Der Arzt (Chinesische Volksmärchen)
Sun Sï Mo war schon in früher Jugend in aller Weisheit wohl bewandert. Lange hielt er sich im Gebirge versteckt. Erst als der Kaiser Tai Dsung das Tanghaus begründete, kam er hervor. Der Kaiser wollte ihm ein Amt geben; er aber lehnte ab und war als Arzt den Menschen hilfreich. Er trug einen [278] hohlen eisernen Ring, in dem eine Kugel rollte. Den schüttelte er und ging durch Dörfer und Städte. Wenn dann ein Kranker zu ihm kam, so heilte er ihn auf der Stelle, selbst wenn er viele Jahre krank gewesen. Er verstand zu stechen, zu brennen und zu schneiden, und auch die giftigsten Geschwüre wurden unter seinen Händen heil.
Einst kam er an dem Fuße des Südgebirges vorüber. Da trat ein grimmer Tiger ihm in den Weg. Er faßte den Zipfel seines Kleides mit den Zähnen, wedelte mit dem Schwanze und schien um etwas bitten zu wollen.
„Was fehlt dir denn?“ fragte der Arzt. „Zeig einmal her!“
Der Tiger öffnete den Rachen. Da stak ein Rinderknochen ihm im Gaumen. Der hatte ein böses Geschwür erzeugt, so daß er nicht mehr schlucken konnte. Der Arzt sperrte ihm mit seinem Eisenring den Rachen auf und schnitt mit scharfem Messer den Knochen heraus. Dann legte er ihm eine Kräutersalbe auf die Wunde, und gleich war alles gut. Der Tiger machte vor Freuden einen Luftsprung und lief weg.
Abermals begegnete er einem alten Manne, der an Leibschmerzen litt. Der Arzt gab ihm eine Pille, und die Krankheit wurde gut. Da verneigte sich der Alte dankend; dann verwandelte er sich in einen Drachen und verschwand in der Luft. – Seit jener Zeit folgte dem Arzt im Verborgenen stets ein Drache und ein Tiger nach.
Abermals wurde eine Prinzessin krank, und man bat den Arzt um Hilfe. Das Mädchen aber war so verschämt, daß sie ihm nicht die Hand reichen wollte, um den Puls sich fühlen zu lassen.
Da sprach der Arzt: „Die Kranke soll in jeder Hand drei Seidenfäden halten; daran kann ich schon erkennen, was ihr fehlt.“
Man tat, wie er gesagt, und hinter dem Vorhange kamen sechs Seidenfäden hervor. Der Arzt prüfte sie alle einzeln; dann sagte er: „Die Prinzessin leidet an Melancholie.“
[279] Er gab ihr ein Abführmittel, und die Krankheit war wie weggeblasen.
Einst traf er mit einem andern berühmten Arzt zusammen.
Warnend sagte er zu ihm: „Ich sehe an Eurem Äußeren, daß eine schlimme Krankheit in Euch steckt. Ich rate Euch, rechtzeitig vorzubeugen!“
Der andere wurde böse und sagte: „Ich fühle mich ganz frisch und munter, und es fehlt mir nichts. Was redet Ihr für törichte Worte, alter Mann!“
Aber kaum waren einige Monate vergangen, da fiel jener Arzt in eine hitzige Krankheit und verstarb.
In einem Dorfe war eine junge Frau an einer Geburt gestorben. Man trug sie hinaus zum Begräbnisplatz. Der Arzt begegnete dem Zug. Er sah, wie aus dem Sarge unten ganz leise frisches Blut hervortröpfelte. Da sprach er: „Die Frau ist noch nicht tot. Tragt sie schnell zurück! Ich kann ihr helfen.“
Man folgte seinen Worten und öffnete den Sarg. Er stach der Frau mit einer Nadel in den Leib, und sofort kam schreiend ein Kindlein zur Welt. Mutter und Kind blieben beide am Leben.
Ein andermal kam er an einem Dorfe vorüber. Hinter dem Dorfe lag ein Mann auf der Straße, der war von einem Wolfe totgebissen worden. Sein Bauch war aufgerissen, und die Eingeweide waren alle fort. Ein Dorfhund kam herbeigesprungen und wollte die Überreste auffressen. Der Arzt tötete den Hund, nahm sein Herz und seine Leber heraus und tat sie in den Leib des Mannes. Dann nähte er ihn wieder zu und legte Salben auf. In kurzer Zeit kam der Mann wieder zu sich.
Er stand auf, blickte um sich und fragte den Arzt: „Ich war müde und habe hier ein wenig geschlafen. Ich habe einen Beutel bei mir gehabt. Warum hast du mir den gestohlen?“
Der Arzt sprach: „Du weißt wirklich nicht, wers gut mit [280] dir meint. Du warst von einem Wolfe schon halb aufgefressen, und ich habe dir das Leben gerettet. Nun wirfst du mir Diebstahl vor!“
Aber der andere wollte auf nichts hören und schleppte ihn vor den Richter. Der Richter kannte den Arzt als einen Weisen und erfuhr von ihm, was geschehen war. Er verwies dem Mann seine Frechheit. Aber der war nicht zufrieden, sondern verführte einen großen Lärm. Die Schergen wurden mit ihm nicht fertig. Da berührte ihn der Arzt mit einem Zauberwedel, und sogleich fiel er tot zu Boden. Man sah nach seinem Leib; der war geborsten. Und wie der Richter ihn untersuchte, da waren richtig Herz und Leber eines Hundes darin.
Seufzend sagte der Arzt: „Ich bedaure nur, daß ich den Hund getötet und dadurch eine Schuld mehr auf mich geladen habe.“
Einst sprach ein Unsterblicher zu ihm: „Du hast durch deine Hilfe in allerlei Krankheiten dir ein großes Verdienst erworben. Aber du gebrauchst in deinen Rezepten viel getötete Tiere. Tiere zu töten, ist eine Sünde. Darum wirst du zwar die Unsterblichkeit erlangen, aber nur, nachdem du dich von deinem Leib getrennt. Es wird dir nicht gelingen, bei Leibesleben zu entschweben.“
Von da ab gebrauchte der Arzt nur noch Kräuter und Pflanzen, um die Krankheiten zu heilen.
Endlich schien er krank zu werden und starb. Doch änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes im Tode nicht. Als man den Leichnam zum Sarge trug, da waren nur noch die Kleider übrig, wie die leere Hülle einer Zikade.
Als der Kaiser Ming Huang im Vierstromlande weilte, sah er im Traume einen Greis im weißen Haar und Bart und gelben Kleidern. Der sprach sich neigend: „Ich bin der Arzt Sun Sï Mo. Ich hause auf dem Omi-Berg. Da ich von der Ankunft Eurer Hoheit erfahren, bin ich zum Gruß herbeigeeilt. Auch habe ich eine Bitte. Ich bereite den Stein der Weisen. Dazu brauche ich noch [281] achtzig Lot Realgar vom Vierstromland. Wenn Ihr die Güte habt, sie mir zu schenken, so sendet sie zum Omi-Berg.“
Der Kaiser versprach’s und sandte das Gewünschte nach dem Omi-Berg, wo der Arzt erschien und es dankend in Empfang nahm.
„Ich habe hier auf dem Berge kein Papier; darum habe ich meinen Dank auf einen Stein geschrieben. Schreibt ihn bitte ab!“
Der Bote sah richtig einen Stein, der mit rotem Zinnober beschrieben war. Als er die Worte abgeschrieben hatte, verschwand der Greis zusammen mit dem Stein. Von da ab war er bald unsichtbar, bald sichtbar.
Zum letzten Male ward er gesehen, als er einem zehnjährigen Knaben, der sich dem Buddha geweiht hatte, begegnete. Der brachte ihn mit nach Hause. Er nahm nun aus seinem Ärmel ein Pulver hervor, ließ Tee kochen und tat es hinein. Dann trank er selbst davon und ließ auch den Knaben trinken. Der Knabe schwebte zum Himmel empor, und der Greis entschwebte mit ihm zusammen. Als man nach dem Teetopf sah, hatte er sich in gelbes Gold verwandelt.
Sun Sï Mo ward später als König der Ärzte verehrt, und seine Tempel findet man noch bis zum heutigen Tag. Zu seiner Rechten und Linken sieht man einen Tiger und einen Drachen.
Anmerkungen des Übersetzers
[403] 91. Der Arzt. Vgl. Schen Siän Dschuan.
Kaiser Ming Huang im Vierstromland; vgl. Anm. zu Nr. 90.
Realgar: vgl. Anm. zu Nr. 79.