Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892/Tag 9

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Neunter Verhandlungstag.

Dunkle Regenwolken bedeckten heute den Himmel, ein kühler Wind jagte durch die Straßen, als ich schon in sehr früher Morgenstunde von dem Hausknecht meines Hotels aus dem süßesten Schlummer, so süß, wie er eben nur einem Berichterstatter beschieden ist, der seit so langer Zeit in der angestrengtesten Weise gearbeitet hat, geweckt wurde. Ich verließ schleunigst meine Lagerstätte, denn im Hotel herrschte bereits trotz der frühen Morgenstunde ein sehr reges Leben und Treiben. Die meisten Hotel-Gäste, Geschworene, Vertheidiger, Journalisten etc. rüsteten sich zur Reise nach Xanten. Als ich, noch unangekleidet, einen Blick auf die Straße zum Fenster hinauswarf, da kam ein verschlossener Wagen dahergerollt. In diesem saß der Angeklagte Buschhoff mit 3 Gendarmen. Der Präsident hatte, um so wenig als möglich Aufsehen zu erregen, angeordnet, daß Buschhoff nicht per Eisenbahn, sondern im geschlossenen Wagen nach Xanten eskortirt werden solle. Auf dem Bahnhof in Cleve herrschte ebenfalls ein reges Leben. Der Himmel hatte sich inzwischen aufgeklärt. Gegen 7¾ Uhr Vormittags dampften wir von Cleve ab und waren genöthigt, in dem benachbarten Goch auszusteigen und dort etwa ¾ Stunden auf den Zug zu warten, der uns nach Xanten bringen sollte. Wider Erwarten waren auf dem eine ¼ Stunde vor der Stadt liegenden Bahnhofe in Xanten nur wenige Menschen zu sehen; je näher wir aber in die Stadt hineinkamen, desto dichter wurden die Spaliere der Xantener Bevölkerung, die wohl noch niemals ein solches Schauspiel, eine Gerichtsverhandlung auf offener Straße, gesehen hatte. Aber auch alle Fenster und Dächer waren mit Neugierigen dicht besetzt.

In Schaaren waren die Leute herbeigeströmt, um sich diese Personen anzusehen, die über den weltbewegenden „Fall Buschhoff“ zu Gericht sitzen. Es waren wohl zahlreiche Gendarmen und Polizei-Sergeanten aufgeboten, auf militärische Hilfe war aber noch im letzten Augenblick verzichtet worden. Die gestern geäußerte Befürchtung war auch absolut grundlos, denn die Bevölkerung zeigte sich wohl sehr neugierig, im Uebrigen herrschte geradezu musterhafte Ruhe. Der Angeklagte Buschhoff wurde, soweit ich beobachten konnte, auch nicht durch einen Zuruf behelligt. Als er in die Nähe seines in der Kirchstraße belegenen Hauses kam, begann er heftig zu weinen. Das kleine, einfache, einstöckige Landhäuschen gleicht vollständig einer Brandruine. An der Vorderfront stand, augenscheinlich mit schwarzer Kohle: „Mörderhaus“, „Mörder“, „Koscher Metzger“ und etwas höher zwei Kreuze angekritzelt. Daß das Haus einmal Fenster hatte, davon geben eine große Anzahl in den Stuben umherliegende Glassplitter beredtes Zeugniß. Außer einem gleich am Hauseingang stehenden festen eichenen Ladentisch ist in dem Häuschen Alles kurz und klein geschlagen. Jüdische Gebetbücher liegen in Fetzen zerrissen unter allerlei zerschlagenen Möbelresten in den Stuben. Die eingeschlagenen Fenster hatte der Bürgermeister durch Holzbretter ersetzen lassen. Aber auch diese waren zum Theil demolirt. Wie Bürgermeister Schleß mittheilte, sind gestern fremde Radfahrer in’s Städtchen gekommen und haben unter dem Rufe: „Nieder mit dem Juden-Bluthaus“ Alles demolirt, was noch irgend zu demoliren war.

Die Xantener Polizeibeamten waren, während die Demolirung geschah, zu der Militäraushebung kommandirt. Als Buschhoff in sein Haus geführt wurde und die Trümmer seiner Besitzung sah, schlug er unaufhörlich die Hände zusammen und sagte weinend: „Mein Gott, mein Gott, was ist aus meinem Hause geworden!“ Als das Schwur-Gericht versammelt war, wurde zunächst das Buschhoff’sche Haus in Augenschein genommen. Von diesem gelangt man unmittelbar in das Buschhoff’sche Schlachthaus, das, wie bereits berichtet, schon seit langer Zeit als Steinmetz-Werkstätte diente. Klempner Ullenboom, der das Schlachthaus zur Zeit vernagelt hatte, wußte heute auf Befragen nicht mehr anzugeben, ob die noch vorhandenen Nägel die von ihm damals verwendeten seien. Auch Schreiner Hegmann wußte dies nicht zu sagen, zumal nicht er, sondern seine Frau die Nägel dem Siegmund Buschhoff gegeben habe. Nach Besichtigung der Wohnung wurde der sogenannte Porteweg besichtigt. Das Buschhoff’sche Haus liegt an der Ecke dieses Weges, der geradeaus in die Küppers’sche Scheune, rechts in den Küppers’schen Garten führt. Links von der Scheune sieht man auf die Hinterfenster des Hauses des Zeugen Mallmann, aus denen derselbe am Nachmittage des Peter-Paulstages gesehen haben will, wie Hermine Buschhoff einen sackartigen Gegenstand in die Scheune getragen habe. Rechts hinter dem Küppers’schen Garten, in dem laut Bekundung die Frau Winthuis am Nachmittage des Peter-Paulstages einen Mann, der anscheinend ein Jude war, gesehen haben will, liegt das Haus der Winthuis.

Nach Besichtigung des Porteweges betrat der Gerichtshof die Küppers’sche Scheune. Geradeaus liegt die sogenannte Fruchtscheune, in der der kleine Hegmann ermordet aufgefunden wurde. Etwas weiter rechts die sogenannte Stallscheune, in der Ochsen, Kühe, Schweine u. s. w. untergebracht sind.

Die Fruchtscheune ist stets geschlossen, die Stallscheune dagegen stets geöffnet; beide sind mit einander verbunden, so daß man zunächst durch die Stallscheune in die Fruchtscheune gelangen kann. Unter dem Blöken der Kühe, dem Grunzen der Schweine und dem Gegacker der Hühner betrat das Schwurgericht die Scheune. Die Stelle, auf der der Ermordete aufgefunden wurde, war durch einen langen Stock, an dessen Ende zwei Kinderschuhe aufgesteckt waren, markirt. Die Dienstmagd Dora Moll, die das Melken der Kühe zu besorgen hatte, betrat die an die Stallscheune anstoßende Fruchtscheune nur, wenn sie sich Stroh holen wollte. Um jedoch die Stelle zu sehen, an der der Ermordete gelegen, war sie genöthigt, etwas näher hinzuzutreten, zumal die Scheune ziemlich dunkel ist. Etwa drei Schritte von der Stelle, wo der Leichnam aufgefunden wurde, steht die vielerwähnte Schaukel und fünf Schritt von der Schaukel die sogenannte Strohschneidemaschine. Nach Besichtigung der Scheune wurde der Küppers’sche Garten in Augenschein genommen und alsdann in der Kirchstraße zunächst der Zeuge Mölders und alsdann der 9jährige Knabe Gerhard Heister aufgefordert, die Stelle anzugeben, von der aus sie gesehen haben wollen, wie das Kind in das Buschhoff’sche Haus gezogen worden sei. Während der Knabe Heister genau angab, daß er auf dem an der Clever- und Kirchstraßen-Ecke belegenen Prellstein, etwa 50 Schritt von dem Buschhoff’schen Hause, das Hineinziehen wahrgenommen, bezeichnete Mölders eine etwa 20 Schritt entfernt belegene Stelle, auf der er das Hineinziehen des Kindes gesehen habe.

Der Oberstaatsanwalt bemerkt, daß Mölders in seinen Angaben avancirt sei, er habe zunächst etwa 10–12 Schritt, alsdann 12–14 Schritt, in einer späteren Vernehmung 18–20 und jetzt sei er schon auf 20 Schritt angelangt. Er (Oberstaatsanwalt) müsse allerdings bemerken, daß es ungemein schwer sei, heute noch genau zu wissen, auf welcher Stelle er gestanden habe. Es werden alsdann verschiedene Versuche gemacht, von einer herauslangenden Hand vorübergehende Kinder in das Buschhoff’sche Haus zu ziehen. Die Versuche ergaben, daß ein Hineinziehen des Kindes wohl möglich ist, ohne daß man die hineinziehende Person sehen konnte. Letztere mußte aber dabei auf der Lauer stehen. Ein genaues Ergebniß war kaum festzustellen.

Der Präsident zeigt außerdem den Geschworenen die dem Buschhoff’schen Hause gegenüberliegende Pumpe, wo die Pumpenkirmes abgehalten wird und endlich das kleine Pflegekind des Ullenboom. Endlich begiebt sich das Schwurgericht noch einmal in die Küppers’sche Fruchtscheune.

Der Präsident theilt mit, daß die Tochter des Mölders, die in Gelsenkirchen an einen Bergmann verheirathet ist, laut eines an die Oberstaatsanwaltschaft gelangten Schreibens erzählt haben soll: Ihrem Vater sei von dem oder den Juden 500 Mk. geboten worden, wenn er seine Aussage zurückziehe.

Präs.: Ist das wahr, Mölders, haben Ihnen die Juden oder ein Jude 500 Mark geboten, wenn Sie Ihre Aussage widerrufen? – Mölders: „Nit eenen Penning.“ (Nicht einen Pfennig.) – Präs.: Diese Behauptung ist also ebenso wie viele andere aus der Luft gegriffen.

Hierauf wird, auf Wunsch eines Geschworenen, der geistesschwache Drechsler Knippenberg in die Scheune gerufen, an die Mordstätte geführt und nochmals eingehend gefragt, ob er das kleine Joanchen geschlachtet habe. Die Vernehmung fiel aber resultatlos aus. Danach war die Okularinspektion beendet. Buschhoff wurde sehr bald wieder per Wagen, von 4 Gendarmen begleitet, nach Cleve eskortirt, während das Schwurgericht u. s. w. mit dem um 3 Uhr 4 Minuten Nachmittags abgehenden Zuge nach Cleve zurückfuhr und dort nach 4½ Uhr Nachmittags wieder anlangte.

Gegen 5 Uhr Nachmittags eröffnet der Präsident, Landgerichtsdirektor Kluth, die Sitzung mit folgenden Worten: Es ist mir nahe gelegt worden, auszusprechen, daß das Verhalten der Xantener Bevölkerung ein durchaus gesetzliches und ruhiges war. Die Bevölkerung hat in jeder Beziehung den Aufforderungen der Polizeibeamten und des Gerichts stets unverzüglich Folge geleistet.

Es ist mir noch ein Telegramm folgenden Inhalts zugegangen: Der Jude Vyth aus Calcar hat zu einem Ackersmann in Wissel gesagt: „Ein Theil der Juden braucht allerdings Christenblut, er aber nicht“.

Der Oberstaatsanwalt bemerkt, daß er bezüglich dieses Telegramms keine Anträge zu stellen habe.

Der frühere Untersuchungsrichter Landgerichtsrath Brixius bemerkt alsdann: Er müsse berichtigen, daß er nicht, wie in den öffentlichen Blättern gestanden, am vergangenen Montag gesagt habe, er sei gleich nach der ersten Vernehmung von der Unschuld des Buschhoff überzeugt gewesen, das habe er gar nicht sagen können. Er habe nur gesagt, Buschhoff sei ihm nicht wie ein Verbrecher vorgekommen, und er habe auf ihn einen guten Eindruck gemacht. Auch jetzt wolle er (Brixius) ein Urtheil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten nicht abgeben. Im Uebrigen wolle er bemerken, daß er nach der heutigen Lokalbesichtigung die Wahrnehmung des Mölders wohl für möglich aber für unwahrscheinlich halte.

Es erscheint als Zeuge der Schuhmacher und Gastwirth Struck. Ullenboom habe einmal in seiner Wirthschaft gesagt, wenn er vor Gericht als Zeuge kommen werde, dann werde er schon sagen, wer der Mörder ist.

Ullenboom, wiederum vernommen, stellt in Abrede, eine solche Aeußerung jemals gethan zu haben.

Schuhmacher Lörks, der dem Gespräch beigewohnt haben soll, vermag nicht darüber zu bekunden.

Es erscheint alsdann als Zeugin Frau Buschhoff, die Gattin des Angeklagten. Als die Frau den Gerichtssaal betritt, beginnt der Angeklagte heftig zu weinen.

Frau Buschhoff erzählt auf Befragen des Präsidenten, was am Peter-Paulstag in ihrem Hause vorgekommen sei. Die Zeugin bestätigt im Wesentlichen die diesbezüglichen Bekundungen ihrer Tochter Hermine und des Angeklagten. Die Zeugin beginnt ebenfalls nach ihrer Vernehmung heftig zu weinen. Auf das Zeugniß des Siegmund Buschhoff wird verzichtet.

Der Erste Staatsanwalt übergiebt alsdann den Geschworenen die Akten, die gegen den Juden Fellemann geführt wurden und ein negatives Resultat ergeben haben. Es seien außerdem 40 andere Personen der That verdächtig gewesen.

Der Präsident erklärt alsdann die Beweisaufnahme für geschlossen und legt den Geschworenen folgende Schuldfrage vor: Ist der Angeklagte Adolf Buschhoff schuldig, am 29. Juni 1891 zu Xanten den Knaben Johann Hegmann vorsätzlich getödtet zu haben, und zwar, indem er die Tödtung mit Ueberlegung ausführte?

Es nimmt alsdann das Wort zur Schuldfrage Oberstaatsanwalt Hamm: Meine Herren Geschworenen! Der gegenwärtige Prozeß hat schon lange vor dieser Verhandlung die große Oeffentlichkeit beschäftigt. Er hat zum Gegenstande einer häßlichen Hetze sozialer und politischer Parteien dienen müssen. Die behördlichen Organe, die von Amtswegen zur Führung der Untersuchung verpflichtet waren, wurden in der gemeinsten Weise angegriffen. Parteimänner und Parteiblätter haben sich nicht entblödet, dem richterlichen Urtheile vorzugreifen und den Versuch zu machen, durch allerlei Hetzartikel das sachliche Urtheil zu trüben. Allein die große Aufmerksamkeit, mit der die Herren Geschworenen der Verhandlung gefolgt sind, giebt mir die Gewähr, daß dieselben sich allen Stürmen von außen unzugänglich erweisen und nur auf Grund des Ergebnisses der Verhandlung nach bester eigener Ueberzeugung ihren Wahrspruch abgeben werden.

Ich will nun zunächst den objektiven Thatbestand beleuchten. Am 29. Juni 1891 Vormittags spielten einige Kinder in der Kirchstraße zu Xanten; zu diesen gehörte der fünfeinhalbjährige Johann Hegmann. Es steht fest, gegen 10 Uhr Vormittags ist der kleine Hegmann zum letzten Male gesehen worden, von dieser Zeit ab war er verschwunden. Der Knabe kam nicht wie gewöhnlich nach Hause zum Frühstück, er kam auch nicht zum Mittag, er wurde überall gesucht; endlich Abends gegen halb 7 Uhr wurde der Knabe in der Küppers’schen Scheune ermordet aufgefunden. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß nach 10 Uhr Vormittags der Knabe in der Scheune ermordet wurde. Der Hauptpunkt ist, daß das Kind am Fundort getödtet worden ist. Ich habe nicht erst nöthig, die medizinischen Gutachten zu wiederholen. Diese stellen sämmtlich zweifellos fest, daß der Mord am Fundort geschehen ist. Der erste in der Scheune erschienene Arzt war allerdings Herr Dr. Steiner. Dieser äußerte sofort seine Ueberzeugung, daß der Mord nicht in der Scheune, sondern an einem anderen Orte geschehen sein müsse, denn das vorgefundene Blut war nur die Folge einer Nachblutung.

Es ist bedauerlich, daß nicht sofort ein Arzt zur Stelle war, der forensische Kenntniß besaß, und es ist außerdem bedauerlich, daß die Aerzte nicht im Allgemeinen mehr von der forensischen Wissenschaft verstehen. Als der Mord bekannt wurde, war zunächst die allgemeine Meinung: entweder ist der Knabe durch das sogenannte Schweineschlachten-Spiel der Kinder zu Tode gekommen, oder es ist die That eines Verrückten. Selbst Junkermann sagte, als er am Abende des 29. Juni vom Schützenplatz kam: es ist möglich, daß der geistesschwache Knippenberg den Mord begangen habe. Andererseits wurde gesagt: Knippenberg sei viel zu gut, um den Mord begehen zu können. Allein es wurde festgestellt, daß Knippenberg mit seinem Schwager Hegmann wegen Erbschaftsangelegenheiten im Unfrieden lebe. Als fernere muthmaßliche Todesursache wurde gesagt, daß der Knabe vielleicht in die Wannmühle gefallen sei. Diese Vermuthung hatte auch Buschhoff ausgesprochen. Es ist richtig, Buschhoff hat am längsten an dieser Vermuthung festgehalten. Allein es darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Buschhoff taub ist und daß ihm seine Stammesangehörigkeit verbot, die Scheune zu betreten und sich den Leichnam anzusehen. Am folgenden Tage lief Junkermann zum Bürgermeister und sagte: den Mord könne nur ein Jude gethan haben, er habe von seinem Sohne gehört, daß die Juden Christenblut brauchen. Es kamen hierauf die Angaben des Zeugen Mölders, des Knaben Kernder, des Knaben Heister; Junkermann und andere wollten wissen, daß der Halsschnitt des Kindes ein Schächtschnitt sei. Von da ab begann der Verdacht gegen Buschhoff. Dieser Verdacht wurde um so reger, da angeblich zu wenig Blut in der Scheune vorhanden war und Buschhoff früher Schächter gewesen sei. Es meldeten sich eine ganze Reihe von Zeugen, die verdächtige Wahrnehmungen gemacht haben wollten. Der frühere Untersuchungsrichter, Herr Landgerichtsrath Brixius hat uns gesagt: Die Zeugen wurden bei jeder Vernehmung immer bestimmter und klarer. Die Zeugenbekundungen machten schließlich die Verhaftung des Buschhoff nebst Frau und Tochter nothwendig. Die Staatsanwaltschaft war nach so vielen Zeugenbekundungen verpflichtet, die Voruntersuchung zu eröffnen. Mit der Führung der Untersuchung wurde Herr Landgerichtsrath Brixius betraut. Sie wissen, m. H., daß auch dieser Umstand zu sehr heftigen Angriffen in der Presse Veranlassung gegeben hat, da Herr Landgerichtsrath Brixius der Schwiegervater des Herrn Rechtsanwalts Fleischhauer ist. Dieser Angriff ist jedenfalls vollständig ungerechtfertigt, denn der Vertheidiger hat auf den Gang der Untersuchung erst dann Einfluß, wenn die Staatsanwaltschaft die Anklage erhoben hat. Inzwischen kam das Gutachten des Kreisphysikus Dr. Bauer; der bekundete: Der Halsschnitt müsse mit dem bei Buschhoff vorgefundenen Messer Nr. 13 geschehen sein. Dieses Gutachten war im Augenblick so schwerwiegend, daß zur Wiederverhaftung des Buschhoff geschritten wurde. Allein das Medizinal-Kollegium der Rheinprovinz und alle anderen medizinischen Sachverständigen stellte fest, daß mit dem Messer Nr. 13 der Mord nicht ausgeführt sein kann. Die medizinischen Sachverständigen haben ausgesagt, daß der Mord überhaupt mit keinem Schächtmesser, sondern eher mit einem gewöhnlichen Brodmesser ausgeführt sein kann, daß der Halsschnitt kein Schächtschnitt ist und auch nicht von einem Metzger ausgeführt sein kann. Die Sachverständigen haben uns gesagt, der Halsschnitt sei ein so ungeschickter gewesen, daß ein Metzger sich bei dem Schneiden hätte verstellen müssen. Es ist auch zweifellos festgestellt, daß der Mord am Fundort begangen worden ist. Dafür spricht ganz besonders der Umstand, daß so viel Blut bei der Leiche gefunden wurde, als dieselbe überhaupt verlieren konnte. Die Zeugen Bruckmann hatten auch ganz Recht gehabt, wenn sie geäußert hätten, Buschhoff wäre sehr dumm gewesen, wenn er die Leiche zur Parade in die Scheune gelegt hätte. Als Hauptbelastungszeuge trat ferner der Zeuge Mallmann auf. Sie haben den Mann gehört. Um das Zeugniß des Mallmann richtig zu würdigen, wäre es nothwendig gewesen, jeden Satz seiner Aussage sofort zu Protokoll zu nehmen, denn dieser Mann machte allerhand Seitensprünge; ein ungemein phantasiereicher Mann, der sich berufen glaubte, in der Sache Aufklärung verbreiten zu müssen. Er, der in erster Reihe zu den Leuten gehörte, die den Buschhoff für den Mörder hielten, wurde am 1. Juli von dem Herrn Amtsrichter vernommen. Dort sagte er aber kein Wort von seiner wichtigen Wahrnehmung. Ich will dahingestellt sein lassen, ob die Hermine Buschhoff im Stande gewesen wäre, die Leiche eines 5 ½ jährigen Knaben in die Scheune zu tragen, allein ich erwähne weiter, daß Mallmann den Buschhoff auf der Straße mit dem Rufe „Mörder“ behelligt hat, daß Buschhoff sich beim Bürgermeister darüber beschwerte und Mallmann infolgedessen von dem Stadtsekretär verantwortlich vernommen wurde. Allein auch bei dieser Vernehmung erwähnt Mallmann kein Wort von seiner Wahrnehmung. Am 22. Juli endlich meldet er sich bei dem Herrn Amtsrichter Dr. Riesbroek und giebt seine Wahrnehmung zu Protokoll. Als er nun hier über die Ursache dieses seines Verhaltens gefragt wurde, da sagte er, er hätte das in der Aufregung vergessen. Mallmann wußte aber noch mehr, er erzählte, es haben Leute den Siegmund Isaak im Küppers’schen Garten gesehen; dieser habe der Hermine Buschhoff gewinkt und ihr somit ein Zeichen gegeben, daß sie unbemerkt zur Scheune ginge. Sie wissen, wie diese Behauptungen des Mallmann ins Nichts zerfielen. Frau Winthuis bekundet anfänglich, daß sie im Garten einen Jungen gesehen habe, von einem Juden war zunächst überhaupt keine Rede. Später hat Frau Winthuis gesagt: Der Mann, den sie gesehen, sah eher aus wie ein Jude als ein Christ, und sie habe auch nicht gesehen, daß dieser Mann gewinkt habe. Sie werden sich ferner erinnern, daß Mallmann auch verschiedene Dinge behauptet hat, die sich sämmtlich nicht bewahrheitet haben. Ich kann mir nicht denken, daß Sie einen solchen Zeugen für glaubwürdig halten. Die Vertheidigung hat es für nöthig gehalten, durch Ladung eines Sachverständigen zu beweisen, daß es einen Ritualmord nicht gebe. Ich hielt dies Sachverständigen-Gutachten für überflüssig. Ich will zugeben, daß es vielleicht Juden giebt, die der Meinung sind, daß Christenblut zu Heilzwecken oder auch zu rituellen Zwecken nothwendig sei. Dies könnte ja möglich sein, ohne daß es im Talmud steht, allein das kümmert uns nichts, hier liegt jedenfalls kein Ritualmord vor. Es ist dies festgestellt durch die medizinischen Sachverständigen, die bekundet haben, daß der Mord am Fundort geschehen ist, daß soviel Blut bei der Leiche vorgefunden wurde, wie diese nur verlieren konnte, daß der Halsschnitt kein Schächtschnitt gewesen und auch der Mord nicht mit einem Schächtmesser ausgeführt ist. Wie die medizinischen Sachverständigen bekundet haben, ist sofort auf’s Eingehendste untersucht worden, ob ein Lustmord vorliegt, hierfür haben sich aber keine Anhaltspunkte ergeben.

Ich komme nun zu dem Hauptpunkt, der wesentlich zur Erhebung der Anklage Veranlassung gegeben hat, es ist das die Aussage des Zeugen Mölders. Ich bemerke, daß die Staatsanwaltschaft auf dem Standpunkt steht, daß die Anklage auch dann aufrecht zu erhalten ist, wenn das Motiv des Mordes nicht nachgewiesen ist und ich muß bekennen, die Aussage des Zeugen Mölders ist auch heute bei der Ortsbesichtigung nicht erschüttert worden. Die Aussage des Zeugen Mölders steht aber auch nicht allein, zwei Knaben unterstützen dieselbe. Da ist zunächst der Knabe Stephan Kernder. Dieser soll zu seinen Eltern gesagt haben: er habe gesehen, wie Frau Buschhoff den kleinen Hegmann in das Haus gezogen hat. Allein der Knabe Kernder hat einmal dies seinen Eltern erzählt eine volle Woche nach dem Morde, und andererseits hat sich der Knabe trotz aller Bemühungen nicht vernehmen lassen. Endlich ist zu erwägen, daß der Knabe, als ihn die Schwester des kleinen Hegmann fragte, ob er nicht wisse, wo ihr Brüderchen sei, gesagt hat: „Der ist nach den Kirschen gegangen“. Wir können auch nicht wissen, was der Knabe seinen Eltern gesagt hat, was sie selbst hinzugesetzt haben u. s. w. Da wir auch den Knaben nicht selbst gehört haben, so können wir dessen Aussage kein Gewicht beilegen. Ich komme zu dem Knaben Gerhard Heister, der uns auch heute gezeigt, in welcher Stellung er auf dem Prellstein gesessen hat. Aber auch dieser Knabe hat erst zwei Wochen nach dem Morde seine Wahrnehmungen mitgetheilt, nachdem die Mölders’sche Aussage längst bekannt war. Es wird deshalb auf die Aussage des Knaben Heister auch kein Gewicht zu legen sein. Allein trotzdem halte ich den Mölders für vollständig glaubwürdig. Es ist richtig, Mölders trinkt gerne Schnaps, und an dem Tage, als er das erste Mal zu dem Herrn Amtsrichter ging, hatte er vielleicht schon verschiedene Schnäpse getrunken, aber an dem Vormittage, an dem er seine Wahrnehmungen machte, hatte er nur einen Schnaps getrunken. Ich muß nun bekennen, wenn der Angeklagte nicht in vollem Umfange und in überzeugendster Weise sein Alibi nachgewiesen hätte, würde ich keinen Anstand nehmen, auf Grund der Aussage des Mölders das Schuldig gegen den Angeklagten zu beantragen. Sobald festgestellt ist: der Knabe ist zuletzt in Buschhoff’s Haus gewesen, dann muß Buschhoff über den Verbleib Rechenschaft geben. Ich wiederhole, dieses Moment war die Hauptveranlassung, daß gegen Buschhoff, Frau und Tochter Anklage erhoben wurde.

Die Strafkammer hat beschlossen das Verfahren gegen Frau und Tochter einzustellen, die Staatsanwaltschaft hat deshalb Beschwerde geführt, das Oberlandes-Gericht diese Beschwerde aber zurückgewiesen. So ist die Anklage gegen Buschhoff allein übrig geblieben. Es steht nun fest, daß der ermordete Knabe nach 10 Uhr Vormittags nicht mehr gesehen und daß die That in der Scheune begangen worden ist. Es kann deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß der Knabe gleich nach 10 Uhr Vormittags in der Küppers’schen Fruchtscheune ermordet worden ist. Buschhoff hat aber in glaubwürdigster Weise nachgewiesen, wo er zu dieser Zeit gewesen ist, er kann mithin die That unmöglich begangen haben. Ich habe bereits gesagt: der Mangel eines Motivs ist es nicht, der die Staatsanwaltschaft veranlassen wird, das Nichtschuldig zu beantragen. Die Staatsanwaltschaft kann die Auffassung des Kriminalkommissars Wolff nicht theilen, wonach Buschhoff den Mord begangen haben könnte, weil ihm der Knabe einen Grabstein beschädigt habe. Dieser winzige Schaden kann den Angeklagten nicht veranlaßt haben, die Mordthat zu begehen.

Auch der Umstand, daß der Angeklagte zu dem Knaben einmal gesagt haben soll: „Du kommst in den Thurm“, kann keinerlei Anhaltspunkte für ein Motiv gewähren, denn der Zeuge Wesendrup hat uns bekundet: Buschhoff habe diese Drohung nur ausgesprochen, damit ihm die Knaben die Grabsteine nicht beschädigen sollen. Da eben keinerlei Motiv vorhanden war, so wurde behauptet: es liege ein Ritualmord vor. Bei einem Ritualmord bedarf es keines weiteren Motivs, der Mörder kann ein ganz guter, braver Mann sein – ein Zeugniß, das dem Buschhoff von den meisten Zeugen ausgestellt wurde – er hat aber trotzdem den Mord begangen, weil die Juden entweder zu Heilzwecken oder zu rituellen Dingen Christenblut gebrauchen. Ich habe bereits ausgeführt, daß hierfür nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden sind. Dieser Glaube wäre auch niemals entstanden, wenn Dr. Steiner nicht begutachtet hätte, es sei in der Scheune kein Blut gefunden worden, während eine ganze Fülle von Blut gefunden wurde. Ich wiederhole: ich stehe nicht auf dem Standpunkt des Herrn Landgerichtsraths Brixius, sondern ich halte den Mölders für einen durchaus glaubwürdigen Zeugen, allein der Alibi-Beweis des Angeklagten bringt mich zu dem Schluß, daß Mölders sich trotz alledem geirrt hat.

Der Versuch, ein Kind in das Buschhoff’sche Haus zu ziehen, gelang wohl heute. Allein es darf nicht außer Acht gelassen werden, daß die Wirklichkeit und der Versuch, den ein Schwurgericht, das etwas Bestimmtes sehen will, anstellt, zweierlei Dinge sind. Jedenfalls hat sich Mölders geirrt. Es ist einmal möglich, das Kind ist in den Porteweg gezogen worden, oder auch, daß das Ullenboom’sche Kind, das Mölders ebenso wenig wie den kleinen Hegmann kannte, in das Buschhoff’sche Haus gezogen wurde.

Ich komme nun nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme zu der Ueberzeugung, daß dem Buschhoff die That nicht nur nicht nachgewiesen ist, sondern daß die Verhandlung seine volle Unschuld ergeben hat.

Nun wird man sagen: „Es ist doch ein Mord geschehen, wer ist der Thäter?“ In dieser Beziehung hat leider die Verhandlung keinerlei Anhaltspunkte ergeben, aber sie hatte doch wenigstens das Resultat, daß die Unschuld des Buschhoff nachgewiesen wurde. Ich beantrage daher aus voller Ueberzeugung das Nichtschuldig und gebe mich der Hoffnung hin, daß die Verhandlung ganz besonders beigetragen haben wird zur Befestigung des Glaubens an die Unparteilichkeit und Gerechtigkeit der preußischen Richter.

(Halblautes Bravo im Auditorium.)

Erster Staatsanwalt Baumgard: Es dürfte Ihnen bekannt sein, meine Herren Geschworenen, daß ich von den verschiedensten Seiten in der unqualifizirbarsten Weise verdächtigt und geschmäht worden bin. Ich war bisher genöthigt, zu schweigen. Ich würde jetzt Gelegenheit nehmen, diese Angriffe zurückzuweisen, allein der Oberstaatsanwalt hat in so klarer und eingehendster Weise den Thatbestand Ihnen vorgeführt, daß ich es unterlassen kann, auf die Angriffe zu antworten. Ich überlasse daher Ihnen das Urtheil über meine Person und meine amtliche Thätigkeit. Ich werde sofort zur Sache übergehen und muß bemerken, daß die verschiedenen Verdachtsmomente, die gegen den Angeklagten in’s Feld geführt wurden, sich in ein Nichts aufgelöst haben. Daß einige Leute den Angeklagten am Peter-Paulstage aufgeregt gesehen haben, ist auf ganz natürliche Ursachen zurückgeführt worden. Ein Zeuge will gefunden haben, daß Buschhoff am Peter-Paulstage nicht soviel diskutirt hat als sonst. Es ist doch aber erklärlich, daß man nicht immer in gleicher Weise zum Sprechen aufgelegt ist. Der Umstand, daß er in die Scheune nicht gehen wollte, in der der Leichnam lag, erklärte sich aus dem Umstande, daß der Angeklagte in seiner Religionsgemeinschaft zum Priesterstamme gehört und deshalb in ein Haus, wo ein Todter liegt, nicht gehen darf. Daß ein Jude einmal gesagt haben soll: „Er hat es gethan“, ohne einen Namen genannt zu haben, kann doch auch nicht für die Schuld des Angeklagten sprechen. Daß der Keller nicht nach dem Morde, sondern vor dem jüdischen Passahfeste gereinigt worden ist, hat die Beweisaufnahme ergeben. Die Zeugin Rölen will vom Fenster herunter und die Zeugin Mauritz auf der Straße verdächtige Redensarten von Buschhoff gehört haben. Es ist doch aber absolut unglaubhaft, daß ein wirklich Schuldiger auf der Straße in so lauter Weise verdächtige Gespräche führen wird. Sollte Siegmund Buschhoff nicht gesagt haben: „Wenn es aber nur auskommt.“ Das „nur“ und „nun“ kann von der Zeugin Mauritz wohl verwechselt worden sein.

Der Erste Staatsanwalt bricht hier seine Rede ab, und es vertagt hierauf der Präsident die Sitzung gegen 9 Uhr Abends auf Donnerstag Vormittags 9 Uhr.