Textdaten
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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Der Himmel des Hauses
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 683–686
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[683]
Der Himmel des Hauses.

Ein Himmel zwischen vier Wänden? Wo ist der? Suche nur! Du wirst ihn in jedem Hause finden, und wäre es noch so klein, ja wäre es selbst noch so groß und prächtig, wenn es nur einen Winkel hat, aus welchem Kinderstimmen lockend zu Dir dringen. Und da suche ja nicht in den größten Häusern den größten Himmel. Gott bewahre! Die Häuser thun’s nicht, die Kinder sind’s ganz allein, die den Himmel machen, und da kannst Du es gar oft erfahren, daß gerade im kleinsten Hause der größte und schönste Himmel ist.

Und auch die Kinder thun’s eigentlich nicht ganz allein: es [684] gehört auch das „Mütterchen“ der Kinder dazu, und was machte sich wieder der liebe Himmel aus all seinen Freuden, wenn nicht die Kinder und das Mütterchen „Horch!“ ruften, wenn sie den Schritt des Vaters hören, und die Größeren ihm entgegenhüpften und das Kleinste ihm entgegenrutschte und alle ihm die Händchen entgegenstreckten, das Mütterchen auch, wenn er die Thür zu seinem Himmel ausmacht.

Das gehört gar sehr zu diesem Himmel. Die Kinder allein thun es nicht, und wären deren noch so viele beisammen. Sonst müßte ja – das Waisenhaus der herrlichste Himmel sein! Du lieber Gott! Geht nur einmal mit und seht hinein, wo die vielen vielen Kinder sind. Da ist’s freilich gar ordentlich, wie auf einem Kornacker, die Furchen richtig gezogen und die Halmen darauf, und einer sieht aus wie der andre, nur lacht nirgends dazwischen heraus eine rothe Klitsche und eine blaue Kornblume. Die sind vor lauter Ordnung alle dahin! Wie lachen die armen Kinder so traurig! Da ist kein Himmel! Es kann ja keiner sein, denn mit Vater und Mutter ist ihnen ihr Himmel gestorben und ist ihnen nichts davon übrig geblieben, als das kleine Stückchen Erdboden, auf dem das Gras des Gottesackers wächst. Wer giebt den Armen ihren Himmel wieder?

Wer? Der liebe Gott! Der thut’s doch! Wenn sie groß geworden sind und brav und arbeiten fleißig und werden selbst Vater und Mutter, dann geht auch ihnen zwischen ihren vier Wänden ihr verlorener Himmel wieder auf! So schön ist’s auf Erden, daß Niemand zu sterben braucht, ohne je in diesem Himmel gelebt zu haben.

Wollen wir und auch ein wenig hineinschleichen? Ich habe eine offene Thür dazu gefunden, eine ganz kleine, nicht größer als der Deckel eines Buches, eines Prachtbandes, und wenn wir den aufschlagen, stehen wir mitten darin! Du glaubst gar nicht, was wir „aus unsern vier Wänden“ dann Prächtiges weiter erzählen können.

Gut. Machen wir denn unsern Thürdeckel auf! – Ah! Wie lieblich! Eine Kinderstube – und wir kommen gerade zur „Morgentoilette“ zurecht. Ein Kindchen plätschert in der Badewanne und ein anderes wird just gewaschen.

„Halte aber auch hübsch still,“ sagt der Schwamm.

„Dummes Zeug, du mußt still halten,“ sagt das Wasser, nachdem es sich vorgeblich kokett einschmeichelnd als das „schöne, weiche, lauwarme“ Wasser angepriesen.

„Wenn wir nicht ordentlich reiben,“ sagt das Seifläppchen, „kriegen wir keinen Grund.“

„Das eine Ohrchen ist schon gut,“ sagt schlau das Handtuch, „nun blos noch das andere.“

Kamm und Bürste streichen die verwirrten Löckchen glatt, theilen den Scheitel und sagen: „Gleich sind wir fertig.“

„Erst das rechte Aermelchen, dann das linke Aermelchen,“ sagt das reine Hemdchen.

„Ueber Nacht sind wir auch nicht magerer geworden,“ sagen die Strümpfchen zu den wurstrunden kleinen Wackelwaden.

Die Schuhchen sagen: „Schmuck Pferdchen, blanke Huschen.“

„Kopfüber, ohne die Frisur zu verderben, das ist die Kunst,“ sagt das Unterröckchen.

„Jetzt komme ich,“ sagt das Kleidchen, wie der Vornehmste in der Gesellschaft, auf den alle Anderen gewartet haben. Es weiß recht gut, daß es das rothe Kleidchen mit den Glasknöpfchen ist, zu dem das Kind das Zeug sich selbst ausgesucht nach der Probe; es weiß, daß es des Kindes Lieblingskleidchen ist.

„Nun noch das Näschen bohnern,“ sagt das Taschentuch, seine unangenehme Commission in eine launige Form kleidend.

„Fix und fertig.“ sagt der ganze Chor.

„Ach, da sitzt noch ein Thränchen, ein dummes kleines Thränchen, das sich nicht abtrocknen lassen wollte, auf der Backe. Das küsse ich schnell weg,“ sagt die Mutter, „und dann gehen wir Papa Guten Morgen sagen, einen freundlichen, reingewaschenen, ‚angezogenen’ Guten Morgen.“

Ist das nicht eine Lust? Und da sollen wir uns schon wieder von dannen schleichen? Nein! Jetzt geht die rechte Freude erst los! Die Mutter bringt eine Schüssel und Butter und Mehl und Eier zur Thür herein und stellt alles auf den großen Tisch. Da giebt’s die liebste Kinderlust, die noch den Alten so wohl gefällt, daß sie selbige auf jeder Straße am hellerlichten Tag ausüben, so oft sich die Gelegenheit dazu bietet, und das ist? – „Das Zusehen!“ – Sehen wir denn auch mit zu!

Die Butter thut spröde und glitscht alle Augenblicke unter dem Löffel weg, sie wird aber immer wieder zurückgeholt zum lösenden Rundlauf. Endlich läßt sie jeden Widerstand schwinden und fügt sich still in das Unabänderliche, wie es im Recept steht, „zu Sahne gerührt zu werden“. „Es schneit, es schneit,“ nämlich Mehl. Am Schüsselrand aufgeschlagene Eier fallen in den Mehlschnee und werden, in lustigem Wirbel kreiselnd, als gelblackirte Jagdschlittchen begrüßt. – Es wird Kuchen eingerührt. – Die Kinder sehen zu.

Der Wächter, dessen Amt naturgemäß auch die Sorge für die nächtliche Straßenbeleuchtung in sich schließt, kommt, die Laterne zu putzen. Er stutzt den Docht, polirt den messingenen Hohlspiegel und die Glasscheiben, schlägt nach vollbrachter Arbeit – es ist Winterszeit – die Arme kräftig um den Leib zu seiner Erwärmung, nimmt die Leiter schräg über die Schulter, den Arm durch die Sprossen steckend, und setzt seine Tour weiter fort: – die Kinder stehen am Fenster und sehen zu.

In der Badewanne.

Morgen am Sonntage soll spazieren gefahren werden. Der Wagen ist zur Säuberung vom Kutscher aus dem Schuppen gezogen. Zuerst wird er mit der Hand aus dem Eimer, so im großen Ganzen angespritzt, wie Leinwand auf der Bleiche; dann erfolgen ein paar Sturzgüsse kräftigster Schwenkung, recht unter den Kasten nach der Gegend der Deichselgabel und des Spannnagels hin, dann werden die Achsen geschmiert, die abgestreiften Räder glitschend wieder aufgestreift, und es ist eine Lust, wie leicht sie sich jetzt drehen, frei schwebend über dem untergestellten Hebebaum, während sie nun abermals gleichmäßig von allen Seiten bespült werden können. Dann zum Schluß noch das Einthranen des Lederzeuges und das Blankreiben der Metallbeschläge. Alles höchst anziehende Dinge: – die Kinder sehen zu.

„Mache Dein Mäulchen auf, ich thue Dir nichts, ich will blos [685] probiren, ob er schon lose ist; ist er noch fest, so lassen wir ihn ruhig sitzen.“ Der Faden wird umgeschlungen, ein kleiner schwacher Ruck, und wahrhaftig, da baumelt er schon, der kleine allerliebste Mausezahn, am abgestumpften Kegelende mit einem schimmernden frischrothen Blutpünktchen geziert.

Die Thür geht auf, die Thür wie andere Thüren nicht ohne Schlüsselloch; der glücklich Operirte kehrt weinend zu seinen Geschwistern zurück, die natürlich nicht etwa – zugesehen haben. Denn erstens stehen sie ganz am andern Ende des Zimmers, und zweitens nicht überall, wo die Kinder zuzusehen wünschen, ist dies erlaubt. Ueberhaupt müssen sie nicht so neugierig sein und nicht von Allem wissen wollen, sonst werden sie zu früh alt.

Die ersten Schuhe.

Glücklicherweise sind diese Fälle ausgeschlossener Oeffentlichkeit nicht häufig. Wenn ein slovakischer Hausirer altes Geschirr mit Drahtgeflecht bestrickt, wenn der Glaser eine Scheibe einsetzt, wenn der Uhrmacher die große Kastenuhr auseinandernimmt, oder der Böttcher Reifen um das Faß schlägt, wenn der Maurer Mörtel mischt – der fette weiße Kalk ist die Schlagsahne, der bräunliche Sandkies zuckersüßes Backwerk – bei Gartenarbeiten und beim Wäscherollen, beim Zuckerschlagen und Bratenausschneiden, beim Packen zu versendender und beim Oeffnen angekommener Kisten, und bei einer Menge anderer interessanter und lehrreicher Vorgänge in Haus und Hof, dürfen die Kinder frei und ungehindert, was sie so gerne thun, und was nur sie allein mit dieser selbstvergessenen, sich ganz in den Gegenstand versenkenden Naivetät zu thun vermögen – zusehen.

Die Reise in der Kinderstube.

Aber wie die Zeit vergeht bei dem – Zuschauen! Da dämmert es schon, und doch ist’s nicht zum Fortkommen aus diesem Himmel, ja es wird immer schöner, je länger wir zwischen unseren vier Wänden verweilen, und was schmeckt denn dem Kleinsten da so gar gut? Sein eigener Schuh! Wer sieht euch nicht mit leiser, wonniger Rührung an, ihr kleinen lieben Kinderschuhe!

Abends, wenn das kleine Volk ausgezogen und zu Bett gebracht ist, stehen an der Thür der Kinderstube, paarweise, in langer Reihe, Schuhchen aller Gattungen, bei deren Anblick wir gern verweilen. Winzige Schlappschuhchen stehen da, nicht viel größer als Puppenschuhe, mit mehr Neigung und Geschick, in den Mund gesteckt zu werden, als aufrechten Ganges das Kind zu tragen.

Schuhchen, die wie „ein Pfeil“ kriechen.

Schuhchen, denen wir Bedeutungsvolles genug nachzusagen glauben, wenn wir anführen, es sind die ersten „kalbledernen“ schwarz gewichsten; das kindische Prunken mit rothem Saffian und blanken, gelben Knöpfchen ist für sie eine längst überwundene Jugendthorheit.

Schuhchen, die nach vielen verübenden Gehversuchen endlich die ersten freien Schritte ohne Anhalt gethan.

Schuhchen, die, wenn sie nicht mehr laufen wollen, gar schmeichelnd „uppa“ betteln, um auf den Schooß genommen zu werden.

Schuhchen, es sind Mädchenschuhe, von so leichtem, kurz schreitenden, und doch unendlich fixen Gangwerk, daß ihr Hin- und Hertappeln an die zierliche Behendigkeit der Rebhühner erinnert.

Schuhchen, es sind charaktervolle Knabenschuhchen, deren fester, sicherer Schritt auf den Ernst und die Willenskraft künftiger Jahre hinweisen, und leichtlebige Schuhchen, die ein Gelübde abgelegt zu haben scheinen, niemals zu gehen, sondern stets zu hüpfen, zu springen, zu traben und zu galoppiren.

Schuhchen, die mit einem schwungkräftigen „Hopsa“ über die Gosse gehoben werden.

Schuhchen, hochbeglückt dadurch, daß sie beim letztmaligen Besohlen knarren gelernt.

Schuhchen, die den nach Hause kommenden Eltern die halbe Straße lang entgegen laufen.

Schuhchen mit der Devise wasserdichten Selbstvertrauens „durch Dick und Dünn“, die von draußen ganze Rittergüter an den Sohlen mitbringen und zur Fußbürste zurückgeschickt werden mit der Weisung: „Vorher aber erst tüchtig den Strauchbesen gebraucht!“

Schuhchen, gedankenvollem Baumeln ergeben, die nach melancholischer Auffassung den „Esel zu Grabe läuten“.

Schuhchen, fein lang und schlank, von schwarzem Zeuge mit Glanzlederspitzen; sie haben Tanzstunden und stehen in regelrechter dritter Position.

Schuhchen, die gar zu gerne schon Halbstiefel wären, junge Halbstiefelchen, die den Wunsch hegen, zum Geburtstage Anschlagesporen zu bekommen, und andere, noch ehrgeizigere Halbstiefelchen, die sich bereits in still verwegenen Hoffnungsträumen als wirkliche effektive Schäftenstiefel erblicken.

Man sieht, es herrscht eine große Mannigfaltigkeit der Charaktere, Eigenarten und Thätigkeiten unter den Schuhchen so gut, wie unter den Kindern, die sie tragen, aber eine Eigenschaft ist durchgehend – kleine Reißteufel sind sie alle.

Laßt sie reißen in Gottes Namen! Besser eine große Rechnung vom Schuster, als vom Apotheker.

Was sollte sonst aus dem höchsten Fest in diesem Himmel des Hauses werden, wenn das Christkindlein bescheert und seinen Sack ganz ausleert? – Wie waren doch die Tage in den letzten Wochen alle so lang! Endlich ist der letzte Tag ertragen und der heilige Abend auch, und das ist die letzte Nacht, – und morgen ist’s endlich Morgen! O Du liebe Ungeduld!

Die Sonne wußte recht gut, weshalb sie gestern Abend so frühzeitig in die entlegenste Südwestecke hinabsank, sie hat einen weiten Weg unten um die ganze Erde herum, ehe sie wieder aufsteigt im Osten. Der Zeit aber ist das ganz recht, sie will wieder einbringen, was in den übergeschäftigen letzten Tagen an rennender Hast zu viel geschah, oder will sie gar, im demüthigen Gefühl ihrer Endlichkeit, ganz und gar vom Posten gehen und der Ewigkeit selbst die Ehrenwache bei den hochheiligen Mysterien überlasten?

Dennoch schwingt der Pendel, die Zeiger rücken, der Glockenhammer hebt sich, wenn die schleichende Stunde endlich vollbracht ist.

Der Hahn wird unruhig auf seiner Latte, obwohl er weder selbst Bescheerung erwartet, noch für seine Familie heimlich aufgebaut hat. Er krähte schon mehrmals und läßt sich nicht länger irre dadurch führen, daß noch Mond und Sterne scheinen, er hat [686] die Uhr im Kopfe. Die Hofthür wird geöffnet, der Widerhall des Hauses erwacht vom Scharren des Kehrbesens, benutzt aber, verschlafen wie es Alle sind nach den vielen Störungen in der Nacht, jede kleine Pause, abermals einzunicken zur köstlichen Nachruhe.

Es poltert im Ofen, Kleider werden geklopft, der wache Morgen schreitet immer dreister einher, dringt immer weiter vor in das Gebiet der Träume und ruft endlich, das blendende Licht in der Hand: „Kinder, steht auf!“

Endlich, endlich ist es Morgen! Morgen, der aber doch immer noch Nacht ist, der einzige Morgen des ganzen Jahres, an dem auch die kleinsten der kleinen Leute bei Lichte aufstehen – dies allein schon ein Ereigniß, eine That, ein Wunder und Glück, das reine Märchen!

Nicht selten müssen sehr kräftige Erweckungsmittel angewandt werden, um die fesselnde Kraft der „himmlisch warmen Bettchen“ zu überwinden. Heute fährt das gesammte Aufgebot der Kinderbeine beim ersten Anruf zugleich heraus – wie ein Bein, und die Schnelligkeit des Ankleidens wird nur von der fröhlichen Verwirrung, die sie erzeugt, übertroffen – und gehemmt.

Endlich trotz aller Confusion fertig gekleidet, fügen sich die Kleinen, die doch sonst nicht genöthigt zu werden brauchen, nur der kategorisch festgehaltenen Weisung, erst noch ruhig zu frühstücken.

Welch ein Zauber für die Kindesseele, eben wieder erstanden aus dem Schlummer, rein und klar wie der sternhelle Morgen, in der ganzen, unberührten Frische eines neuen Tageslebens, an dem noch keine prosaische Erinnerung der Gewöhnlichkeit haftet, das noch kein, wenn auch nur in unbewußter Trübung des Behagens nachwirkender, schnellvergessener Streit, keine paradiesaustreibende Unart entstellte – der höchsten Freude des Jahres entgegen zu gehen! Welch ein Zauber in dieser Verschmelzung der Reize aller Tageszeiten und der entgegengesetztesten Stimmungen, in dieser Nachtdunkel, strahlendes Kerzenlicht und Morgenweihe, Entzücken und Andacht in Eins verwebenden, zeitlos ideellen Wunderwelt! Welch ein Zauber, wenn beim wohlbekannten Klange des Silberglöckchens die Thürflügel aufgehen, von unsichtbarer Hand bewegt, als wären es wirklich geflügelte Thüren, und die stürmisch Herbeigeeilten, geblendet von all dem Glanze, nun doch im ersten Augenblick wie erstarrt auf der Schwelle stehen bleiben, bis der Eltern ermunternder Zuruf zum Nähertreten auffordert – welch ein Zauber, wenn nach der süßen Betäubung erster allgemeiner Freude die jubelnde Besitzergreifung der köstlichen Gaben folgt, wenn ein Jeder gerade das findet, was er „sich am meisten gewünscht“ – die Mädchen ihre Puppen, die sie gar nicht mehr aus dem Arme lassen, die Knaben Trommeln und Trompetchen, deren lustiger Schall dem Feste so wesentlich ist, wie der Glockenklang des Frühgottesdienstes – welch ein Zauber, wenn den Zweigen des Christbaumes jener eigenthümlich würzige Duft entströmt, der, mit keinem andern Wohlgeruch vergleichbar, noch in der Erinnerung so magisch wirkt, daß die Kinder schon wochenlang vor dem nächsten Feste jeden verlöschenden Wachsstock, von Wonneschauern der Vorahnung durchrieselt, begrüßen: „Es riecht nach Weihnachten!“ Welch ein Zauber auch dann noch, wenn die letzten herabgebrannten Lichtchen im Tannengrün zwischen den zurückgeschlagenen Fenstervorhängen die Rosen des Osthimmels aufglühen sehen, den goldigen Alpenschnee der Morgenwolken über den Häusern, die wallenden Rauchsäulen, purpurdurchleuchtet, nicht als stiegen sie aus Schornsteinröhren empor, von Feuerstätten, aus denen klafterweise gekaufte Birken- und Kiefernkloben gebrannt werden, sondern wie Opferdampf flammender Cederscheite, der auf seinen Schwingen die Andacht heiliger Beter emporträgt! – Und von der Höhe dieses Morgens die Aussicht nicht wie bei der Abendfeier auf das immer zu frühe Zubettgestecktwerden, sondern auf einen ganzen langen Tag, dessen frommes Gebot festlicher Muße die Spiel- und Naschfreuden zu einer Gewissenspflicht macht!

So! Nun laßt uns aus dem Himmel scheiden in seinem liebsten Glanz! Wir machen mit frohem, reichem Herzen die Thür auf, die „aus unsern vier Wänden“ wieder in das Leben des Alltags führt, und klappen den Deckel des köstlichen Buches zu, in welchem die kunstreiche Hand eines Kindesherzens die Bilder aus dem Kindesleben so wunderbar schön und wahr gemalt hat. Drückt ihm recht warm die Hand, dem Rudolf Reichenau und auch den Künstlern Pletsch und Bürkner, und wer sein Herz frisch und gut erhalten will, der lasse sich recht oft von ihnen in den Himmel des Hauses führen: er wird, und säße er selbst in diesem Himmel zwischen den eigenen vier Wänden, durch solche Führer ihn immer höher würdigen, immer inniger lieben lernen.[1]

Fr. Hfm. 
  1. Das so freudenreiche Prachtbuch, welches uns Gelegenheit bot, einige der schönsten Kinderseligkeiten zu belauschen, führt den Titel: „Aus unsern vier Wänden, von Rudolf Reichenau. Erste Abtheilung: Bilder aus dem Kinderleben. Zehnte Aufläge. Mit 66 Originalzeichnungen von Oscar Pletsch, in Holz ausgeführt von H. Bürkner. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow. 1865.“ – Sollen wir zur Empfehlung desselben noch ein Wort zu obigem Artikel hinzufügen, in welchem nur Abschnitte des Textes im Auszug zu einem runden Ganzen verwebt und mit Proben der Illustrationen ausgeschmückt sind, so könnte es nur die Anerkennung für die Verlagshandlung sein, daß sie durch höchst elegante und geschmackvolle Ausstattung des Dichters und des Künstlers Werk in der würdigsten Gestalt dem Publicum vorführt. Jeder Mutter wird das Buch die schönste Weihnachtsgabe sein.
    D. Redaction.