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Autor: Karl Erdmann Edler
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Titel: Der Kampf um die Kunst
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16–19, S. 269–274, 286–290, 302–307, 317–319
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Kampf um die Kunst.
Von Karl Erdm. Edler.

Es war im Konservatorium zu Wien. In dem sogenannten „kleinen“ Saale fand eben die Prüfung statt, welche über die Ausnahme der Zöglinge in die Schauspielschule entscheidet. Die Richter waren theils Künstler und Professoren, Praxis und Theorie vertretend, geniale und gelehrte Männer, theils Gönner der Kunst mit warmen Herzen und offenen Händen. Und in schöner Mischung saß da die Strenge neben der Milde, rasches Zugreifen mit bedächtiger Erwägung sich heilsam ausgleichend, daß sie so recht eine ideale Vereinigung bildeten, um über das Geschick der jugendlichen Menschenkinder abzuurtheilen. Da sich alle der Schwere ihrer Verantwortlichkeit wohl bewußt waren, so trugen sie dieselbe mit ernster Gewissenhaftigkeit; Erfahrung sowie die weise Einsicht in Kunst und Leben gab ihrem Urtheile die würdige Sicherheit. Im ganzen überwog dabei die Milde, wie immer unmittelbar nach den Ferien. Es ist in der Seele noch ein gewisser großer Zug haften geblieben von den hoch und kühn schweifenden Berglinien dort draußen, so daß man sich nicht an Kleinigkeiten klammert, um sie zu beanstanden; weitsichtig ist noch der Blick, der kaum erst abgelassen hat, an den Riesengipfeln des Gebirges in die Wolken emporzufliegen. Sie hatten es gut, alle die künftigen Bühnengrößen – man nahm sie auf.

Da war es plötzlich aus mit der harmonischen Stimmung, die bis jetzt den Richterkreis beherrschte, gerade so als habe ein plötzlicher Mißton aller Ohren erreicht. Da jedoch dieser Kreis aus einer Mischung verschiedenartiger Temperamente zusammengesetzt war, so entspannen sich aus der plötzlichen Verdüsterung vielgestaltige Folgen. Der Heftige schleuderte mit der Bewegung eines antiken Diskuswerfers den Zwicker von der Nase, der Gutmüthige nahm langsam sein Augenglas herab und wischte es mit einem erstaunlichen Kraftaufwand von den Stäubchen rein, die nicht da waren, der Melancholische ließ die Augenlider wie Vorhänge über die schwermuthvollen Blicke niedersinken, der Bedächtige rieb sich gelassen die Augen und die Anderen sahen einander verwundert an. Ein Lächeln aber stieg in aller Antlitz empor, halb mitleidig über die menschliche Beschränktheit, welche da noch zweifeln konnte, halb entrüstet ob der lächerlichen Lage, über Selbstverständliches noch einen Richterspruch abgeben zu sollen.

Sie stand da und sah einen nach dem Anderen an. Sie verstand das Lächeln und wußte, was nun kommen würde. Sie faltete die Hände; der Kopf neigte sich leise zur Erde, um den Todesstreich geduldig zu empfangen.

„Eine unerhörte Zumuthung!“ rief der Heftige.

Der Bedächtige sagte ruhig und in gemessenem Tone. „Wir wollen Ihnen die Mühe eines Vortrags ersparen. Sie haben doch wohl Einsicht genommen in die Vollzugsvorschrift zum Statute der Grundverfassung des Konservatoriums? Unter den unerläßlichen Vorbedingungen zum Eintritt in die Schule für darstellende Kunst ist daselbst ausdrücklich angeführt: eine entsprechende Bühnengestalt. Diese fehlt Ihnen – Sie sind zu klein.“

Der Gutmüthige erhob sich, strich ihr über das glatte Haar und sagte lächelnd: „Das ist ein Fehler, der sich selbst verbessert, nicht wahr, liebes Kind? Wachsen Sie noch ein paar Jährchen und kommen Sie uns dann als ein stattliches großes Fräulein zurück! Sie haben noch rechtschaffen viel Zeit – Sie sind ja blutjung, viel zu jung!“

Sie hob sanft den Kopf und blickte ihn mit thränenden Augen an. „Achtzehn Jahre,“ sagte sie ganz leise mit zitternder Stimme.

Er zog hastig die Hand von ihrem Haare. Dann schüttelte er den Kopf, wandte sich zu den Uebrigen und flüsterte: „Achtzehn Jahre schon! Unglaublich! Ich hätte sie höchstens auf vierzehn geschätzt. Nun, was meinen Sie? Wenn wir sie also doch … wenn wir sie etwas vortragen ließen … wie?“

„Aber … “

„Etwas Kurzes wenigstens – natürlich etwas ganz Kurzes bloß! Sie kennen doch etwas recht Kurzes, liebes Fräulein?“ wandte er sich rasch an sie, um die unausweichliche Widerrede von seiten der Anderen bei Zeiten abzuschneiden.

Sie nickte und trat auf die Uebungsbühne.

„Die reine Kinderkomödie!“ brummte der Heftige halblaut. Jedoch ihr feines Ohr hatte es erfaßt, und nun stand sie plötzlich weinend da, und ein krampfhaftes Schluchzen durchbebte ihren kleinen Körper.

„Auch das noch!“ murmelte der Heftige, im Grunde nur zornig auf sich selbst, daß er so vernehmbar gesprochen hatte.

Das Tagewerk war zu Ende.

Die Talentprüfung mußte auch noch am folgenden Tage fortgesetzt werden, denn es gab der vermeintlichen Talente viele, zu viele. Endlich war auch das abgethan. Es war ein heißer Nachsommertag gewesen, alle athmeten erleichtert auf; als sie sich erhoben und sich verabschieden wollten – da stand sie wieder vor ihnen. Sie hatte schon lange gewartet, den ganzen Nachmittag, man hatte sie nur nicht bemerkt hinter allen den hoch emporgeschossenen Genossinnen.

Sie stand da wie am Vortage, sagte nichts und hielt die Hände gefaltet.

„Wir haben es ihr gestern zugesagt, also …“ sprach der Gutmüthige in etwas verzagtem Tone.

Alle waren abgespannt und müde, zu abgespannt selbst für ein Lächeln, zu müde sogar für eine Widerrede. So kehrten sie denn mit einer verhaltenen Gereiztheit zu ihren Plätzen zurück. Jedoch bloß der Gutmüthige ließ sich wirklich auf seinen Sitz nieder und streckte sich darin bequemlich mit jener wohlwollenden Nachsicht aus, welche er gegen sich selbst wie gegen alle Welt bethätigte. Alle Anderen lehnten herum oder blieben stehen, gleichsam halb im Fortgehen begriffen, den Hut in der Hand, mit wortlosem Widerwillen; man ließ es eben über sich ergehen als eine jener unausweichlichen Widrigkeiten, die glücklicherweise in sich selbst bald ein Ende finden müssen.

Die Augen waren den lächerlichen Anblick schon gewohnt; nun lauschten noch die Ohren nach dem unfehlbar heranzirpenden hohen fadendünnen Kinderton. Er mußte das Bild der verkümmerten Gestalt ergänzen; denn auch das Lächerliche strebt nach einer gewissen künstlerischen Abrundung und klassischen Vollendung. Die Selbstberäucherung freut sich darauf, dann schmunzelnd sagen zu können: „Das habe ich ja von vornherein gewußt!“

Die Sehnsucht nach dem Mißton war schon so groß, daß plötzlich in dem hallenden Saale eine fast unheimliche Stille eintrat.

Welch ein Ton! Tief ansetzend im Contra-Alt, schwoll er an und empor und hinaus durch den weiten hohen Raum. Die Richter sahen sich um und dann einander an. Die da gelehnt und gestanden waren, saßen auf einmal ganz stille; nur der Heftige fuhr sich zuweilen mit einer zuckenden Bewegung durch die Haare. Vor einem Augenblicke noch war die Leere des Saales durch das spärliche Häuflein der Richter erst recht auffällig merkbar gemacht worden; jetzt schien die Halle auf einmal [270] durch jene Stimme angefüllt, und ihr Ton durchfluthete die ganze Weite zugleich mit den hereinspielenden Abendlichtern.

Sie stand da, schmal und dünn wie die Heiligen, welche zwischen zwei Säulchen einer gothischen Münsterverzierung eingeengt sind, und dabei doch wieder so klein und verschrumpft, daß sie eher unter den gedrückten Rundbogen der altromanischen Basilika taugte. Und auch sonst zeigte sich an ihr eine Vermischung zweier Stile, etwas Ungleichmäßiges, Unfertiges, Unzusammenhängendes. Die Glieder waren zierlich gedrechselt, das Gesichtchen ein feines Kinderoval, nicht schön, aber ausdrucksvoll; die Wucht der Haare dagegen und die Wucht des Blickes gehörten ganz einer erwachsenen, ja einer sehr großen Person an. Es waren röthliche Haare mit einem metallischen Schimmer wie Gold; ein Metallschimmer brach auch aus den grauen Augen hervor, seit sie dort oben stand und vortrug, während er früher nicht sichtbar gewesen war – man mußte dabei an Stahl denken. Und die Wucht einer erwachsenen, einer mächtigen Persönlichkeit lag in diesem Organ, in diesem Vortrage – es war die Gewalt eines großen Wassers, das widerstandslos alles mit sich fortreißt, mag es jetzt in breitem großen Fließen langsam einherziehen oder dann plötzlich in Stromschnellen niederrasen.

Die Richter sahen nicht mehr einander an, sondern nur sie, und wenn sie nicht selbst abgebrochen hätte, keiner von ihnen würde sie aufgehalten haben. Dann standen sie auf – keiner sprach.

„Ein Phänomen!“ murmelte endlich der Gutmüthige.

Als die Anderen zustimmten, fuhr er fort. „Unter allen, die wir heute und gestern aufgenommen haben, ist keine solche geniale Begabung aufgetaucht.“ – Es war die volle Wahrheit, alle mußten es zugeben.

„Das ist in der That traurig, sehr traurig!“ sagte er kopfschüttelnd und tief verstimmt. „Von einer Aufnahme kann natürlich jetzt keine Rede mehr sein.“

„Das ist so der reine … das ist aber doch eine ganz … wunderliche Schlußfolgerung!“ fuhr der Heftige auf und warf seinen Zwicker wild in die Luft hinaus. „Sie muß unbedingt aufgenommen werden!“

Die Anderen nickten dem Heftigen eifrig zu, sie waren empört! Er – der Gutmüthige! Es war ganz unfaßbar. Aber sie beruhigten sich schließlich: seine Stimme war eben nur eine Stimme, sie standen alle gegen ihn.

Er sah wehmüthig vor sich hin, dann sagte er.

„Ich war für einen Vortrag, weil ich ein kindliches Organ und eine kindische Auffassung sicher voraussetzte. Sie sollte aus unseren Urtheilen die gänzliche Hoffnungslosigkeit ihres Vorhabens so unzweifelhaft ersehen, daß sie fortan ihr Sinnen und Streben anderen Dingen zuwende und sich entschieden von etwas abwende, was bei ihrer Größe doch nur eine Thorheit ist. So aber … nun, Sie sind anderer Meinung, meine verehrten Freunde und Kollegen! Sie finden, daß ich unbarmherzig bin, weil ich den Dolch mit einem Stoß geradezu in das Herz bohren will. Sie dagegen wollen jenes zarte Figürchen aufnehmen, zwei Jahre lang ausbilden, und … und dann? Was dann? – In Mailand hat einst ein Mann eine ganz merkwürdige Erfindung gemacht, wie man nämlich einen zum Tode Verurtheilten stückweise nach einander verstümmeln könne, so daß er genau am vierzigsten Tage erst stirbt. Diese vierzigtägige Marter, die Quaresima genannt, begann damit, daß man dem Verurtheilten ein Auge ausriß, worauf man ihn einen Tag in Ruhe ließ; dann kam das andere Auge an die Reihe und abermals eine Pause von einem Tage. Das ging so fort, abwechselnd ein Glied und ein Ruhetag, bis am vierzigsten Tage die Verstümmelung gerade bis zu dem Herzen reichte und der Tod eintrat. Ganz so gedenken Sie zu verfahren – Sie brauchen über diese Gleichstellung nicht zu erschrecken: der jene Quaresima erfand und an seinen Opfern anwandte, war kein Barbar, sondern ein mächtiger Fürst, Galeazzo Visconti, der Herrscher von Mailand, dessen Nichten die Frauen deutscher und italischer Herrscher wurden, und eine derselben heiratete den Herzog Rudolf den Vierten von Oesterreich – sollte etwa durch diese Nichte die Quaresima auf den Wiener Boden verpflanzt worden sein und sich etwa hier im Konservatorium … doch ich betone nochmals, Galeazzo Visconti war ein frommer Christ, fastete, vertheilte Almosen, schwärmte für Kunst und Wissenschaft – ganz wie Sie, meine verehrten Freunde und Kollegen.“

Mit bekümmerter Miene setzte er sich nieder, tief aufathmend und aufseufzend.

Man schritt zur Abstimmung. Das Resultat lautete: „Fräulein Jakobäa Almer ist in die Schule für darstellende Kunst am Konservatorium aufgenommen mit allen gegen eine Stimme.“

Die eine Stimme war die des Gutmütigen.

Damit war das nächste höchste Ziel erklommen; aber sehr angenehm war es auf dieser Höhe durchaus nicht für sie. Es werden in der Schauspielschule jahraus jahrein Proben aufgeführt zu dem künftigen Intriguenstück „der Künstlerneid“. Beneidet im engsten Sinne wurde zwar Fräulein Almer nicht: sie erschien in ihrem Aeußeren für die Bühne unmöglich und darum unschädlich, so daß man sie eben nur belächelte und verspottete, sowohl ins Gesicht als auch hinter dem Rücken. Sie besaß jedoch eine geniale Begabung, und deshalb wurde sie von ganzem Herzen gehaßt, ganz wie der schwächliche Reiche von einem starken Armen gehaßt wird, der im Bewußtsein und Vollgefühl seiner physischen Kraft vermeint, mit dem Reichthum, welchen jener nicht genießen kann, alle Freuden und Wonnen der Welt erschöpfen zu können. Ueberdies entwickelte sie einen so rastlosen Fleiß, als ob sie nicht im mindesten begabt wäre. Sie verstand auch in der Schule alles, sie wußte alles, während die Anderen oft wenig verstanden und nichts wußten; darauf geberdete sich die verletzte Eitelkeit ungemein erfinderisch in allerlei Rachethaten und Rachereden. Zu solchen geflissentlichen Nadelstichen und Beilhieben kam dann noch das Unbeabsichtigte: man übersah sie auch, sah über sie hinweg, schob sie bei Seite, setzte sie hintan, weil man sie bei ihrer Kleinheit buchstäblich übersah.

Sie war ein fremdgeartetes kleines armes Huhn in einem großen Geflügelhofe voll herumstolzirender Pfauen, aufgeblasener Truthähne, hochstelziger Kalkuttahühner und zischender Gänse. Wie sachte es auch dahinschleicht, wie bange es auch ausweichen mag: rechts droht und links hackt schon ein bissiger Schnabel nach ihm. Treibt aber der Hunger das arme gescheuchte und wund gebissene Ding doch endlich dorthin, wo der Ueberfluß der Anderen ungenützt liegen geblieben ist, von dem es sich verstohlen ein Körnlein aufpicken möchte – da von allen Seiten ein wildes Zischen, Kollern, Gackern, und in gemeinsamem Ansturme stürzt alles auf dasselbe los.

Sie dagegen war freundlich gegen alle, fast unterwürfig; es war ein demüthiges Emporblicken, ein leises Auftreten, wie sich in einer stolzen reichen Familie die vom Gnadenbrot zehrende arme Verwandte geberdet.

Zu dem berühmten Eingang in das Burgtheater unter dem Burgthor eilte sie, wenn sie eine Freikarte erhalten hatte, früher als alle, da sie zu klein war, um auf der Galerie hinter den Anderen etwas sehen zu können. Kurz nach dem Mittagläuten kam sie mit einem Buch, stellte sich an die verschlossene Paradiesespforte und wartete sechs Stunden lang, indem sie während dieser Zeit einige Rollen lernte. Oft genug gelang es denen, die erst gegen Abend gekommen waren, auf der Stiege oder auf der Galerie das kleine Figürchen durch einige rohe Stöße schließlich zurückzudrängen, so daß jenes sechsstündige Warten unter allen Unbilden des Wetters ganz umsonst gewesen war. Behauptete sie aber einmal den Vordergrund der Galerie, dann sah man von unten ihre Augen herabbrennen: die Augen eines ekstatischen Kindes, das alles um sich her vergaß!

In der Schule während der Vorträge saß sie gedeckt durch die größeren Genossinnen, so daß ihr Kopf allein sichtbar blieb, weil er sich weit vorbeugte in jener Höhe, in welcher ihre Nachbarin erst die Hände hatte, es war, als säße jemand dort neben den Stühlen auf der Erde. Die grauen Augen waren unverwandt auf den Professor gerichtet. Sie merkte sich nie etwas an, sondern schrieb den ganzen Vortrag daheim nach, es fehlte nichts darin; selbst unwesentliche Bemerkungen und Nebensächliches fanden sich wieder. Aber das Prüfen des Lehrstoffes am Schlusse jedes Vierteljahres gestaltete sich qualvoll. Sie wußte alles, sie hatte alles begriffen und durchdacht, aber anstatt es nun schlicht auseinanderzusetzen, verfiel sie sofort in den Bühnenton; selbst bei der Darlegung nüchterner Thatsachen oder bei trockener Beweisführung brach unhemmbar das Pathos und die Wucht der Tragödie hervor.

Die Professoren gingen durchweg mit ihr behutsamer um als mit den Anderen. Sie warfen eben alle das Vollgewicht gerechten hilfreichen Wohlwollens auf ihre winzige Wagschale, [271] sei es instinktartig, sei es in der bewußten Absicht, um das Uebergewicht auszugleichen, welches jede ihrer Genossinnen äußerlich besaß und innerlich sich anmaßte. Auch das Mitleid mochte dabei ins Spiel kommen: einen Leidenden berührt man mit linderen Händen, spricht man mit sanfterer Stimme an; man dämpft auch den gewohnten festen oder harten oder dröhnenden Schritt und die sonst spröde Geduld wird zähe im Anhören und Nachgeben. Und eine Leidende war sie ja, eine schmerzlich Leidende, wie jeder, bei dem sich ein einzelnes Organ unnatürlich vergrößert und erweitert – ihre Seele war zu groß gerathen für den Körper, der sie fassen sollte.

Wo aber überdies noch die Sorge um den täglichen Lebensbedarf an einen Kranken tritt, da hält sie ihm ein Vergrößerungsglas vor die fiebernden Augen und sein Leiden erscheint ihm dann im erhöhten Grade schwer, schmerzlich, gefährlich. Fräulein Almer war auch recht arm als die Tochter einer in dürftigen Verhältnissen lebenden und außerdem kränklichen Witwe; beide lebten von einer Jahrespension, die beiläufig der Monatsausgabe einer einfachen bürgerlichen Familie entsprach. Dies war es wohl auch gewesen, was auf dem armen Kind von früh auf gelastet hatte. Die Noth daheim, der Druck draußen – das war wie der unfruchtbare Steinboden unten und der Sturm oben, welche das Nadelholz niederzwingen. So war sie an den Boden gedrückt geblieben und wäre doch an sonniger Lage vielleicht als ein schlanker Baum emporgewachsen. Da sie jetzt den Sturm der Kunstbegeisterung, welcher ihre Seele durchbrauste, aus sich hervorrauschen lassen wollte durch den weiten Menschenwald, daß alle die hohen Wipfel von ihm durchschüttert in Erregung geriethen, schwankend, bebend, sich neigend – da war sie ein kümmerlich Krummholz geblieben. Das Leid hierüber sowie das Weh über die Stichelreden ihrer Umgebung kam jetzt noch dazu, und aus alledem entstand eine Herbigkeit, welche sie von innen heraus zusammenzog und nicht weiter gedeihen ließ.

Aeußerlich freilich merkte man ihr das nicht an; höchst selten und auch da jedesmal nur wider Willen entschlüpfte ihr ein Wort über ihr Mißgeschick. Das sah dann aus wie ein winziges Wölklein, das zufällig oder muthwillig mitten an einen blauen Himmel gerathen war; wer indeß näher zuschaute, merkte, daß nur ein einziger Sturmstoß herüber zu blasen brauchte, und im Umsehen war diese ganze trügerische Himmelsbläue ein gewitterschweres schwarzgraues Dämmern. Sie war noch jung, hatte jedoch genugsam gesehen und gehört, wie die Welt so oft Mitleid hegt mit manchem, was sie verachten sollte, dagegen zumeist nur Spott und Hohn bereit hält für jenen Kummer, der sich an eine echte heilige Begeisterung anlehnt. Sie erfuhr auch jetzt als Krummholz unter ihren tannenschlanken Genossinnen zur Genüge, daß die Glücklichen eine Unglückliche gar nicht begreifen.

So trug sie denn für die Anderen die reine Himmelsbläue zur Schau, und dabei geschah es, daß sie zuweilen selbst daran glaubte. Ja es kam vor, daß sie sich künstlich in diesen Glauben einzulullen versuchte und ihr Mißgeschick mit allen Mitteln vor sich selbst hinwegzutäuschen strebte. Dieser Trieb trat recht sichtlich an ihrer Kleidung zu Tage. In ihrer Armuth trug sie dünne fadenscheinige Fähnchen, wie sie die dürftigste dienende Klasse trägt, aber in anderer Weise zugerichtet. Wo diese mit jedem Haarbreit des Stoffes kargt und den Feldzug sparsamer Armuth gegen jedes unnütze Zuviel in der Ausdehnung, gegen jede überflüssige Falte führt, zeigte sich im Gegentheil an ihrer Gewandung eine gewisse Weitschweifigkeit im Schnitte, ein breiter, freier Wurf, welcher jeder Mode spottete. Das war ihr Luxus, mit dem sie ihr kleines und schmales Ich zu erweitern sich abmühte; freilich nützte es nicht viel, und sie sah immer aus, als ob sie in der Eile oder Zerstreuung das Kleid einer älteren Schwester angezogen hätte. Ein anderer Luxus war der unabänderlich sehr helle Grundton ihrer spärlichen Kleider, welcher gewiß großer Vorsicht, Aufsicht und Mühe bedurfte, um sich in seiner stets fleckenlosen Sauberkeit zu behaupten. Aber sie mied die dunkle Farbe, welche mit dem Lichte zugleich die Umrisse der Person in sich einsaugt und sie verkleinert erscheinen läßt. So kämpfte sie einerseits mit der hellen Farbe des schlichten Gewandes gegen eine weitere Verkümmerung ihrer kümmerlichen Größe und Breite, sowie sie andererseits ihr Persönchen nach unten durch dicke Sohlen und steile Absätze, nach oben durch den thurmartigen Aufbau des üppigen Haares zu verlängern bemüht war.

Dies Alles gab ihr eine kleine Portion Selbstgefühl, wie es ja auch sonst das Ich in sich verspürt, wenn es durch Schleppen, hohe Hüte, Federbüsche vergrößert wird. Dem Fernerstehenden erschien das komisch, dem ihr Näherstehenden und mit den Verhältnissen Vertrauten dagegen tragisch, Mitleid und Furcht zugleich erweckend: Mitleid für all dies vergebliche Streben, sich selbst hinaufzutäuschen, Furcht für den Augenblick der letzten Entscheidung. Die Erinnerung an den Gutmüthigen und an seinen Galeazzo Visconti mit der Quaresima stieg einem dabei doch zuweilen wie eine ernste Mahnung vor den Gedanken auf.

Da starb ihre Mutter, welche schon lange gekränkelt hatte, so daß sie nun ganz vereinsamt war – und auch ganz hilflos; denn die kümmerliche Jahrespension erlosch mit dem Tode der Witwe. In Berücksichtigung dieser Lage und in Anbetracht ihres außerordentlichen Fleißes erhielt sie sogleich ein außerordentliches Stipendium vom Konservatorium. Auch sonst hatte sich infolge dieses Todesfalles ihr ganzes Leben freundlicher gestaltet. In dem Hause, in welchem sie mit ihrer Mutter zwei Dachkämmerchen innegehabt hatte, herrschte als unumschränkte Gebieterin Fräulein Nina Haushuber, eine Tante des Hausherrn. Diese hatte sich der Aufbahrung und des Leichenbegängnisses der Mutter vollständig angenommen, als sie sah, wie die Tochter vor Schmerz dessen ganz unfähig war. Sie war mit Jakobäa auch auf den Friedhof hinausgefahren und nahm sie von dort in ihrem Wagen wieder heim. Als sie vor dem Hause aus dem Wagen stiegen, neigte sie sich ein wenig – sie war sehr groß – und bot Jakobäa den Arm. So führte sie die noch immerfort Schluchzende die Treppe hinauf in den ersten Stock, hielt sie aber auch da noch mit einem sanften Armdruck fest, als dieselbe sich anschickte, alle die weiteren Stiegen bis zu den Dachkämmerchen emporzuklettern. Sie zog, indem sie sich dabei beständig gegen ihre kleine Begleiterin neigte, das Mädchen in ihre Wohnung, nahm ihr Hut und Mantel ab, setzte sie auf einen Stuhl und wischte ihr die Thränen aus den Augen: alles das, wie man mit einem kleinen Kinde fürsorglich umgeht, welches sich noch nichts selber machen kann. Dann feuchtete sie ein Tuch an und wischte die Thränenspuren von Jakobäas Wangen.

„So!“ – sagte sie, ihr Werk mit Befriedigung betrachtend. – „Und jetzt … sehen Sie, dort auf der anderen Seite des Ganges wohnt der Florian, mein Neffe, hier in diesen zwei Zimmern hause ich, und da“ – sie öffnete eine Seitenthüre – „da wohnen Sie von heute ab. Ich habe schon alles herrichten lassen; die alten Möbel oben verkaufen Sie dem Trödler! Aber hinauf in die alte Wohnung dürfen Sie mir nicht mehr, die Magd wird Ihnen alle Ihre Sachen gleich heruntertragen! So … und jetzt lasse ich Sie allein – aber Sie dürfen mir nicht etwa da sitzen und weinen, sondern Ihre Wäsche und die Bücher schön in die Kästen einräumen, daß Sie auf andere Gedanken kommen! Und noch eines: Sie werden mit uns essen … nun, das wäre schön, daß Sie darüber roth werden möchten! Wie wenn ich Sie nicht mehr brauchen würde, als Sie mich! Als ob Sie mir nicht dafür Gesellschaft leisten würden! Sie wissen ja“ – Jakobäa hatte aber keine Ahnung davon – „wie notwendig ich jemand um mich brauche! Die Hauswirtschaft für zwei Leute giebt nicht so viel zu thun, daß man die zwölf Stunden des Tages damit ausfüllen kann, und die übrige Zeit ist es dann um nach her so still und langweilig … mein Neffe, der Florian ist nämlich gar nicht lustig.“

Nein, der Hausherr Florian Haushuber war in der That ganz und gar nicht lustig, während seine Tante, Fräulein Nina Haushuber, sehr lustig war. Und beides war sehr verwunderlich: Fräulein Nina hatte nämlich bereits ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert, Florian erst den fünfundzwanzigsten. Jedoch Florian war auch nicht eben traurig – er war nur immer sehr ruhig und schwamm ohne jegliche Aufregung mit einem stets gleichmäßigen Tempo im Meere der Behaglichkeit dahin. Alle Aufregung, die von außen hätte an ihn gelangen können, nahm Fräulein Nina auf sich; sie liebte das, es war ihr Element. Sie ragte schützend wie ein Windfänger vor ihrem Neffen; kein widriges Lüftchen sollte ihn ansäuseln. Das Vermiethen und Ausmiethen, die Streitigkeiten mit den Miethparteien und Unannehmlichkeiten mit den Handwerkern, die Ueberwachung der Gas- und Wasserhähne, die Oberherrschaft über den Hausbesorger, die Verhandlungen mit dem Steueramt und allen anderen Aemtern, [272] dazu die ganze Hauswirthschaft – alles das war ihr Geschäft. Ebenso wenig kümmerte sich Florian um das Anlegen des Baargeldes, um Coupons oder Losrevision, um das Einkassieren und Bezahlen von Rechnungen, um Miethzins, um ordentliche oder außerordentliche Ausgaben. Das that alles Fräulein Nina. „Sagen Sie es der Tante!“ – „Fragen Sie doch einmal die Tante!“ Dies war alles, was man erreichte, wenn man doch einmal in irgend einer Angelegenheit an ihn selber gerieth.

Er saß zumeist in seiner Werkstatt, wo er abwechselnd arbeitete oder rauchte oder beides zugleich that. Er war Schildermaler und leistete in seinem Fache ganz Außerordentliches. Nicht als ob er sich sonderliche Mühe gegeben hätte – er hatte eben vom Vater und Großvater mit dem alten Geschäfte auch das scharfe Auge und die sichere Hand ererbt. Er besaß bereits vier Ausstellungsmedaillen, freilich ohne daß er sich recht klar darüber war, wie und wofür er sie erhalten hatte; Fräulein Nina hatte das aus eigene Faust vorbereitet, veranstaltet und besorgt. Indeß beschränkte sich seine Thätigkeit durchaus nicht auf die hundertfachen Schriftarten in allen Farben auf Holz, Wand, Blech, Stein mit Buchstaben von staunenswerther Plastik. Sie umfaßte außerdem Thierstücke, wie die Löwen der Seifensieder mit dem Kerzenbund in der Pranke, oder die grünen Tiger, blauen Adler, und goldenen Gänse, Lämmer, Rosse der Gasthausschilder, ferner Stillleben, worunter sich die gebratenen Gänse der kleinen Wirthsstuben im Judenviertel durch besonders appetitliche Naturtreue auszeichneten, aber auch Porträts, Genre- und Historienbilder aller Art auf den Kaufhäusern zum König von Honolulu, zum Milchmädchen, zum Napoleon bei Leipzig u. s. w.; endlich schön gelockte Herren- und Damenbrustbilder an den Friseurläden, und behaglich rauchende Türken in voller Figur an den Tabaktrafiken. Einen großartigen Eindruck machten seine übersichtlichen Kompositionen der tausend Geheimnisse eines Fragnerladens von den Frankfurter Würsten an bis zu der Schuhwichsschachtel, und ebenso jene eines Krämerladens von Kolonial- und Kurzwaaren mit dem rabenschwarzen Neger im Zuckerrohr als Mittelpunkt, den grünen Baumwollstrümpfen in einer, dem rosenrothen Mieder in der anderen Ecke. Man riß sich um seine Arbeiten, nicht nur um ihrer plastischen Darstellungsweise und ihres anlockenden Farbenzaubers willen, sondern auch schon deshalb, weil sie so schwer zu bekommen waren. Wie einst von Guido Rem Gemälde nur durch umständliche Intriguen von Kardinal-Legaten und Gesandten erlangt werden konnten, so mußte man sich hinter Fräulein Nina stecken, um überhaupt die Annahme einer Bestellung bei Florian durchzusetzen und – was noch weit größere Schwierigkeiten bot – in absehbarer Zeit die Ausführung des Bestellten zu erleben.

Florian war sehr gemächlich und arbeitete eigentlich bloß zu seiner Unterhaltung. Vermögen besaß er genug, um nicht dem Verdienst nachgehen zu müssen, und das Uebrige, die Lobpreisungen und Medaillen mit eingeschlossen, rührte ihn nicht im mindesten. Wenn er das Malen satt hatte, konnte ihn kein Mensch überreden, daß er es nicht satt habe; dazu kam noch, daß ihn eine schwere Menge anderer Beschäftigungen ernstlich in Anspruch nahm, eine krauser und wunderlicher als die andere. So verfertigte er aus Ruthen und Fichtenzapfen allerlei gänzlich unbrauchbare Tischchen, aus Rohrstäben und Draht byzantinische Paläste für seine Schnee- und Blaumeisen, aus den Schuppen der Tannenzapfen Renaissancekassetten; bei ihm sowie in den Zimmern der Tante lehnten und lagen allenthalben fragwürdige Erzeugnisse von Laubsäge-, Spritz-, Lack-, Holzschnitzarbeit herum, welche durch räthselhafte Form und Bestimmung sich in den Blick des Beschauers förmlich festhäkelten. Sobald er auch dessen satt war, machte er Musik auf einer Ziehharmonika – es war grauenhaft, aber ihm gefiel es, und da er diesen Genuß selbstsüchtig für sich allein aufsparte, so war dagegen im allgemeinen nichts weiter einzuwenden. Am Abend stellte er sich gern in die Hausthür, schlicht und zweckentsprechend in Hemdärmeln, wenn es eben warm war, rauchte seine Cigarre und zupfte von Zeit zu Zeit an dem goldenen Ohrring, welchen ihm Fräulein Nina bei einer leichten Augenröthung als Heil- und Schutzmittel aufgeredet und eigenhändig in das linke Ohr eingestochen hatte.

Nein, lustig war Florian ganz und gar nicht trotz seiner fünfundzwanzig Jahre, trotz seiner Gesundheit und riesigen Körperkraft, trotz seines ewig blauen wolkenlosen Daseins. Aber Fräulein Nina war auch zu klug, um zu glauben oder zu hoffen, daß sie in Jakobäa eine lustigere Gesellschaft finden würde. Sie war eben eine gute Seele, und das verwaiste arme brave Mädchen that ihr herzlich leid – darum nahm sie sich seiner an. Daß sie es so warm that, hing mit ihrer glühenden Leidenschaft für alles zusammen, was zu dem Theater in irgend welcher Beziehung stand. Sie kannte die Geschichte sämmtlicher Wiener Theater seit vierzig Jahren bis in die kleinsten Einzelnheiten sammt der Privatgeschichte einheimischer wie zu Gaste weilender Künstler mit deren Verwandtschaft in auf- und absteigender Linie, Finanzgebahrung, Repertoire, Koulissengeheimnisse, und selbst ein Logenmeister war ihr viel interessanter als ein Minister. Als einmal einige Tassen starken Nachmittagskaffees eine besonders vertrauliche Stimmung herbeigezaubert hatten, machte sie auch Jakobäa gegenüber leise Anspielungen, daß sie einst mit dem Theater selbst in ganz engen Beziehungen gestanden habe.

„Wie? Haben Sie selbst einmal gespielt?“ fragte Jakobäa neugierig.

„Wo denken Sie hin, Kind! Was hätte unser Vater zu so etwas gesagt? Nein aber … nun, Monsieur Demarre hatte ein Auge auf mich geworfen … er war Theaterfriseur. Er machte mir sehr den Hof, und ich hätte ihn auch geheiratet, wenn es der Vater zugelassen hätte. Ach, die schöne Zeit! “

Und dabei bedeckte sie plötzlich mit dem gestickten Taschentuch ihr Gesicht, welches bis in die schneeweißen Schläfenlöckchen hinein roth geworden war.

Nein, Jakobäa war ebenso wenig lustig wie Florian, oder sogar noch weniger, aber sie gehörte zum Theater! Sie mußte jetzt alle ihre Rollen vor Fräulein Nina einstudiren und hersagen, während diese ihren Strickbeutel neben sich liegen hatte und aufmerksam lauschend strickte oder auch das Buch in die Hand nahm, um den Souffleur abzugeben. Sie lachte und weinte, nickte und bebte, war außer sich vor Entsetzen oder zerschmolz in Rührung, sie klatschte Beifall – sie war im Theater. Dann ging sie mit Jakobäa in das wirkliche Theater, nicht um ein Uhr Mittags, sondern mit zwei vorher gekauften Karten um dreiviertel auf sieben Uhr, aber auf die billigsten Sitze, damit man sich den Genuß öfter gestatten könne. Dort saß die hagere große Gestalt mit ihren entschiedenen Hausherrnmanieren neben dem kleinen verzagten Figürchen Jakobäas, aber die vier Augen strahlten in der gleichen wunderlichen Verzückung.

Zu Florian blickte Jakobäa gleich von allem Anfang wie zu einem Götzen empor. Es war ein verehrungsstilles Bewundern, ein vergötterndes Abmessen seiner riesigen Gestalt mit den Augen, ein verzücktes Fragen des Blickes: „Wie ist es nur menschenmöglich, so herrlich groß zu sein?“ – und dann wieder das graue Schimmern des Auges. „Wie hast Du das nur angefangen? Und könnte denn nicht auch ich irgendwie … ?“ – Und mit dem eisernen Willen, der aus den Augen hervorstrahlte, ging sie jenem „irgendwie“ auch nach. So tauchte sie eines Tages im Ordinationszimmer des orthopädischen Institutes in Döbling auf. Aber man wußte nichts mit ihr anzufangen, sie war gerade und gut gewachsen, mithin kein geeignetes „Objekt“. Gleichwohl war der Gang nicht ohne Nutzen gewesen, sie hatte dort Streckbetten gesehen, Vorrichtungen, welche verkümmerte oder verkrümmte Gliedmaßen allmählich verlängern oder geraderichten sollen. Sie hatte sich deren Zweck und Anwendung erklären lassen und gedachte jetzt recht zu sparen, um sich ein solches Möbel kaufen zu können. Das war indeß ein wahrer Goldfund für Florian; er ließ den schönsten Trafiktürken stehen und verfertigte nach der eingehenden Beschreibung ein Streckbett, dessen Wandungen er mit allerlei räthselhaften und höchst unpraktischen Laubsägearbeiten aus dem Holz seiner Cigarrenkistchen verzierte. Das Ganze sah aus wie der Thron irgend eines noch sehr wilden Negerhäuptlings.

Darauf lag seitdem Jakobäa Stunden lang ausgestreckt, lesend, studirend, deklamirend. Im Konservatorium, während der Pausen zwischen den Lehrstunden reckte und streckte sich die kurze Gestalt in Uebungen, welche sie sich aus einem Handbuch für Freiturnen wohlüberdacht zusammengestellt hatte. Daheim aber hatte sie die üble Gewohnheit angenommen, die Finger so lange zu ziehen, bis die Gelenke knackten, und einmal sprach sie die Sehnsucht nach einer schweren Krankheit aus, weil sie öfters gehört hatte, daß Kranke im Bette ungewöhnlich wachsen. Aber es blieb beim Alten, sie wurde nicht größer, und Herr Haushuber überragte sie standhaft um das gleiche unmenschliche Stück; sie reichte bis an den Messingdrücker, er an den obern Rand der Hausthür.

[274] Deshalb mußte er sich auch jedesmal bücken, wenn er einen Hut aufhatte; darum ging er lieber baarhaupt hinab, wenn er Luft schöpfen und sich die Welt ein wenig ansehen wollte. Er füllte dabei die Hausthür auch in der Breite; nur ein schmales Lüftchen fand gerade Raum, sich demüthig rechts und links von den schneeweißen Hemdsärmeln in das Haus zu schleichen. Denn an Florian selbst fand es keine Arbeit, nicht einmal Locken gab es da zu durchwühlen; die röthlich blonden Haare waren ganz kurz geschoren und standen als unzählbare starre Stacheln himmelwärts. Alle Vorstellungen der Tante, welcher die idealen Kunstwerke des seligen Theaterfriseurs vor der Seele schwebten, waren vergeblich: das „Herumkämmen“ war ihm nun einmal zuwider. Der röthliche Schnurrbart wuchs als ein rechter Urwald in unverdrossener Ueppigkeit, die nie von der Kultur beleckt worden. Florian war nicht eitel, weder auf sein Aeußeres, noch auf seine Kunstfertigkeit, noch auf sein Vermögen, und dann – es fehlte ihm der bewegende Anstoß zur Eitelkeit: er kümmerte sich nicht um die Weiber. Sie erschienen ihm nach allem, was er als Unbeteiligter von ihnen gesehen hatte, recht eigentlich als Störenfriede jener sich selbst bestimmenden Ruhe und Behaglichkeit, in welcher er vergnüglich dahinlebte. Wäre einmal eine Frau im Hause, so bestimmte sie ihrerseits gleichfalls, oder vielleicht gar nur sie allein. Eine angenehme Häuslichkeit schuf ihm die Tante in untadeliger Weise – er bekam so bloß viele Annehmlichkeiten und nicht das Mißliche eines weiblichen Waltens zu kosten. Man sah ihn niemals Frauen besuchen, ansprechen, begleiten; das Tanzen nannte er lächelnd eine „Robot“, und das Hofmachen erschien ihm höchst absonderlich und als eine unerklärliche Schrulle. Sein Umgang beschränkte sich auf einige ehrsame Bürger der älteren Generation, mit denen er zuweilen am Abend in dem benachbarten Gasthause zusammenkam. Die Anderen redeten, er hörte zu und zupfte an seinem linken Ohrringe; dann ging man vor der Sperrstunde allerseits befriedigt heim.

Er war kraftstrotzend und mächtig in seiner Erscheinung, und Jakobäa sah in ehrfürchtiger Bewunderung zu ihm empor; andererseits dagegen war etwas Unkünstlerisches an ihm und etwas Kunstwidriges in ihm, und darauf sah Jakobäa wieder mit einem gewissen Mitleiden herab. Dieser klaffende Zwiespalt ihrer Gefühle gab ihrer Art, mit ihm umzugehen, etwas Gereiztes, Aufgeregtes, Sprunghaftes, wobei er mitunter ganz verwundert aufblickte und sich aus seiner stillen Cigarrenrauchdämmerung vorbeugte. Es zuckte durch Jakobäas getheilte Gemüthsregungen eine Art elektrischen Fluidums, das zu ihm hinübersprang und schwerfällige Bewegungen aus seinen Gliedern, ja sogar Worte von seinen Lippen löste. Fräulein Nina vermochte ihr Erstaunen kaum zu bemeistern, als Florian jetzt zuweilen ungefragt etwas sagte, ja als man sogar ganze Sätze von ihm zu hören bekam, ohne daß er es nothwendig hatte. Denn in solche Ungelegenheit hatte er sich nur bei außerordentlichen Anlässen gestürzt, und das hatte ihn jedesmal eine große und widrige Anstrengung gekostet.

Aber trotz dieser merkbaren Fortschritte in menschlicher Geselligkeit sah Jakobäa immer noch den Ring im linken Ohr nebst vielen anderen Dingen und hörte über den Flur die Gräueltöne der Ziehharmonika. Da machte sie einmal gemeinsam mit der Tante einen Sturm auf ihn, daß er mit ihnen in das Theater gehe. Jedoch der Sturm wurde abgeschlagen, er ging nun einmal überhaupt in kein Theater; man mußte vorher an eine regelrechte Belagerung schreiten, und erst mit Kriegslisten und unterirdischen Minen brachte man ihn endlich aus dem Hause. Aber fast noch mühsamer brachte man ihn dann nach Hause; er hatte trotz Goethes „Iphigenia“ und trotz der hinreißenden Darstellung der genialen Wolter so gut geschlummert und endlich so fest geschlafen, daß er nur mit Gewaltmitteln aufgeweckt werden konnte und ganz schlaftrunken heimtaumelte.

Auf diese Art also ging es nicht. Es mußten andere Mittel versucht werden.

[286] Ueber das neue Erziehungsmittel Jakobäas war die Tante entzückt und schließlich so verzückt, daß sie zu sehen vermeinte, wie aus den Höhen der Seligen Monsieur Demarre dem Anschlage Beifall zunickte. Jakobäa bat nämlich Herrn Haushuber, wenn er just Zeit habe, ihr doch ein wenig bei dem Einstudiren ihrer Rollen behilflich zu sein – es handle sich um die Stichworte. Florian war ungemein gutmüthig, und da er aus ihren Bitten zu sehen glaubte, daß es ohne ihn gar nicht gehe, so nahm er willig das Buch in die Hand.

„Mein Gott!“ sagte sie, indem sie die Hände faltete und voll Anbetung an ihm emporblickte. „Was wären Sie für ein wunderbarer Siegfried, Othello, Herodes, Ingomar!“

Er lachte herzlich darüber und begann dann seinen Ingomar herunterzukauen – er hatte nämlich die Cigarre im Munde – in jenem breitvokaligen gespreizten Hochdeutsch, dessen gekünstelte Greuelklänge nur der eingeborene Wiener zu Stande bringt, wenn er seinen gemüthvollen Dialekt verleugnen will oder muß. Dabei zeugte sein Vortrag von einem solchen Verständniß und klang so überzeugt und überzeugend, wie wenn ein kleiner Schuljunge als Leseübung KantsKritik der reinen Vernunft“ herableiern würde.

Es war unmöglich – so ging es am allerwenigsten! Fräulein Nina blickte trostlos zum Himmel empor, von wo der Theaterfriseur entrüstet ganz verschwunden war; Jakobäa widmete sich plötzlich mit großem Eifer wieder ihrer Unart, die Finger zu ziehen. Als alle zehn nach der Reihe geknackt hatten, wollte sie wieder von vorn beginnen, aber es ging nicht mehr. Da warf sie Herrn Haushuber einen Blick zu; der stieg nicht mehr bewundernd von unten empor, sondern schlich trübselig von oben herab.

In ihrem Bereiche war das Erlösungswerk an ihm nicht zu vollenden, das stand nun fest – kräftig entschlossen sprang sie denn mitten in seinen eigenen Kreis. Es wäre so doch jammerschade gewesen um den herrlichen großen Menschen, um diesen Ingomar! Sie wollte eine Parthenia für ihn werden, sie wollte um den „Krug voll edlen Weines, dem nur der Kranz gebricht“, diesen Kranz als schöne Zierde flechten, doch nur dies allein – nichts weiter! Hätte jemand sie an den Lohn der Liebe gemahnt, welchen Parthenia für ihren Kranz gewonnen, sie hätte nur bitter lächelnd ihr eigenes kleines Figürchen mit einem schmerzlichen Blicke gemessen – nein, das war auf dieser weiten Erde nicht für sie, und sie dachte auch nie daran. Auf der Bühne freilich, in der Welt des Scheins, da liebte sie, da ward sie geliebt – da vergaß sie ihrer selbst!

Bei dem kühnen Sprung in Florians eigenen Bereich schimmerte in der That bald etwas auf, was Berechtigung zu der Hoffnung geben konnte, daß an diesem Ingomar auch nicht ewig der Waldgeruch haften werde. Er begleitete nach einiger Zeit die beiden Frauen nicht ungern in die Gemäldegalerien im Belvedere und in der Akademie, in den Palästen Liechtenstein und Harrach. Es interessirte ihn dort doch manches von seinem Standpunkte; dieser Standpunkt war anfangs freilich der, ein Dogenporträt von Tizian und einen Trafiktürken von Florian Haushuber in Parallele zu stellen. Allmählich begann ihm dann doch ein gewisser Unterschied einzuleuchten, und er fing auch an zu verstehen, was Jakobäa mit den Worten gemeint hatte: „Herr Haushuber, sehen Sie, das ertrüge ich nicht! Sie sind kein Handwerker, beileibe! Aber Sie sind auch kein Künstler – so mitten innen: ein Zimmermaler nicht mehr, ein Kunstmaler noch nicht!“

Florian lächelte über diese Worte auch jetzt noch, selbst als ihm deren Sinn aufzugehen begann. Dies denkwürdige und in seinem Leben Epoche machende Ereigniß geschah im Belvedere vor der heiligen Justina von Moretto da Brescia. Denn wenngleich obiger Herr Moretto Heilige vorzüglicher malte als Herr Haushuber, was letzterer vor diesem Bilde nicht leugnen konnte, so malte andererseits Herr Haushuber Semmeln, Kerzen, Buchstaben besser. Nahm man aber selbst den unwahrscheinlichen Fall an, daß der Heiligenmaler auch diese Dinge ebenso gut zu Stande brachte, so war auch das Herrn Haushuber höchst gleichgültig. Er betheiligte sich an keinem Wettschwimmen, Wettrudern, Wettreiten, Wettlaufen und ebenso wenig an einem Wettmalen mit Herrn Moretto. Die Lehre überzeugte ihn demnach nicht im mindesten, wohl aber die begeisterte Prophetin derselben.

Er ließ sich seit jenem Tage, da er vor der heiligen Justina gestanden, aus reiner Gutmütigkeit von Jakobäa schieben, indem er dabei still in sich hineinlächelte. Es ging anfangs wohl ziemlich schwerfällig; dann aber, als er einmal in Bewegung war, ließ er sich nicht nur recht leicht schieben, sondern auch, ohne daß er sich dessen bewußt ward, allmählich emporschrauben.

Einem armen Zögling der Kunstakademie wurden die Bodenkammern eingeräumt; dafür und für weiteren reichlichen Geldlohn weihte er den Hausherrn in die geheimsten Tücken der Perspektive, in die heillosen Launen der Oelfarbentechnik ein und hielt ihm überdies freie Vorträge über die Geschichte der Malerei. Florian saß behaglich in seinem Lehnstuhl und sah und hörte ihm mit einem wohlwollenden Lächeln zu, in das sich manchmal etwas Mitleid mischte – der arme Junge gab sich eine so unsinnige Mühe. Dazwischen griff Florian auch wohl zum Pinsel, um die frische Weisheit in Thaten umzusetzen – eigentlich aber aus menschlichem Mitgefühl, um den armen Jungen aufathmen zu lassen. Nach und nach aber begann ihm die Sache Spaß zu machen. Nach einiger Zeit war die Ziehharmonika und die Laubsäge ganz verstummt – Florian malte.

Aber es war merkwürdig: die sichere Hand, das scharfe Auge, die richtige Zeichnung, der kecke Pinselstrich, die er ehedem besessen, ja fester und untrüglicher besessen hatte als sein jugendlicher Lehrer von der Akademie – das Alles war auf einmal irgendwie verloren gegangen. Was er vordem nachlässig wie eine Improvisation mit breitem Pinsel hingeworfen hatte, das strichelte er jetzt unsicher und zaghaft, zögernd und nachdenklich, prüfend und versuchend.

Als ihm Jakobäa einmal zusah, sagte er lachend: „Mir scheint, ich bin jetzt eher auf dem Wege zum Zimmermaler hinunter, als zum Kunstmaler hinauf – was meinen Sie, Aea?“ so nannte er sie in einer bequemeren Verkürzung.

„Herr Haushuber, glauben Sie, daß man so über Nacht zum Künstler wird?“ antwortete sie. „Sehen Sie doch, wie ich arbeite und studire!“

„Ja Sie, Aea, das ist ganz etwas Anderes!“

„Gar nichts Anderes, Herr Haushuber! Sie lassen sich nur so gehen … wenn Sie nur ernstlich wollten und ganz dabei wären … auch sonst!“

Dann nahm sie ihr Buch, und eifrig hineinschauend, deklamirte sie, indem sie auf- und abging:

„Nur Anmuth fehlt und Ebenmaß der Sitte,
Und das wird kommen! Wer aus rohem Stein
Ein Götterbild ins Leben rief, gewiß,
Der muß auch noch den Marmor glätten lernen.“

Diese Worte standen nicht in dem Buche; sie stehen in Halms „Sohn der Wildniß“, und Jakobäa hielt Shakespeares „Macbeth“ in der Hand.

Florian sagte nichts mehr. Er verstand jenes „auch sonst“, womit sie ihre Rede kurz abgeschlossen hatte, ließ sich aber nicht träumen, daß die deklamirten Verse eine poetische Umschreibung davon und an seine Adresse gerichtet waren. Jenes „auch sonst“ schloß in sich die Hemdärmel, den Ohrring, die Haarstoppeln, die Ziehharmonika, das bequeme Hindämmern und viele andere derartige Dinge mehr, ein ganzes Register unkünstlerischer Sünden. Aber dank den rastlosen Bemühungen Jakobäas um den herrlichen großen Menschen, welche von seiten der Tante stets eine nachdrückliche Unterstützung erhielten, schrumpfte dieses Register mit der Zeit immer mehr zusammen.

Die Werkstatt hieß jetzt Atelier und gestaltete sich allmählich auch zu etwas dergleichen unter vier weiblichen Händen, welche von einem akademisch gebildeten Kopf gelenkt wurden; wenigstens versicherte der junge Akademiker, daß keiner seiner Professoren ein so großartiges Atelier besitze. Zu Weihnachten lag auf dem Tische, welcher unter dem Christbaum für Florian bestimmt war, ein kastanienbrauner und ein schwarzer Sammtflaus nebst einigen ungewöhnlich langen seidenen Halstüchern. Eines derselben ward [287] ihm noch am selben Abend, nachdem er sich gesetzt und noch ein wenig im Stuhle gebeugt hatte, von Jakobäa um den lockeren Halskragen gebunden, mit kühn dahinflatternden Enden à la Byron. Nachdem mit Hilfe der milden Weihnachtsstimmung dieser erste Angriff ohne erheblichen Widerstand geglückt war, wurde man unternehmender. Nicht lange darnach lagen neben Florians Geburtstagskuchen, von dessen sechsundzwanzig Kerzchen glänzend beleuchtet, zwei Künstlerhüte mit Riesenkrempen – er nannte sie „Schattenspender“, aber er trug sie.

So erfolgreich Jakobäas Bemühungen waren, „den Kranz um den Krug edlen Weines zu winden“, so wenig Freude erlebte sie an ihrem eigenen Aeußeren. Das Streckbett sammt dem Dehnen und Ziehen der Glieder half ebenso wenig wie die Tage, Wochen, Monate, welche nur so bei ihr vorüberhuschten , als ob es an ihr gar nichts zu schaffen gäbe! Wenn sie einsam auf ihrem Stübchen vor ihren Büchern und Heften saß, wurde sie zuweilen von einer wilden Verzweiflung darüber gepackt.

Sobald sie aber wieder auf der Uebungsbühne des Konservatoriums eine ihr zusagende Rolle zu spielen hatte, dann vergaß sie gänzlich des knappen Rahmens und fühlte nicht mehr, wie sich ihr Geist allenthalben daran stieß. Ja, sie lebte und ging so vollständig in der Darstellung auf, daß sie in ihrer tragischen Hoheit und königlichen Würde sich wohl ein wenig bückte, wenn sie durch die Thür des Hintergrundes abtrat. Man hatte immer den Eindruck, sie habe sich selbst sehr lieb in solchen Stunden, und sie erschien einem dann etwa wie ein winziges ärmliches Fleckchen Erde, dem ein plötzlicher Sonnenstrahl etwas Erhabenes und Erhebendes verleiht. Ihr Organ hatte dabei Töne, welche an die tiefsten Saiten der Menschenbrust rührten; ihre Tragik wühlte dunkle Ahnungen empor, daß sie wie helle Offenbarungen da lagen – es war etwas Dämonisches , etwas Berauschendes darin. Merkwürdigerweise entwickelte sich nicht – wie das sonst bei kleinen Persönchen zu sein pflegt – in den zierlichen Gliedern eine hastige und sprunghafte Regsamkeit, sondern sie bewegten sich in einer würdevollen Ruhe, in einem feierlichen Rhythmus, welcher Erinnerungen an Goethes Theaterdirektion und an die Weimarsche Schule heraufbeschwor. An dem feinen Figürchen wirkte dergleichen befremdend und muthete erst dann an, wenn sich dem längere Zeit hindurch der Vortrag zugesellte. Beides gehörte zusammen; man sah dann, daß diese feierliche Bewegung der inneren Natur gemäß war und von innen heraus in Werkzeuge strömte, welche ihr zwar gehorchten, aber nicht dafür geschaffen waren.

So war das erste Studienjahr zu Ende gegangen. Fräulein Jakobäa Almer hatte es mit Auszeichnung zurückgelegt; sie war und blieb unangefochten die begabteste und zugleich die fleißigste unter sämmtlichen Zöglingen ihres Jahrganges.

Die Familie Haushuber hatte sonst immer den Sommer in Wien zugebracht. Die nöthige Abkühlung suchte und fand Florian im Donaustrom, wo er im bequemen Tempo seinen Schwimmübungen oblag, zu denen sich auch hier allerlei krause Künsteleien gesellten; so liebte er es, auf dem Kopf im Wasser zu stehen, bloß mit einer Hand oder auch nur mit dem kleinen Finger zu rudern, am eifrigsten aber verlegte er sich auf das Tauchen nach Kreuzern und Kieselsteinen. Ein einziger Versuch, einmal mitten in einem allzu heißen Sommer sich auf dem Lande zu erfrischen, war kläglich mißlungen. Florian hatte so sehr die häusliche Bequemlichkeit vermißt und Fräulein Nina ihre rastlose Thätigkeit, beide aber die gewohnte bürgerlich gute Küche, daß sie nach drei Tagen wieder heimgekehrt waren. Nun versicherte der Arzt, welchen Fräulein Nina unter dem Vorwande eines Unwohlseins zu sich berufen hatte, „bei dieser Gelegenheit“ Herrn Haushuber, daß seiner Fettleibigkeit eine Grenze gezogen werden müsse, und schickte ihn unter den üblichen furchtbaren Drohungen nach Karlsbad.

Ueber die Fettleibigkeit lachte Florian bloß; die Drohungen hingegen machten ihn doch einigermaßen nachdenklich. In einem sehr knappen Sarg auf dem sehr langweiligen Centralfriedhof zu liegen, das erschien ihm doch zu wenig behaglich und ging ihm über allen Spaß. „So ein kleines Schlagflüßchen!“ hatte der elende Doktor gemurmelt. Florians Körperumfang hatte zwar die üblichen Grenzen immer etwas überschritten; das viele Sitzen der höheren Kunst zu Liebe hatte jedoch in neuester Zeit diese Neigung wirklich in bedenklicher Weise gefördert.

Nebenbei warf der Doktor „bei dieser Gelegenheit“ auch gegen Jakobäa hin, daß sie gar nicht gut aussehe. Das that sie auch nicht. Die Ueberanstrengung vor den Prüfungen sammt der Sommerhitze hatten sie merklich angegriffen; sie schlief schlecht und aß fast gar nichts.

„Ihrem Magen würden auch ein paar Becher Karlsbader Schloßbrunn nicht schaden,“ brummte er – „und Ihren Nerven thut es noth, daß Sie eine Zeit lang Karlsbader Waldluft schnappen. Das wird Sie wieder röther und voller und stattlicher machen.“

Stattlicher! – Das klang wie eine Himmelsbotschaft an Jakobäas Ohr. Wenn es ohne besonderes Aufsehen gegangen wäre, so wäre sie dem alten struppigen Doktor gern um den Hals gefallen. Also es gab ein Mittel, es war auf der weiten Welt ein Ort, wo man stattlicher werden konnte! Sie sah dem alten brummigen Herrn mit einem heißen Blicke nach, wie Julia ihrem Romeo, indeß Herr Haushuber, der sonst allen Menschen wohlwollte, diesem Romeo den Hassesblick des Tybalt nachsandte. Aber das Schlagflüßchen – dergleichen duldet eben wenig Widerrede.

Das Atelier blieb daheim, Sammtflaus und Künstlerhut kamen mit; Fräulein Nina packte einen großen Korb voll Proviant für die kurze Tagesreise und hing den Strickbeutel über den Arm; Jakobäa endlich stopfte ihr Kofferchen mit dem ganzen Shakespeare voll. So stürzte man sich in die weite unbekannte Welt mit dem Steckbrief des Wiener Arztes an den Karlsbader Arzt im Strickbeutel. Gleich am ersten Tage suchte und fand Fräulein Nina in ihrer thatkräftigen Weise, welche sie überall, nur nicht an Florian bethätigte, eine passende und angenehme Wohnung auf dem Schloßberg. Florian schlenderte indessen durch die Straßen und richtete sein Augenmerk auf die Werke der Karlsbader Schildermalerei; sie nöthigten ihm nur ein verächtliches Lächeln ab, und endlich ward er dieses Anblickes so satt, daß er sich auf eine Waldbank beim Hirschensprung rettete. Dort saß er und schnitzte sich zum Nutzen sowohl als zum Zeitvertreib einen Stiefelknecht, weil dieses Möbel im Gasthaus sich für seine Füße zu klein erwiesen hatte. Aber wie die Noth stets die Erfinderin der Künste ist, so kamen ihm bei dem Schnitzeln des nothwendigen Instrumentes allerlei Erleuchtungen; zuerst wurde das Stützende des Stiefelknechtes in eine Art Zange zum Herausziehen der Nägel umgezaubert, hierauf die eine Zacke der Gabel in einen Hammer – über die zweckmäßige Verwendbarkeit der andern Zacke war er noch im Unklaren. Das Ganze sollte daheim noch künstlich zum Zusammenlegen gefügt werden, damit man es in die Rocktasche stecken könne; wozu man einen Stiefelzieher in der Rocktasche tragen müsse, daran dachte er in diesem Augenblicke nicht. Vor Eifer schweißtriefend ward er mitten in dieser Beschäftigung von den Frauen aufgestöbert und aus der Waldidylle zu dem neu gefundenen Heim geführt.

Dann begann der übliche Tageslauf eines Karlsbader Kurgastes, nur bei Florian etwas später als bei der großen Mehrzahl. Er liebte im allgemeinen das frühe Aufstehen nicht und hatte sich auch nur einmal, am ersten Tage, den Gänsemarsch der Kurgäste bei den Brunnen von weitem angesehen. Als er nach diesem Anblick heimkam, erklärte er ohne weitere Begründung, es wäre doch klüger gewesen, in Wien zu bleiben. Er kam zwar bei dem Frühstück in Erinnerung des Schlagflüßchens wieder von diesem Gedanken ab; aber er stand nie früher auf, bevor er nicht sicher sein konnte, daß der ortsübliche Gänsemarsch aufgelöst und der Zutritt zu den Brunnen frei sei. Jakobäa studirte nach dem ersten Becher den Theaterzettel des Tages und blickte nach dem zweiten Becher an sich nieder, ob sie bereits „stattlicher“ geworden sei. Während sie von dem sanften Schloßbrunn nippte, verschlang Florian unsägliche Massen des gewalttätigen Sprudels und führte dabei in der Sprudelkolonnade ein gemächliches Stillleben, da er die Bewegung nicht liebte.

Dann nahm man gemeinsam bei Pupp das Frühstück. Florian beklagte sich dabei jeden Tag über sein zu kurzes Bett; Fräulein Nina spürte mit Zunge, Nase und Augen den Geheimnissen des berühmten Karlsbader Kaffees nach, und Jakobäa durchstöberte die Theaternachrichten sämmtlicher Zeitungen. Hierauf begannen alltäglich die bangen Ahnungen der Tante bezüglich des zu erwartenden Mittagessens, welche während desselben sich in schweren Seufzern Luft machten und nach demselben als schmerzliche Erinnerungen erst durch den Nachmittagskaffee verscheucht wurden. Dieser wurde gleichfalls gemeinsam beim „Elefanten“ auf der alten Wiese unter den schattigen Bäumen eingenommen. Florian saß mit jener Gemächlichkeit da, wie sie seine Trafiktürken unabänderlich zur Schau trugen, und musterte [290] mit einer kühlen Gelassenheit die bunten Gruppen an den Tischen. Er trank dabei – vom Morgen an gerechnet – bereits den dritten verbotenen fetten Kaffee, aß dazu schon das zwölfte verbotene fette Gebäck und rauchte die sechste verbotene Virginiacigarre. Aber er machte sich nichts daraus; denn die Damen in der Runde waren bei derselben Zahl von Kaffees und Kaffeebroten angelangt. Und dabei hatten sie alle so schmerzlich zurechtgelegte Züge, obzwar sie innerlich recht ruhig waren; aber es macht sich gut so und gehört mit zur Kur, angegriffen auszusehen. Nach acht Tagen ertappte sich Florian selbst auf derartigen Anwandlungen und nach vierzehn Tagen glaubte er aufrichtig an ein empfindliches Angegriffensein. Von dieser Zeit her rührte eine neue Beschäftigung, welche ihn täglich ernst in Anspruch nahm.

Man stößt da an dem Berghange längs des Teplflusses auf Aufschriften, welche vor mehreren Jahren noch lauteten. „Hier kann man sich wiegen lassen.“ – Der fortschreitenden Kultur und Sprachwissenschaft entsprechend ist jenes „wiegen“ seither in „wägen“ umgemalt worden. Auch die ehedem schlicht und ohne Dach hingepflanzte Dezimalwage von jener rohen kleinen Gestalt, wie man sie bei Dorfkrämern findet, ist einem verwickelten Apparat von ehrfurchtgebietender Größe gewichen. Derselbe prangt jetzt unter einem Dächlein oder in einem feierlich dämmernden, mit Tapeten überzogenen Holzverschlage neben Stühlen, einem Lehnstuhl oder gar einem Sofa. Daselbst überzeugen sich die Kurgäste handgreiflich an Gewichtsstücken, ob das Karlsbader Wasser bereits Wunder gewirkt und ob die Fettschichte über ihren Gedanken und Gefühlen schon merklich abgenommen habe. Es ist ein gediegener und lehrreicher Zeitvertreib für alle gelangweilten dicken Fremden. Aber der ernste Mann, an welchen Florian zufällig dabei gerathen war, sah es durchaus nicht als solchen an, er nahm die Sache nicht so leicht wie seine Konkurrenten, bei denen man an eine Art Nichtsthun mit verschämter Bettelei dachte, das jeder sofort auszuüben im Stande ist wie das Drehorgelgeschäft. Er dagegen bekundete bei seinem Wägeverfahren etwas tief Gründliches, Wissenschaftliches; das war eine gewissenhafte Untersuchung, wie wenn ein berühmter Arzt an ein Krankenbett tritt. Es begann langsam mit einem feierlichen Aufsetzen der Augengläser und endete mit dem ernst und nachdrucksvoll ausgesprochenen Urtheile: „Hundertzehn Kilo und fünf Deka!“ Bei diesem Ausspruch hatte er auch ganz die Haltung und Miene eines berühmten Diagnostikers, der endgültig über Tod und Leben aburtheilt. Es klang wie eine höhere Offenbarung, war unumstößlich und bis auf ein Dekagramm untrüglich. Ganz so wie manche große Diagnostiker verhehlte und schmeichelte er dabei niemals, sondern sagte dem dicksten Banquier seine Fettziffer mit Marmorruhe ins bleiche Antlitz. Daraus erhielt der Gerichtete einen Zettel in seiner Muttersprache, in dessen gedrucktes Formular der Beherrscher der Wage Datum und Gewicht mit schönen Ziffern niederschrieb. Auf den ersten Blick hatte er es weg, welchem Volksstamm sein Patient angehöre, und mit zauberhafter Raschheit war das Dezimalgewicht seiner Wage in russisches oder norwegisches altes Gewicht umgewandelt. Jedermann bekam auf dem Zettel sein Fett in seinem Landesmaße zugemessen, nachdem der Zettel und der erbetene Name in ein großes Hauptbuch eingetragen worden waren. Der Zettel konnte verloren gehen, die Ziffer vergessen werden – dann wäre der Verlust ohne das Hauptbuch unersetzlich gewesen. Der Mann hütete darum auch dies Buch wie seinen Augapfel. Es waren ungeheure Massen Menschenfett darin aufgespeichert, und manche Nachfrage in späteren Jahren, mancher interessante Briefwechsel knüpfte sich daran, welcher sein Selbstgefühl noch erhöhte.

Florian, von dem tiefen Ernst der Sache ergriffen, von den blinkenden Augengläsern des Mannes und von dem großen Bleistift hinter dem Ohre verschüchtert, legte jedesmal vor dem Wägen alles ab, was das strenge Urtheil der Wage irgendwie beeinflussen konnte: Uhr sammt schwerer Goldkette und Georgsthaler, Geldtasche, Schlüssel, Taschenmesser und die großen goldenen Manschettenknöpfe. Täglich trat er vor diesen Richterstuhl, täglich brachte er dasselbe Urtheil heim: die Wägezettel wiesen wie die Guldenzettel, welche er für sie hingab, immer ein und dieselbe Ziffer.

In gleicher Weise erging es Jakobäa: bei Florian keine Abnahme, bei ihr keine Zunahme. Aber da stand auf dem Wege unter dem Hirschensprung eine junge Eiche mit üppig grünendem Wipfel. Die hatte einst auf dem Gestein Fuß gefaßt und hatte sich nach und nach mit zäher Kraft und Ausdauer den ganzen Felsen angeeignet. Er war jetzt ein Theil von ihr geworden: die Hauptwurzeln faßten ihn wie eiserne Klammern, die Nebenwurzeln umstrickten ihn von allen Seiten; die feinen Ausläufer krochen in die engste Ritze, schmiegten sich an jede Erhöhung, umgarnten alle Kanten. Wer den ganzen Baum haben wollte, mußte den Felsen sprengen. Daneben war in die Felswand die Gedenktafel eines armen Kranken eingemauert, darauf die vielen Jahre einzeln verzeichnet standen, in denen er nach einander die Kur in Karlsbad gebraucht hatte. Die Inschrift unten galt sowohl der Eiche, die den Fels überwunden hatte, als auch ihm selbst: Beharrlichkeit führt zum Sieg. Dies Sprüchlein sagte sich Jakobäa täglich vor, wenn sie von der Wage stieg.

Dagegen gab es an anderen Orten so manche andere Sprüchlein zu lesen von Beharrlichkeit, Geduld und Hoffnung; aber sie glichen jenem des Doktors von dem „stattlicher werden“: es stak nichts dahinter, oder wenn etwas dahinter lag, war es nur traurig. Der Teplfluß bildet unmittelbar am Ende der alten Wiese eine scharfe Krümmung, wo den Bergen noch der Raum für das „Hôtel de Saxe“ und für das „Hôtel Pupp“ mit seinen Anlagen abgewonnen ist. Gleich darauf tritt der Fuß der Waldhöhe wieder so dicht gegen das linke Ufer heran, daß man ihr nur noch einen Weg für Spaziergänger gewaltsam abringen konnte. An der Felswand, welche dabei in den herandrängenden Berg gehauen worden ist, sind Tafeln und Aufschriften angebracht, darauf zu lesen steht, weshalb, wann, wie oft, mit welchem Erfolg der Stifter die Karlsbader Kur gebraucht hat. Fräulein Nina widmete sich mit großem Vergnügen dem Entziffern dieser Tafeln; das waren nach ihrer Ansicht doch einmal Menschen, die nicht erst auf einen Possendichter, wie es der von ihr vergötterte Nestroy war, warteten, sondern sich lieber gleich selbst mit ihrer Schwäche an den Pranger stellten. Es erschien ihr höchst komisch, wie sie dabei doch selbst das Lächerliche ihres Unternehmens einsahen, wenn sie so der zügellosen Leidenschaft fröhnten, ihre Namen zu verewigen sammt ihren körperlichen Gebrechen; denn jedesmal ward diese nackte und zugleich häßliche Eitelkeit keusch mit dem Vorwande umschleiert, die Heilkraft der Quellen zu verherrlichen, der hilfereichen Quellennymphe zu danken. Jakobäas Auge überflog hingegen diese Wand immer mit einem tiefen Ernste, und trotz aller Erinnerungen an Nestroy und seine Witze, die Fräulein Nina unerschöpflich daran knüpfte, konnte sie nie darüber lächeln. Es waren uralte Gedenktafeln darunter, verwischt und halb zerbröckelt, deren Urheber längst vermodert waren. Und Jakobäa dachte, wie seit Jahrhunderten die Menschen, welche hier gewandelt waren, immer andere gewesen, das Leiden jedoch, unberührt vom Wechsel der Menschen und Zeiten, unverändert einherziehe – damals in denen, die seither gestorben, wie heute in allen, die da lebend neben, vor, hinter ihr dahinschritten.

Solche Gedanken vereinigten sich mit ihrer trübseligen Grübelei über ihr eigenes Mißgeschick und tauchten dann wieder hinab, um die Schwermut ihrer Seele noch mehr zu vertiefen. Dann trieb sie wohl eine verzweifelte Stimmung fort aus dem drängenden Menschengewühle in den dichtesten Wald. Da breiteten sich die mächtigen Buchen, mit gewaltigen Wurzeln – und sie stand daneben so schwach und dünn. Dort wieder schossen die leichten schlanken Tannen hoch, immer höher dem Himmel zu – und sie stand so klein, so niedrig unter ihnen in der Waldestiefe. Sie ließ sich auf eine Bank nieder und blickte empor zu den dichten Laubkronen, wo in jedem kleinsten Blättchen die belebenden Kräfte gestaltend und vergrößernd wirkten.

Und eben dieselben Kräfte – sann Jakobäa – waren es, die auch in ihr thätig waren oder doch thätig sein sollten; jedoch von ihrem Walten sah man nichts, gar nichts. Es war, als täten sie es an und in ihr nur so im Schlafe, lässig eben nur das erhaltend, was da war und wie es war, aber nichts dazu schaffend, nichts vergrößernd, erhöhend, erweiternd. Eine stumme schmerzliche Frage stand in dem Blick, mit welchem sie den Baum anstarrte. Die goldenen Strahlen in seiner Krone waren inzwischen zu einem mattgoldenen Nebel zerflossen, und diesen durchglühte jetzt der Purpur des späten Abends – aber in Jakobäa dämmerte schon längst nächtliches Dunkel, und mitten darin knirschte der eiserne Wille an eiserner Kette.

Dann war die Karlsbader Kurzeit um und man zog heimwärts.

[302] Florian war in Karlsbad der Inhaber von zwanzig Wägzetteln geworden, die gleichlautend waren, und von weiteren zehn, welche je eine Abnahme von etlichen Dekagramm aufwiesen, der letzte zeigte den erhebenden Unterschied von vier Kilogramm gegen den ersten. Das war das Endergebniß seiner Kur; dasselbe erschien ihm so gewichtig, daß er vermeinte, es fehlten ihm bloß die Flügel, um mit seinen übrigen hundertsechs Kilogramm wie eine Schwalbe die Lust zu durchsegeln.

Während Florian vier von hundertzehn subtrahirte, dividirte Fräulein Nina die Gesammtsumme der Karlsbader Ausgaben durch diesen bedeutungsschweren Vierer, um zu berechnen, wie hoch daselbst ein Kilogramm Gewichtsverlust zu stehen komme. Der Quotient gestaltete sich so abschreckend groß, daß die Gute schnell die vier Kilogramm in Deka verwandelte und dann durch die Anzahl der Deka dividirte. Ja, sie stieg in heftigem Reduciren bis zu Gramm herab; aber sie kam zu der Ueberzeugung, daß es ein kostspieliges Unternehmen sei, sogar nur ein Gramm Fettschicht in Karlsbad zu verlieren.

Jakobäa verschwand fast in der Waggonecke. Sie hatte weder zu subtrahiren noch zu dividiren, leider auch nicht zu addiren; sie war nicht schwerer, nicht stattlicher, nicht größer geworden. Aber man hatte immer und überall viel mehr Gewicht [303] gelegt auf die Nachwirkungen als auf die Wirkungen der Kur, und das war doch noch ein Trost oder wenigstens, wie Walther von der Vogelweide sagt. „ein kleines Troestelin“. Und die Eiche sammt der Gedenktafel mahnte wieder und wieder: Beharrlichkeit führt zum Sieg.

In Wien entspann sich das gewohnte Leben. Endlich war auch die Zeit vorübergestrichen, welche die gepriesenen Nachwirkungen der Karlsbader Kur bringen sollte. Fräulein Nina verspürte dieselben zuerst in unwiderleglicher Weise: sie mußte etwas Goldrente verkaufen, um die Kluft zu überbrücken, welche jene vier Kilogramm in die sonst so eben verlaufende Finanzgebarung des Hauses gerissen hatten. An Florian traten die Nachwirkungen in der Form zu Tage, daß er genau um die kostbaren verlorenen vier Kilogramm wieder zugenommen hatte. Er stellte dies auf seiner eigenen Dezimalwage fest und ließ es sich noch am selben Tage auf den Wagen zweier Kaufleute in der Nachbarschaft bestätigen.

An Jakobäa zeigten sich die Nachwirkungen nicht äußerlich. Selbst dieses „Troestelin“ ging ihr verloren; sie war auch hinterdrein nicht „stattlicher“ geworden. So kam es, daß sich dieselben dafür innerlich bemerkbar machten. Ihr Wesen vertiefte sich von dieser Zeit an zu einer beständigen stillen Schwermuth. Man merkte, wie sie sich gewaltsam aufstacheln mußte, mit an den Vorgängen und Reden um sich her überhaupt einen Antheil zu nehmen. Jene Hoffnungsfreudigkeit, welche sich ehedem hier und da in heftigen Ergießungen Luft gemacht hatte, war nun ganz versiegt. Selbst das Interesse an der künstlerischen Umwandlung des herrlichen großen Menschen war auf einmal spurlos versickert wie ein Wüstenquell im Sande.

Und doch hätte sie eben jetzt triftige Ursache gehabt, sich ihrer Erfolge zu freuen. Der gutmüthige Florian nahm sich das trübselige theilnahmslose Dahinstarren Jakobäas ernstlich zu Herzen und that nun manches aus eigenem Antrieb, wozu ihn früher selbst Jakobäa nicht hatte bewegen können. Der Ohrring war verschwunden; die starren Stoppeln auf seinem Haupte hatten sich zu blonden Locken ausgewachsen; der Bart war wohl gepflegt und an den Enden genau so flockig gekräuselt, wie Florian dies auf einem Selbstporträt von Rubens gesehen hatte. Die Löckchen unter dem Künstlerhut, der kecklich nur so darüber hingeworfen war, schwankten bei jedem Schritte , die Bartspitzen vibrirten leise, die Halstuchenden flatterten wie Fähnlein, der Flaus warf nachlässig großartige Falten. Aber es fruchtete nichts. Jakobäa ließ sich hierdurch weder begeistern noch rühren, noch auch fand sie ein Wort der Anerkennung dafür. Er setzte sich dicht vor sie hin in das volle Licht, er schritt sehr langsam vor ihr auf und ab – sie schien es gar nicht zu bemerken. Und sie mit einem Scherzwort wie ehedem anzureden, um sie aufmerksam zu machen, das wagte er jetzt nicht mehr; es war in neuerer Zeit etwas Unnahbares an ihr, was ihm hierzu alle Luft benahm.

Eines Tages faßte er sich endlich ein Herz, stellte sich knapp vor sie hin und sagte: „ Fräulein Aea, brauchen Sie mich denn jetzt gar nicht mehr? Ich meine, des Stichwortes halber … wenn es Ihnen recht ist, so lerne ich den Ingomar auswendig. Etwas kann ich schon.“

Er steckte die rechte Hand in die Weste, so daß sie gerade über das aufgeregt klopfende Herz zu liegen kam, und stellte den linken Fuß beträchtlich vor. Dann begann er zu deklamiren.

Es war dieselbe Art kindlichen Fibelrecitirens wie damals; nur klang das Hochdeutsche jetzt etwas selbstbewußter und noch gespreizter. Vergebens wartete er darauf, daß sie wieder sagen würde: „Mein Gott, was wären Sie für ein wunderbarer Herodes … u. s. w.“

Sie hörte zerstreut zu und unterbrach ihn plötzlich ganz kühl. „Aber, Herr Haushuber, wozu denn diese große unnütze Mühe? Das Auswendiglernen ist ja ganz überflüssig, das Lesen würde da vollständig genügen. Aber auch dafür muß ich Ihnen herzlich danken, ich studire derzeit andere Dinge.“

Fräulein Nina saß ganz erstarrt da und blickte regungslos gen Himmel, wo wieder einmal Monsieur Demarre verwundert niederblickte. Dann stand sie mit Mühe auf, sank aber sogleich wieder auf den Stuhl zurück, weil die Kniee unter ihr zusammenknickten und die Füße den Dienst versagten. Endlich erhob sie sich mit einem gewaltsamen Rucke, schlich in die Küche hinaus und betrachtete dort eine kupferne Gugelhupfform mit einem Interesse, als ob sie dergleichen noch nie gesehen hätte und der Zweck dieses seltsamen Apparates in der Schöpfung ihr ganz unerfindlich wäre. Schließlich löste sich die Spannung in den Worten: „Den Ingomar auswendig! Der Florian! – Ganz wie der arme selige Monsieur Demarre, welcher am Ende auch ein französisches Gedicht mir auswendig vordeklamirte, als ihm das Herz schon zu voll war! Der Mensch erlebt viel, wenn er alt wird. Du guter Gott, der arme Junge ist ja zum Sterben verliebt!“

Das war Florian auch in der That; aber er selbst wußte nichts davon, und für andere merkbar wurde es erst, seit sich Jakobäa nicht mehr um ihn kümmerte. Da er unmittelbar durch seine Persönlichkeit ihr auch nicht das unbedeutendste Zeichen von Theilnahme entlocken konnte, so gerieth er auf den Gedanken, daß er dies vielleicht mittelbar durch seine Kunstwerke erreichen könne. Seitdem hockte er wie angekettet im Atelier und malte an einer Landschaft. Es war die Eiche unter dem Hirschensprung in Karlsbad sammt der Bank in ihrem Schattenbereich, dem Lieblingsplätzchen Jakobäas. Vorher hatte sich das Unerhörte ereignet, daß Florian eine Reise auf das Land antrat; dort hatte er sich in Begleitung eines Waldhegers in die Wälder hineingewagt, um sich ein entsprechendes Modell persönlich zu suchen. Der so mühselig gefundene und theuer erkaufte junge Eichenbaum ward dann bei Nacht und Herbstnebel auf einem Fuhrwerk geheimnißvoll in das Atelier emporgeschmuggelt. Beim Morgengrauen saß Florian bereits vor seinem Modell und begann es zu kopiren. Jede seine Unebenheit, jeder Riß, jede Rauhheit der Rinde wurde mit verzweifeltem Ringen nach Treue zur Geltung gebracht, jede winzige Ausschürfung deutlich und bestimmt angebracht, als ob er mit einem Vergrößerungsglas vor den Augen dasäße. Die kleinsten Knötchen und Anschwellungen der Aeste wurden haarscharf wiedergegeben, jedes Zweiglein des Hintergrundes bis in das feinste Detail abgemalt, wie es ein Durchschnittsauge nur mit einem Opernglas wahrnehmen kann. Die Blätter wurden abgezählt, und jegliches Blatt war ein Porträt. Das Ganze war getreuer als eine Photographie, und Florian hätte damit auch nie ein Ende gefunden, wenn nicht der Baum in der Temperatur des Ateliers welk geworden wäre. So sah schließlich die Krone auf dem Bilde wohl ziemlich gelichtet aus, aber die Wurzeln umfaßten und umklammerten gleichwohl, wie bei dem Karlsbader Urbild, den Felsen, welcher ebenfalls mit den unwesentlichsten Einzelnheiten nachgeahmt erschien. Unten auf dem Wege vor der Bank lagen drei wohl porträtirte Kieselsteine und ringsherum, in erstaunlicher Nachbildung der Natur, der Sand und die zerkrümelte Erde. An der Felswand glänzte die Tafel mit der Inschrift: Beharrlichkeit führt zum Sieg!

Als er fertig war und Jakobäa das Bild schenkte, da fing sie plötzlich zu weinen an und drückte ihm schluchzend die Hand.

„Aber … Fräulein Aea …?“ rief er ganz bestürzt.

„Dank, tausend Dank, Herr Haushuber! Sie sind so gut gegen mich! Sie wissen ja nicht …“ und dabei wandte sie sich und eilte hinaus.

Nein, er wußte wirklich nicht und blickte ihr verstört nach. Aber er besaß einen unerschöpflichen Grundstock von Zähigkeit, die sich nicht abschrecken ließ. Den ganzen Winter hindurch malte er nichts mehr; wenn man ihn nach seinen Arbeiten fragte, murmelte er etwas von Kartons. Als die ersten Frühlingstage hereinzogen, ließ er ein Gerüst um sein Haus schlagen und kroch dann langsam hinauf. Bange knarrte die Leiter unter der wuchtvollen Last, aber er machte sich nichts daraus: er kam sich vor wie Michel Angelo, der zu der Wand der Sixtina emporklettert, oder wie Tizian an der Hausfront des Fondaco dei Tedeschi in Venedig. Und nun malte er die Wände vom Dach bis an den Erdboden voll, zwar nicht al fresco, wie jene zwei großen Vorbilder, sondern in Oelfarben, aber erstaunlich rasch nach den im Winter ausgeführten geheimnißvollen Kartons.

Als das Gerüst beseitigt worden war, sah man zu unterst die allegorischen Figuren des Fleißes, der Sparsamkeit, der Häuslichkeit prangen, darüber die neun Musen, oben die Medaillonbildnisse von Dürer, Raphael, Lionardo, Correggio, Tizian, Rubens. Dazwischen spreizte sich ein offener Riesenfächer, auf dessen einzelnen Theilen die Werke, die Florian bisher geschaffen, zu sehen waren: ein Trafiktürke, ein schön frisirter Herrenkopf, ein Löwe mit dem Kerzenbündel, ein blauer Adler u. s. w. Die eine freie [304] Seitenwand füllten Buchstaben jeglicher Schriftart, Größe und Farbe, bald stramm wie Soldaten neben einander in Reih und Glied marschirend, bald wie Betrunkene durch einander taumelnd, während ein Apollo sie von oben wehmüthig betrachtete.

Die ganze Vorstadt unternahm an Sonn- und Feiertagen mit Kind und Kegel förmliche Wallfahrten zu dem Haushuberhause. Wenn sich gegen Abend der staunende Haufen verlaufen hatte, ging Florian hinunter. Aber er schöpfte nicht mehr wie ehedem unter seiner Hausthür Luft, sondern durchschritt die Gasse und lehnte sich an die Ecke des gegenüberstehenden Hauses. Dort schaute er zu seinem Werke empor und zupfte sich dabei aus alter Gewohnheit an dem linken Ohre, obzwar der Ohrring längst befestigt und das Löchlein im Läppchen schon verwachsen war.

Es hauste in der Nachbarschaft ein demokratischer Schuster, welcher kecklich die Behauptung aufstellte, daß die Köpfe in den Medaillons Karikaturen der Minister seien. Es gab ferner bösartige Naturen, welche versicherten, Apollo sehe ganz wie eine Vogelscheuche aus, die Allegorien seien eine wohlbezahlte Reklame für die Pfefferkuchenmännlein des benachbarten Lebzelters, und unter den neun Musen fänden sich acht Porträts der Damenkapelle im nächsten Kaffeehaus vor. Jene neunte Muse, welche nach Abrechnung der acht Porträts der Damenkapelle übrigblieb, trug in einer Hand die tragische Larve, in der anderen einen Dolch und stand auf einem so hohen Kothurn, daß sie, obzwar kleiner als ihre Schwestern, dieselben doch überragte. Diese neunte Muse kannten bloß die nächsten Nachbarn, welche das Urbild täglich mit der Mappe unter dem Arm durch das Thor des Haushuberhauses aus- und einschlüpfen sahen.

Jakobäa hatte alle die Herrlichkeiten einmal angesehen und seither nicht wieder: jene Melpomene hatte ihr ebenso die Thränen in die Augen getrieben wie das Bildchen der beharrlichen Eiche. Kopfschüttelnd blickte ihr Florian nach, wenn sie gesenkten Hauptes dahinging, und sagte sich ihre Worte vor: „Sie wissen ja nicht …!“

Nein, er wußte nicht, daß Theateragenten, Direktoren, Intendanten den zweiten Jahrgang der Schauspielschule besucht hatten, wo sie alljährlich gleich den Schwalben im Frühling wiederkehren. Es gilt, sich bei Zeiten eines hervorstechenden oder für den Augenblick eben notwendigen Talentes zu bemächtigen. Dabei war der Mehrzahl von Jakobäas Genossinnen bereits die nächste Zukunft gesichert worden; sie selbst staunte man an, man pries ihre Begabung, ihr außerordentliches Darstellungsvermögen, jedoch selbst von dem unbedeutendsten Provinzstädtchen erhielt sie keinen Antrag.

Der Frühling war vorübergegangen, die heiße Zeit kam und mit ihr die heiße Zeit der Prüfungen. Jakobäa errang dabei in allen Haupt- und Nebenfächern die Note „ausgezeichnet“. Sie zählte infolge dessen zu den wenigen, welche sich um einen Preis bewerben durften.

Das gegenseitige Verhältniß der auserlesenen Zöglinge, welche zu diesem „Konkurse für dramatische Darstellung“ zugelassen werden, ist in der Regel ein sehr gespanntes und gestaltet sich desto gereizter, je näher der Zeitpunkt der Entscheidung heranrückt. Der Kampf ums Dasein wird hier zum Kampf um die Rolle. So viele Mädchen da sind, so viele wollen das Gretchen spielen; jeder der jungen Männer will Faust sein. Es ist eine schwere Zeit für die Professoren, und dreifach gepanzert muß die Brust des Direktors der Anstalt sein: es wird zart oder deutlich angespielt, geschmeichelt , gebeten, gefleht, geweint, geschluchzt; es werden alte Onkel und noch ältere Großväter als Fürbitter aus Rumpelkammern hervorgezerrt – Kinder wimmern, Mütter irren! Ja, man zieht es sogar vor, gänzlich auszutreten, als in einer unbedeutenderen Rolle das vermeintliche Licht unter den Scheffel zu stellen. Dabei lehrt eine alte und jedes Jahr neu bewährte Erfahrung, daß dieser hartnäckige Kampf regelmäßig einer Rolle gilt, welche für den betreffenden Zögling am wenigsten taugt. Endlich beschließt all dies nervenauszehrende Ringen die Preisbewerbung in einer öffentlichen Vorstellung. Neben dem Publikum, das sich für die Sache interessirt, findet sich zu solchen Konkursvorstellungen auch ein merkwürdiges Häuflein zusammen, welches nur der Personen wegen da ist. Dasselbe bildet sich freiwillig oder gezwungen aus den Verwandten der Zöglinge und aus den Verwandten dieser Verwandten in ungezählten Seitenlinien. Ja, Kousins und Kousinen, deren Vorhandensein und Zweck auf dieser Erde sonst gar nicht in Betracht gekommen ist, gewinnen hier eine gewisse Berechtigung für ihr Dasein und einen Lebensberuf. Alles das hat nun, wie jener Römerlegat in der Mantelfalte, Krieg und Frieden im Salonrock oder im Seidenkleid beisammen: Frieden für die Ihrigen, Krieg für die Anderen, unbarmherzige Härte gegen fremdes Blut, zerfließende Nachsicht für das ihre.

Als Jakobäa auftrat, da war es ganz wie bei jener Talentprüfung: erst das Lächeln auf allen Gesichtern, das Kopfschütteln, Achselzucken, ja selbst das Wort von der „Kinderkomödie“ und die „zu starke Zumuthung“ blieben nicht aus. Dann dasselbe Verstummen, Starren, Hangen und Bangen, und endlich das Mitgerissenwerden trotz Kousin und Kousine, Tante, Onkel und Schwager. Jakobäa ward einstimmig der erste Preis zuerkannt; außerdem erhielt sie die höchste Auszeichnung, welche das Wiener Konservatorium zu vergeben hat, die silberne Medaille.

Die Anderen zogen dann mit ihren zweiten Preisen oder ohne Preise nach Berlin, Dresden, Hannover oder auch nach Iglau, Hollabrunn und Mödling. Jakobäa allein blieb in Wien und saß mit ihrem ersten Preis und der silbernen Medaille daheim in ihrem Stübchen. Man suchte ihr von seiten des Konservatoriums unter die Arme zu greifen. Sie sollte trotz ihrer ausgezeichneten Studien noch ein Jahr im Konservatorium verbleiben; man wollte den Versuch machen, sie in andere Rollen zu drängen. Vielleicht war späterhin, wenn sie doch noch ein wenig wuchs, eher eine Thätigkeit auf der Bühne für sie denkbar, etwa als naiver Backfisch oder als halbflügges schnippisches Kammerkätzchen. Aber es war umsonst: es stak nur eine Klangfarbe in ihrem Organ, nur eine Darstellungsform in ihrem Wesen – die tragische. Der Versuch zum Gegentheil machte sich gerade so, als ob man einen im Gewölke kreisenden Adler hätte so zähmen wollen, daß er als niedliche Bachstelze mit Trillern, Schwirren, Balanciren schnippisch oder kokett an Vergißmeinnichtufern hin- und hertripple. Dann tauchte von der Seite eines Gönners und Förderers der Vorschlag auf, ihr ein Wartegehalt auszusetzen, damit man sie nach einigen Jahren, wenn sie gesetzter geworden wäre und an pädagogischem Ansehen gewonnen hätte, als Vortragsmeisterin, als Lehrerin des dramatischen Vortrages für die weiblichen Zöglinge anstelle. Es war dies eine Neuerung; aber alle maßgebenden Persönlichkeiten sprachen sich sofort einstimmig dafür aus in Anbetracht dieser genialen Begabung, um die es jammerschade wäre, wenn sie gänzlich brachliegen sollte. So konnte sie gleichsam als Propfreis auf geringeres Gewächs gepflanzt, doch wenigstens an anderen eine veredelte Frucht hervorbringen. Aber Jakobäa wollte davon nichts hören; sie mochte sich nicht binden; noch war nicht jede Hoffnung in ihr erstorben. Sie schickte ihre Konservatoriumszeugnisse und ihr Diplom an den Direktor des Theaters in Baden bei Wien. Sie wußte, daß er sie nicht spielen lassen würde, wenn sie sich persönlich vorstellen würde; aber die Feder in der Hand giebt wie der Säbel auch dem Verzagten Muth.

Die Antwort kam telegraphisch und lautete: „Heute noch kommen, spielen, Tragödin erkrankt, Direktor.“

Jakobäa fuhr sogleich nach Baden. Als der Direktor sie sah, bekam er bei seiner ohnedies verzweifelten Stimmung Lust, in die weite Welt davonzulaufen. Aber die Mittagszeit war vorüber, das Auftreten des Gastes bereits angezeigt; es ließ sich nichts mehr ändern – er ließ dem Verhängniß freien Lauf.

Am nächsten Morgen redete man in sämmtlichen Schwefelwasserbädern und Kaffeehäusern Badens von dem gestrigen Theaterskandal. Ueber die Rücksichtslosigkeit des Direktors gab es nur eine Stimme: ein kleines Mädchen, das vielleicht in einigen Kinderkomödien mitgewirkt, dem Badener Kurpublikum als Gast in einer Hauptrolle vorzuführen und überdies eine Klaque dafür zu bezahlen daß sie jedes Zeichen des Mißfallens mit Thätlichkeiten verstummen mache – es war unerhört!

Diese sofort in Tätlichkeiten ausartende Klaque bestand aus Herrn Florian Haushuber, welcher dreißig Minuten nach Jakobäa vom Südbahnhof nach Baden gefahren war, obzwar sich dieselbe die Begleitung von Fräulein und Herrn Haushuber dringend verbeten hatte. Aber den früher so ruhigen Florian quälte eine seltsame Unruhe, die ihn jetzt regelmäßig hinter Jakobäa einhertrieb, so oft sie ausging. Im Sommertheater des Badener Kurparkes hatte er sich, um von Jakobäa nicht bemerkt zu werden, [306] auf die Galerie gestellt. Er hatte überlaut bei Jakobäas Auftreten applaudirt und war in der That handgreiflich geworden, als Gelächter, Zischen und Stampfen gegen den Gast losbrach. Wie der Applaus mit so wuchtigen Händen etwas besonders Nachdrucksvolles hatte, so auch die Thätlichkeiten; er dagegen bedauerte bloß, daß er seinen Ingrimm nur den nächsten Nachbarn zu kosten geben und nicht mit einer Riesenhand diesem ganzen Publikum auf einmal einen einzigen ungeheueren Backenstreich verabreichen konnte. Das Haus mit den neun Musen blieb eine Macht und einen Tag lang seines Herrn beraubt; dieser war in Baden sehr beschäftigt und konnte nicht abkommen. Denn das Publikum war höchst entrüstet und Polizei und Bezirksgericht waren deshalb höchst neugierig geworden. Am zweiten Tage gelangte von Baden ein Telegramm an Fräulein Nina, worauf von dieser sofort eine telegraphische Geldanweisung an Herrn Florian Haushuber in Baden erging; darauf erlebte die Strafgelderabtheilung der Badener Armenkaste eine ansehnliche Bereicherung und Herr Haushuber durfte heimkehren. Fräulein Nina empfing ihn wie einen siegreichen Helden, der seinen Triumphzug hält, und Jakobäa stand harrend an der Thürschwelle, um ihm die Hand zu drücken. Sie war bleich wie nie, dunkle Ringe umschatteten ihre Augen. Florian wurde ganz roth bei ihrem Händedruck und ging eilig in sein Atelier.

Dort lag ein Haufen inzwischen angelangter Briefe aufgestapelt. Er sah sich das ganze Päckchen bloß von oben hin mit einem verächtlichen Blick an – wußte er doch, was darin stand. Er war in der neuesten Zeit eine Art künstlerischen Beiraths des ganzen Stadtviertels geworden; seitdem er sich mit Künstlerhut und Flaus, mit flatternden Halstuchzipfeln und Locken in den Straßen zeigte, galt er als ein Universalgenie, wie etwa Lionardo und Michel Angelo, der Mann mit den vier Seelen. Die krausesten Bestellungen kamen ihm infolge dessen von selbst hereingeweht. Endlich riß er doch den ersten Brief auf; der reichste Selcher des Viertels bestellte für sein Auslegefenster wörtlich: „ein Donauweibchen, ganz so wie das im Stadtparke von Hans Gasser, aber in Schweinefett auszuführen.“ – In dem zweiten Brief forderte ein Zuckerbäcker eine Gefrorenesform für den Kopf der Lucca, indem er unter anderem erwähnte. „… man ißt das reizende Näschen, dann – kurz es soll die Lucca sein, wie sie auch sonst ist: zum Ansehen herzig, nur hier buchstäblich. Das ist einmal eine Aufgabe für Sie, Herr Haushuber …“

Nein, der Mann des Zuckers täuschte sich wie der Mann des Fettes: das waren keine Aufgaben mehr für Herrn Florian Haushuber, auch nicht alle ähnlichen Rohheiten und Greuel eines verirrten oder verkommenen Geschmackes – wenn sie es auch einmal gewesen waren. Von heute an nicht mehr!

Er packte plötzlich alle übrigen noch uneröffneten Briefe mit einem Griff, knüllte sie mit einem zweiten zusammen und warf sie in den Ofen. Als er dabei an den Fuß der Staffelei gerieth, schleuderte er ihn fort, so daß sie sammt dem Bilde mit dröhnendem Gepolter hinfiel. Dann warf er sich in den Lehnstuhl und stieß mit dem Fuße verächtlich alles weit von sich, was da unten in dessen Bereiche lag.

„Kunst!“ brummte er ingrimmig. „Gerümpel, ja! Diese Maulaffen in Baden! Wie sie blökten und zischten … eine Herde von Schafen und Gänsen! Und das will etwas von Kunst verstehen! Das will die Aea begreifen! Vor dergleichen soll sich die Aea jeden Abend hinstellen, um sich begaffen, mustern, bekritteln, bespötteln zu lassen? Aber ich, freilich ich gelte diesen Herden für einen Künstler. Ich! … es wäre so ungeheuer lächerlich, wenn es nicht so erbärmlich dumm wäre und wenn ich mich nicht selbst dafür gehalten hätte. Natürlich! Weil ich mit Flaus und Schattenspenderhut herumgerannt bin wie ein rechter Narr, darum bin ich ein Künstler … nun so, ganz so, wie die Holzpuppe mit dem Wachskopf in dem Ladenfenster einer Kleiderhandlung ein Mensch ist. Was ich da auf mein Haus hingekleckst habe, das ist für sie Kunst, das bewundern diese Schwachköpfe … nun ja, wie oft stellte ich mich dort gegenüber hin und habe es selber mit angestaunt … natürlich, weil ich just so viel von der wahren Kunst verstehe, weiß und kann wie die Anderen. Da haben sie freilich die Aea als Melpomene nicht ausgezischt, sondern mit offenen Mäulern diese jämmerliche Karikatur angestaunt, die ich an die Wand geschmiert habe … ich auch, ich bin so förmlich auf mein Werk stolz gewesen! Es ist mir gerade, als ob ich diese Zeit über betrunken oder verrückt gewesen wäre! Vielleicht ganz hirnlos!“

Er sprang auf und begann in dem Atelier alles klein zu schlagen. Er that das mit einer gewissen wohlbedachten Ruhe, ohne Uebereilung und nach einer strengen Ordnung: es blieb auch nicht ein Gegenstand ganz oder heil.

Fräulein Nina stand in der Thür und rang die Hände, aber sie wagte sich nicht hinein. Dergleichen hatte man an dem friedlichen, stillen, beharrlich lächelnden Florian nie erlebt; es wäre ihr auch ganz undenkbar erschienen, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Das war offenbar eine entsetzliche Krise: entweder nachtwandelte er, oder er befand sich in einem Delirium, oder war tobsüchtig. Sie schickte sogleich nach dem Hausarzt, welcher jedoch in diesem Augenblicke leider nicht daheim war.

Als Florian mit seinem großen Zerstörungswerke fertig war, warf er den Flaus ab und schürzte die Hemdärmel hinauf wie in den guten alten Zeiten, da er noch kein Kunstmaler war. Hierauf riß er einen Riesentopf aus dem Kasten hervor, und alsbald entwickelte sich ein eifriges hastiges Schaffen, ein Herbeiholen, Hineinschütten, Uebergießen, Umrühren, schließlich ein endloses Durchwühlen und Stampfen, als ob er buttern würde. Als er einmal anhielt, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, stand Fräulein Nina vor ihm.

„Was machst Du denn da, Florian?“ sagte sie in jenem behutsam sanften Tone, in dem man schwer Erkrankte mit reizbaren Nerven anredet.

„Aschgraue Oelfarbe.“

„So viel? Wozu denn so schrecklich viel, Florian?“

„Für unser Haus. Morgen wird es angestrichen.“

„Was? Die schönen Malereien …“

„Werden morgen aschgrau überstrichen. Ja, Tante, morgen, und grau, asch – grau, wie es sich für einen Bürger und Schildermaler schickt.“

Fräulein Nina zog sich entsetzt aus den Trümmern des Ateliers zurück; der Ton, in welchem Florian redete, war so nachdrücklich, daß er nicht einmal den Gedanken an eine Widerrede aufkommen ließ. Man hatte ihr den armen Jungen in Baden umgetauscht: ein Lamm hatte sie aus ihrer Obhut entlassen, ein Tiger war heimgekehrt.

Florian aber wühlte und rührte unverdrossen weiter, er stampfte alle seine aschgrauen Gedanken in das Aschgrau des Riesentopfes hinein. Dann blickte er mit Befriedigung auf die abschreckende Farbe, die er endlich zu Stande gebracht hatte, und auf den Greuel der Verwüstung, welchen er um sich geschaffen. Hierdurch einigermaßen besänftigt, rückte er seinen Lehnstuhl, dem jetzt eine Armlehne fehlte, zum Fenster und riß dasselbe auf, um Luft zu schöpfen und sich von der wackern Arbeit abzukühlen. Er zündete eine Cigarre an und blickte den Rauchwölklein nach. Sie waren grau – das that ihm wohl, der Rauch aus dem Schornstein gegenüber war gleichfalls grau – das stimmte ihn milder: eine bunte Farbe hätte ihn heute zu einer argen Gewaltthat reizen können. Ein Rascheln ließ ihn aufblicken – es war ein Blatt Papier, das auf dem Fensterbrett oder auf einem der jetzt zertrümmerten Möbel gelegen hatte und jetzt von dem Luftzuge des offenen Fensters über die Dielen hingeweht wurde. Florian erhaschte es und las:

     „Du warst mir werth
Und bist es noch und wirst mir’s immer sein,
Gleich einem lieben Reis’genossen, den
Auf kurzer Ueberfahrt des Zufalls Laune
In unsern Rachen führte, bis das Ziel erreicht
und scheidend jeder wandelt seinen Pfad …“
 Grillparzers „Sappho“.

Es war Jakobäas Handschrift, und Florian konnte nicht begreifen, wie das Blatt in das Atelier gerathen war. Er legte die Verse vor sich auf das Fensterbrett, blickte abwechselnd in dieselben und hinaus nach den grauen Rauchwölkchen – „Und scheidend jeder wandelt seinen Pfad …“ las er noch einmal – wozu sie das abgeschrieben haben mochte?

Jakobäa war auf ihr Zimmer gegangen. Sie schien bloß auf Florian gewartet zu haben, um ihm zu danken, ehe sie ausging; denn Jacke, Hut und Handschuhe lagen vorbereitet da. Sie zog sich rasch an, ein jähes Beben durchzuckte dabei den zarten Körper.

So mögen in dem Berge des Aeolos die Stürme wild die Pforten schütteln, an den Wänden nagen und den allzu engen Raum aufzubrechen drohen … Dann öffnet wohl der Vater [307] eines der Thore den ungestümen Drängern, daß sie sich austoben. Eine Pforte war auch Jakobäas stürmischer Künstlerseele aufgethan worden, breit und lichtumstrahlt, sich hinauszuschwingen in die Höhen und Weiten. Aber als sie sich zu ihr hindrängte, schrumpfte das weite Thor zum Pförtlein zusammen und zuletzt, sobald sie dicht davor stand, zur engen Ritze. Und da sie sich durch diese hinauszwängen wollte, war auch der letzte schmale Lichtstreifen geschwunden, weil sich jener dünne Spalt gleichfalls zugethan hatte. Sie stand wieder da, von dem knappen Raume der eigenen Körperlichkeit umschlossen, vor der Pforte, die sich nicht mehr öffnen wollte.

So ging sie denn hin, dieselbe zu sprengen. Sie ging daran wie zu einem nothwendigen und unaufschiebbaren Vorhaben, ohne Zögern, ruhig, sicher. Sie hielt nicht einmal an, um sich erst von der Brücke ihr nasses Grab anzusehen. Sie rang auch nicht mit dem Elemente; eine einzige Welle genügte, und der Körper sank augenblicklich unter, als habe der alte Wassernix nur darauf gelauert, um nach ihr zu langen – aber es war bloß die eigene Seele, welche den Leib niederzwang und in der Tiefe festhielt. Dies alles war so ohne Hilferuf, Ringen, Todesschrei abgegangen, daß die Neugierigen ganz enttäuscht waren. Es waren Leute darunter, die beständig an den Geländern des Donaukanals oder auf den Brücken herumlungern und geradezu als Fachmänner bei Beurtheilung solcher Selbstmorde gelten können, welche in der Großstadt sich nur allzu häufig ereignen; aber sie erklärten, einen so raschen und farblosen Vorgang noch nie beobachtet zu haben.

Ebenso rasch und schlicht gestaltete sich das nun folgende Nachspiel: ein großer starker Mann stürzte in das Wasser nach und tauchte hinab. Auch das bot den Maulaffen und Nichtsthuern an dem Brückengeländer keinerlei Erregung und nicht die mindeste Spannung. Man wußte recht gut, welch ein Schwimmer der wohlbekannte Hausbesitzer und Maler Haushuber war, und wie er es ruhig und fast geringschätzig mit der gewaltigen Strömung der großen Donau aufgenommen hatte – und jetzt hier dieser lächerliche Wasserfaden des Donaukanales! Man hatte ihn bei seinen sommerlichen Schwimmkünsteleien mit Erfolg nach winzigen Kieseln und Kreuzern tauchen sehen – und hier galt es, einen ganzen Menschen aufzufinden! In der That, er hatte sie auch bald aus der Tiefe gefischt und trug sie dann wie ein Kind an das Ufer und in die nächste Rettungsanstalt.

[317] Ein Arzt war in der Rettungsanstalt augenblicklich zur Stelle, die Wiederbelebungsversuche zeigten sich erfolgreich. Jakobäa schlug die Augen auf und blickte erstaunt um sich. Dann führte man sie in ihre Wohnung. Fräulein Nina setzte sich auf den Rand ihres Bettes und blickte die nun Schlummernde mit feuchten Augen an. Sie war zu Tode erschreckt und zugleich schmerzlich gekränkt. Monsieur Demarre im Himmel und sämmtliche Theater auf Erden waren ihr durch den unglückseligen Schritt dieses Kindes, das sie wie eine Mutter behütet hatte, verleidet worden.

Florian hatte vorhin, am offenen Fenster sitzend, den Schritt Jakobäas gehört, als sie fortgegangen war. Rasch hatte er den Rock umgeworfen und war ihr in der unerklärlichen Unruhe, welche ihn jetzt immer hinter ihr hertrieb, aus dem Fuße gefolgt. So war es möglich geworden, daß er sie retten konnte. Als er daheim die Tragbahre ihrer leichten Last entledigt, die Träger entlohnt und die Tante mit wenigen barschen Worten von dem Vorgefallenen unterrichtet hatte, schlug er die Thür hinter sich zu, daß das ehrsame Bürgerhaus von oben bis unten erdröhnte. Nachdem er trockene Kleider angezogen, kam er herüber. Die Tante ging sogleich hinaus, um – wie sie sagte – Thee zu kochen, eigentlich aber, um Florian allein zu lassen. Es war zum ersten Male, daß er Jakobäas kleines Stübchen betrat. Sie schlummerte noch; er setzte sich an ihr Bett und sah sie an.

[318] Da lag sie nun, schmal, zart, klein, die arme Hülle, welche den stürmenden Geist beengt und gequält hatte, bis er sie abwarf und hinschleuderte. Das lange Haar war aufgelöst und schlängelte sich an der Gestalt hinab; es wäre überlang gewesen für ein sehr großes Mädchen. Das Antlitz lag auf dem Kissen, wie ein großes Buch der Schmerzen aufgeschlagen, niedergeschrieben in jener Sprache und Schrift, die jedem Erdgeborenen wohlbekannt und verständlich ist: da waren die abgehärmten blassen Wangen, die bleichen Lippen mit dem wehen Zucken um die Mundwinkel, die tiefdunklen Schatten unter den Augen, die eingesunkenen Schläfen, die senkrechte Furche an der kreideweißen Stirn mit den eng zusammengerückten Augenbrauen.

Florian las lange nachdenklich in diesem offenen Buche. Dann hielt er Umschau in dem Raume, der ihm ganz fremd war. Auf dem Tische lag die giftgeschwollene Besprechung ihres Auftretens in Baden und dicht daneben Grillparzers „Sappho“.

Auf dem Boden stak Jakobäas offenes Federmesser mit der Spitze in der Diele zunächst der Thür festgebohrt. Florian schlich auf den Fußspitzen hin, um es aufzuheben; indem er sich dabei emporrichtete, blieb sein Auge an dem Thürpfosten haften. Dort war noch ein zweites Buch aufgeschlagen, welches jenes Schmerzensbuch ihres Antlitzes ergänzte und erläuterte. Dies Dokument war ein graugelber Thürpfosten, daran mit dem Messer wagrechte Strichlein eingeritzt waren, jegliches mit einem Datum versehen. Es war das Kerbholz, welches sich die arme Seele für das Wachsthum des Leibes angelegt hatte. Aber es war kaum eine Entwicklungsgeschichte, sondern eher die Schilderung eines Stillstandes mit leisen Schwankungen, die anschauliche Darstellung eines chronischen Leidens. Ein Strich zog sich haarscharf über dem anderen, zuweilen auch ein zweites Mal verzeichnet gerade auf dem anderen, so daß beide zusammen bloß einen Ritz bildeten, der nur doppelt tief und etwas breiter war. Ein einziges Mal zeigte sich ein merklicher Fortschritt; er begann unmittelbar nach dem Datum. „19. September“. Das war der Tag, da sie in das Konservatorium aufgenommen worden war: die Aussicht, ihr Ziel erreichen zu können, hatte sie von innen heraus gehoben, gehöht. Sie hatte nun nach einem festen Punkte auszuschauen, sowie der Wanderer sich streckt, um nach dem Pilgerziel Ausschau zu halten, das in der Ferne empor taucht. Dann aber war es wieder damit vorbei. Zu höchst glänzte ein grauer Bleistiftstrich, der einzige unter allen den weißen Messerritzen. Neben ihm stand auch kein Datum, sondern ein Ausrufungszeichen. Ein Befehl also, ein Gelübde: bis hierher hatte sie sich vorgenommen zu wachsen. Ich muß! hatte sie zu sich selbst gesagt und ein Ausrufungszeichen daneben hingestellt – kein Fragezeichen, kein „ob“, kein „vielleicht“. Auch war es kein unbescheidenes, kein himmelstürmendes Begehren; selbst wenn sie zu jenem Bleistiftstrich emporgewachsen wäre, so blieb sie darum immer noch kleiner als die kleinste ihrer Genossinnen. Der letzte Ritz, noch ganz frisch aus dem Holze schimmernd, stand jedoch tief unter jenem grauen Ausrufungszeichen; darum war zuerst das Messer, das ihn geschnitten hatte, fortgeschleudert worden und dann der träge Körper. Hatte sie es nicht ertragen können, daß sie sich selbst nicht Wort gehalten hatte? Der Gutmüthige in jenem Richterkreis bei der Talentprüfung hatte Recht behalten. An diesem Thürpfosten stand die Rechnung über die Quaresima des Barnabo Visconti verzeichnet, und obenan der letzte Ritz verbuchte jenen vierzigsten Tag, an dem die Verstümmelung das Herz erfaßt.

Florian stand da und maß und las in dem Buche, welches nur aus Strichlein bestand, und doch jedes derselben so deutlich sprechend, jedes die Hieroglyphe für einen langen schmerzlichen Monolog der Enttäuschung nach der Hoffnung, der Verzweiflung nach zaghaftem Wagen, des Ringens der Seele mit dem trägen Widerstand des Stoffes.

Da schlug Jakobäa langsam die Augen auf – Florian schlich leise und unbemerkt hinaus. Die Nacht hindurch wachte die Tante an Jakobäas Bett, Florian kam gleichwohl einmal um Mitternacht und einmal bei dem ersten Dämmergrauen herüber, um zu fragen, wie es gehe. Am folgenden Nachmittag durfte Jakobäa schon das Bett verlassen. Sie saß in dem großen Lehnstuhl, welcher sonst in dem Atelier stand, wo ihn die Riesengestalt Florians gerade füllte. Jakobäa kauerte ganz verloren in dem ungeheuren Möbel, als ob sie eben nur ein niedlicher Zierat desselben wäre. Fräulein Nina saß daneben in der gewohnten kerzengeraden Haltung, ohne sich anzulehnen, las ihr aus der Zeitung vor und redete dann wie sonst über die Vorkommnisse des Tages. Mit keinem Worte rührte sie an Jakobäas Unglücksthat; mit keiner Miene zeigte sie, was sie davon hielt und was ihr Herz darüber gefühlt hatte. Sie that und sprach, als sei nichts, gar nichts geschehen, als sei Jakobäa eben nur erkrankt, schwach, und darum doppelter Liebe und Pflege bedürftig.

Anders war es um Florian bestellt. Er brachte es mit dem besten Willen nicht zu Stande, seine Miene so zurechtzulegen wie die Tante, und da er jetzt eintrat, um nach der Kranken zu fragen, erblickte Fräulein Nina mit Schreck die tiefen Grimmesfalten auf seinem sonst so wohlwollenden Gesichte. Schnell stellte sie sich vor den Lehnstuhl, damit Jakobäa in ihrer Schwäche nicht unter diesem Anblick leide. Aber es war zu spät; Jakobäa hatte ihn schon erblickt und wußte in demselben Augenblicke, wie tief verletzt und erzürnt er war. In einem Blick hatte sie seine Gedanken und Gefühle erfaßt mit der Intuition des schauspielerischen Genies, welches, gewohnt mit der Miene ebenso darzustellen wie mit dem Worte, den Gesichtsausdruck aus anderer Antlitz fließend abzulesen versteht. In diesem Falle war auch kein besonderer Scharfsinn nöthig, um seine Gemüthsverfassung untrüglich zu errathen: der gute Mensch war kaum zu erkennen. Kaum hatte er gesehen, daß Jakobäa nicht schlief, als er, ohne ein Wort zu sagen, auf den Fußspitzen wieder hinausging.

Jakobäa blickte trübselig vor sich hin zur Erde. Fräulein Nina griff ihr unter das gesenkte Kinn, lächelte ihr zu und sagte: „Den Kopf in die Höhe! Munter sein, Aea!“

Aber Jakobäa ließ den Kopf nur noch tiefer sinken und statt der Munterkeit kamen große Thränen. „Sie sind so gut und herzlich gegen mich,“ stammelte sie, „und ich verdiene es so gar nicht! Sie umgeben mich mit Ihrer Liebe und Treue wie ein eigen Kind … und ich … ich habe mich davonschleichen wollen wie eine Diebin, wie eine feige Diebin, die Ihnen Ihr Herz, Ihre Liebe gestohlen hatte.“

Fräulein Nina war plötzlich etwas in das Auge gefallen, und da sie es trotz krampfhafter Anstrengungen nicht herausbekommen konnte, eilte sie nach dem sicheren Zufluchtsort aller ihrer unterdrückten Worte und Gefühle, in die Küche vor das spiegelblanke Kupfergeschirr.

Bald darauf steckte Florian den Kopf herein und sagte: „Tante, wo ist denn die Magd? Sei so gut, sie zum Materialisten zu schicken! Ich brauche noch graue Farbe.“

Als aus der Abenddämmerung des Stübchens keine Antwort zurücktönte, ward die Thür etwas weiter aufgethan.

„Herr Haushuber!“ rief eine leise Stimme.

Er trat ein. Er hatte einen Werkschurz vorgebunden; in der Hand hielt er einen großen Anstreicherpinsel, der ganze Mann war von aschgrauer Oelfarbenflecke.

„Herr Haushuber!“ klang es noch einmal.

Er ging bis zu dem Lehnstuhl und sagte: „Wo ist denn die Tante? Wollen Sie etwas, Fräulein Almer?“

Sie schrak zusammen. So bitterböse war er nie gewesen, so verstimmt nie sein Ton, so fremd hatte er sie nie genannt.

„Herr Haushuber,“ stammelte sie zaghaft und leise – „ich habe Sie um Verzeihung bitten wollen … erstens um Verzeihung … und dann auch Ihnen danken wollen … danken von ganzem Herzen …“ sie tastete nach seiner Hand und preßte sie weinend an ihre bebenden Lippen.

Er ließ ihr die Hand und sagte ernst. „Wissen Sie, Fräulein Almer, was ich gethan hätte, wenn ich Sie nicht herausgefischt hätte? Ich will es Ihnen sagen: ich wäre mit Ihnen ertrunken. So, jetzt wissen Sie es, und ich habe Ihnen das bloß für künftighin gesagt, wenn Sie vielleicht wieder einmal Lust zu dergleichen bekommen sollten.“

Sie war bei diesen Worten zusammengezuckt und hatte seine Hand schnell mit allen zehn Fingern umschlungen. So hielt sie dieselbe krampfhaft fest, wie um ihn zurückzuhalten vor dem Ertrinken. „Nein, nein!“ schrie sie plötzlich auf und starrte mit weitgeöffneten Augen auf den Boden als sähe sie das Entsetzliche vor sich, wie er bleich und todt daliegt.

„Nein?“ wiederholte er. „Da sehen Sie also selbst, mit dem sich selber Umbringen ist es nichts! Sie wissen jetzt, ich gehe mit: es wäre Selbstmord und zugleich Mord. Mit dem [319] Theater ist es auch nichts, gerade wie bei mir mit der hohen Kunst; Sie sehen, ich bin gerade wieder bei meinem alten rechtschaffenen Handwerk gewesen, wie ich da hereinkam. Aber, Aea … nun gerade heraus … wenn Sie … ich meine, wenn Sie mich zum Manne nehmen wollten? Ich habe Sie mir so herausgefischt, Sie gehören mir ein klein wenig … sonst hätte ich mich auch gar nicht unterstanden, Ihnen das zu sagen. Ich weiß, ich bin ein einfacher Mensch, und es liegt Ihnen so nichts an mir oder doch nicht viel … ich weiß, Sie haben es auf den Abschiedszettel geschrieben – gerade nur so viel wie an einem Reisegenossen auf kurzer Ueberfahrt. Aber, Aea, wenn wir heirathen, so könnten Sie das vielleicht einmal an einer Tochter – das mit dem Theater meine ich – wenn Sie es ihr so von klein auf lehren und beibringen, wie Sie es gar so wunderschön selber können … was denken Sie, Aea … es wäre doch besser, als die Vortragsmeisterin bei den fremden Konservatoristinnen zu machen … und wenn …“

Aber er kam nicht weiter. Aea hatte sich aufgerichtet und hing plötzlich an seinem Hals und weinte sich da recht herzlich allen den unsäglichen Kummer ihres Lebens aus. Er schlang den Arm um sie und trug sie hinaus in die Küche.

Fräulein Nina ließ bei diesem Anblick vor Schrecken die kupferne Gugelhupfform fallen, welche sie gerade in der Hand gehalten, und diese rollte klirrend über die Steinplatten. Hierauf griff sie hastig, wie jedesmal in äußerster Erregung, nach den weißen Schläfenlöckchen, ob sie sich nicht von den Haarnadeln gelöst hätten. Dann erst schlug sie die Hände über den Kopf zusammen: ihr netter himmelblauer Schlafrock, welchen sie der kranken Jakobäa geliehen und beim Aufstehen angezogen hatte, war mit aschgrauen Strichen und Flecken ganz bedeckt. Der oberste graue Klecks war auf Jakobäas Stirn, der unterste auf dem Saum des Schlafrockes, welcher, viel zu lang für sie, wie ein endloses Schleppkleid an ihr und an Florian niederflatterte, da dieser sie noch immer hoch in seinen Armen hielt. Was zwischen jenen beiden Klecksen lag, war eine weite Himmelsbläue mit zahllosen grauen Feder- und Lämmerwolken. Und eben warf sich Jakobäa von Florians Hals an Fräulein Ninas Brust und verpflanzte die frische Oelfarbe weiter auf deren meergrünen Feiertagsschlafrock. Nun war auch Fräulein Nina fertig: ihre schöne stille Meeresgrüne erschien jetzt aus einmal von grauen Wogenkämmen durchfurcht und gekräuselt. Da standen nun die drei Menschen, bis zu den Stirnen hinauf in Oelfarbe aschgrau marmorirt, in ihren Seelen aber leuchtete ein sanftes Rosenroth.

Nur der Verstoß gegen alles altbürgerliche Herkommen wollte Fräulein Nina nicht aus dem Kopfe weichen. Sie machte sich auch endlich Luft mit den Worten: „Aber, Florian, wie hast Du denn in einem solchen Aufzuge Deine Brautwerbung anbringen können?“

Aber Jakobäa sagte mit feuchten Augen: „Laß, Tante, Herzensgute! Gerade so hat es ja sein müssen, in seinem alten Werktagskleid!“

Die Hochzeit wurde in einem abgelegenen Gebirgsdörfchen gefeiert. Als sie wieder heimzogen, war Jakobäa blühend und roth und stattlicher geworden. Das Glück hatte um ihren Mund einen ganz neuen Zug entfaltet, der fast an Schalkhaftigkeit streifte, und der scharfe harte Stahlglanz der Augen war einem weichen Leuchten, wie von sanftgrauem Silber, gewichen. Mit einem glückseligen Lächeln, wie man es vordem noch nie an ihr gesehen hatte, zog sie ein über die Schwelle des alten ehrsamen Bürgerhauses, indeß Florian einen wohlgefälligen Blick über den aschgrauen Oelanstrich gleiten ließ, welcher alle die alten Thorheiten in einer ungewöhnlich dicken Lage überzog. Er selbst war auffallend schlank und beweglich geworden; das Klettern im Gebirge mit der leichtfüßigen Jakobäa und ihr zu Liebe hatte ihn erheblich leichter gemacht als einst die Karlsbader Kur. Die bösen Nachbarn aber, zumal die bösen Nachbarstöchter, welche einst begehrlich nach dem reichen Hausherrn geschielt hatten, blickten jetzt hämisch nach seinem kleinen reizenden Frauchen und ersannen bei Strickstrumpf und Kaffee allerlei erbauliche Abhandlungen über das alte Sprichwort. „Wirf ein Glückskind in den Fluß, und es kommt gesund wieder heraus, mit einem Fisch im Munde.“

Der Fluß war der Donaukanal, und der Fisch – Florian Haushuber.

Als Florian einmal in den ersten Frühlingstagen heimkam, vernahm er schon vor der Thür einen heftigen Wortwechsel. Jakobäa saß an dem Schreibtisch mit der Feder in der Hand, ganz roth vor Erregung; neben ihr stand die Tante, ebenso roth. Das war noch nie dagewesen – ein Streit war etwas Unerhörtes zwischen beiden! Sie liebten einander zärtlich wie Mutter und Tochter.

„Was giebt es denn?“ fragte er ganz erstaunt.

Fräulein Nina stand beleidigt auf und ging hinaus, sie räumte freiwillig das Feld.

Jakobäa warf die Feder hin, stützte den Kopf in die Hand und murmelte: „Und das geht gar nicht! Nie! Wie man nur so auf etwas bestehen kann, wenn es einmal nicht geht!“

„Ja, was denn, Aea?“ fragte er ganz verwundert.

„Die Tante besteht auf der Parthenia – wie kann man diese Parthenia …?“

Florian griff sich zuerst an seinen Kopf; dann sagte er, indem er Jakobäas Kopf zwischen seine beiden Riesenhände einrahmte. „So – und jetzt erkläre mir einmal die Sache in einer Weise, daß sie mein einfacher Menschenverstand fassen kann!“

Sie sah ihn an und ward plötzlich über und über roth. Sie langte nach dem Bogen, den sie beschrieben hatte, reichte ihm denselben und barg ihr Gesicht verschämt an seiner Brust.

Er nahm das Papier, legte es auf ihre Haare wie aus ein niedriges Lesepult, und las: „Repertoire für unsere Tochter …“ und nun folgte ein langes Verzeichniß – es war das ganze eigene Repertoire Jakobäas. Wegen der Parthenia hatte sie sich mit der Tante gezankt, seit ihren eigenen Partheniawerken an Florian, welche ihr jetzt geradezu sündhaft vorkamen, war ihr diese Gestalt ganz zuwider geworden.

Während Florian noch mit tiefer Rührung diese Botschaft las, welche ihm auf eine ganz wunderliche Weise ankündigte, daß ihm in nicht allzu ferner Zeit ein Töchterlein beschert werden sollte, kam Fräulein Nina wieder herein. Sie brachte ein Ding mit, daran sie eben gestrickt hatte, und hielt es Florian dicht vor die Augen.

„Ist das ein Handschuh für mich?“ fragte er. „Ich soll ihn wohl probiren? Aber es sind ja erst zwei Finger fertig!“

Sie sah ihn nur mitleidig an. „Ein Handschuh! Da sieht man … so ein Mann! Ein Jäckchen ist es für unsere Parthenia … Par – the – ni – a!“ wiederholte sie nachdrücklich, aber sie lächelte dabei schon wieder.

„Aber wenn es ein Junge wird, Aea?“ warf Florian ein.

Jakobäa ward nachdenklich. Diesen Fall hatte sie gar nicht in Betracht gezogen – er war ja ganz undenkbar. Und wenn auch! Dann wird es ein großer Schauspieler … plötzlich blickt sie auf – da steht ihr herzensguter, edler, vielgeliebter Mann lächelnd und gleichsam erwartungsvoll. Sie darf, sie kann ihm gegenüber nicht selbstsüchtig sein, und lächelnd bringt sie das Opfer.

„Ein Junge?“ sagt sie mit einer wunderbaren Ruhe. „Dann wird er ein Rubens, natürlich!“