Der Auerochse
[371] Der Auerochse. (Mit Abbildung S. 369.) Streiten wir heute nicht darüber, ob der Künstler den uns im Bilde vorgeführten Wildochsen mit Recht den Namen „Auerochsen“ giebt! Richtiger wäre es wohl, er nennte sie Wisent (bonassus) zum Unterschiede von dem eigentlichen, langhörnigen, glatthaarigen Auerochsen (urus). Schon Plinius unterscheidet zwei verschiedene, in Deutschland vorkommende Wildochsenarten, welche nach Rom gebracht und dort dem Volke in den Thierkämpfen vorgeführt wurden. In gleicher Weise, sprechen die alten deutschen Schriftsteller von dem „Wysent“ und dem „Urochs“. Erst in neuerer Zeit führte die Verwechselung beider Wildgattungen, von denen die eine, der Auerochs, längst ausgestorben ist, dazu, daß man allgemein den Namen des letzteren auch auf den freilich nur selten noch vorkommenden Wisent übertrug.
Andere Zeiten – andere Leute, aber auch andere Thiergattungen! Die Kultur räumt nicht nur unter den Originalen der Menschheit auf, sie vernichtet auch die originellsten Erscheinungen der Thierwelt und läßt vielleicht dem deutschen Nimrod in nicht zu langer Zeit zur Befriedigung seiner Jagdlust nur den „Schablonenhasen“ übrig, wie ihn der Magdeburger Rübenacker so üppig zeitigt.
Der Wisent, oder sagen wir, der – wenn auch schlechten – Gewohnheit nachgebend, um besser verständlich zu bleiben: der Auerochse, ist aus der freien Wildbahn des mittleren Europas verschwunden, und nur noch der Kaukasus und vor allem der in der russischen Provinz Grodno liegende Wald von Bialowicza beherbergt dieses größte und stärkste Säugethier unseres Erdtheils. Schier undurchdringliche Dickungen gewähren dort dem edlen Wilde Schutz, dazu Moore, über die der Fuß des Jägers nur zagend hinwegschreitet, mit Röhricht verwachsen, durch fallende Stämme unwegsam gemacht, eine Wildniß von mehr als 30 Geviertmeilen Flächenraum, auf der man den Bestand von Auerochsen noch auf etwa 1500 Stück schätzt. Neben der Unzugänglichkeit des Bialowiczaer Waldes ist es aber noch das Machtwort des Czaren, welches sich der Ausrottung des Urs entgegenstellt; schwere Strafen stehen auf seiner Erlegung, und so ist es möglich gewesen, diese typische Thiergestalt längst entschwundener Zeiten bis in unsere Tage hinein zu erhalten.
Freilich, geblieben, was und wie er war, ist der Auerochse nicht; man könnte ihn degenerirt, verkümmert nennen. Ein Chronist erzählt uns, daß 1555 in Preußen ein Wisent erlegt wurde, dessen Länge 13 Fuß betrug, während er in der Höhe bis zum Widerrist deren 7 maß; er wog 19 Centner. Heute wird ein Stier selten länger als 8 und höher als 5 Fuß, und 11 bis 12 Centner sind dann für ihn schon ein sehr bedeutendes Gewicht. Auch seine Wildheit und Gefährlichkeit hat beträchtlich abgenommen. Während uns die deutschen Heldenlieder des Mittelalters von ihm als dem grimmigsten Gegner des Jägers zu melden wissen, geht er heute dem Menschen aus dem Wege, wenn er nicht gereizt oder verwundet ist; dann freilich wird er zum wüthenden Angreifer, und der Arm dessen, der die Büchse auf ihn richtet, muß fest und sein Auge sicher sein, sonst ist es um ihn geschehen.
Der Auerochs ist der nahe Verwandte des amerikanischen Bison; sie zählen beide zu einer Sippe und zeichnen sich durch die breite, gewölbte Stirne, die kurzen, runden, nach vorn und aufwärts gekrümmten Hörner und durch die dichte, am Halse und Widerrist mähnenartige Behaarung vor den andern Arten unter der Familie der Stiere aus.
Wie erwähnt, war der Auerochs in Deutschland ausgerottet, der Oberstjägermeister von Preußen aber, Fürst Pleß, hat sich das Verdienst erworben, ihn in seine alte Heimath wieder einzuführen. Im Jahre 1865 setzte man in dem etwa 2500 Morgen umfassenden Thiergarten der Herrschaft Pleß in Schlesien 1 Stier und 3 Kühe aus, die mit der Bahn aus dem Walde von Bialowicza an ihren neuen Bestimmungsort gebracht worden waren; sie haben sich hier gut acclimatisirt und auch Kälber gesetzt. Nach sechs Jahren wurde jedoch der Thiergarten in den Oberforsten aufgelöst, und die Auerochsen kamen nach dem Forstrevier Mezerzitz nahe bei Pleß, wo sie sich noch heute befinden. Um das Blut aufzubessern, wurde in den letzten Jahren ein Tausch von Stieren mit dem Zoologischen Garten in Berlin vorgenommen. Der Bestand beträgt jetzt 11 Stück, darunter 2 im vergangenen Sommer gesetzte Kälber, von welchen das eine außerordentlich gut gedeiht. Erlegt wurden im ganzen 9 Stück. An den Jagden nahmen jeweils auch Kaiser Wilhelm I., Kaiser Friedrich und Kaiser Wilhelm II., sowie Prinz Friedrich Karl theil, und jeder von ihnen hat je ein Stück erlegt. Hier machte man auch die überraschende Beobachtung, daß die Mutter das im Winter geworfene Kalb zwischen ihre Vorderläufe stellte, um es mit den langen Haaren vor Kälte zu schützen, ein Verfahren, welches sie auch einschlägt, wenn sie ihr Junges vor eingebildeten oder wirklichen Gefahren schützen will. Jedenfalls ist dieser Acclimatisirungsversuch als völlig gelungen zu betrachten, dürfte aber voraussichtlich vereinzelt bleiben.
Zum Schluß noch ein Bild aus jenen Gegenden unseres Vaterlandes, in denen der Auerochse der vordringenden Kultur am längsten Stand gehalten hat.
Es war an einem schwülen Augusttage, als wir durch die einsame Heidelandschaft zwischen den ostpreußischen Städtchen Labiau und Mehlauken fuhren. Der Weg führte erst durch eine öde, mit mächtigen Wandersteinen übersäete Fläche, deren Einförmigkeit selten einmal durch das graue Strohdach eines Büdnerhäuschens unterbrochen wurde. Der alte Kutscher erzählte uns, daß die Bewohner ringsum meist Wilddiebe [372] seien, daß als Hauptinventarstück jede Hütte eine, wenn auch noch so verrostete Flinte berge. Dann senkte sich die holperige Straße in die grüne Wand des Forsts. Laubholz fand sich gemischt mit Nadelholz; brüderlich theilten Fichten, Birken, Eschen und Buchen die Nahrung des bruchigen, mit Moosen und Farnkräutern bedeckten Bodens. Ueber den Wipfeln der nächsten Schonung ragte ein riesiges Kreuz empor: es war dort von der Hand eines Wilddiebs ein Förster erschossen worden. Wir kannten die traurige Geschichte, hatte sie sich doch erst vor wenig Jahren ereignet. Man hatte einen Baum am Thatort seiner Zweige und seiner Krone beraubt und auf etwa zwei Drittel seiner Höhe ein mächtiges, unbehauenes Querholz daran genagelt; das war alles, und doch hinreichend, der traurigen Gedanken genug in uns zu erwecken. Wie ein Gefühl der Erlösung überkam es uns, als wir das einfache Wahrzeichen hinter uns hatten und sich eben vor unseren entzückten Blicken eine liebliche, mit bunten Blüthenkelchen übersäete Waldwiese aufthat, welche in ihrer Mitte von einem silberhellen Bach durchflossen wurde.
Und der Rosselenker wandte sich wieder erzählend und erläuternd zu uns. Die Wiese nannte der Volksmund die Auerwiese, das Flüßchen die Auer, und zwar um deswillen, weil Mitte des vorigen Jahrhunderts an dieser Stelle der letzte Auerochse in Preußen von der Hand eines Wilddiebs gefällt worden war.
Eben zog vorsichtig sichernd eine Ricke mit ihrem Kälbchen über die freie Fläche; der Kutscher klatschte mit der Peitsche, und die beiden Thiere flüchteten eiligst in das gegenüberliegende Dickicht. In der Richtung ihrer Flucht knallte plötzlich ein Schuß. Derselbe konnte nur von einem Wilddieb abgefeuert sein, das Rehwild stand ja in der Schonzeit. Ein anderes Wild war es, als damals vor mehr denn hundert Jahren, die Menschen aber waren dieselben geblieben. – Eugen Friese.