Der Arbeiter sonst und jetzt
Seit mehr als fünfzehn Jahren, seit der von Lassalle angeregten Arbeiterbewegung, ist von gewissen Seiten her den Arbeitern fort und fort in zahllosen Zeit- und Flugschriften, wie in ebenso zahllosen Versammlungen, schriftlich und mündlich, vorgepredigt worden: in dem Loose der arbeitenden Classen sei nicht nur keine Besserung gegen früher eingetreten, sondern es sei auch eine solche überhaupt unmöglich; der Arbeiter sei dazu verdammt, immerfort denselben untersten Rang in der Gesellschaft einzunehmen, in derselben traurigen, kaum menschenwürdigen Lage sich fortzuschleppen; er vermöge sich nie über die knappste Nothdurft des Lebens zu erheben, und von allen Fortschritten der Cultur habe nur er keine Vortheile zu erwarten.
Eine solche Lebensansicht, wenn sie zu einer allgemeinen würde (wie sie es leider schon vielfach geworden ist), wäre trostlos für die Arbeiter selbst, gefahrdrohend für die Gesellschaft. Woher sollte dem Arbeiter die Freudigkeit des Arbeitens, des Sparens, des Strebens nach Verbesserung seiner Lage, nach Bildung seiner selbst und nach tüchtiger Erziehung seiner Kinder kommen, wenn er sich sagen müßte, daß doch Alles fruchtlos sei, daß er doch nie weiter und wirklich vorwärts kommen könne? Was bliebe ihm dann anders übrig, als eben das, wozu ja in der That gewissenlose socialdemokratische Agitatoren es gern bringen möchten: die Verzweiflung an seiner Gegenwart wie an seiner Zukunft und der daraus sich erzeugende ungestüme Trieb, diese gegenwärtige bestehende Gesellschaftsordnung sobald wie möglich in Stücke zu schlagen?
Es ist ein schweres Unrecht – nicht blos an der Gesellschaft und dem allgemeine Culturfortschritt, sondern vor Allem an dem Arbeiter selbst – wenn man diesem letzteren eine solche trostlose Ansicht einzureden sucht, ohne die Wahrheit der Behauptung, auf welche man dieselbe stützt, geschichtlich erhärten zu können. Daß man dies aber nicht kann, daß im Gegentheil eine gründliche und unbefangene Vergleichung des Sonst und des Jetzt in den Zuständen der arbeitenden Classen eine wesentliche und fortschreitende Verbesserung dieser Zustände nach allen Seiten hin außer Zweifel stellt, das hoffen wir mittelst der nachstehenden Betrachtungen zu beweisen. Wir knüpfen dabei, wo es specielle Verhältnisse gilt, namentlich an das uns zunächst liegende Beispiel Leipzigs an und werden überall, fern, jeder Schönmalerei, nur genau ermittelte und feststehende Thatsachen sprechen lassen.
Wir beginnen unsere Vergleichung mit denjenigen Seiten der Arbeiterzustände, welche den Fortschritt zum Besseren am zweifellosesten [321] und so zu sagen handgreiflichsten zeigen: Das ist die politische und gesellschaftliche Stellung des Arbeiters.
Im Alterthum war der Arbeiter Sclave, im Mittelalter kaum etwas Besseres. Leibeigener, Höriger, Fröhner. Sogar die Handwerker in den Städten waren anfangs unfrei. Heut ist der Arbeiter politisch den andern Ständen gleichgestellt; er sitzt im Reichstage vollkommen ebenbürtig neben Fürsten und Grafen, großen Grundbesitzern, reichen Handels- und Fabrikherren, Beamten und Gelehrten.
Kaum weniger bedeutend ist die Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung des Arbeiters. Und dieses Ergebniß ist um so erfreulicher, als es zu einem sehr wesentlichen Theile sich als die Frucht der gegen früher außerordentlich gestiegenen Bildung der Arbeiter darstellt. Der Bildungsfortschritt der Arbeiter ist seit den letzten fünfzig Jahren ein so großer, daß er den Bildungsfortschritt der sogenannten höhern Classen (des Adels, des Gelehrten- und Bürgerthums) relativ überwiegt. Wenn wir den Handwerksburschen von vor vierzig oder fünfzig Jahren, der „fechtend“ durch die Lande zog, mit dem Gewerbsgehülfen von heut vergleichen, welch gewaltiger Unterschied! Wenn wir sehen, was der letztere nicht blos liest, sondern auch versteht, wenn wir wahrnehmen, mit welchem Eifer er die Gelegenheiten zu seiner allgemein menschlichen wie Berufsfortbildung, die ihm in Vereinen oder sonst geboten werden, ergreift und benutzt, wenn wir hören, welche Lieder er in seinen zahlreichen Gesangvereinen singt, und wie er sie singt, wenn wir den geselligen Zusammenkünften und Festlichkeiten der Arbeiter beiwohnen, so müssen wir uns sagen – und wir sagen es mit Freuden – daß die Empfänglichkeit, das Verständniß und das Interesse für die Bildungsfrüchte, deren Samen die besten Geister unserer Nation ausgestreut haben, in diesen Volksschichten, die früher kaum etwas davon kannten, in der erfreulichsten Weise gewachsen ist.
Es ist in der That höchst achtenswerth, wie die Arbeiter zu einem großen Theile, und nicht blos solche im jugendlichen Alter, sondern auch gereifte Männer von vierzig bis fünfzig Jahren, oft mehrere Abende in der Woche nach harter und erschöpfender Tagesarbeit eifrigst ihrer Fortbildung widmen, wie wir das in Leipzig an Hunderten und Hunderten, sowohl im „Volksverein“ wie im „Volksbildungsverein“ wahrnehmen; und es ist ein erhebendes Schauspiel, wie ebenda Männer und Frauen dieses Standes sich stundenlang in jeder Witterung vor den Thüren des Theaters drängen, in welchem classische Stücke in billigen Vorstellungen geboten werden, während bei der Darstellung derselben classischen Stücke auf der größeren Bühne oft genug die Plätze der vornehmen Welt leer bleiben!
Kommen wir auf eine andere Seite der Arbeiterverhältnisse, auf die privatrechtliche Stellung des Arbeiters und auf die Lage, welche die Gesetzgebung ihm bereitet. Vor Zeiten bestand für den ländlichen Arbeiter der sogenannte Dienstzwang, das heißt, er mußte bei der Grundherrschaft als Dienstbote, Knecht u. dergl. eintreten. Wollte er einen andern Beruf wählen, etwa ein Handwerk in der Stadt lernen, so bedurfte er dafür der Erlaubniß des „gnädigen Herrn“, einer Erlaubniß, die zuweilen mit Geld erkauft werden mußte. In den Städten gab es zwar eine solche directe Abhängigkeit nicht, aber das Verhältniß war thatsächlich kaum ein anderes.
Die obrigkeitlichen Lohntaxen, welche damals allgemein bestanden, hatten nicht etwa den Zweck, den Arbeiter vor Bedrückung durch den Arbeitgeber zu schützen, im Gegentheil, sie dienten nur dazu, dem Arbeitgeber möglichst billige Hände zu verschaffen. Das geht unter Anderem daraus hervor, daß die Leipziger Lohntaxe von 1763 unverändert aufrecht erhalten ward, obschon die Getreidepreise zwischen 1763 und 1770 von 2½ auf 8 Thaler stiegen. Bei länger andauernden niedrigen Lebensmittelpreisen dagegen wurde bisweilen die Taxe noch herabgesetzt. Als damals die Zimmer- und Maurergesellen sich mit einer bescheidenen Vorstellung an den Rath wandten und um eine Lohnerhöhung baten, weil sie bei den theuren Preisen mit dem taxmäßigen Lohne nicht auskommen könnten, ward ihnen dies wie eine Auflehnung zum Verbrechen gestempelt; sie wurden mit Verweisung aus der Stadt bedroht, ja die Urheber der Vorstellung wurden verhaftet.[1] Und als einige Arbeitgeber aus Billigkeitsgefühl freiwillig ihren Arbeitern etwas mehr als die Taxe zahlten, wurden sie vom Rath in eine Strafe von 20 Thaler genommen, „weil sie die Armuth drückten“, das heißt weil sie ihren ärmeren Mitmeistern die Löhne vertheuerten oder die Arbeiter entzögen. Der Arbeiter galt damals als keiner Rücksicht werth; er war ein bloßes Werkzeug: der Mensch fing erst beim Vollbürger oder „Meister“ an.
War endlich der Arbeiter arbeitsunfähig geworden oder stockte der Arbeitsverdienst, so war jener (abgesehen von den kargen Unterstützungen, welche etwa hier und da eine Innung gewährte) rein auf sich selbst, das heißt auf’s Betteln angewiesen; ein gesetzliches Recht auf öffentliche Unterstützung gab es so wenig, wie eine geordnete Armenpflege. So begreift es sich, daß in dem Nothjahr 1772 in Leipzig, das damals nur etwa 25,000 Einwohner zählte, 4000 Bettler sich fanden, daß ganze Schaaren von Bettlern und Vagabonden die Länder durchzogen und die Heerstraßen unsicher machten.
Wie anders steht in allen diesen Beziehungen der heutige Arbeiter da! Die vollkommenste gesetzliche Freizügigkeit gestattet ihm, seinen Erwerb da zu suchen, wo er ihn am besten zu finden meint: weder seinen Wegzug von einem Orte, noch seiner Ansiedelung an einem andern werden Schwierigkeiten bereitet. Das Recht der Vereinigung – auch zum Zweck der Erlangung eines höheren Lohnes, selbst durch das Mittel der gemeinsamen Arbeitseinstellung – ist ihm unverwehrt, so lange er sich nur bei dessen Ausübung der Gewaltthat und sonstiger ungesetzlicher Mittel enthält. Der Arbeiter hat kraft des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, wenn er verarmt, ein gesetzliches Recht auf öffentliche Hülfe, bis er wieder erwerbsfähig wird. Durch die Reichsgewerbeordnung ist Fürsorge getroffen, daß der Arbeiter nicht durch ein Uebermaß von Arbeit oder durch eine der Gesundheit nachtheilige Beschaffenheit der Arbeitsräume geschädigt werde. Für Frauen und Kinder ist noch besondere Fürsorge getroffen. Durch das Haftpflichtgesetz soll dahin gewirkt werden, daß, wenn durch die Schuld der Arbeitgeber der Arbeiter an seiner Gesundheit, seiner Arbeitsfähigkeit ober gar seinem Leben Schaden leidet, ihm selbst oder den Seinen ein Ersatz dafür zu Theil werde. Durch die Anstellung von Fabrikinspectoren (siehe den Artikel „Bahnbrecher des socialen Friedens“ von Franz Mehring in Nr. 8) ist eine Controlle von Staatswegen eingerichtet worden, damit diese Vorkehrungen zu Gunsten der Arbeiter nicht ein todtes Papier bleiben, sondern wirksam werden. In den Gewerbeschiedsgerichten sitzt der Arbeiter gleichberechtigt neben dem Arbeitgeber und spricht öffentlich Recht über diesen wie über die eigenen Genossen.
Und nicht blos für das materielle Wohl des Arbeiters sorgt die Gesetzgebung, sondern auch für seine Bildung, dieses erste und wichtigste Instrument seines Fortkommens und seiner ökonomischen Besserstellung. Staat und Gemeinde bieten dem nachwachsenden Arbeitergeschlecht einen früher gänzlich entbehrten Unterricht, theils unentgeltlich, theils zu einem sehr ermäßigten Preise.
Wenn solchergestalt der Arbeiter in seinen Rechten und in Bezug auf die Rücksichten, welche Staat und Gemeinde auf ihn nehmen, gegen früher wesentlich besser gestellt ist, so ist er ebenso wesentlich erleichtert in Betreff der Pflichten, die er gegen beide zu erfüllen, der Lasten, die er als Staats- und Gemeindeangehöriger zu tragen hat.
Zwei Hauptarten solcher Pflichten oder Lasten giebt es: die Wehrpflicht und die Steuerlast. In beiden Beziehungen war der Arbeiter von sonst sehr übel daran. Als die sogenannte Conscription, die Zwangswerbung für das stehende Heer, in den deutschen Ländern eingeführt ward (was im Laufe des vorigen Jahrhunderts geschah), da ließ man die oberen Classen – Adel, Beamte, Gelehrte, Kaufleute etc. – fast völlig davon frei und wälzte so die ganze Last des Heerdienstes auf die unteren Classen. Das hatte die Folge, daß diese um so länger dienen mußten. In Sachsen bestand bis 1867 die sechsjährige Dienstzeit. Der Vermögendere konnte sich (nach dem System der Stellvertretung) loskaufen; der Arme mußte sechs Jahre lang, oder doch den größten Theil dieser Zeit, bei der Fahne ausharren und konnte [322] während dessen nicht, oder doch nur in sehr beschränktem Maße, seinem Erwerbe nachgehen. Jetzt ist in Folge der allgemeinen Wehrpflicht die Dienstzeit auf die Hälfte, drei Jahre, thatsächlich sogar auf zwei ein viertel bis zwei ein halb Jahre, herabgemindert. Ein anderer Nachtheil des damaligen Heeresdienstes bestand darin, daß die Behandlung des Soldaten, weil man es dabei eben nur mit dem nichtbevorzugten, darum damals mißachteten Theile des Volkes zu thun hatte, meist eine sehr harte, ja entwürdigende war. Jetzt hat der Arbeiter nicht mehr die demüthigende Empfindung, einen Dienst leisten zu müssen, für den die Anderen sich zu gut halten und dem sie sich daher entziehen; er steht in Reihe und Glied neben dem Sohne des adligen Grundbesitzers oder des reichen Kaufmannes; ja er kann, wenn er sich auszeichnet, dessen militärischer Vorgesetzter werden.
Was die Besteuerung betrifft, so ist diese in Staat und Gemeinde heutzutage gegen den Arbeiter in demselben Maße eine vorwiegend humane, wie sie im vorigen Jahrhundert eine inhumane war. Der Einfluß und der Egoismus der herrschenden Classen bewirkte damals, daß die Steuerlast vielfach von diesen auf die ärmeren abgewälzt ward, während heutzutage der Zug unserer Steuergesetzgebung vorwiegend dahin geht, diese letzteren auf Kosten der Besitzenden zu erleichtern. Bei der indirecten Steuer, der sogenannten Accise, genossen die vornehmeren Stände, Adel, Beamte, Geistlichkeit, mancherlei Befreiungen, z. B. Tranksteuerfreiheit, das ist Freiheit von der Wein- und Bieraccise. Bei der directen Steuer spielte eine Hauptrolle die Kopfsteuer, die, ohne Rücksicht auf den Erwerb, lediglich auf die Person gelegt war, und zwar nicht blos auf die Person dessen, der Etwas verdiente, z. B. das Haupt einer Familie, sondern auch auf jedes weitere Familienglied über vierzehn Jahren. So kam es, daß arme Tagelöhnerfamilien mit zwei bis drei erwachsenen Kindern bis zu zwölf oder fünfzehn Mark Kopfsteuer zahlen mußten.
Heutzutage finden derartige Berücksichtigungen bei der Steuererhebung nicht mehr zu Gunsten der vermögenderen, wohl aber zu Gunsten der ärmeren Classen statt.
Bei der Einkommensteuer im Königreich Sachsen ist jeder Erwerb bis zu 300 Mark gänzlich frei; der von 300 bis 400 Mark zahlt als einfachen Satz 5 Pfennig, von da bis 650 Mark 15 Pfennig, bis 950 Mark 40 Pfennig, bis 1100 Mark 60 Pfennig. Dagegen zahlt das doppelte Einkommen (2200 Mark) nicht doppelt, sondern mehr als drei Mal so viel (über 2 Mark), das achtfache (8800 Mark) nicht acht Mal, sondern mehr als fünfundzwanzig Mal so viel (über 16 Mark). Die Steuerzahler mit einem Einkommen unter und bis 1100 Mark machen in Sachsen zusammen 84 Procent oder etwa 6/7 sämmtlicher Steuerzahler aus, zahlen aber nur 14 Procent oder etwa 1/7 der ganzen Steuersumme; die Steuerzahler mit einem höheren Einkommen, zusammen nur 16 Procent oder etwa 1/6 aller Steuerzahler, zahlen 86 Procent oder 6/7.
Noch viel günstiger ist der Arbeiter gestellt rücksichtlich der Gemeindesteuern, wenigstens überall da, wo (wie z. B. in Leipzig) die Gemeindesteuer als Procentzuschlag zur Staatssteuer erhoben wird. Während der Arbeiter hiernach zu den Gemeindeausgaben nur einen verhältnißmäßig sehr geringen Theil beiträgt, kommt von diesen Ausgaben selbst ein sehr großer Theil gerade ihm und seiner Familie zu gute; so die sehr bedeutenden Kosten für Erbauung und Unterhaltung von Volksschulen, Krankenanstalten etc.. Ein weiterer Vortheil des Arbeiters in den Städten gegen früher besteht in dem Wegfall der städtischen indirecten Steuern auf die in das städtische Weichbild von außen eingehenden Verbrauchsgegenstände, welche Steuern der Arbeiter von sonst in dem Preise seiner Lebensbedürfnisse ebenfalls mit bezahlen mußte.
Noch mancher andere Vortheil ließe sich namhaft machen, den die mehr entwickelten Culturverhältnisse gerade dem Arbeiter gebracht haben; so die größere Leichtigkeit, welche theils die Presse, theils auch besondere Arbeitsnachweisungsanstalten ihm gewähren, um Arbeitsgelegenheiten zu finden, während früher die mangelhaften Communicationsmittel dem Arbeiter die Erkundung solcher Gelegenheiten, sowie den raschen Ortswechsel zu rechtzeitiger Benutzung bedeutend erschwerten; so ferner die Möglichkeit, aus einem Arbeitszweig in einen andern überzugehen, was ihm früher durch die zunftmäßige Absperrung der verschiedenen Arbeitszweige gegen einander versagt war; so der minder erschwerte Uebertritt in die Stellung eines selbstständigen Gewerbtreibenden, was sonst von einer Menge von Voraussetzungen und Bedingungen abhing, und so noch vieles Andere, was auszuführen hier zu weitläufig sein würde. Es ist nicht zulässig, daß in den letzten 50 bis 60 Jahren so viele unserer größten Industriellen, wie Krupp, Nestler, Borsig, Hartmann und Andere, aus einfachen Arbeitern hervorgegangen sind. Die freiere Gestaltung des Industriebetriebes macht es dem strebsamen und intelligenten Arbeiter möglich, auch ohne Vermögen von Haus aus sich emporzuschwingen – ein Beweis, daß tüchtige Arbeitskraft nicht, wie sozial-demokratische Agitatoren fälschlich behaupten, dem „Capital“ wehrlos gegenübersteht.
Fassen wir jetzt speciell den Hauptpunkt, nämlich die eigentlichen Erwerbs- oder Lohnverhältnisse der Arbeiter in’s Auge; denn darauf beruht doch am Ende deren ganze ökonomische Lage.
Ein Handarbeiter in Leipzig erhielt 1763 taxmäßig 4 gute Groschen oder 50 Pfennig den Tag. Soviel verdient heute ein Dienstmann in Leipzig ohne große Anstrengung in höchstens 1 ½ Stunde. Der Lohn eines einfachen Tagelöhners in einer Großstadt dürfte jetzt selten unter 2 Mark für den Tag betragen. Sogar auf dem Lande ist der Tagelohn durchschnittlich in Sachsen im Sommer 1 Mark 60 Pfennig, im Winter 1 Mark 20 Pfennig, in Württemberg und am Rhein 1 Mark 80 Pfennig und 1 Mark 30 Pfennig. Die Taxe für Maurer- und Zimmergesellen betrug 1763 in Leipzig bei zwölfstündiger Arbeit 90 Pfennig bis 1 Mark; jetzt beträgt der Lohn dieser Gehülfen 23 bis 25 Pfennig pro Stunde, das ist für 12 Stunden 2 ¾ Mark bis 3 Mark auf den Tag. Eine Hausmagd erhielt 18 Mark Lohn für’s Jahr; jetzt ist eine solche mit 100 Mark kaum zufrieden, eine gute Köchin kaum mit 150 bis 180 Mark, während damals eine „excellente“ Köchin für 30 Mark zu haben war. Ein Schirrmeister auf dem Lande wurde 1750 mit 30 Mark ausgelohnt; auf dem jüngsten Gesindemarkte zu Dresden (Januar 1879) wurden Schirrmeister für 240 bis 270 Mark gedungen.
Bei den Dienstboten ist diese Steigerung um so frappanter, als ja hier der vertheuerte Lebensunterhalt nicht dem Dienstboten, sondern der Herrschaft zur Last fällt. Anders verhält es sich allerdings bei solchen Arbeitern, die für sich selbst sorgen müssen. Hier müssen wir, um zu einer richtigen Vergleichung ihrer jetzigen mit ihrer sonstigen Lage zu gelangen, zuvor sehen, wie sich die Erhöhung des Lohnes zu den Preisen der Lebensbedürfnis verhält.
Nehmen wir zuerst das allgemeinste Nahrungsmittel, das Getreide! Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts kostete ein sächsischer Scheffel Roggen durchschnittlich 6 bis 7 Mark, Jetzt kann man denselben im Durchschnitt etwa der letzten 10 Jahre wohl mit 10 bis 12 Mark berechnen. Nun veranschlagen Statistiker für eine Arbeiterfamilie von 5 Köpfen, die vorzugsweise von Brod und andern Getreideproducten (Mehl, Graupen, Nudeln etc.) lebt, im Jahre 15 Scheffel Getreide. Das machte nach damaligen Preisen etwa 90 Mark. Der Arbeiter, der damals 50 Pfennig im Tage verdiente, mußte somit für Brod, Mehl etc. 3/5 seines Lohnes verausgaben; der, welcher sich auf 1 Mark stand, 3/10. Der erste behielt etwa 60 Mark, der zweite 210 Mark für andere Ausgaben übrig. Jetzt, wo 15 Scheffel Getreide 180 Mark kosten, behält der Tagearbeiter 420 Mark, der Gehülfe an 570 bis 720 Mark übrig, die er auf andere Ausgaben, insbesondere auf bessere Nahrung (Fleisch, Butter, Eier etc.) verwenden kann. Dies ist, beiläufig gesagt, der Grund, weshalb diese letzteren Lebensmittel (Fleisch, Butter, Eier) eine stärkere Steigerung im Preise gegen früher erfahren haben (auf das Doppelte bis Zweiundeinhalbfache), eine Steigerung, welche mit der Steigerung der Löhne ungefähr gleichen Schritt hält.
Die Wohnung des Arbeiters mag heutzutage etwa um ebenso viel theurer sein, wie sein Lohn höher ist, vielleicht noch um etwas mehr, aber dafür ist sie auch gewiß ganz unvergleichlich besser, menschenwürdiger, gesünder als ehemals. Heizung und Beleuchtung sind wegen der billigeren Surrogate für Holz und Oel – Kohlen und Petroleum – wohl kaum im Verhältniß zum Lohne gestiegen. Dagegen ist die Kleidung und überhaupt Alles, was menschliche Arbeit hervorbringt, gegen früher entschieden viel billiger geworden. Daher kommt es, daß die arbeitenden Classen jetzt in großen Massen Stoffe verbrauchen, die sie früher gar nicht trugen, z. B. baumwollene, von denen noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kaum 1 Elle auf den Kopf der Bevölkerung kam, heutzutage mehr als 26 Ellen.
Nehmen wir dazu noch die vielen trefflichen Einrichtungen [323] für Sicherheit des Lebens, für Gesundheit, für Bequemlichkeit, welche unsere Gemeinden, zumal die städtischen, ihren Angehörigen, also auch den Arbeitern, gewähren (Pflasterung, Straßenbeleuchtung, Wasserleitung etc.), und wofür, wie früher schon erwähnt, gerade diese letzteren verhältnißmäßig nur äußerst wenig, zum Theil gar nichts zahlen, nehmen wir fernerhin die vielen Mittel geistiger Bildung und Erholung, die den Arbeitern zugänglich gemacht sind – öffentliche Schulen, Volksbibliotheken, unentgeltliche Vorträge etc. – so wird man gestehen müssen, daß die ganze Lebensweise eines heutigen Arbeiters von der seines Vorgängers vor 100, ja auch noch vor 50 Jahren, unendlich verschieden, daß ihm nicht blos die Beschaffung der ersten Nothwendigkeiten des Lebens, die „Fristung der Existenz“ um Vieles erleichtert, sondern auch der Genuß einer Menge von Annehmlichkeiten, materiellen und geistigen, an die er früher gar nicht denken konnte, zugänglich gemacht ist.
Läßt sich somit durch Ziffern nachweisen, daß der Arbeiter von heute sich viel besser steht, als der von sonst, so können wir denselben Beweis auch von einer andern Seite her ebenso schlagend führen. Zunächst, indem wir die Thatsache selbst, daß wirklich der Arbeiter jetzt besser lebt, als früher, constatiren. Und das ist nicht allzu schwer. Vermögen wir auch nicht, dem einzelnen Arbeiter nachzurechnen, um wie viel mehr an Lebensgenüssen er heute braucht, als sein Berufsgenosse vor 100 Jahren, so giebt uns doch die Statistik indirecte Beweismittel genug dafür an die Hand.
Wenn wir z. B. erfahren, daß in Preußen der Verbrauch an Kaffee, Thee, Zucker, Bier, Branntwein, Wein, Tabak seit 1806 auf das Dreifache gestiegen ist, so werden wir nicht annehmen können, daß diejenigen Classen, die schon vorher Kaffee, Thee, Zucker etc. regelmäßig consumirten, ihren Verbrauch darin um so viel gesteigert haben sollten, vielmehr liegt die Vermuthung nahe, daß der Kreis derer, welche diese Artikel verbrauchen, sich erweitert hat, daß auch von den arbeitenden Classen, die sich diese Genüsse früher versagen mußten, wenigstens ein größerer Theil jetzt in der Lage ist, sich solche zu verschaffen.
Noch deutlicher zeigt sich dies bei einem anderen Verbrauchsartikel, dem Fleisch. In Sachsen stieg der durchschnittliche Fleischconsum von 1836 bis 1875 von 31 auf 59 Pfund für den Kopf der Bevölkerung, also nahezu auf’s Doppelte. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die besitzenden Classen 1875 doppelt so viel Fleisch verzehrt haben als 1836, viel wahrscheinlicher ist, daß Solche, die früher nur ganz wenig Fleisch verbrauchten, jetzt wesentlich mehr davon consumiren. Dafür spricht auch der Umstand, daß die stärkste Steigerung in derjenigen Fleischsorte stattgefunden hat, welche mit Vorliebe die minderbemittelten Classen genießen, weil sie ihnen am leichtesten zugänglich ist, dem Schweinefleisch. Der Verbrauch von Schweinefleisch hat sich in dieser Zeit von 16 auf 34 Pfund (mehr als das Doppelte), der von Rindfleisch von 15 auf 25 Pfund, das ist nur wie 3 : 5, gehoben.
Der rühmlichst bekannte Statistiker Prof. Dr. Böhmert, Director des Statistischen Bureaus[WS 1] in Dresden, dem wir diese Notizen verdanken, bemerkt ausdrücklich dazu: „Die Vermehrung des Schweinefleisch-Consums beweist, daß der gestiegene Fleischverbrauch vorzugsweise die mittleren und unteren Volksclassen trifft, und daß die letzten Jahrzehnte einer besseren Ernährung des Volkes außerordentlich günstig gewesen sind.“ Ganz dasselbe, nur in noch viel stärkerem Maße, zeigt sich in Leipzig. Während die Bevölkerung der Stadt von 1858 bis 1875 nur um 71 Procent stieg, hob sich der Verbrauch an Schweinefleisch um 247 Procent, also um mehr als das Dreifache des Bevölkerungszuwachses. Dazu bemerkt – ganz im gleichen Sinne wie Böhmert – unser verdienter Statistiker Director Hasse: „Daraus geht unzweifelhaft hervor, daß der Wohlstand der unteren, vorzugsweise Schweinefleisch verzehrenden Classen in höherem Maße gestiegen ist, als derjenige der oberen, die mehr Rindfleisch verzehren.“
Diese Wahrnehmungen gelten für alle Culturländer. Nach Macaulay aßen beispielsweise zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts 440,000 englische Arbeiterfamilien höchstens einmal in der Woche Fleisch und bezog 1/5 der Bevölkerung Almosen. Jetzt ist der englische Arbeiter unzufrieden, wenn er nicht täglich sein Fleisch und seinen Thee mit Zucker genießen kann. Ein französischer Statistiker, Foville, weist durch genaue Daten und Zahlen nach, daß der Arbeiter in Frankreich, namentlich der ländliche, sich jetzt dreimal so gut steht, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts.
Aber es läßt sich nicht blos nachweisen (wie obige Daten zeigen), daß der Arbeiter von heute im Durchschnitt entschieden besser lebt, besonders sich reichlicher nährt, als der vor hundert Jahren, sondern auch, daß er trotzdem von seinem Arbeitsverdienste noch etwas übrig behalten und sparen kann. Lassalle stellte gegen Schulze-Delitzsch, der die Arbeiter auf’s Sparen verwies, die Behauptung auf: der Arbeiter könne gar nichts ersparen, und es sei frivol, ihm so etwas zuzumuthen. Diese Behauptung ist aber ebenso wenig stichhaltig, wie das sogenannte „eherne Lohngesetz“ Lassalle’s; auch sie findet ihre Widerlegung in den Thatsachen. Zunächst sind die Summen sehr beträchtlich, welche die Arbeiter in die verschiedenen Kranken- und Unterstützungscassen zahlen, wenn sich auch die Gesammtsumme dieser Einzahlungen nicht angeben läßt. Sodann entfällt von dem gewaltigen Capital, welches in den Sparcassen liegt, ein nicht unbeträchtlicher Theil auf die Ersparnisse von Arbeitern. Dieses Capital betrug 1874 für sämmtliche von Staatswegen autorisirte deutsche Sparcassen zusammen ungefähr 1880 Millionen Mark.[2] Leider besitzen wir über den Antheil der arbeitenden Classen nur sehr unvollständige Nachrichten, weil eine Statistik der Spareinlagen nach Berufsclassen allzu schwierig und zeitraubend, daher nur selten versucht worden ist. Für Württemberg haben wir eine solche auf die Jahre 1869 bis 1874. Da ergiebt sich denn, daß die Spareinlagen der unselbstständigen Arbeiter etwa ein Drittel, die der Dienstboten über die Hälfte, beide zusammen also etwa fünf Sechstel aller Einlagen betrugen, daß ferner die Summen der Arbeitereinlagen von 1869 bis 1874 sich verdoppelten. Rechnen wir aber für Arbeiter und Dienstboten in ganz Deutschland zusammen auch nur die Hälfte sämmtlicher Spareinlagen, so ergäbe dies die namhafte Summe von 900 bis 1000 Millionen Mark an Ersparnissen der arbeitenden Classen – ungerechnet die mancherlei sonstigen Gelegenheiten zum Sparen (Vorschußsparcassen, Sparvereine etc.), die Anlegung von Ersparnissen im Ankauf von Land u. dergl. m. Genug: die Thatsache, daß die arbeitenden Classen heutzutage von ihrem Erwerb einen nicht unbeträchtlichen Theil aufsammeln können und auch wirklich aufsammeln, steht außer allem Zweifel.
Und was folgt nun aus alle dem? Daß der Arbeiter von heute schlechthin mit seiner Lage zufrieden sein, auf jede Verbesserung seiner Verhältnisse, insbesondere der Lohnverhältnisse, verzichten müsse? Keineswegs! Oder daß die Gesetzgebung und die freiwillige Thätigkeit der besitzenden Classen in ihrer humanen Fürsorge für den Arbeiter nunmehr nachlassen könne, weil darin schon genug gethan worden sei? Ebenso wenig! Was wir aus den obigen Betrachtungen folgern, ist vielmehr nur dieses: es ist nicht wahr, daß der Arbeiter „immer“ nur gerade so viel verdiene, wie er zur „Fristung seiner Existenz“ oder zur nothdürftigen Erhaltung einer Familie nöthig hat; es ist nicht wahr, daß der Arbeiter bei allen Culturfortschritten leer ausgehe, daß er niemals weiterkommen könne, so lange die jetzige Staats- und Gesellschaftsordnung besteht. Wir sehen das Gegentheil davon durch Thatsachen bestätigt. Und weil dem so ist, so folgern wir weiter: es ist thöricht, wenn der Arbeiter sich unklaren Träumen von einem socialistischen Zukunftsstaate hingiebt, der, auch wenn er verwirklicht werden könnte, ganz gewiß dem Arbeiter selbst, wenigstens dem fleißigen und tüchtigen, nur schmerzliche Enttäuschungen bringen würde. Richtiger handelt er, wenn er auf dem Boden des Bestehenden rüstig und emsig vorwärts strebt und so seine Lage stetig verbessert, wie er bisher gethan hat, wobei wir allerdings voraussetzen, daß nicht blos die Gesetzgebung und die freie Thätigkeit der Privaten in ihrer Fürsorge für die Arbeiter nicht ermatte, sondern daß auch insbesondere die einzelnen Arbeitgeber nichts versäumen werden, um die Lage ihrer Arbeitnehmer und deren Verhältniß zu der ihrigen nach Kräften immer günstiger zu gestalten.
[324] Trotz aller Eisenbahnen wird es mit der öffentlichen Sicherheit in Palästina noch auf lange hinaus schlimm bestellt sein. Wehe besonders denen, welche es wagen wollten, in der Nähe der Beduinen an der Wüstengrenze sich eine Farm zu gründen und ihren Kohl zu bauen! Sie würden bei Tag und Nacht vor Ueberfällen nicht sicher sein. Nie ist eine Prophezeiung genauer eingetroffen, als jene alttestamentliche von Ismael: „Er wird ein wilder Mensch sein und seine Hand gegen Alle wie Aller Hände gegen ihn.“ Sie ist eingetroffen, weil sie ihre Farben den schon gegebenen Verhältnissen entlehnte, die in der altbiblischen Zeit die Ismaeliten als ebensolche zeigen, wie wir sie heute sehen. Die Erklärung ist einfach genug: der Hunger ist eben die erste Großmacht, und die Wüste ist unfruchtbar. Die Sandwellen rücken auffallend dem Jordan immer näher, und die Ostseite des einst paradiesischen Sees Genezareth ist fast völlig verödet. Dazu kommt die Macht der Tradition, die Ueberkommenschaft des Blutes, welche dem Beduinen den Raub zur Lebensaufgabe setzen.
Vor einigen Jahren überfiel solch ein Trupp Beduinen das ein paar Stunden vom Genezarethsee abwärts gelegene Abadije, wo unser neu bestellter Consul Adler Mühlen hat, und schafften sich Weizen und Mehl in aller Schnelligkeit fort. Die Beduinen waren auf ihren Rossen einfach durch den Jordan geritten oder geschwommen. Zu ihrer Verfolgung wurden bei dem entstandenen Alarm wohl hundert Kejal oder Landreiter aufgeboten, und sie befanden sich bald dreien Beduinen gegenüber, welche, während die übrigen in aller Hast die Beute in Sicherheit zu bringen trachteten, die einzige Bedeckung bildeten und auf ihren gazellenfüßigen Thieren gleichsam spielend die Verfolger reizten, näher zu kommen. Nur ein Mann von dem eiligen Landsturm tummelte seine Rosinante keck voran: da schwenkten die drei Räuber, fielen über den Unglücklichen her, schnitten ihm den Kopf ab und seinen Leib in Stücke, und banden diese auf sein Roß, sodaß es zum Schrecken des bewaffneten Aufgebots mit den noch blutenden Gliedmaßen zurückjagte. Seitdem wagt Niemand mehr, sich in Bethsan und der Umgegend des Jordans anzukaufen. Die Beduinen spielen die Herren und haben während des jüngsten Krieges, da die Ernte im Ostland mißrieth, alle Dörfer diesseits überschwemmt, alles Korn fortgeschleppt und, wo sie Widerstand fanden, die Männer im Hause und auf der Tenne erschlagen. Aber auch die arabischen Fellahim sind im Durchschnitt elendes Räubergesindel.
Ich selbst habe auf früheren Reisen die Beweise davon zu spüren gehabt (1845). Das erste Mal am Samariterbrunnen zu Nablus (Sichem), wo mich etwa zehn Burschen packten, die sich nicht träumen ließen, daß ich mich wehren würde. Im ersten Schrecken entwand ich mich mit Gewalt der Umarmung und fand, als mein Stock in Stücke gegangen, das Heil in schleuniger Flucht nach dem nahen Stadtthor. Das andere Mal waren es fünf Fellahim mit Säbel und Flinten, welche halbwegs zwischen dem Carmel und Nazareth mich und meine drei deutschen Gefährten anfielen. Es gelang uns, sie zu verjagen, aber mein Nebenmann kam nicht davon, ohne vom Wurfe eines Feldsteines, der meinem Kopfe gegolten, bedenklich am Arme getroffen zu sein. Ich hatte mich rechtzeitig gebückt, sonst wäre es mir vermuthlich ergangen wie einem nachfolgenden Briten, welcher, auf demselben Wege angefallen, von einem schweren Steine todtwund, Monate lang in der Casa Nova zu Nazareth krank lag. Die arme – vielmehr reiche Miß Creasy, welche am 8. September 1858 Jerusalem verließ, wurde nach vier Tagen mit zerschmettertem Haupte als Leiche gefunden. Noch im September 1877 wurde auf dem bekannten Wege von Kaifa nach Nazareth ein Engländer, der unter einem Baume sich ausruhte, von vier Räubern förmlich in Stücke zerhackt. Das ist so ländlich sittlich, und wiederum nicht etwa eine Eigenthümlichkeit des modernen Palästina: die altbiblische Zeit und die Zeit der Römer weisen dieselben Erscheinungen auf. Nun sind die Paschas an die Stelle der römischen Landpfleger getreten, und die türkische Justiz macht in solchen erschwerten Fällen kurzen Proceß. Wird eine Gewaltthat ruchbar, ist ein Raub oder eine Blutthat begangen und dringen insbesondere die Consuln auf Bestrafung, dann bricht die rächende Gerechtigkeit los. Gestraft wird jedenfalls ein Einzelner oder eine Anzahl, ob freilich der Schuldige, das ist eine andere Frage. Uebrigens bildet die Verhängung der Todesstrafe seit dem Pariser Frieden ein Reservatrecht des Sultans, was angesichts der bestehenden Verhältnisse, welche die Blutrache in voller Geltung erhalten haben, freilich wenig besagen will.
Charakteristisch für die bisher geschilderten Zustände des Landes ist das Schicksal der erwähnten Vermessungen durch die englische Gesellschaft zur Erforschung Palästinas, welche, den Decan Stanley von Westminster an der Spitze, jährlich über mehrere tausend Pfund Sterling verfügt und zum ersten Mal mit amtlicher Genauigkeit die trigonometrischen Verhältnisse Palästinas feststellen ließ. Colonel Wilson und Warren haben das Werk begonnen; Capitain Stewart war durch Erkrankung zur Rückkehr genöthigt. Ihn ersetzte Tyrwhitt Drake, der schnell dem Klima und der Anstrengung zum Opfer fiel; er starb im Hôtel Mediterranean zu Jerusalem am 22. Juni 1874, während wir Abends mit unserem wackeren deutschen Consul an der Tafel saßen. Lieutenant Conder rückte in die Lücke ein. Eines Tages zog die englische Expedition, achtundzwanzig Mann stark und noch dazu wohl bewaffnet, nach Safed hinan und begann ihre trigonometrischen Instrumente aufzustellen. In der Nacht unternahmen die Eingeborenen, im Wahne, die Fremdlinge seien gekommen, um sich nächstens in ihren Grund und Boden zu theilen, mit allen möglichen Waffen einen Ueberfall. Conder sprang mit dem Revolver in der Hand im Hemd aus dem Zelte, willens durch einen Schuß die Feinde zu erschrecken; diese verstanden indeß keinen Spaß, und der muthige Officier erhielt mit Stock und Beil entsetzliche Wunden. Ein Säbelhieb, der ihm den Kopf spalten sollte, wurde mit Noth noch von Einem aus dem Gefolge parirt. Man schlug sich durch, aber neun Mann waren, zum Theil durch Steinwürfe, verwundet, und Lieutenant Conder derartig, daß man ihn mit Mühe lebend auf einem Maulthier nach Nazareth brachte, wo er ein halbes Jahr im Kloster der lateinischen Väter darniederlag, wie sein Diener in Aka, zwischen Tod und Leben schwebend; denn Wunden sind im heißen Lande entzündlicher als bei uns. Unfähig, die übernommene Aufgabe zu erledigen, mußte er nach England zurückkehren, wo er noch siecht. Die kostbaren Instrumente blieben zwar erhalten, aber das Unternehmen gerieth neuerdings in’s Stocken, und die Vollendung der Arbeit war in Frage gestellt. Erst im Januar 1876 reiste der Royal Ingenieur Colonel Kitchener von London nach Palästina ab, um noch den Rest von eintausend englischen Quadratmeilen im Norden und zweihundert im Süden zu vermessen; er kehrte dann in Eile im December desselben Jahres von Beirut wieder heim.
Das sind die großen Uebel in Palästina, von den kleineren ganz zu schweigen, wozu in erster Linie das massenhafte Ungeziefer gehört, wegen dessen die Eingeborenen es zumeist vorziehen, auf den Dächern zu schlafen; sie riskiren dabei freilich durch Erkältung die schlimmsten körperlichen Leiden, namentlich Augenleiden.
Meine Ansicht über die totale Ungunst der Verhältnisse gegenüber der Idee, Palästina zum Zielpunkte einer christlichen oder jüdischen Einwanderung und vielleicht gar Staatsregierung zu machen, wird durch das Schicksal der in dieser Richtung geleisteten Versuche hinlänglich bestätigt. Doppelt enttäuscht wurden die Anhänger der mosaischen Religion, welche nebenbei auf Anknüpfungspunkte bei den Resten ihrer Glaubensgenossen, wie sie besonders in der Nähe des galiläischen Meeres in geschlosseneren Mengen leben, rechnen mochten. In neuerer Zeit ist für diese Hebräer in Palästina so viel geschehen, daß man ernstlich fragen möchte: Reichen die Kräfte der Gesunden auch hin, um so viele Spitäler, Schulen und Versorgungshäuser zu versehen? Zum Danke hat jeder einwanderungslustige Israelit zu gewärtigen, von den dortigen Israeliten mit dem dreifachen Banne, der Ausschließung (Niddui), der Verfluchung (Cherem) und der Vertilgung im Namen des allmächtigen Gottes (Schammatha oder Maranatha) belegt zu werden.
- ↑ Erst nach der französischen Revolution ward dies etwas anders. 1797 kommt ein Strike der Dresdner und Leipziger Schlossergesellen vor. Sie beschwerten sich, daß sie von früh 4 Uhr bis Abends spät arbeiten müßten und nur für 3 Pfennig Brod bis Mittags 12 Uhr erhielten. Alles, was sie erlangten, war: 1 Stunde Abkürzung der Arbeitszeit und für 6 Pfennig Brod statt für 3 Pfennig.
- ↑ Wir entnehmen diese Angabe einer ganz sicheren Quelle, der Statistique internationale des caisses d’épargne, combinée par le bureau de statistique du royaume d’Italie, présentée à la IX. session du congrès international de statistique 1876.
- ↑ Vorlage: Polytechnikums, siehe Berichtigung