nachts bei Oster gewesen sein?

Bürgermeister Schleß: Unlängst.

Oberstaatsanwalt Hamm: Die Bekundung des Beekmann ist so wenig erheblich, daß ich bezüglich der Mittheilung des Herrn Bürgermeisters keinen Antrag zu stellen habe. Beekmann hat nur etwas bezüglich einer Mittheilung des Ullenboom bekundet, es dürfe daher genügen, nochmals den Ullenboom zu befragen.

Klempner Ullenboom, der nunmehr in den Saal gerufen wird, bekundet auf Befragen des Präsidenten: Er habe am Peter-Paulstage Vormittags sein Pflegekind zu Buschhoffs mitgenommen. Er hätte das Kind an der Hand geführt. Ob das Kind mehrfach aus dem Hause gelaufen, wisse er nicht, die Möglichkeit gebe er aber zu.

Präs.: Sie sollen zu Beekmann und Frau gesagt haben: Ich begreife nicht, wie Mölders so bestimmt behaupten kann, der kleine Hegmann sei in das Buschhoff’sche Haus gezogen worden, es kann doch eine Verwechslung mit meinem kleinen Pflegekind stattgefunden haben.

Ullenboom: Das habe ich allerdings gesagt.

Oberstaatsanwalt: Sind Sie denn der Meinung, daß Ihr Pflegekind mit dem kleinen Hegmann zu verwechseln war? Ullenboom: Wer beide Kinder kannte, konnte sie allerdings nicht verwechseln.

Oberstaatsanwalt: Ihr Kind war kleiner als der kleine Hegmann? – Ullenboom: Jawohl. – Oberstaatsanwalt: Der kleine Hegmann trug bereits Höschen, während Ihr Pflegekind noch ein Kleidchen trug? – Ullenboom: Jawohl. – Verth. Rechtsanwalt Fleischhauer: Ich bemerke, daß Mölders bekundet hat, er habe beide Kinder nicht gekannt. – Präs.: Das ist richtig.

Verth. Rechtsanwalt Fleischhauer: Ist es richtig, Herr Ullenboom, daß Sie Ihrer Erzählung an die Beekmannschen Eheleute hinzufügten: Ich darf das nicht laut werden lassen, sonst werde ich noch mehr geschädigt und verfolgt? – Zeuge: Jawohl.

Es meldet sich alsdann nochmals Metzgermeister Abraham Bruckmann. Dieser bekundet: Er erinnere sich nun des 20. August 1891 ganz genau. Es sei damals über den Fall Buschhoff im Schlachthause nichts gesprochen worden, sondern nur über geschäftliche Angelegenheiten.

Kaufmann Oster: Es sei unwahr, daß Beekmann des Nachts bei ihm gewesen sei. Overhagen habe ihm allerdings einmal erzählt, daß er nach Cleve vorgeladen sei und habe ihn auch gefragt, wie er sich verhalten solle. Er habe ihm jedoch gesagt, daß er ihm bezüglich seiner Zeugenaussage keinerlei Rathschläge ertheilen könne. Beekmann sei aber niemals bei ihm gewesen.

Schuster Beekmann: Er bestreite, des Nachts bei Oster gewesen zu sein, er habe vielleicht einmal mit Herrn Oster gesprochen, er habe aber nicht nothwendig, Judengeld anzunehmen. Er habe einmal 108 Mk. für Arbeiten erhalten und sich einen kleinen Rausch gekauft. Seine Schwiegermutter habe in Folge dessen Angst bekommen, daß er das ganze Geld ausgeben könne und könne vielleicht gesagt haben: „Der hat jetzt das viele Geld bekommen, wenn das nur gut geht“.

Präsident: Haben Sie denn für Oster einmal gearbeitet?

Zeuge: Nein, ich habe wohl für mehrere andere Juden in Xanten, nicht aber für Oster gearbeitet.

Frau Beekmann stellt entschieden in Abrede, am Sonnabend mit einem Juden längere Zeit über den Prozeß gesprochen zu haben. Sie habe wohl mit Michels gesprochen, über den Prozeß sei jedoch kein Wort gefallen.

Der Botenmeister des hiesigen Land-Gerichts, Ruppelt, theilt alsdann mit, daß hier erzählt worden sei: eine Frau Seegers in Xanten habe am 19. Juni 1891 in das Buschhoff’sche Haus einen feingekleideten Herrn hineingehen sehen, Frau Seegers sei der Meinung, daß dies ein Jude war.

Der Gerichtshof beschließt auf Antrag des Oberstaatsanwalts, die Frau Seegers als Zeugin zu laden.

Fräulein Marie Küppers bekundet: Sie erinnere sich, daß Ullenboom mit Geritzen in ihrer Gastwirthschaft gewesen sei, auf das zwischen denselben stattgefundene Gespräch habe sie aber nicht geachtet.

Die Metzgermeister Hermann Bruckmann und Levi Paßmann bekunden übereinstimmend, daß sie am 20. August 1891 eine Kuh, die sie soeben gekauft, geschlachtet haben, von Buschhoff haben sie jedoch nichts gesprochen. Die Schlachthausthür habe offen gestanden, den Schreinerlehrling Hölsken haben sie aber nicht gesehen. – Präs.: Hölsken, die Herren haben sämmtlich beeidet, daß sie nicht ein Wort von Buschhoff gesprochen haben? – Hölsken: Ich habe ganz genau gehört, daß die Leute sagten: „Sie haben wohl schon viel herausbekommen, mehr sollen sie aber nicht herausbekommen, wir müssen dahin wirken, daß Buschhoff sich nicht verplappert“.

Verth. Rechtsanwalt Stapper: Ich ersuche den Zeugen zu fragen, wer ihm seine Aussage aufgeschrieben hat? – Zeuge: Das habe ich mir selbst aufgeschrieben. – Präs.: Wie kommen Sie auf den Gedanken, sich das aufzuschreiben? – Zeuge: Der Herr Bürgermeister Schleß hat mir das gesagt.

Bürgermeister Schleß: Ich habe das dem Zeugen jedenfalls nicht gesagt. Es ist aber möglich, daß ich, als ich den Zeugen vernahm, ihm gesagt habe: merken Sie sich Ihre Bekundungen, damit Sie sich derselben, wenn Sie vor Gericht kommen, noch erinnern.

Präs.: Bei wem sind Sie in der Lehre? – Zeuge: Bei dem Schreinermeister Börgermann in Xanten. – Präs.: Ist dieser Börgermann nicht ein Schwager von Junkermann? – Zeuge: Jawohl.

Dienstmagd Riesen: Sie haben bei dem Juden Koopmann in Weeze gedient. Sie haben einmal eines Tages gehört, wie Ihr Dienstherr zu seinem Bruder sagte: „Er hat es gethan.“

David und Leonard Koopmann, die alsdann als Zeugen erscheinen, bekunden übereinstimmend, daß eine solche Aeußerung ihnen unbekannt sei.

Frau Löbschen geb. Oster: Sie habe einmal ihren Mann zur Bahn in Xanten begleitet. Sie habe die Köchin Remy auch auf dem Bahnhof gesehen, wisse aber nicht, was ihr Mann mit seinem Freunde Fröhlich gesprochen, jedenfalls habe sie ein Gespräch, wie es von der Remy bekundet worden, nicht gehört; sie habe auch nicht gesehen, daß ihr Mann mit Fröhlich sich angestoßen habe.

Kaufmann Löbschen: Er habe vielleicht seinem Unmuth über die aus Anlaß des Knabenmordes in Szene gesetzte Judenhetze Ausdruck gegeben, jedenfalls habe er nicht gesagt: „Buschhoff ist dumm, daß er die Leiche in die Scheune hat schaffen lassen“. – Präs.: Haben Sie vielleicht das Wort „Scheune“ gebraucht? – Zeuge: Das ist möglich, ich gebe ja zu, daß ich mich mit Fröhlich ganz offen über den Fall Buschhoff unterhalten habe.

Präs.: Haben Sie sich gegenseitig angestoßen?

Zeuge: Absichtlich jedenfalls nicht.

Präs.: Die Remy behauptet: Sie hätten sich, als sie merkten, daß die Remy auf Ihre Unterhaltung aufmerksam wurde, in einer fremden Sprache unterhalten?

Zeuge: Ich bin einer fremden Sprache garnicht mächtig.

Präs.: Die Israeliten können doch alle hebräisch sprechen? – Zeuge: Das ist ein Irrthum, Herr Präsident; ich kann wohl hebräisch lesen, kann das Hebräische aber nicht einmal in’s Deutsche übersetzen, und das wird wohl bei der großen Mehrheit der Juden der Fall sein.

Bürgermeister Schleß bekundet alsdann auf Befragen des Präsidenten, daß ihm über den Steinmetz Kock nichts Nachtheiliges bekannt geworden sei.

Oberstaatsanwalt: Liegt die Synagoge in Xanten in der Nähe der Buschhoff’schen Wohnung? – Zeuge: Nein, die Synagoge liegt von der Buschhoff’schen Wohnung ziemlich weit entfernt.

Oberstaatsanwalt: Buschhoff, Sie haben uns gesagt, Sie hatten am Freitag vor dem Morde dem Wesendrup gekündigt und den Steinmetz Kock dafür engagirt? – Buschhoff: Jawohl. – Oberstaatsanwalt: Wie kam es nun, daß Sie am Tage nach dem Morde den Wesendrup trotzdem bei sich arbeiten ließen? – Buschhoff: Ich bin am Dienstag frühzeitig vom Hause fortgegangen und erst Mittags nach Hause gekommen. Als ich bei meiner Nachhausekunft hörte, daß Wesendrup im Schlachthause arbeitete, habe ich sofort meiner Frau Vorwürfe gemacht, daß sie ihn hineingelassen habe. – Oberstaatsanwalt: Sie hätten doch zu Wesendrup sagen können: Machen Sie, daß Sie aus meiner Werkstatt hinauskommen! – Buschhoff: Wesendrup war an diesem Tage betrunken, und in solchem Zustande ist er sehr jähzornig. Ich hatte zu befürchten, daß, wenn ich ihm die Thür gewiesen, er das Eisen so gelegt hätte, daß der Stein kaput gegangen wäre, ich hätte ihm alsdann nicht einmal die Absichtlichkeit nachweisen können. – Oberstaatsanwalt: Sie haben bisher bestritten, dem Postbeamten Hader am Mittage des Peter-Paulstages begegnet zu sein. Hader erinnert sich aber ganz bestimmt, daß er Ihnen am Peter-Paulstage Mittags auf dem Marktplatz begegnet sei und auch mit Ihnen gesprochen habe. – Buschhoff: Ich erinnere mich jetzt nicht, daß dies am Peter-Paulstage war, ich war bisher der Meinung, daß es Sonntag gewesen sei. – Oberstaatsanwalt: Am Peter-Paulstage Vormittags soll ein feingekleideter Jude bei Ihnen gewesen sein? – Buschhoff: Das ist mir nicht erinnerlich. – Oberstaatsanwalt: Wissen Sie genau, wann Fellemann, genannt Matje Degen, bei Ihnen gewesen ist? – Buschhoff: Matje Degen ist am Sonntag vor dem Morde bei mir gewesen. – Oberstaatsanwalt: Hat der Mann eine Tasche bei sich gehabt? – Buschhoff: Das ist möglich.

Erster Staatsanwalt Baumgard: In verschiedenen Zeitungen wird bemerkt, daß der ermordete Knabe wohl erst betäubt und alsdann geschlachtet worden sei. Ich bemerke ausdrücklich, daß an dem Ermordeten außer der großen Verwundung am Halse nur noch eine kleine Verwundung am Kinn konstatirt worden sei. – Der Präsident bemerkt, daß die Obduktions-Protokolle dies bestätigen.

Es sollen nun noch einige Zeugen vernommen werden, die aber erst sämmtlich zum Nachmittag geladen sind. Der Präsident vertagt in Folge dessen gegen halb 12 Uhr Vormittags die Sitzung bis 4 Uhr Nachmittags.

Nach Wiedereröffnung der Verhandlung nimmt der Präsident nochmals Veranlassung, die Berichterstatter zu ersuchen, den falschen Bericht in der „Kölnischen Volkszeitung“ betreffs der Kontroverse des Präsidenten mit dem Rechtsanwalt Gammersbach richtig zu stellen. Es ist das von mir heute Vormittag bereits geschehen. Der Präsident bemerkt noch, daß in dem „Clever Kreisblatt“ der betreffende Passus richtig gestanden habe.

Oberstaatsanwalt Hamm: Wir haben noch einen neuen Antrag zu stellen. Die Anklage ist hauptsächlich erhoben worden, auf Grund des Zeugnisses des Mölders, das von dem Knaben Heister unterstützt wird.

Die Vernehmung des Herrn Landgerichts-Raths Brixius und des Herrn Refrendars Farnoux habe das Zeugniß des Mölders zweifellos in hohem Grade erschüttert.

Die Bekundungen des Herrn Untersuchungsrichters, Landgerichts-Rath Brixius und des Herrn Referendars Farnoux stehen nicht in den Akten und waren uns bisher unbekannt.

Die Herren haben uns gesagt, daß das von Mölders und dem Knaben Heister beobachtete Hineinziehen des Knaben Hegmann in das Buschhoff’sche Haus in der von Mölders beschriebenen Weise garnicht habe stattfinden können. Bei der großen Wichtigkeit, der Sache halte ich es für erforderlich, daß wir uns die Sache an Ort und Stelle ansehen. Ich beantrage deshalb, daß der Gerichtshof beschließe, daß der Gerichtshof, die königliche Staatsanwaltschaft, die Herren Geschworenen, Vertheidiger und der Angeklagte sich nach Xanten begeben, um einmal das Buschhoff’sche Haus anzusehen, andererseits aber auch um festzustellen, ob Mölders und der Knabe Heister von ihrem Standpunkte aus das Hineinziehen des Kindes in das Buschhoff’sche Haus haben sehen könne. Ich beantrage außerdem, den Herren Landgerichtsrath Brixius, den Herrn Referendar Farnoux, den Mölders, den Knaben Heister und auch den Ullenboom mit seinem Pflegekinde nach Xanten zu laden. Wir könnten morgen früh mit dem Zuge 7 Uhr 48 Minuten nach Xanten fahren und gegen 4 Uhr Nachmittags wieder in Cleve sein, um die Verhandlung fortzusetzen.

Verth. Rechts-Anwalt Gummersbach: Obwohl unserer Meinung nach eine weitere Aufklärung nicht nothwendig ist, widerspricht die Vertheidigung dem Antrage des Herrn Oberstaatsanwalts nicht. Bei der großen Tragweite und außerordentlichen Wichtigkeit des Falles ist es nothwendig, daß auch kein Schatten eines Zweifels übrig bleibt und die Sache nach allen Richtungen hin aufgeklärt wird. Die Vertheidigung stellt daher die Entscheidung dem hohen Gerichtshofe anheim und ist ebenfalls der Meinung, daß die Herren Land-Gerichts-Rath Brixius und Referendar Farnoux der Ortsbesichtigung beiwohnen.

Präs.: Ich kann dem Herrn Rechtsanwalt Gammersbach nur zustimmen, daß dieser Prozeß von größter Tragweite ist. Welch großes Aufsehen der Prozeß in den ganzen Welt erregt, geht aus dem Umstande hervor, daß ich täglich einen ganzen Stoß von Briefen aus dem In- und Auslande erhalte.

Vertheidiger Rechtsanwalt Stapper: Ich muß bemerken, daß, wenn der Angeklagte morgen nach Xanten mitgenommen werden soll, ich es für erforderlich halte, die nöthigen Sicherheitsmaßregeln zu treffen, daß der Angeklagte von der Menge nicht mißhandelt wird. Wir haben gehört, welch‘ tumultuarische Vorgänge sich aus Anlaß des Mordes in Xanten zugetragen haben und es ist nicht anzunehmen, daß die Erregung sich inzwischen gelegt hat. Die gegenwärtige Verhandlung hat im Gegentheil zweifellos[WS 2] die Erregung noch bedeutend vergrößert.

Präs.: Gesetzlich sind wir verpflichtet, den Angeklagten mit nach Xanten zu nehmen.

Vertheidiger Rechtsanwalt Stapper: Es ist das selbstverständlich, ich mache nur auf die Nothwendigkeit aufmerksam, Sicherheitsmaßregeln zu treffen, damit der Angeklagte von der Menge nicht mißhandelt wird.

Geschworener Graf v. Loë: Der Herr Präsident hat gestern mit Recht hervorgehoben, daß er die Bevölkerung von Cleve und Umgegend achten und schätzen gelernt habe, ich bin daher der Meinung, daß auch ohne besondere Sicherheitsmaßregeln die Person des Angeklagten nicht gefährdet ist.

Präs.: Meine gestrigen Bemerkungen bezogen sich auf die Bevölkerung von Cleve und Umgegend, die Xantener Bevölkerung kenne ich nicht.

Oberstaatsanwalt Hamm: Die Veranstaltung von Sicherheitsmaßregeln ist Sache des Vorsitzenden.

Bürgermeister Schleß: Ich halte es für nothwendig, daß behufs Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in Xanten für morgen die Hilfe des Militärs in Anspruch genommen wird.

Präsident: Wie lange sind Sie in Xanten Bürgermeister? – Bürgermeister Schleß: 30 Jahre. – Präsident: Dann werden Sie die Xantener Bevölkerung kennen? – Bürgermeister Schleß: Jawohl. – Präsident: Und Sie halten es für nothwendig, daß morgen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in Xanten die Hilfe des Militärs in Anspruch genommen wird? – Bürgermeister Schleß: Jawohl. – Präs.: Ich werde danach das Erforderliche veranlassen.

Erster Staatsanwalt Baumgard: Ich habe mitzutheilen, daß einem der Herren Geschworenen ein Schreiben zugegangen ist, in dem behauptet wird: In der Gastwirthschaft von Struck habe Ullenboom zu einem gewissen Göritzen gesagt: „Buschhoff ist der Mörder.“ Ich beantrage: den Göritzen und den Gastwirth Struck als Zeugen zu laden.

Verth. Rechtsanwalt Stapper: Obwohl wir die Sache für aufgeklärt halten, widerspricht die Vertheidigung allen diesen neuen Beweisanträgen nicht, um nicht den Verdacht zu erregen, daß wir irgend eine Zeugenaussage zu fürchten hätten.

Der Gerichtshof beschließt: Göritzen und Struck und auch Ullenboom für morgen Nachmittag als Zeugen zu laden.

Es erscheint alsdann als Zeuge der praktische Arzt Dr. van Housen (Emmerich): Ich bin am Peter-Paulstage aus Anlaß einer Ballfestlichkeit auf dem Fürstenberg in Xanten gewesen. Als der Mord bekannt wurde, begab ich mich in die Küppers’sche Scheune. Es wird etwa 9 Uhr Abends gewesen sein, als ich in die Scheune kam. Bei meinem Eintreffen waren die Herren Bürgermeister Schleß, Dr. Steiner und Gerichts-Assessor Buchwald bereits dort. Ich bemerke, daß ich die Leiche nicht weiter untersucht, mir auch die Verwundung nicht angesehen habe. Ich fand blos, daß sehr wenig Blutspuren vorhanden waren und auch die Spreu unberührt war. Aus diesem Umstande gewann ich die Ueberzeugung, daß das Kind nicht am Fundort ermordet sei. Ich sah alsdann, daß in den Händen des Kindes Spreu zusammengeballt war. Ich untersuchte die Spreu und fand, daß dieselbe mit der Spreu in der Scheune, auf der das Kind lag, identisch war. – Präs.: Durch diesen Umstand änderten Sie Ihre Meinung? – Zeuge: Jawohl, ich gewann dadurch die Ueberzeugung, daß, wenn vielleicht auch nicht die That in der Scheune begangen worden, der Knabe doch noch, als er in die Scheune gebracht wurde, gelebt haben muß. – Präs.: Woraus entnehmen Sie das? – Zeuge: weil ich die Ueberzeugung gewann, daß die Spreu noch bei Lebzeiten in die Hände des Kindes gekommen ist. – Präs.: Sie sind aber der Meinung, daß der Mord vielleicht trotzdem nicht in der Scheune ausgeführt ist? – Zeuge: Nach dem, was ich nachträglich von den Sachverständigen gehört, halte ich den Fundort für den Thatort. – Ein Geschworener: Halten Sie es für möglich, Herr Doktor, daß die That trotzdem nicht in der Scheune begangen, sondern der Knabe blos in der Scheune gestorben ist? – Verth. Rechtsanwalt Stapper: Wir können hier nicht mit Möglichkeiten rechnen. Wenn der Herr Doktor ein solches Gutachten abgeben soll, dann beantrage ich, demselben das Leichenbefunds-Protokoll, das Obduktions-Protokoll, das Gutachten des Medizinal-Kollegiums und die Kleidchen des Ermordeten vorzulegen. – Präs.: Ich werde alle diese Dinge dem Herrn Doktor übergeben und diesen ersuchen, sich zum Zwecke der Information in’s Richterzimmer zu begeben.

Während sich Dr. van Housen mit den erwähnten Protokollen in’s Richterzimmer begiebt, wird mit der Zeugenvernehmung fortgefahren. Es erscheint zunächst als Zeugin Frau Kips, geborene Schloeßer aus Neuß: Buschhoff habe im vergangenen Winter einmal vier Wochen mit seiner Familie im Hause ihrer Eltern gewohnt. Eines Morgens sei sie über den Hof gegangen und habe gesehen, wie Buschhoff seine Hände in die Höhe gestreckt und sich den Kopf gehalten habe. Sie habe sich gesagt, entweder ist der Mann verrückt oder er hat kein gutes Gewissen; später habe sie gehört, es sei das eine Manipulation, die die Juden beim Beten anwenden. – Präs.: Betete denn Buschhoff? – Zeugin: Das weiß ich nicht. – Präs.: Buschhoff, haben Sie einmal die Hände in die Höhe gehoben und sich den Kopf gehalten? – Buschhoff: Das ist möglich, Herr Präsident, ich hatte im vergangenen Winter bisweilen heftige Zahnschmerzen. – Präs.: Gehört vielleicht eine solche Manipulation zu Ihren religiösen Gebräuchen? – Buschhoff: Nein. – Präs.: Zeugin, haben Sie außerdem noch etwas gehört oder gesehen? – Zeugin: Nein.

Die folgende Zeugin ist die Schwester der Vorzeugin, Fräulein Schloeßer (Neuß). Diese bekundet auf Befragen des Präsidenten: Hermine Buschhoff sagte mir einmal, wenn der Mörder entdeckt wird, da giebt es einen großen Ball, und da bekomme ich ein neues Kleid. Ich werde alsdann in weißem Kleide auf dem Throne sitzen, Mölders wird zu meinen Füßen liegen, und ich werde auf ihm herumtanzen. – Präs.: Wissen Sie uns sonst noch etwas zu erzählen, das auf die Mordthat Bezug hat? – Zeugin: Nein. – Präs.: Wissen Sie, wer Sie und Ihre Schwester als Zeuginnen vorgeschlagen hat? – Zeugin: Nein. – Präs.: Kennen Sie in Neuß einen Mann, Namens Schmitts? – Zeugin: Nein. – Präs.: Es ist bedauerlich, daß die Verhandlung durch derartige Dinge, die zur Aufklärung der Sache nicht das Geringste beitragen, derartig aufgehalten wird.

Die folgende Zeugin ist Frau Seegers (Xanten). Präs.: Sie sollen am Peter-Paulstage einen feingekleideten Juden zu Buschhoff gehen gesehen haben?

Zeugin: Davon weiß ich nichts. – Präs.: Haben Sie überhaupt einmal einen fremden Juden bei Buschhoff gesehen? – Zeugin: Ich habe einmal in der Kirchstraße einen fremden Juden getroffen, der anscheinend zu Buschhoff ging, ich kann aber nicht sagen, ob das am Peter-Paulstage war.

Es sind noch 3 Zeugen, aus Anlaß eines anonymen Schreibens desselben Themas wegen vorgeladen, es wird jedoch allseitig auf die Vernehmung dieser Zeugen verzichtet.

Hierauf werden nochmals die medizinischen Sachverständigen vernommen.

Geh. Regierungs- und Medizinal-Rath Dr. Kirchgäßer bekundet u. A.: Wir haben 400 Gramm frisches Ochsenblut auf Spreu gegossen und alsdann gefunden, daß der Erdboden unter der Spreu nur zum Theil mit Blut gedeckt war. Ein Kind wie das ermordete hat aber 1,27 Liter Blut im Körper. Es ist nun selbstverständlich, daß ein Theil des Blutes noch im Leichnam bleibt, danach kann der Ermordete etwa 0,95, also noch nicht ein volles Liter Blut verloren haben. Dieser Umstand erklärt die verhältnismäßig geringe Blutmenge in der Scheune. – Professor Dr. Köster schließt sich diesem Gutachten vollständig an. – Oberstaatsanwalt Hamm: Herr Professor, wenn Jemand einen Menschen mordet, um ihm das Blut zu entziehen, halten Sie alsdann die Halsabschneidung für die geeignete Form des Mordes? – Professor Dr. Köster: Die Halsdurchschneidung halte ich zu dem Zwecke der Blutentziehung für die ungeeignetste Form, da durch das die Halsdurchschneidung bewirkende Spritzen der größte Theil des Blutes verloren geht.

Es erscheint alsdann wiederum Dr. med. van Housen und erklärt: Nach Einsichtnahme in die Obduktions-Protokolle u. s. w. schließe ich mich dem Gutachten der medizinischen Sachverständigen vollständig an. Ich bin nun auch der Ueberzeugung, daß der Fundort der Thatort ist. Ich wiederhole: ich habe die Leiche nicht untersucht, ich wußte nicht, daß unter derselben eine Blutlache gefunden wurde.

Die Verhandlung wird alsdann gegen halb 7 Uhr Abends auf morgen Nachmittags, bis zur Rückkehr des Gerichtshofes u. s. w. aus Xanten, vertagt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wenn
  2. Vorlage: weifellos