Der Bieler Grund in der sächsischen Schweiz

CLXXIII. Cordova: die Cathedrale Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band (1837) von Joseph Meyer
CLXXIV. Der Bieler Grund in der sächsischen Schweiz
CLXXV. Die Kasankirche in St. Petersburg
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DER BIELER GRUND
in der Sächsischen Schweiz

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CLXXIV. Der Bieler Grund
in der sächsischen Schweiz.




Wenn es dich nicht ermüdet, lieber Leser! mich noch einmal in des Sachsenlandes romantische Bergtrümmerwelt, in ihre engen Thäler voll finsterer Felsschluchten, in ihre heimlichen Gründe voll herumirrender Bäche, die von Fels zu Fels, von Baum zu Baum mit schüchterner Welle fliehen, zu begleiten; dann folge mir, daß ich dir eins ihrer größten Wunder zeige. – Siehe diese Klippen, die wie ein Heer gebannter Geister umherstarren, von deren Häupter hängende Birken wie Helmbüsche wehen: es sind die Propyläen, die Colonnaden-Trümmer zu der Prachtruine eines Tempels der Natur, vor dem alle Theben und Persepolis, und alle Münster und [104] Peterskirchen zusammenschrumpfen wie Maulwurfshügel vor stolzen Gebirgen. – Wie klein und ohnmächtig erscheint doch der Mensch gegen solche Riesenwerke von Gottes Hand, und doch wie wohl ist es ihm, wenn er unter ihnen wandelt! Versetze dich in den Pallast eines Königs, an die Seite eines solchen Gewaltigen unter seinen Brüdern, der Staub ist von Staub wie du! Sey immerhin ein Mann in der ganzen Bedeutung des Worts; überrage ihn geistig zehntausendmal, und du wirst dich doch eines drückenden Gefühls von Furcht und Unbehaglichkeit nicht erwehren können. Denke dich dagegen neben der Unermeßlichkeit, wie dich das erhebt! neben der Allmacht, wie dich das ermuthigt! denn wo Liebe wohnt, ist keine Furcht, und du fühlst dich an Gotteshand wie ein Kind, das in Vaterarmen ruht. –

Der Bieler Grund ist eine von den Schluchten, welche den 3000 Fuß hohen Schneeberg, dessen Gipfel schon auf böhmischem Gebiete liegt, auf der Nordseite umgeben. Gemeiniglich nimmt man die schöne Parthie nach der Besteigung des Schneebergs mit, sieht von da den Langhennersdorfer Wasserfall, den reizendsten der Gegend, und kehrt über Königsstein, oder zu Wasser auf der Elbe, nach Dresden zurück.

Die sonderbare Gestaltung der Sandsteinfelsen in jenen Gründen ist vielleicht einzig auf der ganzen Erde. Den Bergtempeln Indiens ähnlich, nur in einem größeren Maßstabe, scheint das Gebirge ausgehauen zu seyn in Colonnaden von Obelisken und Riesensäulen, die 150 bis 200 Ellen hoch aus ihren Grundvesten emporsteigen.

Manche sind am Fußgestelle mit einander verbunden, manche stehen isolirt, bei manchen bilden drohend überhängende Felsblöcke, womit ihre Firsten belastet sind, seltsam gestaltete Knäufe, oder nehmen sich wie Bruchstücke von Gesimsen und Balken aus. Fast alle sind mit Buschwerk bekränzt, meistens mit luftigen, nickenden Birken, zwischen denen hie und da eine ernste Kiefer oder Fichte in die fliehenden Wolken starrt. Auch auf jedem kleinern Seiten-Absatze, in jeder Spalte, wo eine Wurzel sich anklammern kann, stehen Büsche, oder Baumgruppen, deren mannichfaltiges Grün gegen das Grau des Gesteins angenehm absticht. Die Westseite der senkrechten Wände ist hie und da mit goldfarbigem Moose bedeckt, und der Boden zu ihren Füßen ist ein lieblicher, grüner Teppich, mit taufenden von Blumen und bemoosten Steinen durchwirkt und ausgelegt, zwischen denen, oft nur gehört, doch nicht gesehen, ein Bach sich durchwindet, so heller Natur, daß auch sein Niederstürzen von Stein zu Stein ihn nicht trübt. Selten verirrt sich, außer den Reisenden und den Bewohnern einer nahen Mühle, ein lebendes Wesen in dieses stille, schauerliche Heiligthum der Natur, von dem die Hand der Cultur ferne blieb. Umgerissene, oder von den Felsenkronen durch Sturm und Wetter herabgeschleuderte Bäume und in das Thal gestürzte Felsenmassen geben, in ihren verworrenen Gruppirungen, bei jedem Schritte neuen Stoff zu malerischen Ansichten, und indem sie den Bach stauen oder hemmen, ihn in andere Bahnen leiten, oder nöth gen, neue Sprünge und Stürze zu wagen, verändern sie fortwährend einzelne Scenen des Gemäldes.

[105] Verglichen mit der Felsenpracht dieses Thals sinken die berühmten Ansichten des Plauen’schen Grundes in’s Unbedeutende herab. Aber der erhaltene Maßstab wird auch für die meisten andern Parthien der sächsischen Schweiz ein zu großer. Darum ist dem Reisenden zu rathen, den Besuch des Bieler Grundes für das Ende der Tour aufzusparen, damit der gewaltige Eindruck das Gefühl für minder großartige Naturschönheiten nicht verkümmere.